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Über dieses Buch:

Der brutale Preis des Ruhms … Cheryl und Barry sind kaum älter als Teenager, als sie ihre ersten beiden Kinder bekommen – und über Nacht zu Stars einer britischen Dokusoap werden. Aber sind die beiden dem skrupellosen Mediengeschäft gewachsen? Mit Cheryls dritter Schwangerschaft beginnt die Sympathie des Millionenpublikums zu schwinden. Dann passiert das Unfassbare: Eines Tages fehlt von ihren Kindern jede Spur - und die zunehmend verzweifelte Mutter gerät unter einen schrecklichen Verdacht …

»Nichts für Leser mit hohem Blutdruck!« Woman’s Journal

Über die Autorin:

Gillian White stammt aus Liverpool und arbeitete mehrere Jahre als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Mit ihrem Mann und zwei Hunden lebt sie in Totnes, Devon. Vier ihrer Romane wurden vom britischen Fernsehen erfolgreich verfilmt.

Bei dotbooks veröffentlichte sie ihre Romane »Das Ginsterhaus«, »Denn du bist mein«, »Ein unheimlicher Gast«, »Das Familiengrab«, »Das Hotel bei den Klippen«, »Der Peststein«, »Der Fluch der alten Dame«, »Du kannst uns nicht entkommen«, »Die Einsamkeit der Lüge« und »Der Nachmieter«.

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eBook-Neuausgabe Juni 2016

Copyright © der Originalausgabe 2000 Gilian White

Copyright © der deutschsprachigen Erstausgabe 2001 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2016 by dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Amy Johansson

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-668-3

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Gillian White

Hexenwiege

Roman

Übersetzt von Isabella Bruckmaier

dotbooks.

Meiner Lektorin, Linda Evans,
in tiefer Zuneigung.

Kapitel 1

Die Nachricht von dem Verschwinden der drei Brownkinder erschütterte die britische Nation wie ein Erdbeben.

Die Post musste zusätzliches Personal einstellen, um die Lawine von Briefen zu bewältigen, in denen die Menschen ihre Anteilnahme bekundeten. Im ganzen Land brachen die Telefonleitungen der Polizeiwachen zusammen, weil Leute anriefen, die fest davon überzeugt waren, die Kinder »gesehen« zu haben oder über wichtige Informationen zu verfügen. Hauptkommissar Jonathan Rowe bemerkte seinem Team gegenüber nur mürrisch: »Was kann man schon erwarten … Das ist mehr oder weniger so, als hätte man es mit den Royals zu tun. Jeder denkt, er kennt die armen Würmer.«

Manche vermuteten hinter dem mysteriösen Vorfall irgendeine fanatische Minderheit, die Aufmerksamkeit erregen wollte.

Die Browns waren die Stars einer Dokusoap gewesen, die im Frühling zu Ende gegangen war. In zwölf Folgen waren sie zum Inbegriff bitterster Not geworden.

Man hatte sie nämlich nur deshalb für die Serie ausgewählt, weil sie trotz der jahrelangen Abhängigkeit von staatlichen Zuwendungen optimistisch geblieben waren und ihr Elend sich nicht in ihre Gesichter eingebrannt hatte.

Für kurze Zeit hatte eine Sympathiewelle das ganze Land ergriffen wie damals in den Sechzigeijahren bei Cathy Come Home, der ersten Dokusoap. Aber die Browns waren reale Menschen, keine Schauspieler, worauf Griffin Productions ständig hinweisen musste: a) wenn sie Spenden zurückschickten oder an geeignete wohltätige Organisationen für Kinder oder Obdachlose weiterleiteten, und b) wenn sie einstweilige Verfügungen erwirkten, um die Presse von der Wohnung der Browns im vierten Stock des Sozialbaus fern zu halten und, c) als die Browns selbst nach einem Schauspielerhonorar zu fragen begannen.

Mit rot geweinten Augen verfolgten die Mütter Großbritanniens, wie Cheryl und Barry Brown im Fernsehen an den unbekannten Täter appellierten.

»Tun Sie ihnen nichts, bitte tun Sie ihnen nichts, sie sind doch noch so klein…«, flehte Cheryl mit dünner Stimme und klammerte sich schluchzend an Barry. Dieser blickte ernst in die Kamera und sagte: »Wir werden alles, wirklich alles tun, was Sie von uns verlangen. Wir sind nicht auf Rache aus, Sie haben sicher Ihre Gründe, wer immer Sie sind. Wir wollen nur eines, wir wollen unsere Kinder gesund wieder haben.«

***

Cheryl Brown war in der Klinik gewesen, um den Kinderarzt aufzusuchen, als die Kinder entführt wurden, genau acht Wochen nach der Ausstrahlung des zwölften Teils von Die im Dunkeln sieht man nicht. Sie hatte eine von Barry provisorisch zusammengeflickte Kiste mit Rädern als Kinderwagen benutzt. Die Teile dazu hatte er sich auf dem Sperrmüll zusammengesucht. Mit einer verschlissenen Decke und einem speckigen alten Kissen hatten sie die Kinderwagenkiste zu verschönern versucht.

Zum Arzt wollte Cheryl wegen Cara, ihrem dritten und problematischsten Kind. Schon als daumennagelgroßer Embryo hatte Cara die Nation entzweit: Viele hatten ihr das Recht auf Leben wegen der prekären finanziellen Situation ihrer Eltern abgesprochen. Cara hatte unter einer Bronchitis gelitten, deshalb waren sie in das Krankenhaus gegangen, erklärte Cheryl.

Allerdings fand sich nach dem ganzen Chaos niemand mehr, der sich daran erinnern konnte, Cheryl mit den Kindern in der Klinik gesehen zu haben.

Bei dem Krankenhaus handelte es sich um einen dieser grauen Betonklötze, die in den Siebzigerjahren wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Im Krankenhaus gab es außer einer Notfallstation eine Fußpflegepraxis und eine Augenklinik. Im ersten Stock befand sich ferner eine geriatrische Abteilung, die ausschließlich von Wohlfahrtsorganisationen finanziert wurde, um den Menschen, die sich um ihre betagten Angehörigen kümmerten, die dringend benötigte Atempause zu verschaffen.

Cheryl hatte wegen ihrer Blasenentzündung vor dem Besuch der Sprechstunde die Toilette aufgesucht.

Sie schilderte, wie sie den Wagen mit den drei Kindern, von denen noch keines drei Jahre alt war, vor der Tür abgestellt hatte, da seine Ausmaße es nicht erlaubt hatten, ihn mit in den WC-Raum zu nehmen.

Als Cheryl herausgekommen war, waren die Kinder verschwunden.

Sie hatte lauthals zu schreien begonnen. Ihr Geschrei erregte die Aufmerksamkeit von zwei Sanitätern, einer Rezeptionistin, drei Müttern mit Kleinkindern und schließlich der Polizei.

Man schloss aus Cheryls Bericht, dass die Entführer nicht weit gekommen sein konnten. Und mit einem so primitiven und auffälligen Gefährt konnten sie unmöglich unentdeckt das Krankenhaus verlassen haben.

Vielleicht handelte es sich nur um einen schlechten Scherz.

