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Band 1

Alexander Röder

Im Banne des

Mächtigen

KARL - MAY - VERLAG
BAMBERG
RADEBEUL

Herausgegeben von
Thomas Le Blanc und Bernhard Schmid

In der Reihe „Karl Mays Magischer Orient“ sind bisher erschienen:

Band 1 – Alexander Röder Im Banne des Mächtigen

Band 2 – Alexander Röder Der Fluch des Skipetaren

Band 3 – Alexander Röder Der Sturz des Verschwörers (2017)

Band 4 – Alexander Röder Die Berge der Rache (2017)

Thomas Le Blanc (Hrsg.) Auf phantastischen Pfaden

Eine Anthologie mit den Figuren Karl Mays

Weitere Informationen zur Reihe „Karl Mays Magischer Orient“ finden Sie im Internet auf www.magischer-orient.karl-may.de

© 2016 Karl-May-Verlag, Bamberg
Alle Urheber- und Verlagsrechte vorbehalten
Illustration: Elif Siebenpfeiffer
Umschlaggestaltung: Petry & Schwamb, Freiburg
Lektorat: Jenny Florstedt
ISBN 978-3-7802-1401-0
www.karl-may.de

Inhalt

1 In Basra

2 Auf dem Basar

3 Ein seltsames Zelt

4 Enthüllungen

5 Der Überfall

6 Ein seltenes Pferd

7 Gräber und Ausgräber

8 Unter Gelehrten

9 Abu Seifs Vermächtnis

10 Ein Fanal

11 In Gefangenschaft

12 Eine Zuflucht

13 Ein Kompass

14 In der Schlucht

15 Der Tempel

16 Im Untergrund

17 Der Schlund des Baal

18 Treppen und Schächte

19 Ein Gefecht

20 Zwei Duelle

21 Der Musaddas

22 Fata Morgana

23 Füchse und Jäger

24 Der Einsiedler

25 Kalat al-Hamra

26 Bestien

27 Al-Kadir

28 Das Spiel der Macht

29 Sieger und Besiegte

30 Abschiede

Nachwort

1874
in einem magischen Orient …

Erstes Kapitel

In Basra

„Haltet den Dieb!“

Ich, Kara Ben Nemsi, rannte durch den Basar von Basra. Mir hinterdrein mein Freund Hadschi Halef Omar und unser Reisegefährte Sir David Lindsay. Wir waren bestohlen worden! Gleich mehrere wertvolle Dinge hatte uns ein kleiner, schmutziger Dieb geraubt und war dann im Gedränge verschwunden. Wir folgten ihm jedoch hart auf den Fersen!

Nun war ich schon immer ein geübter Sprinter und mit langen, kräftigen Beinen ausgestattet. Und auch Halef, der mir in der Körperlänge zwar um einiges nachstand, war schnell und gewandt, trotz seiner kurzen und dünnen Laufwerkzeuge. Doch hier maßen wir uns nicht im Wettrennen, noch verfolgten wir einen Flüchtenden in offenem Gelände oder auf dem breiten Boulevard einer europäischen Metropole. Wir rannten durch einen orientalischen Basar, in dessen Gassen es von Menschen wimmelte. Und diese Gassen waren eng. Nicht allein, weil sie sich zwischen den geduckten arabischen Ziegelhäusern hindurchzwängten, sondern weil sich an diesen Häuserwänden entlang noch Marktstände drängten und mit ihnen Kistenstapel und Warenkörbe und Gestelle mit Auslagen jeglicher Art.

All diese Menschen und Marktgegenstände bildeten Hindernisse unserer wilden Jagd hinter dem Dieb her. Den britischen Lord mochte es an eine Parforcejagd erinnern. Doch hier folgten keine Adligen in roten Jacken zu Pferde einem bedauernswerten Fuchs durch die malerische britische country-side. Wir hatten keine Pferde, noch nicht einmal eine Hundemeute, die uns den Weg hätte bahnen können. Und so drängten wir uns selbst durch die Marktbesucher, die empört schrien, als sie von uns beiseite gestoßen wurden. Der kleine Fuchs hingegen, oder vielmehr der kleine Dieb, schlüpfte zwischen dem Dickicht aus Beinen hindurch, drängte sich unterhalb von Hüften und Körben und Bündeln geschickt und mühelos an allem vorbei, was ihm auf seiner Flucht im Wege stand. Uns jedoch begleiteten wütende Rufe von Käufern und Verkäufern, von Händlern und feilschenden Kunden. Doch nicht allein Worte flogen durch die Luft. Das Stoßen und Schieben forderte auch seinen Tribut an Waren, und so entglitten Früchte und Schüsseln, Krüge und Brotlaibe den Händen, die sie eben noch gehalten hatten. Obst in allen Farben und Formen flog durch die Luft, auch Gemüse in allen Gestalten und Grüntönen. Gebäck und Getreide löste sich in Kaskaden von Krümeln und Klumpen auf und spritzte und sprühte umher. Die Umstehenden wurden hierdurch nur staubig oder von kleinen Stücken getroffen, aber es ergossen sich auch Rosenwasser und Limonade und Orangen-Julep über die Köpfe, und allerlei Öle aus Baumfrüchten oder Feldkörnern schwappten und klatschten auf Schultern und Füße. Auch sprangen und klangen Münzen jeden Wertes und jeder Größe von Handflächen und zwischen Fingern hervor und klingelten zu Boden.

Zunächst hatten die Menschen nur empört geschrien, weil sie ihr Gleichgewicht verloren oder in ihrem eifrigen Gang gestört wurden. Aber als nun auch Waren, Güter und Geld in Mitleidenschaft gezogen wurden oder verlustig gingen, da flogen nicht nur die Flüche, sondern auch die Fäuste. Vielleicht flog auch das eine oder andere Messer.

Ich muss nun gestehen, dass ich all das nur im Vorüberrennen erlebte und aus dem jeweiligen Augenwinkel sah. Ich empfand nur kurze Eindrücke des Ganzen, als hätte ich zu rasch durch ein Buch mit bunten Illustrationen geblättert. Alles um mich herum, vor und hinter mir, stellte sich dar wie der Bilderbogen eines Moritatensängers, dessen bunte Schautafeln zu rasch gezeigt und dessen Drehorgelmelodie zu rasch gekurbelt wurde. Oder genauer noch: Diese Kaskaden von Farben und Bewegung kamen mir vor, als würde der Mann an der Laterna Magica seine Hinterglasmalereien in wahnwitzigem Tempo vor die Projektionslampe schieben und ein Flackern und Irrlichtern auf der Leinwand erzeugen, wie man es sich kaum vorstellen kann.

Da sah ich die blitzartigen Tableaus von einem beleibten Mann, dem der rote Fez vom dicken Scheitel sprang. Eine Pyramide aus Melonen kollerte auseinander. Eine Frau haschte einem aufgelösten Bündel flatternder Taschentücher hinterher. Die Markise eines Marktstands senkte sich auf einen Händler und verwandelte ihn in ein gestreiftes Gespenst. Eine Papiertüte zerriss und entließ dunkle Gewürzkörner, die wie ein Fliegenschwarm auseinanderstoben. Zwei Kinder duckten sich ängstlich und ein dünner Mann stolperte rücklings über sie.

