Nina ist glücklich mit ihrem Freund Sami. Er weiß, was ihr guttut, und manchmal scheint es, als würde er sie sogar besser kennen als sie sich selbst. Keine Frage, er ist der Mann, mit dem sie alt werden möchte. Von einem Augenblick auf den anderen jedoch wird das Leben der beiden auf den Kopf gestellt: Sami erhält ein traumhaftes Jobangebot in Brasilien. Soll sie mit ihm gehen? Seinetwegen alles aufgeben: Freunde und Familie, das Café Chopin, das sie zusammen mit ihrer besten Freundin betreibt? Würde sie sich in São Paulo zurechtfinden, einer riesigen Stadt, in der sie niemanden kennt und deren Sprache sie nicht spricht? Nicht nur das bereitet ihr schlaflose Nächte – zu allem Überfluss erscheint plötzlich auch Gero wieder auf der Bildfläche, ihre erste große Liebe aus Schulzeiten …

Matthias Sachau, geboren 1969 in München, begann nach einer kurzen Karriere als Architekt zu schreiben. Er veröffentlichte mit großem Erfolg einige heitere Romane, unter anderem Wir tun es für Geld; Kaltduscher und Linksaufsteher. Er lebt und arbeitet in Berlin und Regensburg.

www.matthias-sachau.de

Matthias Sachau

Mit Flipflops ins Glück

Roman

Insel Verlag

eBook Insel Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4458.

Originalausgabe

© Insel Verlag Berlin 2016

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Umschlag: Zero Werbeagentur, München

Umschlagabbildungen: Fine Pic®, München

eISBN 978-3-458-74505-1

www.insel-verlag.de

1 GIRL FROM IPANEMA

2014

Nina lief. Die wachsenden Schmerzen in ihren Knien beachtete sie nicht. Sie wusste weder, wo dieser Lauf enden würde, noch ob er überhaupt enden würde. Am liebsten hätte sie laut geschrien. Laufen war das Einzige, was sie davon abhielt, den Verstand zu verlieren.

Ihr Verfolger lief exakt im gleichen Takt. Als hätte er es darauf angelegt. Die Geräusche ihrer Schritte verschluckten seine. Nur wenn ihr Weg um Ecken führte und ihr Tempo sich kurz änderte, konnte sie ihn hören.

In »Star Wars« gab es den Planeten Coruscant, dessen Oberfläche von einer einzigen großen Stadt bedeckt wurde. Ihr schien, als wäre die Stadt, durch die sie lief, ähnlich groß, als könnte sie mit ihren tausenden Wolkenkratzern ohne weiteres einen kleinen Planeten bedecken.

Zwischen den Wolkenkratzern standen kleine Häuser. Nicht schön, mehr wie Unkraut. Manchmal einen ganzen Straßenabschnitt lang, dann erneut nur Wolkenkratzer. Alles wiederholte sich, es hörte nie auf. In einer anderen Stadt würde es irgendwann enden, weniger Häuser, kleiner, nicht so eng aneinander, mehr Grün. Hier nicht. Und das war gut so. Von ihr aus konnte es immer so weitergehen. Sie hatte kein Ziel.

An der nächsten Kreuzung bog sie links ab. Bald darauf würde sie wieder rechts abbiegen. Zumindest eine Himmelsrichtung einhalten, zumindest nicht im Kreis laufen. Immer der Abendsonne entgegen, wenn sie durch eine Lücke zwischen den Türmen hindurch strahlte.

Als ihr Verfolger um die Ecke bog, hörte sie ihn zwei, drei Schritte lang, weil er in der Kurve langsamer werden musste. Dann war er wieder im gleichen Rhythmus. Jeder hatte ihr gesagt, dass sie in dieser Stadt niemals allein auf die Straße gehen sollte. Genau genommen hielt sie sich daran. Sie war nicht allein.