Vielleicht hatten ein paar Kinder Gefallen an der Kiste auf Rädern gefunden, die eine wunderbare Seifenkiste abgegeben hätte. Eine Stunde nach der Entführung suchten Polizisten mit Lautsprechern die Umgebung ab, forderten Augenzeugen auf, sich zu melden, beschrieben den Wagen, die Kinder und versicherten dem möglichen Täter, er hätte keinerlei strafrechtliche Konsequenzen zu befürchten.

»Bringen Sie nur die Kinder zurück.«

Doch nichts geschah.

Die drei blieben wie vom Erdboden verschluckt.

***

Der Zorn der Öffentlichkeit richtete sich gegen Griffin Productions. Diese Dokusoap, die die Browns über Nacht bekannt gemacht hatte, war in den Augen der Bevölkerung die eigentliche Ursache für das schreckliche Verbrechen.

»Einfache Leute für den eigenen Profit auszunutzen! Das geht zu weit«, machte ein Liverpooler Radiohörer seinem Ärger Luft.

»Wären die Browns nicht so unbedarft und naiv gewesen, hätten sie diese verdammte Filmcrew, die in alles ihre Nase stecken musste, niemals in ihre Wohnung gelassen. Und wofür das alles? Soviel ich gehört habe, haben sie keinen Pfennig dafür bekommen.«

»Arrogante Schweine.«

Es drängte sich plötzlich der Eindruck auf, fünfzehn Millionen Menschen seien wider ihr besseres Wissen gezwungen gewesen, sich jede Woche die Sendung anzuschauen. Die im Dunkeln sieht man nicht hatte sich nach einem nicht ganz so gelungenen Start vollkommen unerwartet zu einem Renner entwickelt. Ab einem bestimmten Zeitpunkt übertrafen die Zuschauerzahlen dieser Dokusoap alle anderen Soaps, und der ehrgeizige Kopf der Serie, Alan Beam, wurde über Nacht zum gefeierten Medienstar.

Familien, die sich vergeblich beworben hatten, erhoben bittere Vorwürfe gegen Griffin, und die Regenbogenpresse belohnte ihre Geschichten mit satten Honoraren.

»Das hätten wir sein können«, erklärte die Familie Carter aus Skegness und beschrieb, wie sie eine Woche lang gezwungen waren, mit Kameras zu leben, nicht einmal das Badezimmer hatte das Filmteam ausgelassen. »Und dann sind sie einfach abgehauen. Für die waren wir nur Viehfutter…«

»Gott sei Dank sind wir verschont geblieben«, ließen die Duffys aus York verlauten, die den Regisseur noch Monate nach ihrer Ablehnung belästigt und ihm immer wieder einmal einen Drohbrief geschickt hatten.

»Den Ruhm, den können Sie sich sonst wohin stecken«, meinten die Cloons aus Maidenhead. »Vielen Dank, wir behalten lieber unsere Kinder.« Dabei waren ihre eigenen Kinder zu der Zeit von der Fürsorge in Pflegefamilien untergebracht worden.

Es hatte mehrere Gründe gegeben, die Browns den anderen vorzuziehen. Zum einen waren sie die charismatischste Familie, und dazu noch äußerst telegen. Auch hatten sie alles daran gesetzt, aus ihrem Elend herauszukommen. Der Sender hatte sich aber vor allem für sie entschieden, weil sie in noch weitaus schlimmeren Verhältnissen als ihre Mitbewerber leben mussten. Ihre geplante Heirat – angesichts ihrer Situation ein hoffnungsloses und zugleich mutiges Bekenntnis, füreinander Verantwortung übernehmen zu wollen – würde die Zuschauer mit Sicherheit für sie einnehmen. Und zur Freude des Regisseurs versprach die Hochzeitsfeier selbst ein hoffnungsloses und zugleich mutiges Unterfangen zu werden: Das trostlose Standesamt in ihrem Bezirk und der graffitibeschmierte Eingangsbereich des Weinkellers, in dem die anschließende Feier stattfinden sollte, verhießen Filmaufnahmen, nach denen das Publikum vor den Bildschirmen gierte.

»Die Browns könnten es auch selbst gewesen sein. Die Polizei vermutet das. Sie ermittelt auch in dieser Richtung, aber sie hält sich bedeckt, um die Öffentlichkeit nicht gegen die Browns aufzubringen.« Alan Beam teilte dies den Mitarbeitern von Griffin Productions bei dem Meeting im Hauptquartier in Ealing Broadway mit. Alan, der sich seiner Attraktivität bewusst war und diese mit Designerkleidung perfektionierte, hatte mit seinen Ansichten noch nie hinter dem Berg gehalten.

Seine Regieassistentin, Jennie, schnappte erstaunt nach Luft. »Nein. Das kann ich nicht glauben. Das sind zwei ganz normale, dumme Kids. Ein solches Risiko wären die niemals eingegangen. Und bei wem hätten sie die Kleinen denn verstecken sollen?«

»In der Gegend, in der die Browns leben, gibt es jede Menge leere Wohnungen und heruntergekommene Ecken«, meinte Alan. »Ich an ihrer Stelle wüsste, wo ich sie hinbringen könnte. Bislang wurde noch kein Lösegeld verlangt. Das ist doch merkwürdig. Aber ich habe Sir Arts Einverständnis, dass Griffin zahlt, wenn es nicht anders geht.« Sowohl Alan als auch Jennie wussten um die Zweifel, die Sir Art von Anfang an an der Sendung gehabt hatte. Als sie ihm das Konzept vorgelegt hatten, hatte er mit seiner tiefen Stimme erklärt: »Gefährliches Terrain, die Armut.« Als könne er sich durch die Nähe zu diesem Thema anstecken. Schließlich gelang es ihnen, ihn zu überreden, doch nun deutete alles darauf hin, dass er Recht gehabt hatte. »Schadensbegrenzung. Wenn wir den Ball nicht annehmen, nageln sie uns ans Kreuz. So wie wir jetzt in der Scheiße sitzen, wie die Firma im Moment in der Öffentlichkeit dasteht.«

»Den beiden hätte ich so was nie zugetraut«, warf Alan unbeirrt ein. »Initiative war noch nie Barrys Stärke.«

»Die Bullen glauben doch nicht allen Ernstes, dass Cheryl und Barry allein dazu in der Lage wären?« Und Jennie mit ihren leicht lila schimmernden Haaren schenkte den Kaffee ein, der noch auf dem Konferenztisch stand. »Sie sollten nach jemand Schlauerem Ausschau halten. Einem Kerl mit Grips, der sie vielleicht beeinflusst…«

»Was nicht besonders schwer sein dürfte«, bemerkte Alan. »Die Browns sind ein arg vertrauensseliges Pärchen. Wenn man ihnen sagt, sie sollen laufen, dann laufen sie. Und wenn man sie auffordert zu springen, springen sie.«

»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie so eine Sache durchziehen können. Dazu sind sie zu einfach gestrickt. Alle beide.«

»Nicht zu einfach gestrickt, Jennie. Sondern zu weltfremd. Zu ungebildet. Zu leicht zu beeinflussen. Wie dem auch sei, bislang wurde noch kein Lösegeld gefordert. Aber die Entführung ist ja auch erst ein paar Tage her…«

»Wahrscheinlich wissen sie nicht, wie man eine Lösegeldforderung formuliert.« Jennie schnitt eine Grimasse.