Überall Rufe und Schreie und Klagen!

Und ich hatte mit meinen Gefährten all das unfreiwillig mit verursacht und konnte mich kaum entschuldigen und um Verzeihung bitten, denn ich war eilig und hastig unterwegs und brauchte meinen Atem für die Verfolgungsjagd, denn, man vergesse dies nicht, ich rannte hinter einem dreisten Dieb her, der uns im Basar von Basra bestohlen hatte.

Doch ich will von Anfang an berichten …

Es war im Jahre 1874, als ich mit meinem Gefährten Halef nach Basra kam. Damals war ich schon weit im Orient gereist, kannte aber Basra noch nicht so, wie ich es jetzt kenne. Und deshalb rief der Name der Stadt vielerlei Bilder in mir hervor, wie es wohl einem jeden von uns ergehen mochte, der die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht in Erinnerung hatte, jene orientalischen Märchen und Fabeln, welche die selbst sagenhafte Scheherazade in den Haremsnächten dem Sultan erzählte und von denen sich nicht wenige in der Hafenstadt Basra oder Bassorah, wie es auch genannt wurde, zugetragen haben sollen. Man mag sich bei dieser ehrwürdigen, mehr als zwölf Jahrhunderte alten Stadt, der ältesten unter den Kalifenstädten, auch durchaus weniger verzauberten als vielmehr irdischen Gedanken hingeben.

Doch wer sich an Pracht und Geschäftigkeit, Abenteuern und dem Ruch der weiten Welt einer Hafenstadt ergötzen will, der mag enttäuscht werden. Gleichwohl der Golf von Persien auch das Meer von Basra geheißen wird und hier gewissermaßen das Tor zum Seeweg nach Indien ist – so liegt Basra doch nicht am Meer, sondern achtzig Meilen von diesem entfernt. Nun mag es zutreffen, dass auch die weltberühmten Hafenstädte wie das britische London oder das deutsche Hamburg sich nicht direkt am Meer befinden, doch liegen sie immerhin an einem rege bewegten Strom, wie der Themse oder der Elbe, und nicht eine halbe Wegstunde entfernt von jenem Zusammenfluss von Euphrat und Tigris, der Schatt-el-Arab genannt wird und welcher ein Überschwemmungsgebiet ist, in dessen Umgebung das Wasser steht, übel riecht und ungesunde Dünste verbreitet. Davon unbehelligt scheinen einzig die direkten Bewohner des Schilf- und Rieddickichts entlang der verlandeten Flussufer, die zu Tausenden dort lebenden Rohrsänger, namentlich der Basra-Rohrsänger, die sich durch geringere Größe, weißen Bauch und spitzeren Schnabel von den anderen Rohrsängern unterscheiden.

Und obwohl es in Arabien ohnehin heißer ist, viel heißer als im heißesten Sommer des europäischen Nordens, so steigen die Temperaturen rings um Basra selbst für arabische Regionen in besonders erstaunliche Höhen. Kurzum, es ist von Landschaft und Klima her in Basra nicht besonders erquicklich.

Wer sich nun wiederum auf die märchenhaften oder geschichtlichen Wurzeln Basras besinnen möchte, als Heimat Sindbads des Seefahrers oder als Gründungsort der ersten mohammedanischen Gelehrtenakademie durch den gefeierten Ibn Risaa, oder weil die Stadt in ihrer Geschichte und Vorgeschichte mit den Namen der großen Herrscher Sultan Omar, Alexander dem Großen und gar Nebukadnezar verbunden ist, den muss ich ebenfalls enttäuschen. Denn das heutige Basra ist eine Neugründung und liegt zwei Meilen von Alt-Basra, auch Kubbet-el-Islam, Kuppel des Islam genannt, entfernt. Alt-Basra besteht aus antiken Ruinen und armen Hütten, Neu-Basra aus gebrannten Ziegeln und Rohrgeflecht. Es gibt vielleicht zehntausend Bewohner und ein vielhundertfaches an Dattelpalmen rings umher. Die Schwemmlandregion ist durchaus fruchtbar, doch ohne die Schiffbarmachung der Ströme und die Errichtung moderner Kai-Anlagen im Hafen kann dies nicht in rechtem Ausmaß genutzt werden. Immerhin hatte der Wali, also der Gouverneur von Bagdad, Midhat Pascha mit Namen, in dessen Zuständigkeit auch Mossul und eben Basra fielen, in den vergangenen Jahren sein Glück versucht, dem wirtschaftlichen und kulturellen Verfall entgegenzuwirken, doch es würde wohl noch einige Jahrzehnte dauern, bis Basra wieder so blühte, wie es dies einst vermochte.

Warum also, mag der Leser fragen, hatte ich mich nach Basra begeben? Nun, der Geschäfte wegen, aber kurioserweise nicht meiner eigenen. Denn Halef und ich hatten uns mit unserem alten Freund Sir David Lindsay verabredet, dem britischen Lord mit seinen großen Reichtümern und dem Faible für graukarierte Kleidung. Um ihn zu treffen, verließen wir unser Quartier, eine mit den Umständen Basras verglichen recht angenehme Wohnung in privatem Besitz, gelegen in der Nähe des Marghil oder Kut-i-Frengi, wie vor Ort das englische Konsulat genannt wird und welches zweifellos das beste Gebäude von Basra darstellt. Wir hatten jetzt schon beschlossen, erneut dort unterzukommen, sollten unsere Wege je wieder nach Basra führen. Mit Sir David wollten wir einen Kahwe zur Begrüßung trinken und einen Tschibuk auf das Wiedersehen rauchen, denn er würde an diesem Tag per Dampfer in Basra eintreffen. Trotz der Bequemlichkeit waren wir übereingekommen, die Kaffeehäuser in der Nähe des Hafens zu meiden. Auch ohne dort die Maßstäbe von Wien oder Paris anzulegen, mangelte es dem Kaffee und dem Tabak an Qualität, was ein Beleg war für die Geschäftstüchtigkeit der klugen Orientalen, den Fremden und Reisenden, die unterschiedslos nach Erfrischung lechzen, jenes vorzusetzen und anzubieten, was man anderweitig nicht verbrauchen oder verkaufen kann. Aber dann wiederum: Ist dies nicht die Geschäftsidee eines jeden Wirts weltweit, der eine Hafenkneipe oder ein Ausflugslokal besitzt? Dennoch: Die Gerüchte von Schnecken im Scherbet ließen uns endgültig jene Örtlichkeiten meiden, die sich an der Stadtmauer in der Nähe der Zollgebäude befanden.

