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Dr. Norden Bestseller
– 175 –

Miriam hat ein Geheimnis

Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2022 Kelter Media GmbH & Co. KG, Averhoffstraße 14, 22085 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © Kelter Media GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74090-457-9

Dr. Daniel Norden war schon im Begriff, seine Praxis zu verlassen, um noch einige Hausbesuche zu machen, als Loni ihm nachgelaufen kam.

»Eben hat Frau Hemming angerufen. Miriam scheint mal wieder krank zu sein«, sagte sie hastig. »Sie möchten doch bitte vorbeischauen.«

»Ist schon merkwürdig«, sagte er, »am Sonntag hat sie doch in Bestform das Tennisturnier gewonnen. Wahrscheinlich zeigt sie für die Schule mal wieder eine lustlose Tendenz.«

Er kannte seine Pappenheimer. Miriam Hemming wäre am liebsten schon nach der mittleren Reife vom Gymnasium abgegangen, um sich nur noch dem Sport zu widmen, aber Martin Hemming hatte diesen Wünschen ein entschiedenes Nein entgegengesetzt. Für Professor Dr. Hemming, der zusätzlich noch mit der Ehrendoktorwürden ausgezeichnet war, schien es undenkbar, daß seine Tochter mit der mittleren Reife von der Schule abging.

An diesem Tag sollte Dr. Norden jedoch von Miriams Mutter etwas erfahren, das ihn sehr nachdenklich stimmte und ihm Miriams Trotz begreiflich machte.

Die Hemmings bewohnten eine schöne alte Villa, die bestens erhalten und stilvoll renoviert war. Auch die Inneneinrichtung ließ keinen Zweifel aufkommen, daß hier überaus kultivierte Menschen lebten, die zudem auch das nötige Geld besaßen, um sich Kostbarkeiten aller Art zu leisten. Und irgendwie schien Miriam nicht ganz in diese Welt zu gehören.

Sie war achtzehn und wie viele ihrer Altersklasse aller Konventionen abhold. Sie lief am liebsten in verwaschenen Jeans und saloppen Pullovern herum, drückte sich vor allen gesellschaftlichen Veranstaltungen, wann immer ihr dies möglich war.

Dr. Norden wußte sehr genau, daß es die Eltern nicht leicht mit Miriam hatten, doch an diesem Tag schien sie tatsächlich krank zu sein.

Sie war kein Sensibelchen, sondern ein sehr sportliches Mädchen. Tennis, Reiten, Schwimmen, Skilaufen, überall wollte sie vorn sein, siegen und Pokale sammeln, als sichtbare Zeichen ihres Könnens. Der erfahrene Arzt Dr. Norden ahnte, daß sie von einem maßlosen Ehrgeiz getrieben wurde, sich auf Gebieten zu beweisen, die Martin Hemming überhaupt nicht interessierten. Aber warum das so war, sollte er eben erst an diesem Tag erfahren.

Miriam litt an Magen- und Kopfschmerzen, und das war nicht gespielt. Nur die Ursache konnte Dr. Norden nicht gleich ergründen.

»Haben Sie was Verdorbenes gegessen, Miriam?« fragte er.

»In diesem Haus kommt so was nicht auf den Tisch«, erwiderte sie abweisend. »Wir hatten gestern abend einen Treff, da haben sie so ein komisches Gesöff gebraut, du lieber Himmel, sagen Sie bloß nicht weiter, daß ich solchen unfeinen Ausdruck gebraucht habe. Der liebe Papa ist pikiert. Ich habe von dem Zeug ja nicht viel getrunken, aber Lissy hat mir dann noch eine Tablette gegeben und mir damit wohl den Rest.«

»Was für eine Tablette?« fragte Dr. Norden.

»Weiß ich nicht. Ich habe gedacht, sie hilft, aber das Gegenteil war der Fall. Ihnen sage ich das, aber meine Eltern würden nur wieder auf Lissy losgehen. Ich muß morgen fit sein. Ich habe Fahrprüfung.«

Das war ihr natürlich wichtiger als die Schule. Und ein wenig wunderte sich Dr. Norden doch, daß ihr solche Wünsche doch erfüllt wurden, obgleich sie in der Schule den in sie gesetzten Erwartungen nicht entsprach. Dabei konnte man nicht sagen, daß es ihr an Intelligenz gemangelt hätte. Auch da hatte Dr. Norden seine eigene Meinung.

»Was war denn das für ein Gesöff, Miriam?« fragte er.