Dann wandte sich das Produktionsteam anderen, dringenderen Problemen zu. Ein brandneues Sendeprojekt musste bearbeitet werden, das im Herbst ausgestrahlt werden sollte.

Die Browns glichen alten Akten, die man bereits archiviert hatte.

Eine Zeit lang hatte das Team um Alan Beam ihnen recht nahe gestanden, einige von ihnen hatten Cheryl und Barry sogar gemocht. Sie hatten mit ihren Kindern gespielt und ihren Kaffee getrunken, hatten sie dabei beobachtet, wie sie morgens aufstanden und abends ins Bett gingen. Aber Die im Dunkeln sieht man nicht war in diesem Frühjahr ausgelaufen, wie jede ordentliche Serie. Schließlich besagen Umfragen, dass die Menschen in der warmen Jahreszeit lieber ihren Gartengrill anwerfen und bis September im Freien feiern, statt ihre Abende vor dem Fernseher zu verbringen.

***

Die Aufnahmen für Die im Dunkeln sieht man nicht hatten im Jahr zuvor begonnen und vier ganze Monate gedauert. Zu dieser Zeit hatte es Cheryl geschafft, wieder schwanger zu werden. Das Weihnachtsbaby kam zu spät, um noch gefilmt zu werden, machte sich aber früh genug bemerkbar, um den größtmöglichen Schaden anzurichten.

Eine riesige Fangemeinde der Dokusoap war rasch gespalten: Die einen traten lautstark für eine Abtreibung ein, andere befürworteten eine Sterilisation, insgesamt missfiel den meisten Zuschauern Cheryls Fruchtbarkeit.

Dabei kamen die Browns jetzt schon nicht zurecht – Victor war zwei, Scarlett gerade ein Jahr alt, und nun war schon wieder Nachwuchs unterwegs.

Niemanden wunderte es, dass Cheryl ihre Blasenentzündung nicht loswurde. Auch wenn Barry noch immer keinen Job gefunden hatte, so schien er doch auf seine Weise fleißig zu sein, und Cheryl machte mit.

Bei dem Gedanken an eine Abtreibung erstarrte Cheryl. Alles in ihr sperrte sich dagegen, über dieses Thema zu diskutieren. Sie wollte dieses Baby – wollte es unbedingt. Aber Barry, der erschöpft im Bett lag, von Kopfweh und einer Ohrenentzündung geplagt, wusste nicht mehr weiter. So schwer es ihm auch fiel, eine Abtreibung schien ihm das einzig Vernünftige. Über Nacht stürzte die Popularität der Browns wegen Cheryls unnachgiebiger Haltung in den Keller. Die Bevölkerung verstand nicht, wie sie so kurzsichtig sein konnte, nicht einmal ihre mangelnde Bildung ließ man als Entschuldigung gelten.

Hatte sie denn noch nie etwas von der Pille danach gehört?

Oder von der Spirale?

Hatten die Zuschauer sie nicht unterstützt, hatten sie ihr nicht Mut zugesprochen, mit ihnen Freud und Leid geteilt – nur damit Cheryl nun eine derartige Fehlentscheidung traf?

Die Mehrheit der Zuschauer versank wie gewöhnlich in Schweigen – neugierig, belustigt, desinteressiert oder einfach mitfühlend.

Doch eine lautstarke Minderheit übertönte alle anderen mit ihrem wütenden Protest. Einige beschimpften Cheryl. »Hexe, Hexe!«, brüllten sie, und sie beschworen damit schaurige Erinnerungen aus längst vergangenen Jahrhunderten herauf, in denen Frauen verfolgt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden waren. Dank diesem Aufruhr schossen auch die Quoten nach oben. Der Sender forderte die Zuschauer auf, die Beobachterrolle zu verlassen und in das Geschehen einzugreifen. Und bei Griffin rieb man sich freudig die Hände, weil die Werbeeinnahmen in die Höhe schnellten.

Zu Hause in Paddington hatten Cheryl und Barry es meist mit der aufgebrachten Minderheit zu tun. Man bespuckte die beiden auf der Straße, ihre Nachbarn beschimpften sie oder drehten sich weg, wenn sie ihnen begegneten, die Programmmacher sahen die Post durch und fingen den Großteil ab. Die Briefe waren voll von Bosheiten, und eine Menge Drohbriefe befand sich darunter. Die meisten Zuschauer schienen Cheryls Verhalten persönlich zu nehmen; »enttäuscht« war ein häufig benutzter Ausdruck, »ein Schlag ins Gesicht« ein weiterer.

Entsetzt von diesem Wandel (sie hatten beide ihren Ruhm als Filmstars genossen), flehten Cheryl und Barry das Team bei Griffin an, die Serie abzusetzen. Sie fürchteten, anderenfalls durchzudrehen. Cheryl versagte dabei die Stimme, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte Angst, die Sache konnte eskalieren, wenn ihre endgültige Entscheidung über den Bildschirm flimmerte. Wie Recht sie hatte.

***

Die im Dunkeln sieht man nicht

Die Serie begann mit der Geburt von Cheryls zweitem Kind, Scarlett. Das war die Eröffnungssequenz, ein mit der eigenartigen Musik von »Strange World« von den Waterboys unterlegtes blutiges Kaiserschnittdrama in dem kahlen Kreißsaal oder der »Suite«, wie die Bezeichnung im St. Mary’s dafür lautete. Oft zeigten die Kameras dabei noch Barrys noch immer jungenhaftes Gesicht. In seinen großen blauen Augen standen deutlich seine Liebe und sein Mitgefühl für die schreiende Cheryl geschrieben, seine Zähne gruben sich fest in die blutleere Unterlippe.

Mit zwanzig Jahren wurde er bereits zum zweiten Mal Vater. Dabei wirkte er genauso besorgt und engagiert wie ein Vater, der Grund dazu hat, hoffnungsvoll in die Zukunft zu sehen. Im Anschluss an die Geburt konnten ihm die Zuschauer von ihrem gemütlichen Fernsehsessel aus zusehen, wie er durch die dunklen, regennassen Straßen seiner Welt nach Hause ging, vorbei an Autowracks, über Sperrmüll und umgekippte Mülltonnen stieg und die Betontreppe hinauf zu seiner ungeheizten Wohnung im fünften Stock kletterte. Dort war, wie der Regisseur richtig vermutet hatte, der Chip für den Stromkasten abgelaufen, und somit gab es weder Licht noch alles andere.

Die ganze Zeit über hielt Barry den zwölf Monate alten Victor in den Armen. Die kraftlose Bewegung, mit der er die schäbige Haustür hinter sich schloss, rührte die Nation.

Im Krankenhaus lauerten die Kameras darauf, dass Cheryl aufwachte.

Sie schlief wie ein Baby.

Das echte Baby dagegen sah eher wie eine Puppe aus, wie eine Cabbage Patch Doll mit ihrem verknautschten Gesicht und den winzigen Gummifingerchen.