Wieder eine Kreuzung, wieder der Drang, einfach über die Straße zu laufen, ohne nach links und rechts zu schauen, dann schaute sie doch, nahm die erstbeste viel zu kleine Verkehrslücke und zwang Autos zum Bremsen. Geschafft. Hinter ihrem Rücken hörte sie Hupen, unklar, ob es ihr galt oder dem Verfolger. Wieder Schritte. Ihre, seine, kurz zeitversetzt, dann wieder im gleichen Takt vereint. Zwei Blocks weiter bog sie erneut rechts ab. Auf der Ecke war eine Tankstelle. Drei junge Männer mit Bierdosen saßen herum und warteten auf nichts. In der Mitte der Straße eine Bushaltestelle und Frauen mit Einkaufstaschen. Danach eine Reihe von gigantischen Hochhäusern. Verlotterte Eingänge und ganze Ozeane von Fenstern. Und hinter der nächsten Ecke wieder gleichförmige kleine Häuser.

Nur eines davon stach heraus. Eine liebevoll gepflegte Backsteinfassade, davor ein weiß gestrichener Staketenzaun mit goldenen Spitzen auf einer ebenfalls weiß gestrichenen Mauer. Dahinter ein Vorgarten mit saftig grünem Rasen und einem üppigen Blumenbeet in der Mitte. Versuch eines Idylls inmitten von orkhafter Grobheit. »Verloren«. Ohne Zusammenhang pumpte das Wort im Rhythmus ihres Laufs ein paarmal durch ihren Kopf.

Wieder hörte sie die Schritte des Verfolgers. Er war erneut aus ihrem Rhythmus herausgetreten. Diesmal gab es aber keinen erkennbaren Grund. Keine Kurve, kein Hindernis, keine Straße. Er lief schneller. Nur noch wenige Meter, dann würde er sie einholen.

Drei Wochen früher

Will ich nach São Paulo?

Nina rieb sich die Augen. Warum sprang sie diese Frage jedes Mal mit solcher Wucht an?

Ihr Handy zeigte drei Uhr zwölf. Schwachsinn, um diese Zeit aufzuwachen. Neben ihr schlief Sami wie ein Stein. Sie verharrte eine Weile in ihrer Stellung und hoffte leise, wieder wegzudämmern. Nein, sinnlos, sie seufzte und richtete sich vorsichtig auf. Seit das mit der blöden Aufwacherei mitten in der Nacht angefangen hatte, hatte sie alles Mögliche versucht, um wieder zur Ruhe zu kommen. Die beste Methode war, kurz das Bett zu verlassen und irgendetwas zu tun.

Barfuß und mit dem Handy als Taschenlampe ging sie ins Nebenzimmer, wo ihr Schreibtisch stand. Dort schaltete sie das kleine Licht an, nahm ein leeres Blatt und begann, einen Brief an ihre Großmutter zu schreiben. Ein paar kurze Zeilen, was in der vergangenen Woche alles passiert war. Auch wenn nichts davon wirklich erwähnenswert war, erzählte Nina es wie eine spannende Geschichte und erfand hier und da ein paar Kleinigkeiten dazu.

Ihre Großmutter lebte gut achtzig Kilometer entfernt in einem Altersheim. Großvater war vor einem Jahr gestorben. Nina wusste, dass sie ihre Briefe mehrmals las.

Sie faltete das Blatt zusammen. Erst längs, dann quer. Nicht zweimal quer, wie alle anderen. Das hatte sie sich von ihrer Großmutter abgeschaut. Einen in dieser Art gefalteten Brief schlug man auf wie ein Buch.

Sie klebte den Umschlag zu, versah ihn mit Adresse und Briefmarke und legte ihn so bereit, dass sie ihn am Morgen nicht vergessen würde. Dann schlüpfte sie zurück ins Bett.

Will ich mit Sami nach São Paulo?

Es dauerte ein paar Minuten, dann schlief sie wieder ein.

Als Nina das nächste Mal aufwachte, war es zehn vor sieben. Sofort war São Paulo wieder in ihren Gedanken. Dabei hatte sie bis vorgestern noch nicht einmal gewusst, wo genau diese Stadt überhaupt lag. Und wie unfassbar groß sie im Vergleich zu Münster war.

Sie streckte sich.

Schon in wenigen Tagen würde sie mit Sami für eine Woche dorthin fliegen. Er zum Probearbeiten, sie um sich mit der Stadt vertraut zu machen. Und dann mussten sie entscheiden, ob er die Arbeit annahm und sie endgültig dorthin übersiedeln wollten.

Ein Wahnsinn.