»Eine Bowle. Sie haben wohl alles reingekippt, was noch vorhanden war, und schlecht geschmeckt hat es auch nicht. Aber ich glaube, daß die meisten gelitten haben. Und ich habe natürlich auch noch eine Standpauke bekommen, als ich nach Hause kam. Ist man nun mit achtzehn Jahren mündig oder nicht?«

»Das kommt auf die persönliche Reife an«, erwiderte Dr. Norden.

»Und die sprechen Sie mir nicht zu«, stieß Miriam hervor.

»So will ich es nicht sagen, Miriam. Sie nehmen alle Vorteile, die Ihnen das Elternhaus bietet, gern in Anspruch. Und ich stehe auf dem Standpunkt, daß man sich erst als mündiger Bürger erweist, wenn man auch auf eigenen Füßen stehen kann, sein Geld selbst verdient und gelernt hat, damit umzugehen.«

Sie runzelte die Stirn. »Mein Stiefbruder ist fünfundzwanzig und studiert immer noch. Ihm wird doch Reife zugebilligt, obgleich er auch alle Vorteile, die ihm das Elternhaus bietet, in Anspruch nimmt.«

»Ihr Stiefbruder?« entfuhr es Dr. Norden staunend.

Ihre Lider senkten sich. »Martin Hemming ist nicht mein richtiger Vater. Ich dachte, Sie wissen das.« Dann preßten sich ihre Lippen aufeinander. »Man möchte nicht darüber reden«, fügte sie trotzig hinzu.

»Ich werde nicht darüber reden«, sagte er. »Ist es das, was Sie aufsässig macht, Miriam.«

»Man ist immer gleich aufsässig, wenn man nicht so will wie die Eltern. Warum soll ich eigentlich so lange auf der Schulbank hocken, wo man doch von mir erwartet, daß ich bald mal eine gute Partie mache? Natürlich muß es ein Akademiker sein und möglichst zehn Jahre älter, bestens situiert.« Sie lächelte spöttisch, aber es war ein schiefes Lächeln. »Freilich sollte ich mich auch entsprechend benehmen, aber sie können lange warten. Ich werde nämlich überhaupt nicht heiraten.«

Dr. Norden betrachtete sie ernst. »Es wird ja nicht mehr lange dauern, dann können Sie Ihren Eltern beweisen, was in Ihnen steckt, Miriam«, sagte er ruhig. »Sie sollten sich vorher nur darüber klar werden, daß ein gutes Leben teuer ist. Vielleicht denken Sie auch mal darüber nach, was allein Sportgeräte und die Trainerstunden kosten. Ich meine, wenn man mündig sein will, sollte man das auch wissen.«

Sie sah ihn jetzt mit einem seltsamen Ausdruck an. »Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber ich mache mir Gedanken darüber, Herr Dr. Norden«, sagte sie tonlos. »Zumindest seit gestern.«

Mehr sagte sie dazu nicht, aber es schien ihr schon besserzugehen.

»Trinken Sie Kamillentee und essen Sie dazu Zwieback, Miriam«, empfahl er ihr. »Und von diesen Tropfen nehmen Sie stündlich zehn. Es ist ein homöopathisches Mittel und schmeckt auch nicht schlecht. Ich denke, daß Sie dann morgen fit sein werden.«

»Aber sagen Sie Mama nichts, daß ich morgen Fahrprüfung habe«, flüsterte Miriam. »Ich will sie nämlich überraschen.«

»Dann toi, toi, toi, aber vielleicht können Sie sich dazu durchringen, Ihre Eltern auch mit einem einigermaßen guten Abitur zu überraschen.«

Draußen wartete Regine Hemming, eine schlanke, zierliche Frau, die man wirklich schön nennen konnte. Sie sah Dr. Norden fragend an.

»Morgen geht es Miriam bestimmt wieder besser«, sagte er beruhigend. »Sie hat gestern abend anscheinend so ein Mixgetränk nicht vertragen. Jedenfalls war es ihr wirklich schlecht, Frau Hemming.«

»Es ist ja unser Kummer, daß sie so viel mit dieser Lissy und deren Clique beisammenhockt«, sagte Regine Hemming leise. »Mein Mann regt sich darüber sehr auf.«

Sie sah ihn hilflos an und deutete dann auf die Wohnzimmertür. »Wenn Sie ein paar Minuten Zeit hätten«, fügte sie stockend hinzu.

Er nickte zustimmend. Er spürte, daß auch sie Rat brauchte. Regine kam auch gleich zur Sache.