Das war das erste Mitleid erregende Bild von Cheryl, das die Zuschauer bewegte. Das erste von vielen. Ihr schmales, weiches Gesicht wirkte mit dem schüchternen Lächeln und der Stupsnase viel jünger als das einer Achtzehnjährigen, erinnerte eher an ein Mädchen, das in Turnschuhen und Jeans auf einer Mauer saß und freche Bemerkungen machte. Ein kleiner Hund hätte besser zu ihr gepasst als ein Baby. Ein daumenlanges Büschel Haar stand frech aus einem Gummi hervor, wie ein Ausrufezeichen, als wolle sie sagen: Hier bin ich! Schaut mich an! Lila, grün, rot. Die Farbe dieses Haarbüschels variierte, je nachdem, welche Farbe ihre Mutter auftrieb. Es waren die Reste aus dem Frisiersalon, in dem ihre Schwester Sharon arbeitete. Und das blauweiße Nachthemd war von der Requisite für die ersten Bilder nach der Geburt zur Verfügung gestellt worden.

Darauf bedacht, ins Bild zu kommen, streichelte Schwester Melanie Wilson Cheryls Wange. Einer aus der Filmcrew räusperte sich ungeduldig. Cheryl wachte auf. Kein Speichel klebte an ihren Mundwinkeln und ihre Augen waren fest geschlossen.

Mit geübtem Griff legte Schwester Wilson die winzige Scarlett an Cheryls kleine, kindliche Brust.

An Cheryls Bett standen keine Blumen, das zeigte der Kameraschwenk. Es gab weder Karten noch Weintrauben, nicht die geringste Aufmerksamkeit. Das nüchterne Krankenhausbett und ein Glas mit lauwarmem Wasser bildeten einen gewaltigen Kontrast zu dem Blumenmeer an den Betten ihrer Mitpatientinnen. Dass es eigentlich gar nicht möglich war, dass bei Cheryls Zimmergenossinnen so schnell nach der Entbindung Blumen auf dem Nachttisch stehen konnten, durchschaute die große Mehrheit der Zuschauer nicht.

»Barry?«, rief Cheryl schwach und versuchte, sich aufzusetzen.

»Barry musste nach Hause gehen«, erklärte Schwester Wilson der Kamera. »Der kleine Victor war todmüde.«

»Er ist schon weg?« Enttäuschung machte sich auf Cheryls Kleinmädchengesicht breit. Die Hände der Zuschauer vor den Bildschirmen zuckten, weil sie Cheryl gerne tröstend berührt hätten.

»Er hat gesagt, dass er morgen wiederkommt.«

Wieder schwenkte die Kamera durch den Saal, in dem ganze Großfamilien – Großmütter, Söhne, Töchter, Tanten – mit den Ehemännern darum buhlten, näher zu den Müttern der Neugeborenen zu kommen, als hafte diesen Frauen durch die Niederkunft eine besondere Magie an, die auf diese Besucher aus der »Welt draußen« eine positive Wirkung ausstrahlen könnte. Gelächter und Gesprächsfetzen schwirrten durch die nach Desinfektionsmittel und Blüten riechende Luft. Eine Patientin schleppte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an der Kamera vorbei, mit einem offensichtlich neuen, teuren Kulturbeutel unter dem Arm. Der Kameramann nahm dies zum Anlass für einen Schnitt auf die Plastiktüte von Tesco, in die Cheryls Waschzeug gestopft war.

»Sie hat dunkle Haare, wie ich«, bemerkte Cheryl entzückt. Ihr Neugeborenes gähnte ausgiebig. »Da passt der Name Scarlett genau.«

»Ein ungewöhnlicher Name«, meinte Schwester Wilson. Sie hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, schließlich war die Kamera auf sie gerichtet.

»Ja?« Cheryl richtete die Frage an die Filmleute, die anscheinend alle zusammen den Kopf schüttelten, denn sie fasste sich erschrocken mit der Hand an den Mund, als sie sich ihres ersten Fehlverhaltens bewusst wurde. Am Ende der Serie hatte sie sich an das Filmteam gewöhnt, Sie lernte sogar, vollkommen zu vergessen, dass sie da waren.

***

Anfangs machte Alan Die Mutter Schwierigkeiten. Ein Problem, mit dem er nicht gerechnet hatte, da die Mitglieder solcher Familien normalerweise in Begeisterung ausbrechen, wenn sie ins Fernsehen kommen können, »Glauben Sie mir, ich weiß, was passiert«, erklärte Annie Watts, Cheryls übergewichtige Mutter, als er in ihr Haus kam, um die Kameras aufzubauen. Wie viele korpulente Frauen trug sie ein kurzes, knappes Top, das kaum bis zu dem elastischen Bund ihrer Nylonleggings reichte. »Und ich habe Cheryl gesagt, sie soll es bleiben lassen. Das hast du dir dann alles selbst zuzuschreiben, habe ich ihr gesagt. Und was ist mit diesen ganzen Verträgen, die sie unterschrieben haben, sie und Barry? Ich meine, sie müssen doch irgendwelche Rechte an den Aufnahmen haben, oder?«

Sie hatten sich durch ihr unüberlegtes Verhalten ihrer Rechte selbst beschnitten, indem sie fröhlich ihre Unterschrift unter alle Verträge setzten, die man ihnen vorgelegt hatte. Das Filmteam erhielt auf diese Weise unbeschränkten Zutritt zu sämtlichen Bereichen ihres Lebens, vom Schlafzimmer bis hin zum Gynäkologenstuhl. Sogar zu ihren Freunden und ihren Familien.

Normalerweise fühlte sich Alan durch alles Hässliche, ob Tier, Pflanze oder Gegenstand, abgestoßen. Doch trotz des Ekels, der anfangs instinktiv in ihm aufstieg, war Alan insgeheim äußerst zufrieden mit Die Mutter, über die er bereits so viel von seinem Mitarbeiterstab gehört hatte. Dieser Charakter würde definitiv das gewisse Etwas in die Serie bringen. Oder entsprach Cheryls Mutter zu sehr dem Klischee? Sie war genau die Schreckschraube, die er sich erhofft hatte. Wie kam ein solches Ungeheuer von Frau zu einer so süßen Tochter wie Cheryl? Ginge es nach ihm, dann sollte diese Frage jedermann auf der Zunge liegen, sobald Die Mutter eingeführt worden war und angefangen hatte, ihre wichtige Rolle zu spielen.

Er versuchte, dieses Ungetüm zu beruhigen, nachdem er neben ihr auf dem speckigen Sofa Platz genommen hatte – sie sank nach unten, während er am anderen Ende oben auf den Sprungfedern schwankte.