Doch auch hier war Ninas Alltag gerade Wahnsinn. Gedanken an ihre Arbeit rollten in mächtigen schwarzen Wellen heran, ihr Magen krampfte sich zusammen, und die São-Paulo-Frage verschwand schnell wieder im Hintergrund. Nina arbeitete im Café Chopin. So lange schon, dass sie aufgehört hatte, die Jahre zu zählen. Es war eins der wunderbarsten Cafés in ganz Münster. Sie liebte es. Kerstin Köhnfeld, ihre beste Freundin seit Schulzeiten, hatte es gegründet und zusammen hatten sie es über die Jahre zu dem gemacht, was es heute war. Doch seit etlichen Monaten arbeitete Kerstin nun kaum noch mit. Sie hatte sich von ihrem Mann getrennt und musste sich jetzt allein um ihre Zwillinge kümmern. Nina machte ständig Überstunden, war für alles verantwortlich und hatte keinen einzigen freien Tag mehr.

Während sie an die bevorstehende Doppelschicht dachte, lauschte sie ihrem eigenen Atem. Flach und viel zu schnell. Allein schon der Gedanke, dass sie in einer Stunde wieder hinter dem Tresen stehen würde, raubte ihr Kraft. Die schicksalsentscheidende Probewoche in São Paulo erschien ihr vor diesem Hintergrund fast wie eine Rettungsinsel.

Allerdings musste sie es Kerstin noch beibringen. Das lastete schwer auf ihr. Das Chopin war Kerstins Existenzgrundlage. Was, wenn sie keine Vertretung für diese Woche fand? Und was erst, wenn Nina sich tatsächlich dafür entschied, ganz nach São Paulo zu ziehen?

São Paulo.

Irgendwie ein Allerweltsname. Wahrscheinlich gab es hunderte São Paulos auf der Welt. Klang ein wenig nach Westernstadt. Katholisch, Hitze, Staub, Pfarrer dauernd betrunken. Das São Paulo, in dem sie vielleicht bald leben würde, war natürlich das krasse Gegenteil davon: die größte Stadt Brasiliens, ein riesiger Moloch. Sie hatte es nicht gewusst, hatte gedacht, Rio sei die größte, die Stadt mit den Prachtstränden, wo die Reichen sich tummelten, während in den Straßen obdachlose Kinder von korrupten Polizisten erschossen wurden.

Und die Stadt, in der Gero jetzt lebte.

Immer wieder war ihr das in den letzten Tagen durch den Kopf gegangen. Es war wirklich ein seltsamer Zufall, dass er am Ende ausgerechnet in Rio gelandet war. Als sie sich vor langer Zeit kennengelernt hatten, hatte nämlich die Rio-Hymne »Girl from Ipanema« eine große Rolle gespielt …

Sami gab einen kurzen Schnauflaut von sich. Sie sah ihn an. Er lag auf dem Rücken, eine Hand hinter dem Kopf, die andere auf dem Bauch, dazu ein sehr zufriedener Gesichtsausdruck. Seine typische Morgenschlafhaltung. »Wie Buddha, als er sich noch nicht entscheiden konnte, wohin mit seinen Händen«, hatte sie eines Tages spontan in ihr Tagebuch geschrieben. Dafür konnte Sami etwas anderes, was Buddha vermutlich nicht gekonnt hatte: in die Zukunft sehen. So kam es Nina zumindest vor. Es war natürlich keine magische Gabe. Er beobachtete einfach nur sehr genau, was geschah, und folgerte daraus, was künftig passieren würde.

Genau das war auch sein Job. Er sah verborgene Fehler in den Computersystemen seiner Kunden und prophezeite ihnen, was passieren würde, wenn sie sie nicht beheben ließen. Und die Kunden ließen die Fehler nicht beheben, Samis Vorhersagen trafen ein, und er wurde wieder gerufen, um das, was er ohnehin schon vorhergesagt hatte, zu reparieren. Oft war es ein erheblicher Schaden, und er kassierte stolze Honorare.

Auch was seinen Körper betraf, handelte Sami mit dieser Weitsicht. Er lebte gesund und trieb regelmäßig Sport. Rudern war von früh an seine große Leidenschaft gewesen. Später hatte er sein Bewegungsprogramm gezielt ergänzt, so dass er bald ohne weiteres eine zweite Karriere als Sportmodel hätte verfolgen können.