Von Ferne hörten wir die Schiffspfeife eines davonfahrenden Dampfers, die uns sagte, dass die wenigen Waren und Reisenden glücklich an Land gebracht worden waren, mit Kähnen und Schaluppen, eben wegen der fehlenden Kaimauern und Anlegestege. Auch Sir David hatte jetzt wohl Basras Boden betreten. Wir eilten uns ein wenig, bogen um eine Ecke, erreichten den Ort, den man in Basra einen Hafen nannte. Ohne die üblichen Bauten, die man an einem Hafen erwartet, war es nur eine Art langgezogener Markt oder vielmehr Umschlagplatz von Waren, an dem Kisten und Bündel gestapelt, umgestapelt und verladen wurden. Der Lärm und die Rufe, die umherlaufenden Menschen und der Geruch des Wassers ergaben dennoch jene Atmosphäre, die einen Hafen zu einem Hafen macht, wie klein und unausgebaut er auch sein mochte.

Als wir uns näherten, schoben sich die Menschen und die Waren wie Kulissen beiseite und wir wurden Zeugen eines frappierenden Anblicks: Obgleich wir um die Marotte unseres Freundes wussten, sich von Kopf bis Fuß, von Hut und Halstuch bis Socken und Gamaschen in graukariertes Tuch zu kleiden, durften wir erleben, wie unsere Augen sich an einem unerhörten Kontrast weiden konnten. Denn wer nun erwartet hatte, dass der graukarierte Brite für seine graukarierten carpet-bags und Felleisen, seine Koffer und Taschen also, einen ebenso grauen, wenngleich sicherlich nicht karierten, Esel gemietet hätte, wie sie überall in Basra und besonders am Hafen als Lasttiere feil geboten werden, der hatte sowohl die Spleens des Engländers wie auch die Besonderheit der Esel von Basra außer Acht gelassen. Denn hier in Basra, wie sonst nur in Bagdad, gibt es unter den Eseln viele Schimmel, also schneefarbene Weißtiere, wohingegen der Esel überall auf der Welt sonst nur ein Grautier ist, wie schon der Zoodirektor Alfred Brehm vor fünf Jahren in seinem erfolgreichen „Illustrierten Tierleben“ bemerkte. Warum die weißen Esel hier im Zweistromland so gut gedeihen, ist ein Sachverhalt, über den sich der englische Naturforscher Charles Darwin mit dem braven Augustinermönch Gregor Mendel trefflich würde unterhalten können, wenn das Interesse des einen sich nicht ausschließlich auf Galapagosfinken und des anderen auf mährische Erbsenblüten beschränken würde.

Jedenfalls sah der wackere graue Brite neben seinem weißen Esel so ergötzlich aus, dass selbst Halef, der gemeinhin, wie es dem Orientalen üblich ist, gern in Farben schwelgt und diese auch gern am Leib trägt, sich zu einem Kompliment genötigt fühlte. „Sihdi“, sagte er, „dies ist ein Anblick, den ich gern als Motiv der modernen fränkischen Kunst der Lichtbildnerei, der futugrafia, sehen würde. Denn bei diesem Mangel an Farben im Leben würde das Bild dem Leben so nahe kommen, wie es sich jener Mussr da-Gerr wohl stets ersehnt hat!“

Halef meinte hier den Franzosen Louis Daguerre, den Erfinder der Fotografie. Wenn von meinen Lesern sich nun einer fragt, warum Halef, der Sohn der Wüste, über die moderne Technik der Europäer so gut unterrichtet ist, dann ist die Antwort ebenso einfach wie naheliegend: Halef ist so bewandert, weil wir auf unseren gemeinsamen Reisen lange Gespräche über unsere beiden Heimatländer und Lebensregionen führten und ich Halefs Hunger nach Neuem gern stillte, auch wenn ich gelegentlich den Verdacht hatte, dass er mir nicht alles glaubte, was ich berichtete, oder nicht zugeben wollte, wenn er meine Erklärungen in seiner Erinnerung später durcheinanderbrachte. Allerdings ist es nun so, dass Halef sich durchaus zu einem Mann von Bildung entwickelt. Denn gerade aufgrund seiner Welterfahrenheit und Kenntnisse ist er trotz seiner noch jungen Jahre bereits Mitglied im Stammesrat der Haddedihn-Beduinen. Er hat dort auch erreicht, dass die Kinder des Stammes die Vorzüge eines Lehrers mit europäischer Ausbildung genießen können. Dieser Lehrer, ein Deutscher, hat sich bereit erklärt, mit dem Stamm einige Zeit mitzuziehen, um neben seiner Lehrtätigkeit seinerseits Wissen und Erfahrungen zu sammeln, die ihm gewiss sehr zugute kommen werden. Meine Leser kennen ja meinen eigenen Lebensweg: Auch meine Reisen und Abenteuer habe ich in meinen Büchern niedergeschrieben.

Halef nun hatte seinen ganz eigenen klugen Weg gefunden, an der Bildung der Stammessprösslinge Anteil zu haben. Denn er setzt sich stets in die hinterste Reihe der Schüler und lauscht und lernt eifrig. Er würde natürlich nie zugeben, dass er die Schulbank drückt – zumal es ja gar keine Schulbänke gibt, sondern nur, wenn man so will, Schulteppiche – sondern er bezeichnet es als Überwachen des Lehrers, damit dieser seine Befugnisse nicht etwa überschreitet und Dinge lehrt, die den heranwachsenden Wüstensöhnen und Wüstentöchtern etwa europäische Flausen in die Köpfe setzen würden. Aber natürlich kommt so etwas nie vor, denn der Lehrer ist ein vertrauenswürdiger Mann namens Lohse, der vom vorzüglichen Lehrerseminar aus dem sächsischen Waldenburg herstammt.

Zurück nun zu Halef und seinem „Mussr da-Gerr“ und dem erwünschten Lichtbild von Lord und Esel in Grau und Weiß. Ich wollte schon scherzhaft entgegnen, dass im Speziellen ein weiterer Franzose, Louis Ducos du Hauron, seit einigen Jahren an der Fotografie mit natürlichen Farben arbeitete, und im Allgemeinen, dass die Physiognomie Sir Davids, insbesondere der überbreite Mund derer von Lindsay, doch jegliche optische Linse in einem Daguerre-Fotografen-Apparat sprengen würde, da breitete Sir David schon seine langen Arme zu voller Spannweite aus und kam uns mit einem gleichzeitigen Ruf des Erkennens und der Begrüßung entgegen. Er nahm sogar seine Brille mit den blauen Gläsern ab, mit der er seine Augen gemeinhin vor der grellen Sonne Arabiens schützte, und so konnte er uns seinen freudigen Blick zeigen und sah uns wiederum nicht bläulich verfärbt.

Sir David war etwas blass um die Nase herum, was von der soeben überstandenen Seereise herrühren mochte, wie auch sein leicht schwankender Gang davon zeugte, dass er sich erst wieder an festen Grund gewöhnen musste. Deshalb war es umso angebrachter, ihn mit einer Schale Kahwe, einem Tschibuk Tabak und einigen gehaltvollen orientalischen Näschereien körperlich wiederherzustellen.