»Ich bin auch nicht von gestern, Freundchen«, krächzte Cheryls Mutter, die für ihren Jähzorn bekannt war, eine Zigarette im Mundwinkel, das Mehrfachkinn auf der Brust, 130 Kilo Lebendgewicht. »Was springt dabei für euch Blutsauger heraus, das möchte ich wissen.«

»Wir können einen informativen Dokumentarfilm drehen, der eine gleichgültige Öffentlichkeit dazu bewegen könnte, jungen Menschen wie Cheryl und Barry mit mehr Mitgefühl und Verständnis zu begegnen.«

»Warum ausgerechnet die beiden?« Annie gab nicht nach. »Die müssen sich mit genug Problemen rumschlagen. Das fehlt ihnen gerade noch. Warum also ausgerechnet die beiden, sagen Sie mir das!«

»Sie haben sich beworben, Mrs. Watts. Es war nicht so, dass wir sie angesprochen oder zu etwas gezwungen hätten, was sie nicht freiwillig getan hätten.«

Annie Watts drehte sich zu ihm, die Oberschenkel weit gespreizt, so dass ihm der Inhalt ihrer Leggings entgegenquoll. »Am Schluss werden sie das Gespött der Nation sein oder bis zum Hals in der Scheiße stecken, so wie diese australische Familie. Die mussten sogar umziehen. Bekamen so viele Drohbriefe. Die haben sie von Anfang an reingelegt, habe ich gelesen.«

»Ich kann Ihnen versichern, das ist ganz und gar nicht unsere Absicht«, erklärte Alan und betrachtete sie fasziniert.

Sie war die perfekte Besetzung. Er stellte sich vor, wie die Zuschauer zu Hause auf ihre Plumpheit reagieren würden. In jedem Stück brauchte man einen Schurken, und diese Frau würde die Rolle wunderbar ausfüllen.

Asche fiel auf Annies Busen, der Alan an die Oberweite der Darstellerinnen in Russ-Meyer-Filmen erinnerte. »Passen Sie bloß auf, Freundchen, das ist alles. Ich weiß, was Sie für einer sind.« Sie ließ ihren Blick über die Kameraleute schweifen, die sich im Wohnzimmer ihrer Tochter zu schaffen machten. »So was wie Sie genehmige ich mir normalerweise zum Frühstück.«

»Hör auf, Mum«, mischte sich Cheryl ein. »Wir wissen schon, was wir tun.«

»Du hast noch nie gewusst, was du tust, Cher«, erwiderte Annie.

***

Annie sollte Recht behalten.

Ab der achten Folge wurden die Leute unangenehm. Während der achten Folge wünschte Cheryl, sie könnte sich in Luft auflösen, doch sie war so sichtbar wie noch nie. Nackt. Sie hatte das Gefühl, lebendig begraben worden zu sein, entsprechend panisch war ihr zu Mute.

Jetzt war sie in den Augen aller eine schlechte Mutter, die ihre süßen Kinder nicht verdient hatte.

***

Es bestand also durchaus die Möglichkeit, dass sich ein Mitglied der Gesellschaft, ein Verrückter, der noch immer nicht über eine bereits vor sechs Monaten abgelaufene Fernsehserie hinweggekommen war, den Entschluss gefasst hatte, die Brownkinder zu entführen, um sie zu beschützen. Hauptkommissar Rowe und sein Team beschränkten ihre Ermittlungen daher nicht auf eine Richtung. In diesem Stadium musste man alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.

Dennoch glaubte Rowe insgeheim, dass die jungen Eltern irgendwie in die Sache involviert waren. Als erfahrener Kommissar mit zwanzig Dienstjahren war er sich darüber im Klaren, wie wichtig seine Intuition war – und was dieses verzweifelte junge Paar anging, war ihm überhaupt nicht wohl.

Daher ließ er die Eltern des entführten Kindes ununterbrochen verhören.

Doch die Briefe, die täglich sackweise im Harold-Wilson- Gebäude ankamen, waren voller Verständnis und Mitleid. Cheryl und Barry waren verzweifelt, daher war die Öffentlichkeit bereit, ihnen zu vergeben.

So wie Cheryl es sich erhofft hatte.

Die Antwort auf ihre Gebete.

Kapitel 2

»Sie glauben, dass wir es waren.« An diesem Morgen leuchtet Cheryls Kopf pink. Frisch gewaschen erinnert er heute weniger an ein Ausrufe- denn an ein Fragezeichen. Sie kaut an ihren Fingernägeln, obwohl die schon völlig abgenagt sind.

»Ist mir klar«, knurrt Barry. Er hat die weiten Ärmel über die Hände gezogen, als wolle er in der weichen alten Wolle verschwinden.

Die Wohnung ist so leer, so aufgeräumt, so ruhig, und überall schwebt der süßliche Babyduft.

Cheryl verschränkt ihre Finger ineinander und sieht Barry aus verweinten Augen an, doch Barry weicht ihrem Blick aus und starrt in den Fernseher, wo ein Fußballspiel läuft.

»Geh um Gottes willen weg vom Fenster«, ruft er. »Das bringt doch nichts.«

***

Die Anzeige war im hinteren Teil des Mirror, ein kleines Kästchen, in dem Interessenten aufgefordert wurden, sich bei einer Chiffre in Slough zu melden.

»Bekannte Filmfirma sucht junge Familien unter der Armutsgrenze, die daran interessiert sind, an einer seriösen Dokumentarreihe über ihre Alltagsprobleme teilzunehmen.«

In ihrer Wohnung im fünften Stock des Harold-Wilson- Hauses, von dessen baufälligem Balkon aus man die mit Graffiti besprühten Eingänge zur Paddington Station überblicken konnte, wischte Cheryl, die zu diesem Zeitpunkt Victor stillte und im siebten Monat mit Scarlett schwanger war, die Marmelade von der Zeitung und las Barry die Anzeige laut vor.

Wie sie diese Vormittage liebte, wenn Barry früh am Morgen die Milch holen ging und manchmal eine Zeitung mitbrachte. Die Morgensonne durchflutete die Küche, im Radio lief ein Wunschkonzert. In solchen Momenten hatte Cheryl das Gefühl, als wären sie eine richtige Familie, mit einem Garten vor der Tür samt Hollywoodschaukel, Gokart und einem Sandhaufen voller bunter Schaufeln.

»Was zahlen sie dafür?«, fragte Barry, während er in der schäbigen Spüle eine Pfanne schrubbte. Zum Frühstück hatte es Speck, Kartoffelmus und Tomaten aus der Dose gegeben.

Cheryl sah nach. Es war ihr wichtig, dass Barry diesen Vorschlag ernst nahm. »Nichts. Aber man bekommt bestimmt Ausgaben ersetzt oder so.«

»Dann lassen wir es.« Inzwischen hatte Barry sich die Ärmel hochgerollt. Seine Locken hingen ihm in die Augen, und mit zusammengepressten Lippen bearbeitete er die angebrannten Reste. Heftig blies er in die Pfanne, und Seifenblasen stoben hoch. Grinsend wandte er sich zu ihr um, um ihr den Schaum auf seiner Nase zu zeigen. Normalerweise lachte sie darüber, doch an diesem Morgen hatte sie keinen Sinn dafür.

»Sie würden uns doch sowieso nicht nehmen. Warum sollten sie auch?« Er gehörte zu den Männern, die darauf programmiert waren, stets abgelehnt zu werden.