Ninas Wecker hatte noch nicht geklingelt. Sie deaktivierte den Alarm, schlug die Decke zurück und stand zum zweiten Mal an diesem Tag leise auf. Wie immer wollten ihre Beine sofort loslaufen, als wären sie zwei junge Hunde, die tagelang eingesperrt gewesen waren.

Sie warf einen Blick in den großen Spiegel, obwohl sie sich schon oft vorgenommen hatte, es zu lassen. Sie fand sich zu klein und zu pummelig. Kein Wunder, früher war sie eine ehrgeizige Langstreckenläuferin gewesen, heute durfte sie nicht einmal mehr eine Runde um den Aasee joggen. Vier Jahre war es nun her, dass der irreparable Knorpelschaden in ihren Knien diagnostiziert worden war. Sie konnte froh sein, dass sie wenigstens noch normal gehen konnte. Und das mit Anfang dreißig! Sie versuchte, nur ihre Haare anzusehen. Die langen braunen Locken waren das Einzige an ihr, bei dem sie keine Sekunde ihres Lebens daran gezweifelt hatte, dass es wunderschön war. Und jetzt weiter, weg vom Spiegel!

São Paulo.

Häuseransammlung mit 12 Millionen Einwohnern. 22 Millionen, wenn man die Randbezirke mitzählte, hatte Sami erklärt.

Sie fand einen ihrer Flipflops unter der Kommode im Flur, wo der andere steckte, blieb vorläufig ein Rätsel.

Dass São Paulo so unfassbar groß war, war nicht der Hauptgrund, weshalb Nina zögerte, mit Sami dorthin zu ziehen. Am meisten Unbehagen bereitete ihr, dass das Tempo nicht stimmte. Mochte ja sein, dass das moderne Leben einem abverlangte, von einem Moment auf den anderen in ferne Länder umzuziehen und sich womöglich auch noch darüber zu freuen, aber sie konnte das nicht. Sie brauchte Zeit. Vor allem wollte sie diese Entscheidung nicht aufgenötigt bekommen.

Natürlich konnte Sami nichts dafür. Er hatte sich nicht darum bemüht, die Firma war auf ihn zugekommen. Es war die Chance seines Lebens. Wenn Nina nein zu São Paulo sagte, verbaute sie ihrem Freund alles. Sie schloss die Augen und versuchte sich zum dutzendsten Mal vorzustellen, wie es sein würde, in der Riesenstadt zu leben. Wie lange würde es dauern, bis sie Portugiesisch konnte? Wo konnte sie neue Freunde finden? Welche Jobs kamen dort für sie in Frage? Alle Antworten schienen sich hinter einer dichten Nebelwand zu verstecken.

Schluss nun mit der Grübelei, beschloss sie. Im Moment war Kaffee wichtiger. Sie schlüpfte in den rechten Flipflop. Eigentlich war das nicht der richtige Name für einen einzelnen Flipflop, schließlich waren sie nach dem Geräusch benannt, das sie beim Gehen erzeugten. Ein Einzelner war demnach nur ein Flip. Oder ein Flop? Wenn sie den anderen unten in der Küche fand, hätte sich die Frage erledigt. Allerdings würde das eine neue Frage aufwerfen: Wie zum Teufel konnte der eine unten und der andere oben liegen? Anständige Flipflops trennten sich nicht so weit voneinander.

Sie machte sich auf den Weg ins Erdgeschoss. Bei jedem Schritt hielt sie sich am Treppengeländer fest, denn ihre Beine zitterten beim Gedanken an den bevorstehenden Tag. Es war eine typische zweifach gekrümmte Reihenhaustreppe, wie sie sie schon seit Kindertagen kannte. Kerstin hatte nämlich damals in derselben Siedlung gewohnt und Nina war ständig zu Besuch gewesen. In der Hochhaussiedlung am Stadtrand, in der ihre eigene Familie lebte, war sie umgeben von seltsamen Gerüchen, Fußball als Religion und komischen Jungs, die ihr auflauerten, sobald sie ohne ihren Bruder vor die Tür ging. Das Reihenhaus der Köhnfelds war ihr deswegen immer wie ein Königspalast vorgekommen.