»Ich hörte zufällig, daß Miriam über ihren Stiefbruder sprach, Dr. Norden«, begann sie zögernd. »Wir wollen solche Bezeichnung eigentlich nie aufkommen lassen, aber leider hat Miriam voriges Jahr durch eine Nachlaßsache erfahren, daß Martin nicht ihr richtiger Vater ist. Miriams Vater, ich war mit ihm nur ein paar Monate verheiratet, als er auf tragische Weise ums Leben kam, hatte gar nicht erfahren, daß ich ein Kind erwartete. Er war Bankangestellter und wurde bei einem Überfall auf die Bank getötet. Seine Mutter, die schwer krank war, starb vor Kummer. Sein Vater ging zu einem Freund nach Südafrika. Er unterstützte mich finanziell. Als Miriam geboren war, ergab es sich, daß ich Martin kennenlernte. Seine Frau war bei der Geburt von Bendedikt gestorben. Der Junge war sechs Jahre. Er hatte mich gern. Ich will es kurz machen. Es war anfangs eine Vernunftsheirat, aber ich kann sagen, daß wir uns sehr gut verstanden, und es gab überhaupt keine Probleme, auch zwischen Miriam und Benedikt nicht, bis die Nachricht kam, daß Miriams Großvater gestorben war und sie zur Erbin eingesetzt hatte. Es war ein recht beträchtlicher Nachlaß. Dadurch erfuhr sie jedoch, daß sie einen anderen Vater gehabt hatte, und seither hat sich ihr Verhältnis zu Martin und auch zu Benedikt geändert. Ich kann es nicht begreifen, was da in ihr vor sich ging. Mir machte sie den Vorwurf, daß ich es ihr nicht hätte verschweigen dürfen. Wir haben es doch nur gut gemeint. Wir hatten ein harmonisches Familienleben. Ich fürchte fast, daß sich Miriam dadurch so verändert hat, weil sie nun über ein eigenes Vermögen verfügen kann. Sie ist ja achtzehn. Sie dürfen mich nicht mißverstehen, Dr. Norden. Es ist für Miriam eine Gefahr, von diesem Geld zu wissen.«

Das ist es also, dachte Dr. Norden. Sie fühlt sich unabhängig, sie wagt nur noch nicht den Absprung. Aber zugleich wußte er auch, daß Miriam in dieser intakten Familie zu verwurzelt gewesen war, um Hals über Kopf alles im Stich zu lassen.

»Ist es denn so viel Geld, daß sie sich damit eine Existenz aufbauen könnte?« fragte er.

Regine nickte.

»Das schon, aber Miriam läßt sich ja so leicht ausnutzen. Sie ist gutgläubig und großzügig. Wir wollen sie doch nicht verlieren. Dr. Norden, ich fürchte, daß sie unter dem Einfluß dieser Clique in eine Situation getrieben wird, der sie nicht gewachsen ist. Meinen Mann hat Miriams Benehmen so empfindlich getroffen, daß er jetzt zu einer ungerechten Einstellung neigt. Es gibt jetzt auch zwischen uns Spannungen. Ich bin doch Miriams Mutter. Was soll ich nur tun, damit Miriam begreift, daß wir es nur gut meinen?«

»Vielleicht sollten Sie einmal ganz offen mit ihr sprechen, was Ihnen an ihrem Umgang nicht gefällt, und was Ihren Mann kränkt.«

»Ich habe es versucht, aber sie scheint zu denken, daß ich Martin damals nur geheiratet habe, um mir ein gutes Leben zu verschaffen. Und plötzlich wirft sie mir auch vor, daß ich Benedikt ohnehin viel lieber hätte als sie.«

»Das ist doch ein Zeichen von Unreife«, sagte Daniel Norden. »Immerhin ist zu bedenken, daß sie sehr verwöhnt worden ist und ihr praktisch jeder Wunsch erfüllt wurde, abgesehen davon, daß sie die Schule vorzeitig verlassen wollte.«

»Sie wirft mir vor, daß ich ihr den gütigen Großvater vorenthalten habe, dabei hat er niemals den Wunsch geäußert, Miriam zu sehen, und ich bin sogar davon überzeugt, daß er davon absah, um Miriam nicht in Konflikte zu bringen. Ich hatte ihm mitgeteilt, daß Martin Miriam adoptieren wolle, als wir geheiratet hatten, und er hat mir sehr freundlich seine Zustimmung mitgeteilt. Er schrieb, daß es gut sei, wenn das Kind einen anständigen Vater bekäme.«

»Weiß Miriam das?« fragte Dr. Norden.