Im Kaffeehaus angekommen begrüßte uns der Wirt, komplimentierte uns zu den Sitzkissen, während er sogleich einen Knaben nach draußen sandte, um den Packesel samt Gepäck zu bewachen. Nachdem wir uns niedergelassen hatten, verkündeten wir dem Wirt unsere Wünsche. Durch die aus Rohr geflochtene Wand wehte eine Brise, wie sie in Basra so selten ist, und Sir David war trotz seiner leichten Erschöpfung durch die Reise so eigensinnig-britisch wie eh und je. Er brannte sich, entgegen arabischer Gepflogenheit, den Tschibuk selbst an und brüskierte so den Wirt und die Bediensteten. Weitere Eigensinnigkeiten blieben jedoch aus, vielleicht eben doch wegen seiner leichten Mattigkeit. Der Kaffee mundete ihm, und das lag nicht nur an dem drängenden Bedarf nach einem belebenden Trank, sondern auch daran, dass sich das dargebotene Gebräu, welches sich frisch vom Mangal, dem Feuerbecken, aus der Dallah, der Metallkanne, in unsere Schalen ergoss, in der Tat als schmackhaft erwies. Dem sprichwörtlichen sweet tooth des Engländers nachgebend verleibte Sir David sich einiges an süßem Gebäck ein, das in diesem Haus zwar von geringer Auswahl, aber erklecklicher Größe war: Ramazan-Kuchen aus Reismehl, Puderzucker und Rosenwasser, auch Esh-es-Seraya, Serailsbrot, aus Mandeln, Honig und Butter, sowie Baklawa mit Nüssen und Pistazien und Sirup, in Schnitten von der Größe einer sächsischen Butterbemme. Sir David griff großzügig in seine Reisekasse und orderte mehr. Trotz der fehlenden beiden Finger seiner linken Hand konnte er mit allen Gegenständen geschickt hantieren, ob Tassen, Pfeifen oder Münzen. Dann lehnte er sich zurück, schmauchte etwas Tschibuk und sagte dann:

„No more fowling-bulls.“

Halef und ich waren nicht wenig erstaunt, denn die Suche oder vielmehr Jagd nach den fowling-bulls, den geflügelten Stieren aus der mesopotamischen Vorzeit oder vielmehr: ihrer steinernen Standbilder oder metallenen Darstellungen waren das Steckenpferd, sprich: die Objekte der Begierde von Sir David Lindsay, seit wir ihm vor Jahren das erste Mal begegnet waren. Warum nur mochte er ihnen nun abgeschworen haben?

„Nun“, erklärte er gelassen, „dieses prächtige Wild scheint mit einer Schläue gesegnet, wie sie nicht einmal dem britischen Rotfuchs oder dem schottischen Moorhuhn gegeben ist, welche ich auf vielerlei Jagden in meiner Heimat, ob zu Fuß oder zu Pferde, in der Gesellschaft oder allein, ob mit Hundemeute oder Jagdpointer, höchst erfolgreich und in hohen Zahlen erlegt habe. Aber in all den Monaten und Jahren im Orient ist es mir nicht gelungen, auch nur einen einzigen fowling-bull zur Strecke zu bringen, ja nicht einmal auch nur einen aufzuspüren.“

Er seufzte, wenngleich so leise und flach, wie es sich für einen britischen Gentleman geziemt, der bewahren will, was der Franzose die contenance und der Engländer die stiff upper lip nennt – und von dieser steifen Oberlippe hatte Sir David, vor allem, wenn es um die Breite ging, eine Ehrfurcht gebietende Menge.

„Und ich bin es leid, der Erfolglosigkeit geziehen zu werden, insbesondere im Traveller’s Club zu London. Denn auch ich benötige zum Selbstverständnis dann und wann ein Erfolgserlebnis! Deshalb …“

Wieder rauchte er und wir warteten gespannt.

„… werde ich mich auf Altertümer aller Art spezialisieren und von nun an suchen und finden, was auch immer sich zu suchen und finden lohnt! Und ich plane, hier in Basra damit zu beginnen! Auf dem Basar!“

Und so kam es, dass wir den Basar besuchten und bestohlen wurden.

Zweites Kapitel

Auf dem Basar

Mit dem Bummel durch den Basar – oder ich muss präzisieren: dem Bummel für mich und Halef, wohingegen Sir David es als Safari nach wertvollen Altertümern ansah – hatte es noch eine weitere Bewandtnis. Denn wenngleich sich der Engländer durch die verschiedenen Erfrischungen gestärkt und erquickt fühlte, so machte ihm das Klima von Basra doch zu schaffen. Nicht etwa, weil er von schwächlicher Konstitution oder das Klima aus Hitze und Faulwasserdünsten gerade heute besonders arg gewesen wäre. Nein, es war der Kontrast zwischen der Luft an Deck eines Schiffes, mit steter Brise und Meeresgischt, selbst wenn es nur Flussgischt sein mochte, und der Stadtluft, die sich selbst nicht bewegte, sondern nur die Menschen darin. Und so nutzte Sir David den Markt als eine Art riesenhaftes Riechsalzfläschlein oder Duftsäckchen voller Lavendelblüten, wie sie die Damenwelt bei Unpässlichkeit oder Schwindel mit Erfolg zu nutzen weiß, und hielt schnurstracks auf die Stände und Läden der Gewürz- und Spezereienhändler zu. Tief atmete er dort die starken und belebenden Gerüche von Zimtrinde und Gewürznelken, Kardamom und Koriander, Muskatnüssen und Aniskörnern ein. So nahe kam er mit seiner gewaltig langen und spitzen Nase schnobernd den im Ganzen oder in gemahlener Form dargebotenen Gewürzen, dass wir befürchteten, und die Händler nicht minder, dass ein plötzlicher Niesanfall, hervorgerufen durch einen Nasenkitzel, uns alle in Schwaden bunter und vor allem scharfer Gewürzpulverwolken hüllen mochte. Angesichts der tabakrauchenden Händler und Basarbesucher sowie der Öllampen und des offenen Lichts ringsumher hätte dann wohl eine Staubexplosion gedroht, wie sie in Kohlebergwerken oder Kornmühlen des Öfteren mit schlimmem Ausgang geschehen. Ich selbst bin vor Jahren nur mit viel Glück einer ähnlichen Gefahr durch Fledermaus-Guano knapp entronnen, was sich, wie sich meine Leser sicher erinnern, viele hunderte Meilen westwärts an einem Ort in den Schluchten des Balkan zugetragen hatte.

Doch meine Befürchtung blieb unbegründet; die Nase des Engländers war gegenüber dem Kitzel des Zerstoßenen und Gemahlenen unempfindlich und empfing nur die herrlichen Düfte des Orients und der Gewürzinseln. Sir Davids Augen leuchteten hell, er kaufte den sogleich nicht mehr ängstlichen, sondern dankbaren Händlern dieses und jenes ab, nicht ohne ihnen durch angemessenes Feilschen den nötigen Respekt zu erweisen, und ließ dann die Tütchen und Briefchen und Päckchen in einer geräumigen, graukarierten Umhängetasche verschwinden. Diese hatte er zuvor seinem Reisegepäck entnommen, welches nun in unserem Quartier verstaut war. Den weißen packing-donkey hatte Lindsay am Hafen übrigens nicht nur geliehen, sondern gekauft, denn er hoffte wohl, auf seiner jetzt neu orientierten Suche gar reiche Schätze zu finden, mit denen er den Esel für die Weiterreise beladen könnte.