Als Sami ihr vor vier Jahren vorschlug, in ebensolch ein Haus zu ziehen, nur zwei Ecken von den Köhnfelds entfernt, musste sie allerdings kichern. Der Wunsch stand längst nicht mehr auf ihrer Liste. Im Gegenteil, mit Ende zwanzig in eine Reihenhaussiedlung zu ziehen, die genauso alt war wie man selbst und in der inzwischen nur noch Rentner lebten, die die verwaisten Zimmer ihrer erwachsenen Kinder hüteten, schien ihr wie ein schlechter Scherz.

Aber Sami hatte schon recht gehabt. Besser sie suchten sich früh und in aller Ruhe etwas Größeres und nicht erst dann, wenn bereits ein Kind unterwegs war. Vielleicht würde ihr Kind, genau wie sie früher, auch gern in dieser Siedlung wohnen. Ein großes eigenes Zimmer, Spielplätze, verkehrsberuhigte Straßen und viele andere Kinder, die hoffentlich noch herziehen würden. »Hier kommt demnächst ein Generationswechsel«, da waren sich Sami und der Makler einig gewesen.

Natürlich war der linke Flip oder Flop nicht in der Küche. Während sie Kaffee machte, versuchte sie es zu vermeiden, mit dem nackten Fuß den Boden zu berühren. Die Fliesen waren selbst mitten im Sommer eiskalt. Als sie endlich am Tisch saß, steckte sie ihren linken Fuß unter den rechten, um ihn zu wärmen.

Kaffee.

Wie kein anderer war dieser Duft mit ihrer Arbeit verbunden. Ihr wurde flau. Schnell an etwas anderes denken. Wo konnte der andere Flipflop sein? Will ich nach São Paulo? Sie sprang so ungestüm zwischen den beiden Fragen hin und her, dass das Chopin nicht mehr dazwischen passte. Und bald erfand sie eine absurde Geschichte von einem verrückten brasilianischen Hexenmeister, der linke Flipflops verschwinden lassen konnte, und davon träumte, damit die Weltherrschaft an sich zu reißen. Sie hatte sich in ihrem Leben schon tausende solcher Geschichten ausgedacht, und manche davon sogar angefangen aufzuschreiben.

Und wieder São Paulo.

Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie dort ankamen. Ihr Hotel lag in Pinheiros, einem schönen lebendigen Stadtteil mitten im Zentrum, wie es im Reiseführer hieß. Geschäfte, Restaurants, Bars und ein großer Markt. »Und wir haben einen Pool auf dem Dach«, hatte Sami gesagt. »Tagsüber guckst du dir dort vom Liegestuhl aus die Stadt an, und abends essen wir uns durch die besten Churrasco-Restaurants und lernen Samba tanzen.«

Nina freute sich aber vor allem darauf, endlich ein paar Tage ausschlafen zu können. Und kein Geschirr und keine Tabletts anfassen zu müssen, außer um selbst etwas zu essen. Keine Verantwortung für all die Melanies, Steffis und wie die unmotivierten Studentinnen alle hießen, die als Aushilfskräfte im Chopin arbeiteten. Eine Woche Nichtstun, zum ersten Mal seit über einem Jahr.

Sami näherte sich leise, aber in der Stille des Hauses war trotzdem jeder einzelne Schritt gut zu hören. Sie fühlte seine bettwarmen Hände auf ihren Schultern.

»Du … sitzt so schön … bist.«

Sätze, wie sie nur aus seinem Mund kommen konnten. Seit zwölf Jahren waren sie zusammen, trotzdem zögerte er jedes Mal, bevor er sie anfasste. Ganz kurz nur, den Bruchteil einer Sekunde, aber sie spürte es deutlich. Sie hatte ihn schon öfter darauf angesprochen, doch er war immer beharrlich ausgewichen. Seltsam, bevor sie ein Liebespaar wurden, hatte er sie stets ohne jedes Zögern berührt. Irgendwann sollte sie aufhören, darüber nachzudenken.

Nina fühlte, wie seine Daumen neben ihrer Wirbelsäule einsanken. Dort begannen sie sanft zu kreisen, und ein kleines sanftes Feuerwerk brannte an den Enden ihrer Nervenbahnen ab.

»São Paulo ist grässlich heiß, oder, Sami? Wir müssen uns Shorts kaufen.«

»Nina, Brasilien ist auf der Südhalbkugel, dort ist jetzt Winter.«

»Ach so, stimmt ja. Aber São Paulo liegt immerhin ganz im Süd… Oh, schon wieder falsch.« Auf der Südhalbkugel bedeutete Süden das Gleiche wie hier Norden. Natürlich.