»Sie benimmt sich sehr unfair, wenn ich darüber mit ihr sprechen möchte. Und ich muß zugeben, daß ich dadurch auch äußerst gereizt werde, wenn sie sagt, daß Martin gar nicht das Recht hätte, über ihr Leben zu bestimmen. Ich will nicht, daß meine Ehe zerstört wird, aber sie scheint es darauf anzulegen.«

»Vielleicht sehen Sie das jetzt auch zu kraß, Frau Hemming.«

»Wir leiden unter den Spannungen, Benedikt, der Miriam doch wirklich stets ein guter Bruder war. Und am schlimmsten ist es, wie sich Miriam gegenüber Nadja benimmt.«

»Wer ist Nadja?«

»Benedikts Freundin.«

»Entspricht sie Ihren Vorstellungen?«

Er sah, wie sie zögerte. Ihr Blick irrte ab. »Wir kennen sie nur flüchtig«, erwiderte Regine ausweichend. »Jedenfalls läßt Miriam kein gutes Haar an ihr, und als Benedikt Nadja einmal mitbrachte, benahm sie sich so beleidigend, daß es peinlich war. Seither hat Nadja unser Haus nicht mehr betreten.«

»Und wie verhält sich Benedikt?«

Regine zuckte die Schultern. »Aus ihm wird man sowieso nicht klug. Ich glaube nicht, daß er jetzt schon an eine feste Bindung denkt.«

»Vielleicht spielt bei Miriam eine gewisse Eifersucht mit?«

»Eifersucht?« fragte sie bestürzt.

»Es könnte sein. Solange sie nicht wußte, daß sie einen anderen Vater hat, war alles in Ordnung, wie Sie sagen. Dann aber hatte sich etwas verändert. Sie könnte sich in eine Abseitsstellung gedrängt gefühlt haben.«

»Aber das ist doch absoluter Unsinn, ich meine, es ist völlig abwegig.«

»Aus Ihrer Sicht, aber nicht aus der Miriams. Der Vater war plötzlich nicht mehr der Vater, der Bruder nicht der Bruder, und die Mutter gehörte auch zu den beiden. Wahrscheinlich war sie gerade in einer Pubertätsphase, in der Mädchen besonders empfindlich sind. Es könnte sein, daß gerade eine heimliche Liebe mitspielte oder eine enttäuschende Freundschaft. Sie sollten dies einmal behutsam mit Miriam erörtern. Ich möchte mich da jetzt nicht einmischen. Es könnte alles noch verschlimmern.«

Aber später sollte er bereuen, daß er nicht mit Miriam gesprochen hatte.

*

Daniel Norden sprach am Abend mit seiner Frau Fee über Miriam. Sie kannte das Mädchen vom Tennisclub her.

»Weißt du, was Miriam für Bekannte hat?« fragte er.

»Im Club hält sie sich meistens nur zum Spielen auf, und man reißt sich darum, gegen sie anzutreten. Sie ist schon eine Klasse für sich, unheimlich stark für ein

Mädchen. Beim Schwimmen ist sie allerdings mit einer Clique zusammen, die nicht gerade sympathisch ist.«

»Du siehst sie auch dort?« fragte Daniel erstaunt.

»Ich gehe doch mit den Kindern jeden Dienstag eine Stunde, und wenn wir gehen, sind die schon eingetroffen. Da geht es dann gleich laut zu. Die Lissy Ainmiller ist so eine Type. Ich verstehe nicht, daß Miriam sich mit ihr abgibt.«

»Du meinst, weil Ainmiller Metzger ist?«

»Blödsinn. Die Eltern werden sicher nicht viel Freude an ihrer Tochter haben. Lissy ist unter die Punker geraten. Sie sieht grauenhaft aus. Und die dazugehörigen Buben sind auch rechte Rowdys. Ich verstehe schon, wenn Hemming solchen Umgang für seine Tochter nicht gern sieht.«

»Sie ist seine Adoptivtochter«, warf Daniel ein.

»Was du nicht sagst«, staunte Fee. »Woher weißt du das?«

»Von Mutter und Tochter, und seit Miriam davon weiß, scheint es die Probleme zu geben.«

Er erzählte ihr, was er von Regine Hemming erfahren hatte. Fee sah ihn nachdenklich an.

»Sie müßte froh sein, daß sie so einen Vater bekommen hat«, meinte sie.