Also begaben wir uns in einen anderen Teil des Basars auf Schatzsuche, nämlich in die Gassen der Kupferschmiede, Glasmacher, Geschmeidehändler und jener, die tatsächlich Schätze versprechen mochten: der Anbieter von Kuriosem und Antiquitäten.

Ein Leser orientalischer Fabeln und Märchen, wie ich ihn bereits erwähnte, hätte sich hier in Ali Babas Schatzhöhle versetzt gefühlt, wenngleich mit dem Unterschied, dass die ‚Räuber‘ hier Händler waren und sie die schimmernden Dinge nicht eifrig horteten, sondern lautstark feilboten. Ich möchte mich aber kurz korrigieren, um nicht die braven, ehrlichen und tüchtigen Kunsthandwerker in einem falschen Licht erscheinen zu lassen, weil ich sie scherzhaft mit Räubern verglich. Es ist vielmehr so, dass sich in den tieferen Gründen des Basars und in versteckten Nebengassen auch wirkliche Räuber befinden oder zumindest deren Hehler, die geraubte Stücke dem gutgläubigen oder auch skrupellosen Basarbesucher anbieten. Diese Räuber, die sich als Händler ausgeben, bieten ihre Waren leise und verschwörerisch an, und nicht so, wie es die rechtschaffenen Händler tun, nämlich fröhlich prahlend und laut.

Die Höker der Kupfer- und Silberwaren unterstrichen ihre Anpreisungsrufe noch durch das Klopfen und Hämmern, mit denen sie selbst oder die im Hintergrund arbeitenden Handwerker den Nachschub an Kannen und Töpfen und Schalen und Tabletts aufs Kunstvollste mit Punzierungen und Schmucklöchern versahen. Ebenso geschickt und prächtig bemalten die Töpfer ihr Steingut und ihre Fayencen, ob mit schlichten Tupfen und Linien oder mit schwelgenden Schlingen aus Rankenwerk und prangenden Blüten. Von den Ständen der Glaswerker schimmerten Karaffen und Kelche sowie die funkelnden Laternen, deren kupferne Kästchen vielfältig durchbrochen und diese Aussparungen mit Stücken vielfarbigen Glases gefüllt waren und die man zum Zwecke der besseren Darstellung auch am hellen Tag mit brennenden Öllämpchen bestückt hatte.

Am prächtigsten jedoch boten sich die Stände und kleinen Läden für Schmuck und andere Kostbarkeiten dar. Auf den offenen Gestellen rechts und links des Gassenweges, auf welchem sich die Käufer und Kunden bewegten, wurden die Stücke auf Tüchern dargeboten, die wiederum im Schatten der Stoffbahnen lagen, welche in der Art von Markisen Schatten spendeten, aber eben auch das Sonnenlicht abhielten, welches Metall und Steine zum verführerischen Glitzern und Blinken gebracht hätte. Ich sage bewusst: Metall und Steine, denn ob es sich um edles Metall und edle Steine handelte, vermochte ich als Nicht-Experte kaum zu beurteilen, jedoch sagte mir meine Erfahrung mit Händlern im Allgemeinen und jenen im Schmuck- und Geschmeidebereich im Besonderen, dass es sich hier doch wohl um jene Dinge handelte, die man in Europa in feiner Sprache Modeschmuck, in drastischem Ausdruck jedoch Tinnef nannte, ohne gleich das arge Wort Fälschung in den Mund zu nehmen. Hinter den Gestellen nun öffneten sich unter bogigen Türfüllungen die winzigen Ladenlokale, und jene erinnerten tatsächlich an Schatzhöhlen. Denn hier schimmerte es, wie es sich für einen Hort aus wertvollen Dingen geziemte: Die Händler hatten einige Lampen entzündet und geschickt aufgestellt, um die blanken und glatten Oberflächen der Stücke lockend leuchten zu lassen. Ob sie einem kritischen Käufer erlauben würden, etwaige Dinge des Interesses zur Prüfung ins helle Tageslicht zu tragen? Sir David würde es schon in Erfahrung bringen, denn er ignorierte nach kurzem Kennerblick die Auslagen und drang wie ein archäologischer Forscher auf der Suche nach Schätzen ins Innere der Läden vor.

„Wenn sich kein Staub auf den Stücken befindet, können sie kaum antik sein“, bemerkte er uns gegenüber und doch mehr zu sich selbst. „Ein gewisses Maß an Erde und Dreck kann ein Hinweis auf alte Herkunft sein.“

Ich wollte ihm nicht widersprechen, auch wenn man stets bedenken sollte, dass Staub und Schmutz auch auf nachlässige Lagerung zurückzuführen sein könnten und es sich bei jenem Zeitraum nur um Jahre, aber nicht Jahrhunderte handeln mochte. Und dass ein Händler wiederum doch darauf bedacht wäre, auch etwaige echte, alte Stücke auf Hochglanz zu bringen, um sie so besser anpreisen zu können. Sollte ein Händler jedoch auf spleenige Engländer aus sein, die Altertümer und Antiquitäten suchen, dann würde er zweifellos beherzt in den Kehrichthaufen greifen und …

Ich war froh, dass ich nicht nach Schätzen jagte, sondern auf Abenteuer aus war, um darüber Bücher zu schreiben, für meine Leser im fernen Deutschland. Und da diese auch meinen braven Gefährten Halef ins Herz geschlossen haben, wandte ich mich wieder ihm zu und überließ Sir David Lindsay seinem neu erblühten Jagdfieber.

Aber mit welcher Verblüffung musste ich nun sehen, dass auch Halefs Augen von einer Art fiebrigem Glanz spiegelten!

Doch war dies nicht etwa die Gier nach Gold oder Juwelen – man vergesse nicht, wir befanden uns noch immer im Bereich der Schmuckhändler –, nein, der fromme Hadschi bestaunte tatsächlich die Auslagen eines nicht weniger als zwielichtig und Misstrauen erweckend aussehenden Händlers, der kleine Perlen und Ringe in seinen langen dunklen Bart geflochten hatte und mit langen, kralligen Händen seine Waren umherschwenkte, mit Gesten, die mich an jene Illusionisten und Zauberkunststückler erinnerten, welche die europäischen und amerikanischen Bühnen mit ihrem Blendwerk heimsuchten. Dieser hier war durchaus ein Vetter jener Scharlatane, denn er verkaufte Amulette, Glücksbringer, Gemmen gegen den Bösen Blick und Steine gegen Schlangenbisse – oder zumindest behauptete er dies, mit nicht wenigen und sehr gewandten Worten. Schon schien es mir, als wollte der gute Halef nach der Geldbörse greifen, um ein Stück des abergläubischen Plunders zu erstehen, welcher Art auch immer, und überhaupt war dies ja auch völlig gleichgültig, denn wirkungslos ist immer und überall eine jede dieser Scherben und ein jedes dieser Stücklein Blech.