»Um die 20 Grad, mehr nicht«, flüsterte er ihr ins Ohr, legte seinen Arm um ihre Schultern und rieb die Nase an ihrer Schläfe. Er schien genau zu wissen, wie gern sie das mochte. Mochte er es auch? Sie war nie ganz sicher.

»Kann es sein, dass dir etwas fehlt?« Er wies mit dem Kinn in Richtung ihrer Füße.

»Ich kann den Linken nirgends finden. Wenn du mich fragst, lauert hier irgendwo ein brasilianischer Hexenmeister, der …«

»Der liegt oben unterm Bett. Sekunde.«

»Bleib doch sitzen.«

Aber Sami war schon unterwegs. Nicht nur, dass er mit Adleraugen alles sah, was sie verschlampte, er speicherte auch wie ein treuer Archivar die Fundorte ab und brachte ihr die Dinge genau dann zurück, wenn sie sie brauchte. Er erkannte alles, merkte sich alles, ordnete alles. Die Vergangenheit, die Gegenwart, und sogar die Zukunft.

Und obwohl er selbst Flipflops an den Füßen hatte, schoss er wie ein Panther die Treppe nach oben. Oder »wie Buddha, wenn er sich ausnahmsweise einmal beeilte«. Nina lächelte. Sie würde maximal drei lustige Sami-Buddha-Vergleiche in ihr Tagebuch schreiben, sonst würde es irgendwann langweilig. Einen hatte sie noch gut. Sami kam mit dem linken Flipflop zurück, und sie schlüpfte hinein. Ihr linker Fuß hatte sich unter ihrem wärmenden rechten ganz wohl gefühlt und schien sich erst einmal an die Helligkeit gewöhnen zu müssen.

»Ich habe gestern noch weiter in dem Buch über Leo Fender gelesen. Total spannend. Soll ich dir erzählen?«

Er hatte die Biografie des legendären Elektrogitarren- und Verstärkerbauers zum letzten Geburtstag geschenkt bekommen. Im Gegensatz zu anderen Büchern, die er stets dankbar entgegennahm, aber nie las, verschlang er den Fender-Schinken geradezu. Und in seiner Begeisterung wollte er immer wieder Nina davon berichten, aber sie wies ihn jedes Mal ab, auch an diesem Morgen.

»Nein. Halt mich einfach noch ein bisschen im Arm.«

Leo Fender interessierte sie wirklich nicht. Lieber drückte sie ihr Gesicht in das weiche dunkelblaue Frottee von Samis Bademantel und atmete in ihn hinein. Auch wenn Mr Fender die Gitarre gebaut hatte, die Sami spielte, außerdem noch die von Hendrix, Clapton, Jeff Beck und anderen Berühmtheiten, sie hatte genug mit ihrem eigenen Leben zu tun. Noch fünf Tage Chopin. Und heute stand ihr das lange aufgeschobene Gespräch mit Kerstin über die São-Paulo-Pläne bevor.

Sie tankte so viel Kraft wie möglich an Samis Brust, löste sich dann und ging hinauf ins Schlafzimmer. Beim Anziehen ging ihr wieder »Girl from Ipanema« durch den Kopf. Und Geros lachendes Gesicht tauchte vor ihr auf.

2 MR SANDMAN

Sylt, zwölf Jahre früher

Ninas Eltern hatten nie viel Geld. Ihr Vater hatte früh seine Arbeit als Schweißer verloren. Er schlug sich mit verschiedensten Jobs durch und Ninas Mutter ging putzen, so reichte es am Ende des Monats gerade eben. Als Kinder waren Nina und ihr drei Jahre älterer Bruder Niklaus deswegen nur zweimal ans Meer gekommen. Einmal ein Husarenritt in dem alten Familienkombi über den Brenner an die Adria, einmal eine Flugreise nach Kroatien, als ein Onkel im Lotto gewonnen hatte und im ersten Überschwang die ganze Verwandtschaft zu einem gemeinsamen Urlaub einlud.