»Wir könnten es wenigstens versuchen, du alter Schwarzseher.«

Barry hatte plötzlich keine Lust mehr, die Pfanne zu scheuern. »Vielleicht will ich ja gar nicht, dass meine Privatangelegenheiten an die große Glocke gehängt werden.«

»Deine Privatangelegenheiten. Dass ich nicht lache. Was wäre denn das?«

»Dann wüssten zum Beispiel alle, dass wir pleite sind.« Und da war sie wieder, diese finstere Miene, die er aufsetzte, sobald sie über Geld sprachen. Wenn Barry sich ernstlich in die Ecke gedrängt fühlte, griff er nach seinem Fußball und warf ihn unaufhörlich mit voller Wucht von einer Hand in die andere. Cheryl hasste es, ihm dabei Zusehen zu müssen. Es kam ihr vor, als mache er sich über seine eigenen Träume lustig. Inzwischen hätte er es bestimmt geschafft, das wusste er, er wäre jetzt wahrscheinlich in der obersten Liga. Er hatte Talent, es lag allein bei ihm, etwas daraus zu machen. Das hatten sie ihm in der Schule erklärt und als er in der Jugendmannschaft in seinem Ort spielte. Aber alles war anders gekommen. Und wer war Schuld daran?

»Es weiß doch sowieso jeder, dass wir pleite sind. Und es könnte lustig werden.« Cheryl gab nicht so schnell auf. Alles gäbe sie dafür, auch nur einen Tag lang der Alltagsmühle zu entkommen: nicht ständig eingesperrt zu sein und sich das Nachmittagsprogramm im Fernsehen ansehen zu müssen, die Frauen in ihren Kleidern von Marks & Spencer, die auf neuen Sofas über das Leben diskutierten, in Küchen kochten, von denen Cheryl nicht zu träumen wagte, mit Teflonpfannen hantierten, und die Quizteilnehmer, die Geldsummen gewannen, die für Cheryl unvorstellbar waren.

Dennoch konnte sie sich ein Leben ohne Fernseher nicht vorstellen.

Sie durfte gar nicht daran denken, dass Barry es hätte schaffen können, wenn es ihm nicht ausschließlich darum gegangen wäre, dem Würgegriff seiner Mutter zu entkommen. Wenn er nicht seine einzige wunderbare Chance als Waffe gegen sie eingesetzt hätte. Er hatte ein Angebot der Spurs für ein Probetraining gehabt und es abgelehnt. Bis heute ist es für Cheryl völlig unverständlich, wie jemand mit so einer Begabung so handeln kann. Cheryl bildet sich ein, sie habe Talent als Schauspielerin. Vielleicht hätte sie Schauspielerin werden können, wenn sie länger an der Parkwood School geblieben wäre und diese nicht so früh verlassen hätte.

Manchmal, bei schönem Wetter, nahmen sie Victor in seinem Buggy mit in den Park oder hinunter an die Themse. Wenn es warm genug war, setzten sie sich auf eine Bank zusammen mit Donny, die früher einmal in dem Block, in dem Cheryl ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte, die Nachbarin ihrer Mum gewesen war. Jetzt lebt Marge Smith in Donnys Haus. Donny jedoch war das Opfer von Umständen geworden, die niemand genau kannte, und durchstreift nun die Straßen Londons in schwarzen, um die Füße gewickelten Müllsäcken. Cheryls Mutter rollte beim Thema Donny die Augen und meinte, sie habe sich mit ihrem Gin blöd gesoffen. Victor liebt die schmuddelige alte Donny, die ihn manchmal mit Pommes füttert. In ihrem früheren Leben war sie Liza Donnolly, und in ihrer Wohnung hätte man vom Boden essen können, so sauber war er. Immer hatten sich Kinder um sie geschart, erzählte Cheryls Mutter. »Weißt du es nicht mehr? Du warst doch auch ständig drüben bei Donny und hast Süßigkeiten geschnorrt.«

Zu ihrer üblichen Strecke gehörte auch eine Stippvisite beim Arbeitsamt, wobei das Ganze mehr an Mensch-ärgere-dich-nicht erinnerte, denn sie schafften es nie, an ihr Ziel zu kommen, sondern flogen immer wieder davor raus. Wenn sie Glück hatten, konnten sie das Geld für ein Bier am Castle zusammenkratzen, und manchmal reichte es noch zu einer Tüte Chips. Barry wollte unbedingt arbeiten, doch wenn er Arbeit hatte, war Cheryl auch nicht glücklicher. Die meisten dieser Jobs spielten sich nachts ab, und allein in der Wohnung bekam Cheryl Angst. Regale einräumen, Büros putzen, Küchenarbeit in einem Hotel im West End, Straßenbau.

Cheryl versuchte, sich zusammenreißen und nicht zu jammern.

Schließlich waren sie auf das Geld angewiesen. Die Bevölkerung war der Meinung, sie und Barry lägen dem Staat auf der Tasche, seien Schmarotzer. Sie sah Menschen, die lebten wie Barry und sie, in Talk-Shows zu, sie las über ihre Spezies in Boulevardblättern.

Bekam Barry einen Job im Straßenbau, war er tagelang weg, und sie saß mit Victor in der Wohnung fest. Und nun war sie wieder schwanger, und sie hatte Angst. Dennoch genoss sie ihren Zustand: Wenn sie schwanger war, hatte sie Kliniktermine, traf andere Mütter, mit denen sie reden konnte, und Klinikpersonal, das sich darum kümmerte, ob sie auch genug auf sich achtete.

Wenn Cheryl schwanger war, fühlte sie sich besonders.

Barry hatte alles versucht, bei allen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Regierung mitgemacht. Schließlich ging er nur deshalb noch aufs Arbeitsamt, damit sie ihm die Hilfe zum Lebensunterhalt weiter zahlten. Und wenn Barry ausgestellt wurde, was praktisch jedes Mal geschah, war es immer Mal ein solcher Aufwand, danach wieder vom Sozialamt zu leben, dass es das gar nicht wert schien. Formulare, Formulare, Formulare und Gespräche und noch mehr Schulden.

Trotz Barrys ablehnender Haltung antwortete Cheryl auf die Anzeige.

Sie waren schon so oft ihrer Illusionen beraubt worden, wenn sie sich auf dubiose Anzeigen meldeten, die ihnen – mit Geld-zurück-Garantie – versprachen, sie könnten davon leben, in Heimarbeit Seidenblumen anzufertigen, Umschläge zu adressieren und Cracker in Pappschachteln einzufüllen. Man bestellte per Post, bekam sein Päckchen und schuftete. Schuftete, bis einem fast die Finger abfielen und die Augen zu Schlitzen im Kopf wurden. Barry arbeitete manchmal die ganze Nacht durch, ohne zu schlafen.

Der Geld-zurück-Teil war Betrug: Zuerst musste man den Auftraggebern das Geld für die Sachen geben, die man verbraucht hatte. Und trotzdem war es jedes Mal aufs Neue schwierig, diesen Anzeigen zu widerstehen. Zu verlockend war die Aussicht auf schnellen Reichtum.

Cheryl warf ihren Brief an die Chiffrenummer in Slough ein und dachte beinahe pausenlos an die Anzeige. Ihr Leben war so ereignislos, da war es beinahe unmöglich, etwas zu vergessen. Stattdessen wurden Banalitäten wesentlich, und wenn sie sich nicht zusammenriss, fing sie an zu träumen.