Kurzerhand packte ich in sanftem, aber beherztem Griff die Schulter meines Freundes und kehrte ihn gleichermaßen wie mit einem Walzerschwung zu mir um.

„Halef, guter Halef“, begann ich, „was tust du da?“ Ich wollte ihn eingangs nicht gleich mit Vorwürfen oder Verdächtigungen konfrontieren, denn ein wenig hoffte ich noch, dass Halef den angeblich magischen Tand nur aus schlichter, aber skeptischer Neugier beäugt haben mochte.

„Was schon, Sihdi?“, fragte er treuherzig. „Ich prüfe die Waren auf ihre Güte und Nützlichkeit.“

„Schicksalsamulette und vorgebliches Zauberwerk?“

„Ein jedes Ding hat seine Qualität und seinen angemessenen Preis! Nicht anders als, sagen wir, Gewürze.“

„Mit jenen kann man mit Gewinn die Speisen schmackhaft machen. Aber die Pülverchen in den Phiolen dort und die Schächtelchen mit Räucherwerk – mit denen wird nicht gekocht, sondern sie werden in die Köpfe der Leichtgläubigen hineingerührt und der Verstand damit versalzen!“

„O Sihdi, sage nicht, dass der Glaube leicht ist. Es gehört immer eine rechte Stärke im Gemüt und im Herzen dazu. Und auch wenn Allah der Allmächtige alles vorherbestimmt hat und wir sicher in seiner Hand geborgen sind, so gibt es doch Augenblicke hier im irdischen Leben, wo das eine oder andere Hilfsmittel nicht von Übel ist. Um deine Worte aufzugreifen: Mit diesen Gewürzen wird das Leben schmackhafter, sprich: sicherer gemacht.“

„Du würdest bei einem Schlangenbiss also tatsächlich auf ein medizinisches Antidot, ein Gegengift, verzichten und stattdessen diesen Schimmerstein auf die Wunde legen?“

„Ich würde selbstverständlich beides tun, Sihdi, denn doppelt hält besser, wie ein weises Wort sagt, das ich von dir erfahren habe.“

„O Halef …“

„Und wann haben je einige Vorkehrungen gegen böse Mächte und Dämonen geschadet? Denn diese sind so wahrhaftig wie die Engel Allahs, da sie die Engel des Scheitans sind.“

„Dagegen helfen Gebete und fromme Lebensart. Dieser Tand dort ist im besten Fall bloß ein nicht sonderlich kleidsamer Schmuck.“

„O nein, Sihdi. Verzeih, wenn ich dir widerspreche. Aber es gibt magische Gegenstände und zauberische Dinge. Auch du kennst doch die Geschichten von der Wunderlampe und dem Flaschengeist und …“

Dieses Argument war nun sehr ungeschickt gewählt! Wie gut, dass ich zuvor über die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht nachgesonnen hatte, wenngleich nur aus dem prosaischen Grund, dass wir uns in Basra befanden.

„Aber Halef “, unterbrach ich ihn, „das sind eben nur Geschichten. Märchen und Fabeln, ausgedacht von einer jungen Frau, um den Kalifen zu besänftigen. Auch in meiner Heimat gibt es Geschichten von Zauberei und magischen Gegenständen, wenngleich sie dort gemeinhin von alten Frauen erzählt werden, um die Kinder zu besänftigen. Unsere Scheherazade hieß Dorothea Viehmann und sie erzählte all die Märchen, die sie kannte, zwei jungen Brüdern, Grimm mit Namen, welche sie daraufhin aufschrieben. Und seitdem werden sie in ganz Deutschland gelesen, von Kindern und jungen Menschen, begeisterte Leser sind das, und sie zählen zu Tausenden. Aber all jene, ob die gute Viehmännin oder die Brüder Grimm oder die Tausende Knaben und Mädchen – niemand glaubt, dass es tatsächlich ein Tischlein-Deck-Dich oder die Sieben-Meilen-Stiefel gäbe!“

„Was sind das für Dinge?“

„Das sind ein Tisch, der ohne Koch und Diener allzeit Mahlzeiten bereit hält, und ein Paar Stiefel, in denen der Träger mit jedem Schritt sieben Meilen zurücklegen kann.“

„Oh! Wenn es all dies gäbe, Sihdi, ich würde es gern besitzen!“

„Ach, Halef, siehst du: Wünschen kann man sich so etwas, denn es wären wohl nützliche Dinge. Aber sie gibt es nur im Märchen und nicht in der tatsächlichen Welt, ob Orient oder Okzident. Du weißt, ich habe bereits die ganze Welt bereist und schreibe über das, was ich gesehen und erlebt habe, und dies war schon einiges! Aber von Magie war da nie auch nur eine Spur.“

„Vielleicht hast du nur nie genau hingesehen, Sihdi. Denn mit der Magie ist es wie mit der Religion: Man muss daran glauben. Die Magie ist oft verborgen und dies besonders gegenüber demjenigen, der nicht an sie glaubt!“

„Aber es ist ja nicht nur dies“, erwiderte ich, „denn die angebliche Magie ist ja bei dem, der nicht an sie glaubt, noch nicht einmal wirksam. Ein Beispiel aus meinen Reisen nach Amerika: Die ‚Medizin‘ der indianischen Medizinmänner wirkt nur bei eben diesen Indianern. Ich habe sie nie verspürt, selbst als sie – angeblich, möchte ich hinzufügen – gegen mich eingesetzt wurde. Und im Gegensatz dazu kann sogar ein Nicht-Medizinmann einen falschen Zauber veranstalten und die Leichtgläubigen fallen darauf herein. Wie kann denn etwas angeblich tatsächlich und allumfassend Wirksames und Vorhandenes einerseits nur auf bestimmte, gläubige Personen wirken, andererseits aber von anderen, ungläubigen Personen bewirkt werden?“

„Sihdi“, begann Halef und in seinen Augen leuchtete es allzu klug, „du berichtest von deinen Erfahrungen von hier und da, was du bei deinen Indianern oder Hottentotten oder Südseeinsulanern kennengelernt hast. Aber natürlich gibt es dort keine richtige Magie. Denn diese sind nur ganz schlichte Leute, die sogar Angst vor dem Donner haben. Davon habe ich gehört. Ich habe auch davon gehört, dass sie um Regen bitten und dabei tanzen. Wie töricht ist dies! Niemand würde das in der Wüste tun, obwohl es bitter nötig wäre. Hier vertraut man auf Oasen, die uns Allah gegeben hat, oder auf die Bewässerung, die der Mensch gemacht hat. Also, diese Leute in den fernen Ländern können gar keine Magie haben. Auch weil es diese einfachen Menschen noch gar nicht lange gibt. Wie können sie da Magie haben? Hier gibt es seit Jahrtausenden Magie. Und besonders genau hier. Schau, Sihdi, wir sind hier in Basra. Und Basra ist die Perle des Orients, und der Orient ist eine andere Welt. Die Magie des Orients ist hier lebendig und wirklich. Warum hat Scheherazade wohl von all diesen Dingen erzählt, die sich hier zugetragen haben? Gewiss, kluge Leute mögen diese Erzählungen aufschreiben, und auch andere Erzählungen aus anderen Gegenden der Welt, so wie in deiner Heimat. Aber wenn man sie nun aufschreibt, dann wird die Magie zu Märchen, die tatsächlich nicht mehr wirken. In der wahren Magie aber wirken Zaubersprüche, die im Märchen tote Worte sind.“

Ich seufzte und gab mich nach außen hin geschlagen, denn ich war dieses unakademischen Disputs müde.