Die Nordsee sah Nina erst, als sie siebzehn war. Eine Kollegstufenfahrt ihrer Schule, organisiert vom Biologielehrer Tüpke, führte sie nach Sylt. Sie waren abseits vom großen Betrieb in einer einfachen Jugendherberge in den Dünen am äußersten nördlichen Ende der Insel untergebracht. Eine Ansammlung langgestreckter ehemaliger Armeegebäude mit Walmdächern und roten Backsteinwänden, denen trotz ihrer Vergangenheit kaum etwas Militärisches anhaftete. Nur ihre für Sylter Verhältnisse ausgeprägte Größe fiel auf, immerhin konnten hier ein halbes Dutzend Schulklassen gleichzeitig übernachten.

Es war der erste Morgen. Nina hatte sich den kleinen Piepswecker unter ihr Kopfkissen gelegt. Ihre Zimmergenossinnen Kerstin, Aline und Fatima schliefen ungestört weiter, während sie lautlos im Halbdunkel aus ihrem Schlafanzug schlüpfte und die am Abend zuvor bereitgelegten Sportsachen anzog. Als Letztes die neuen Laufschuhe. Wie lange hatte sie sich dieses Paar gewünscht! Zu ihrem Geburtstag vor einer Woche war es dann endlich so weit gewesen. Großeltern, Onkel, Tanten und natürlich ihre Eltern hatten zusammengelegt.

Sie band ihre Locken zu einem Pferdeschwanz zusammen, kletterte aus dem Erdgeschossfenster und lief los in den stillen Morgen. Eine Diskussion mit Herrn Tüpke, ob und wann man sich von der Unterkunft entfernen durfte, hätte auch dem sonnigsten Gemüt die Laune verdorben.

Sie waren gestern am späten Nachmittag angekommen, gleichzeitig mit einer Klasse aus Hamburg, ebenfalls eine zwölfte. Viel lauter, aber auch viel erwachsener, wie Nina fand. Sami und ein paar andere Jungs aus ihrer Klasse hatten sofort Kontakt mit den Nordlichtern aufgenommen. Münster war nicht klein, aber im Vergleich zu Hamburg doch ein Nest. Sie hatten verlegen zu Boden geschaut und mit leuchtenden Augen den Geschichten aus der Großstadt zugehört.

Die Jungs aus ihrer Klasse versuchten mit den Erfolgen von Samis Ruderriege wenigstens ein bisschen Eindruck bei den Hamburgern zu schinden, aber Rudern galt bei den Städtern als spießig, und auch, dass Sami in der Schulband Elektrogitarre spielte, brachte kaum Punkte. Schon bald sprachen die Hamburger nur noch über Alkohol und Gras. Sie schienen ganze Wagenladungen davon dabeizuhaben. Nina hatte sich mit Kerstin und ein paar anderen Freundinnen unauffällig abgesetzt, sich in der sonnigsten Ecke des Geländes im Sand niedergelassen und plaudernd auf das Abendessen gewartet.

In der Nacht hatte es dann ziemliche Aufregung gegeben. Ein paar Klassenkameraden hatten sich den Hamburgern auf einem heimlichen Ausflug in die Dünen angeschlossen. Bald darauf hatten sich Sami und Armin, die beide in ihrem Leben noch nie mehr als hier und da ein kleines Bier getrunken hatten, irgendwo in den Dünen übergeben müssen. Was sie genau getrunken oder geraucht hatten, wussten sie selbst nicht. Nina und ihren Freundinnen war es zum Glück gelungen, die beiden in ihre Betten zu lotsen, ohne dass die Lehrer etwas mitbekamen.

Sami wäre gerne ihr Freund gewesen, das wusste sie. Er legte auf dem Pausenhof hin und wieder den Arm um ihre Schulter. Sie fühlte sich wohl mit ihm, und viele in ihrem Alter hatten schon einen Freund. Aber noch war sie sich nicht ganz sicher.

Ninas Füße bearbeiteten den sandigen Trampelpfad, der zu den Dünen führte. Es gab wohl kaum einen schöneren Ort, um die neuen Schuhe einzuweihen. Sie hatte viele Modelle probiert. Diese passten perfekt. Die Sonne mogelte sich durch ein paar langsam verschwindende Schichtwolken, die sanft beschienenen Dünengräser winkten ihr gnädig, und die sommerliche Seeluft, die immer tiefer in ihre Lungen eindrang, gab ihr das warme Gefühl, bereits am ersten Morgen keine Fremde mehr an diesem Ort zu sein.