Sie malte sich die ganze Zeit aus, wie Victors Leben aussehen würde. Sie würden eine gute Schule für ihn auswählen. Er würde richtige Freunde finden und nicht mit den bekifften Idioten aus der Nachbarschaft rumhängen. Er würde klüger werden als sie, so wie seine Mutter. Cheryl und Barry würden darauf achten, dass er lernte, und ihm bei seinen Hausaufgaben helfen. Galerien und Museen würden sie mit ihm besuchen und ihn in die Musikschule schicken.

Vielleicht könnten sie nach Irland ziehen, wo es, wie sie gehört hatte, Häuser billig zu kaufen gab. Vielleicht eines dieser alten Häuschen aus Lehm…

Hätte sie an Gott geglaubt, hätte sie für Victor gebetet.

***

Cheryl hatte eine ganz besondere Beziehung zur Mutterschaft.

Bereits in der Schule hatte sie Elternkurse belegt.

Die konnte man an Stelle von Kunst wählen.

Sie sollte ein Gesicht auf ein Ei malen und es anschließend überallhin mitnehmen. »Und damit meine ich auch überallhin«, bekräftigte Mrs. Taylor. »Damit ihr den Hauch einer Ahnung bekommt, was es bedeutet, ein Baby zu haben.«

Manche zerbrachen ihr Ei, andere wickelten es einfach in ein Papiertaschentuch, doch Cheryl bettete ihres in Watte, in eine richtige kleine Eierschachtel. Sie strickte ihm eine rote Zipfelmütze und einen Schal und behielt es, bis es stank und Mrs. Taylor meinte: »Was ist denn los mit dir? Ich hoffe, du hast dir nicht eine Art Fetisch geschaffen.«

Sie konnte das Ei einfach nicht wegwerfen.

So etwas nannte man wohl Liebe.

Und Cheryl konnte lieben, trotz der gewaltigen Narbe, die wie ein verblassendes Amulett um ihren linken Oberarm lief.

Als Cheryl ein Kind war…

»Hopp, hopp, raus aus dem Bad, sonst frierst du dir noch die Nase ab…«

Wie sie sich in ihren rosa Morgenmantel mit dem Plüschhasen auf der Tasche gekuschelt und auf ihre Geschichte gewartet hatte, das würde Cheryl nie vergessen.

»Gute Nacht, schlaf gut und träume süß von sauren Gurken.«

Bis Fred aufgetaucht war.

»Ein Mann im Haus«, schnurrte ihre Mutter.

Fred, mit seinen roten Haaren und dem Ohrring.

»So ein witziger Kerl, der ist sich für nichts zu schade«, lachte ihre Mutter.

Der rothaarige Fred mit den Sommersprossen auf der Nase.

»Ich fühl mich wieder wie eine richtige Frau«, seufzte Annie.

Fred mit dem Rosentattoo auf seinem Oberarm und seinem Ufo-Fimmel, seinem Gerede von Außerirdischen und Getreidekreisen.

Und Cheryls Mutter, Annie, lebte auf, begann, sich zu schminken, und fing an zu heulen, wenn Fred spät nach Hause kam oder als er den ramponierten Wagen kaufte oder im Bett blieb, um sich Alien anzusehen, statt auf den Bau zu gehen. Fred machte Löcher in die Türen, weil er sich weigerte, sein Dartboard abzunehmen, und wenn er mit seinem Kumpel Spicker warf, konnte Cheryl nicht einschlafen und war am nächsten Tag in der Schule todmüde.

Fred brachte die Hunde ins Haus, sehr zum Ärger der Nachbarn. Seinetwegen hatten sie die Schwierigkeiten mit den Ämtern.

Der Arzt verschrieb Cheryls Mutter Tabletten.

Die sie sich alle auf einmal in den Mund steckte.

Ihr Gesicht, das einmal rund und gesund gewesen war, begann einzufallen.

Bald übersäte Hundekot den Garten, und man konnte nicht mehr darin spielen, es stank an warmen Tagen. Ein Picknick im Gras gehörte vergangenen Zeiten an. Sogar bei geschlossenen Fenstern konnte man manchmal den Hundekot riechen.

Freitag- und Samstagabend – Cheryl war damals sieben Jahre alt – führte Fred Annie aus. Cheryl blieb allein zu Hause mit einem Video. Ihre Mutter sorgte sich häufig um sie: »Du kommst doch allein klar? Lass die Hunde in Frieden, rühr sie nicht an. Es ist in Ordnung, wenn sie draußen sind. Lass sie nicht rein, ja?«

An einem solchen Freitag kam einmal die Polizei vorbei, nachdem sich ein Nachbar beschwert hatte.

»Ganz allein zu Haus?«, fragte die Polizistin.

»Und wie alt bist du?«, wollte der Polizist wissen.

Die beiden erklärten, sie müssten Cheryl mitnehmen, während ein Kollege von ihnen ihre Mutter suchte. Man schaltete extra für Cheryl das Blaulicht ein. Während sie in der Polizeikantine wartete, flehte sie innerlich: »Beeil dich, Mum, komm endlich!« Vor Übelkeit brachte sie die Pommes, die sie ihr spendiert hatten, nicht hinunter. Man erklärte ihr, ihre Mutter sei völlig betrunken aufgegriffen worden. Sie brachten Cheryl zu Mrs. Donnolly, und Annie musste vor Gericht, wo sie ein Bußgeld auferlegt bekam.

Cheryl redete sich ein, dass alles ihre Schuld war.

Danach kam Dill von gegenüber zum Babysitten.

Dill war so alt, dass manche Teile von ihr schon tot waren oder abfielen – ihre Haare zum Beispiel, ihre Hände und ihre Fingernägel. Ihre Haut schuppte sich. Aber Dill war auf den Tod vorbereitet, sie sprach gerne darüber. Sie wollte einen einfachen Sarg aus Pappkarton und keinen Gottesdienst.

»Mambodschambo.«

Ständig machte sich Dill Gedanken über die Hunde. »Es ist nicht richtig, dass sie bei jedem Wetter da draußen sind, die armen Teufel.«

»Sie dürfen nie ins Haus«, erklärte ihr Cheryl.

»Manche Leute haben überhaupt kein Herz für Tiere. Und du gehörst schon längst ins Bett. Ich habe deiner Mum versprochen, dass du um acht in den Federn bist…«

»Fred schon«, entgegnete Cheryl. »Fred kennt sich aus.«

»Dieser Fred hat keine Ahnung. Und deine Mutter bringt er noch ins Grab. Ich sag es ihr die ganze Zeit. Aber hört sie auf mich?«

Während sie so in der Küche herumwerkelte, dabei in ihren Damenbart grummelte und den Fernseher so laut laufen ließ, dass Cheryl die Ohren schmerzten, musste Dill irgendwann die Tür zum Hof geöffnet haben. Cheryl merkte es erst, als Gorgon hereinstürzte, sich über Dills hellgrünes Strickzeug hermachte und das Tablett herunterwarf, als er an den Pudding wollte.

»Gorgon!«, brüllte Cheryl und versuchte dabei, Freds strengsten Tonfall nachzuahmen. »Zurück! Raus! Sofort!«

Der Dobermann wirbelte herum, zog die Lefzen hoch und knurrte.