„Nun, Halef. Ich will deinen Worten nicht widersprechen. Du hast gut argumentiert und einen Beweis oder Gegenbeweis werden wir kaum finden.“

Halef schien zu spüren, dass ich mich schlicht aus der Affäre ziehen wollte, und zog die Stirn kraus. Da kam ihm ein Gedanke.

„Ich werde es dir beweisen, Sihdi!“, sagte er dann eifrig. „Was kümmern uns Worte und Reden. Die kann man den ganzen Tag halten. Und Worte werden viele gemacht. Ich werde dich überzeugen. Mit Tatsachen. Mit Dingen! Ich werde hier im Basar ein magisches Ding finden und kaufen, das auch dich überzeugen wird.“

Er schaute sich um, ließ den Blick über die Amulette wandern und bekam einen kritischen Ausdruck im Gesicht. Hatte ich ihn doch skeptisch gemacht? Wahrscheinlich nicht. Aber immerhin zweifelte er an den Kinkerlitzchen des Scharlatans mit dem geschmückten Bart.

„Nun, Sihdi“, räumte Halef ein, „hier magst du recht haben. An diesen Dingen ist nichts Magisches.“ Der Händler schaute erst empört, dann enttäuscht und verlor mit einem Mal alles Finstere und wandelte sich in einen schlichten Kaufmann, dem ein Geschäft in die Binsen gegangen war, und zwar in die Binsen von Basra mit all ihren krächzenden Rohrsängern.

Halef hingegen runzelte die Stirn. „Ich werde an anderem Orte suchen! Wenn wir uns wieder treffen, zu dem Zeitpunkt, den wir mit unserem graukarierten Ingles ausgemacht haben, werde ich ein Nader al-Shir, ein Ding voller Magie, erstanden haben und dich ein für alle Mal überzeugen.“

Dann reckte er sich, wodurch er zwar nicht an meine Körpergröße heranreichte, aber einiges an Statur gewann, und schritt stolz und eilig davon. Also wandte auch ich mich von dem schillernden Unsinn ab und begann, meiner beiden Gefährten ledig, allein durch den Basar zu schlendern.

Ich ließ mich wenig von den Waren aller Art locken, wie ich so umherging, oder vielmehr, mich vom Strom der Menschen mittragen ließ. Aber auf einmal erregte etwas anderes meine Aufmerksamkeit. Denn während beim Vorübergehen die Farben und Formen der Waren auf den Präsentierständen in den Farben und Formen der Händler und Käufer untergingen, so konnte ich plötzlich über dem Stimmengewirr der Letzteren und den Werberufen der Ersteren und dem Feilschen beider eine einzelne klare Stimme ausmachen, die über die Köpfe der Wimmelnden zu mir heranschwebte. Ich folgte dem Klang und fand dessen Quelle in einer Nische zwischen den Ständen und Ladengeschäften. Dort, zwischen zwei Ziegelwänden und unter einem kleinen Dach aus Rohrgeflecht, saß ein Mann und sang.

Er war von unbestimmbarem, aber fortgeschrittenem Alter, mit einem Bart, der nicht mehr gänzlich schwarz, aber auch noch nicht gänzlich grau war. Seine Kleidung war schlicht, etwas verschlissen, aber reinlich. Er sang mit geschlossenen Augen, doch etwas in seinen Bewegungen ließ mich vermuten, dass er sein Augenlicht verloren hatte.

Von weiteren Beobachtungen oder Vermutungen wurde ich abgelenkt, weil ich seinem Gesang weiter Gehör schenken musste. Ich erkannte die Verse, die er intonierte: Es war eine der Makamen aus der Feder des Ibn al-Hariri, einem Dichter, der um das Jahr 1100 hier in Basra gelebt und gewirkt hatte. In Deutschland sind seine Werke durch die Nachdichtungen von Friedrich Rückert bekannt, welchen ich selbst als Begründer der deutschen Orientalistik schätze. Er hatte nämlich nebst Teilen des Heiligen Koran auch nahezu alle wichtigen orientalischen Erzählwerke übertragen, eine nichts weniger als wichtige und ehrenvolle Arbeit. Denn besonders die Abenteuer des Helden Rostam im Schach Nameh, dem Königsbuch, welches aus Persien herstammt, schätze ich sehr und freue mich, dass nun auch jene sie lesen können, die des Persischen nicht mächtig sind. Was mich jedoch amüsiert, ist, dass Rückert gemeinhin in der Öffentlichkeit als Sprachgenie gilt, da er fünfundvierzig Sprachen beherrschte, darunter waren die üblichen europäischen, slawischen und orientalischen Sprachen und immerhin auch solche exotischen Zungen wie Azeri, Prakrit und Telugu, aber ich trete dem guten Mann, der nun seit einem knappen Jahrzehnt verstorben ist, wohl kaum zu nahe, wenn ich bemerke, dass dies doch nur ein akademisches Quäntchen jener Weltsprachen ist, die ich selbst beherrsche und welche, die verschiedenen Dialekte eingerechnet, sich doch auf ein Mehrfaches der Rückertschen knappen vier Dutzend belaufen.

Hier nun durfte ich also den klingenden Worten al-Hariris lauschen, im originalen Basraer Dialekt des Mittelalters. Und hier kam mir für einige Augenblicke der Gedanke, dass es tatsächlich so etwas wie Magie geben könnte, nämlich die Magie der Worte und der Musik.

Fast hätte ich darüber ein wenig die Zeit vergessen, als ein kleiner Tumult hinter meinem Rücken mich einen Blick über die Schulter werfen ließ. Aber es war nur ein etwas lauter geführtes Feilschduell. Als ich den Kopf wieder umwandte, war der Makamensänger verschwunden. Nun, ich vermeinte mich zu erinnern, eine Bewegung gespürt zu haben, als ich den Feilschenden anscheinend doch etwas länger zugeschaut hatte, eine Bewegung, die ich mir damit erklärt hatte, dass einige Marktbesucher an mir vorübergegangen waren. Während ich derart abgelenkt war, musste sich der Sänger, ob blind oder nicht, wohl auf seinen Weg gemacht haben. Leider hatte ich so den letzten Versen aus seinem Mund nicht lauschen können. Aber nichtsdestoweniger war mir ein seltener Genuss zuteil geworden – Ibn al-Hariri und dem unbekannten Sänger sei es gedankt. Und nun würde ich mich wieder auf die Suche nach Halef machen, meinem alten Freund und Kupferstecher. Diese Redewendung stammt übrigens von Rückert, dem Sprachgenie.

Wie ich bald erkannte, hatte Halef sich im Basar nur einige Gassenmündungen weiter bewegt, und so traf ich ihn in jenem Abschnitt, in welchem Kleidung, Tuche und Stoffe sowie Lederwaren und Schuhe feilgeboten wurden. Die Farben und Muster der Webwerke waren für das Auge nicht weniger betäubend als zuvor die Gerüche der Gewürze für die Nasen. Fast war ich erleichtert, dass hier in den Hohlwegen des Basars kein Lüftchen sich regte, denn was für ein Spektakel wäre es gewesen, wenn ein Zephyr oder eine ausgewachsene Windbö in die leichten Gewirke gefahren wäre und sie umhergewirbelt und fortgetragen hätte: Ein Aufstieben hunderter, schillernder Paradiesvögel wäre kaum weniger beeindruckend gewesen. Aber die klugen, geschäftstüchtigen Händler verliehen ihren Waren selbst Flügel: Ringsum wedelte und winkte es, und ich hätte mich nicht wenig gewundert, wenn ein Seemann der Handelsmarine aus diesen Flaggensignalen nicht die eine oder andere Geschichte hätte herauslesen können. Ich aber wollte nun wissen, was meinen Halef hier hergeführt hatte.

„Suchst du nach einer neuen Ausstattung, vielleicht in grauem Karomuster?“, scherzte ich. „Da wirst du hier schwerlich etwas finden. Aber Sir David wird dir gern seinen Schneider in London empfehlen.“

„Wo denkst du hin, Sihdi“, entgegnete Halef. „Niemals würde ich mich in solche düstere, schwere Stoffe kleiden. Und vergiss auch nicht den Stolz, der sich darin zeigt, in Gewändern aus der eigenen Heimat gehüllt zu gehen.“

„Aus keinem anderen Grund trägt Sir David britischen Tweed, wenngleich in leichterer Webart, als in einem englischen Schlossgemäuer oder im Londoner Themse-Nebel nötig wäre.“

„Und ich trage feinste Wolle aus Kamelhaaren, gewonnen aus den edlen Herden der Haddedihn. Wie du weißt, senden sie große Ladungen von Ballen mit Wolle an verschiedene Händler in Basra, welche diese gern kaufen und sogar bis nach Indien weitersenden!“

Ich erinnerte mich in der Tat an die großen Kelleks, die Flöße aus aufgeblasenen Ziegenbälgen, mit denen der Schatt-el-Arab zu Handelszwecken befahren wurde.

„Und du, lieber Halef, freust dich umso mehr, diese begehrte Ware direkt von der Quelle zu erhalten, und das ganz ohne Aufpreis. Was mich nun ahnen lässt, warum du dich hier quasi in der Damenabteilung des Basars aufhältst.“

„Was redest du da von abgeteilten Damen? Sihdi, du bist trotz deiner Weitgereistheit ein sehr unwissender Europäer! Ich erkläre es dir gern noch einmal: Nur in der Moschee wird nach Männern und Frauen getrennt. Im Basar ist dies nicht so.“

„Ganz im Gegenteil, mein Halef! Ich muss dir etwas erklären; zunächst nämlich, dass ich sehr wohl um die Gepflogenheiten im Gotteshaus weiß. Ich wollte mit meinem Satz auf etwas hinweisen, dass dich wiederum zu einem sehr wissenden Orientalen macht: nämlich dass es in Europa, namentlich in Frankreich, in der Stadt Paris, viele Stätten des Einkaufs gibt, die man Warenhäuser nennt und welche seit zwanzig Jahren von klugen Geschäftsleuten verstärkt gegründet werden. Und warum nenne ich sie klug? Weil sie sich den Basar des Orients zum Vorbild genommen haben, um alle Waren des täglichen und auch nicht alltäglichen Bedarfs an einem Ort, unter einem Dach anzubieten. Eben ganz wie hier.“

„Das verwundert mich nur wenig, Sihdi. Denn wie sollte es anders sein, als dass man im Geschäftlichen nur vom Orient lernen kann?“

„Wie kann ich dir da widersprechen, Halef! Aber nun zurück zum eigentlichen Stoff meiner Frage, im wortwörtlichen Sinn: Was suchst du hier zwischen all den Stoffen? Da du von den Haddedihn sprachst, kam mir der Gedanke, du könntest etwas für deine liebste Hanneh zum Geschenk erstehen wollen?“

Es verhielt sich nämlich so, dass Halefs Ehefrau Hanneh zwar vom Beduinen-Stamm der Ateibeh gebürtig war, dieser aber mittlerweile bei den erwähnten Haddedihn lebte.

„Das ist richtig, Sihdi. Und ich meine, dass auch du ein vortrefflicher Ehemann wärst, wenn du dich dereinst verehelichen magst, denn du denkst an das Wohlergehen der Frauen anderer – wie glücklich wäre dann erst dein eigenes Weib! Ja, ich möchte ein Gastgeschenk für die Rückkehr aus Basra, das, was du etwas verniedlicht ein Mitbringsel nennen würdest. Ich heiße es, wie die Franken aus Parisi es in ihren Basaren tun würden: ein sufinir!“

Ich nickte gnädig ob Halefs nicht ganz gelungenen Weltmannstums.

„An was für ein Geschenk hattest du gedacht?“, fragte ich. „Etwas Schönes und Praktisches zugleich etwa?“

„Ein guter Gedanke, Sihdi, du kennst dich mit den Wünschen der Frauen aus.“

„Deswegen rate ich von Kleidung ab. Das ist zu heikel. Lieber etwas, das man zur Kleidung trägt. Dort drüben gibt es Taschen und Beutel und ähnliches.“

„Da schauen wir einmal.“

Wir wandten uns also zu dem Stand, an dem vielerlei Tragbehältnisse feilgeboten wurden: aus Tuch und Leder, aus Häkelwerk und geknüpften Stoffen, mit vielfarbigen Stickereien, Fransen, Perlen und allerlei Zierrat mehr. Halef prüfte eingehend, wog die Stücke in der Hand, schaute nach Fassungsvermögen und Trageweise, als habe er in seinem Leben nie etwas anderes getan, als mit Täschnerwaren zu handeln. Der Händler wurde in seinen Anpreisungen und Lobeshymnen immer leiser, nachdem er sich ob des raschen Interessenwechsels seines möglichen Kunden das ein ums andere Mal verhaspelt hatte und auf den Glanz der Fransen wie die Luftigkeit der Perlen hingewiesen hatte. Schließlich entschied Halef sich für eine Tasche von doppelter Handgröße mit bunter Perlenstickerei, in genau dem richtigen Maß zwischen Schlichtheit und Pracht. Die Muster, welche von den gläsernen Perlen geformt wurden, waren mir gänzlich unbekannt, ich vermochte sie keinem Stamm und keiner Region Arabiens zuzuordnen, aber aus Persien oder gar Indien stammten sie wohl auch nicht. Als ich den Händler nach der Herkunft des Stückes fragte, zögerte dieser einen aufschlussreichen Augenblick zu lange, bevor er zu einer weitschweifigen Erläuterung der überaus seltenen Ware und ihrer von großer Ferne hergekommenen Provenienz ansetzte.