Dill wackelte mit ihrem Gehstock herein und fuchtelte damit in der Luft herum. Ein verhängnisvoller Fehler. Gorgons Fell sträubte sich und stand nach oben. Er riss Dill zu Boden. Die anderen drei Hunde, die mit blutunterlaufenen Augen an der Tür gewartet hatten, brauchten keine weitere Ermutigung. Sie folgten ihrem Anführer. Sie fielen über Dill her wie hungrige Löwen. Die kreischende Cheryl konnte nichts tun, als gegen das nasse Fellknäuel zu treten und zu schlagen.

Dill trug erhebliche Verletzungen davon.

Sie war »unidentifizierbar« und laut Totenschein an Herzversagen gestorben.

Fred wurde verurteilt wegen des Haltens gefährlicher Hunde und einer ganzen Reihe von Anklagen wegen Körperverletzung und Körperverletzung mit Todesfolge. Er trat seine Haft an, als Cheryl aus dem Krankenhaus entlassen wurde, nachdem man ihr den Arm wieder angenäht hatte.

Cheryl hatte man zu den Bradburys geschickt, weil ihre Mutter inzwischen vollgepumpt mit Medikamenten wie ein Zombie in einer Nervenheilanstalt saß.

***

Als Annie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war sie zu einem regelrechten Fettkloß mutiert.

»Unidentifizierbar« wie Dill.

In ihre alten Kleider passte sie nicht mehr, und Fred war seit langem verschwunden, weshalb es ihr egal war, wie sie aussah. Doch Cheryl hing an ihrer Mutter, wie sie sie in Erinnerung hatte, und klammerte sich an das Bild, das sie als Kind von ihr hatte.

In der Woche, als sie sich auf die Anzeige bewarben, sahen Barry und Cheryl bei Annie vorbei. Sie liefen den ganzen Weg zu Fuß und schoben den schlafenden Victor im Buggy vor sich her.

In dem Augenblick, als sie ankamen, ging das Gebrüll los.

»Wenn du bei drei deinen Arsch nicht von meiner Tür wegbewegst, übernehme ich keine Verantwortung für deine Scheißgesundheit!«, schrie Annie mit hochrotem Kopf auf ihre Nachbarin, Marge, ein, während sie Cheryls Halbbruder Shane eine Ohrfeige versetzte. »Und du, kleiner Scheißer, sieh zu, dass du ins Haus kommst, bevor ich einen Mord begehe.«

Marge stemmte die Hände in die Hüften. »Du und dein Pack, ihr geht uns hier gewaltig auf die Nerven. Wir haben genug von euch. Ständig ist Theater. Und wenn es nicht Shane ist, dann ist es dieser Bobby…«

Drinnen im Haus saß Cheryl wie erstarrt auf dem Sofa und wagte es kaum, zu Barry hinüberzusehen.

So war ihre Mutter nie gewesen, nicht, bevor sie aus St. Hugh’s zurückkam. Cheryl verabscheute dieses aggressive Verhalten, es machte ihr Angst. Und ihre dicke Mutter war nach dem Krankenhausaufenthalt übervoll davon. Für Annie war das alles ein Spiel, dieser Kleinkrieg mit den Nachbarn, doch Cheryl litt schrecklich darunter. Die Gewaltszenen im Fernsehen konnte man leiser stellen oder wegzappen, doch wenn man in Wirklichkeit mitten drin steckte, war es ohrenbetäubend laut, und das Trommelfell drohte einem zu platzen. Sie hatte gesehen, wie Dill in Stücke gerissen wurde, wie ihr ein Auge heraushing.

»Halt’s Maul, du Schlampe.« Und die ›dicke Annie‹, wie man sie seit ihrer Rückkehr aus der Klinik nannte, schob ihr Kinn vor Marges Gesicht. Cheryl war den Tränen nahe. Wenn doch bloß Donny noch in dem Haus wohnte und nie die Smiths eingezogen wären. »Ihr müsst euch doch ständig beschweren, du und deine Tochter, diese Schlampe. Man könnte meinen, ihr hättet nichts anderes zu tun. Und jetzt raus hier, solange ich mich noch einigermaßen unter Kontrolle habe, oder ihr…«

Zitternd machte Marge in ihren Hausschuhen kehrt. »Und glaub bloß nicht, dass damit die Sache erledigt ist.«

»Ja? Ja?« Ermutigt durch Marges Rückzug machte Cheryls Mutter ein paar Schritte auf sie zu. »Du willst mir drohen, du eingebildete Kuh?«

»Das ist keine Drohung, meine Liebe, dieses Mal nicht.«

Zum ersten Mal schien die dicke Annie den Menschenauflauf zu bemerken, der sich vor ihrer kaputten Gartentür versammelt hatte, hauptsächlich Kinder. Sie schämte sich für ihren Garten, der voller Müll lag, Müll, den ihr die Nachbarn über den Zaun geworfen hatten.

Mit erhobener Faust rannte sie auf die gaffende Menge zu.

Ihre Gesichtsfarbe und Körperfülle erinnerten an Miss Piggy. »Und ihr Scheißhaufen, verzieht euch. Kümmert euch um euren eigenen Kram, ihr Arschlöcher.«

Vom Fenster aus, durch die mottenzerfressenen Gardinen hindurch, beobachtete Cheryl sorgenvoll die Szene. Ein kleiner Stein streifte ihre Mutter an der Wange.

Sie fasste sich mit ihrer speckigen Hand an die schmerzende Stelle.

Etwas Warmes lief ihr den Hals hinunter.

Sie spürte die Nässe, sah nach und entdeckte das Blut. »Ihr Schweine«, brüllte sie wutentbrannt, »ihr dreckigen Schweine. Das werdet ihr mir büßen, das werdet ihr mir alle büßen.«

»Komm rein, Mum«, drängte Cheryl und versuchte sie hereinzuzerren. »Lass die doch. Die sind es doch gar nicht wert.« Aber die Berührung von Cheryls Hand am Ärmel ließ Annie nur noch stärker in Rage geraten.

»Familien wie die da bringen diesen Block hier in Verruf«, rief ein junger Kerl mit einer Zigarette im Mundwinkel, der erpicht darauf war, diese Szene noch etwas auszureizen. »Ihr gehört alle auf die Straße gesetzt.«

»Keine Sorge«, rief Marge, die an ihm vorbeiging und sich wieder sicher fühlte, nachdem etwas Abstand zwischen ihr und Annie war. »Dieses Mal wird denen da oben nichts anderes übrig bleiben.« Und plötzlich sprang das Schlafzimmerfenster mit einem lauten Peng in Stücke, einige Scherben fielen auf die Straße.

In der Ferne hörte man, wie ein Zug die Fahrt verlangsamte, als er über ein Viadukt fuhr. Das Geräusch hatte Cheryl schon immer sentimental gemacht, sogar in diesem Moment.

»Haut ab, Dreckspack«, brüllte Annie. Doch mit den Glassplittern hatte sie auch Panik überfallen und verdrängte ihre Wut. Sie presste die Lippen zusammen und zwängte sich durch die Menschen zu ihrer Haustür.