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Michael Böhm

Quo vadis, Herr Petermann?

Roman

Impressum

Die Petermann-Trilogie:

Herrn Petermanns unbedingter Wunsch nach Ruhe

Herr Petermann und das Triptychon des Todes

Quo vadis, Herr Petermann?

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

Copyright © 2016 by Edition 211, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage

Lektorat: Eva Weigl

Satz/Layout: Martina Stolzmann

E-Book: Mirjam Hecht

Covergestaltung: Martina Stolzmann

Titelmotiv: Fotolia/bonciutoma

Made in Germany

ISBN 978-3-95669-082-2

www.bookspot.de

Widmung

Meine Liebe für und meinen Dank an Christel und Manuel

Zitat

Friedlich
Ist das Wespennest
Wenn man es
In Ruhe lässt.

Wandspruch in der Altstadt von Nürnberg (entdeckt am Mittag vor der Verleihung der Friedrich-Glauser-Preise 2014)

Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.

Plautus

Prolog

1

War es womöglich doch ein Naturgesetz, ergo nicht oder nur kaum zu beeinflussen, dass meinem Tuskulum auf Dauer kein Frieden zuteilwerden konnte?

Auf leisen Sohlen schlich das Unheil heran, allerdings mit den unübersehbaren düsteren Anzeichen, meinen Garten Eden ernsthaft bedrohen zu wollen. Nein, nicht die wunderbare Stille in Kimmling-Hof wurde dieses Mal gestört, viel perfider noch, denn meine innere Ruhe war als Ziel ausersehen. Was mir an dem jungen Teufelsbraten gefiel, der das für ihn unkalkulierbare Wagnis einging, meine geheiligten Kreise zu stören, war allein sein Name. Nur darum sah ich zunächst ziemlich locker, sogar leicht amüsiert, seinem Treiben zu.

Er war allenfalls gerade mal halb so alt wie ich, drohte mir törichterweise unverhohlen, versuchte sogar seine hinterlistige Schlinge immer enger zu ziehen. Als er mir schließlich deutlich zu verstehen gab, demnächst kein Pardon mehr zu kennen, überschritt er damit die unsichtbare Grenze, da war für mich der gewisse Punkt erreicht, ab dem ich sein heimtückisches Spiel nicht länger dulden durfte.

An diesem feuchtschwülen Morgen – schon einem der Hundstage? – stand ich im Gebüsch am Fuß des bewaldeten Hanges unterhalb meines Hauses. Die Halbinsel und die Weite des Sees lagen vor mir. Zu der Halbinsel möchte ich erwähnen: Etwa die Hälfte meines Gartens darf schon dazugerechnet werden. Gleich hinter dem Zaun und der Buchenhecke, die mein Grundstück begrenzen, fängt der Wald an, der sich schon nach wenigen Metern den steilen Hang hinunterzieht, um etwa dreißig Schritte vom Ufer entfernt, am Panoramaweg, zu enden.

Ich wartete auf den jungen Mann, der in den nächsten Minuten auftauchen würde, um vom Steg aus ins Wasser zu springen und wild kraulend seinem Frühsport zu frönen. Auf einem Ast, nur wenige Meter schräg vor mir, saß eine Amsel, ließ sich durch mich nicht stören, ruckte nur mit ihrem Kopf zwischen mir und dem See hin und her. Solch einen Zeugen durfte ich mir gerne gefallen lassen.

Später dann, noch bewegte ich mich außerhalb der Zeit, als ich zwischen den Bäumen den Hang wieder hinaufstieg, fragte ich mich, ob sich die Zwickmühle auch auf eine andere Weise hätte auflösen lassen, als auf diese so endgültige, so unwiderrufliche Art? Nun war es eben so, dass keine hundert Meter hinter mir an diesem hellen Sommermorgen ein Toter mit dem Gesicht nach unten im noch kühlen Wasser des Sees trieb. Für den Schwimmer, dachte ich, ein schöner Augenblick zum Sterben.

Diesen radikalen Schlussstrich zu ziehen war längst überfällig geworden. Er war nicht der Mann, mit dem man ungestraft seinen Schabernack treiben durfte, hatte er sich doch ohnehin großzügig, viel zu lange, in Geduld geübt. Nein, er hatte keine Bedenken, den Störenfried, der ihm den Fehdehandschuh hingeworfen, ihn über Gebühr herausgefordert hatte, auf dem direkten Weg in die ewigen Jagdgründe zu schicken.

In wenigen Tagen würde es so weit sein, dass der Architekt mit den Männern der Baufirma anrückte. Wir, Magdalena und ich, werden dann für einige Zeit verreisen, zunächst nach London, später, so hatten wir vor, weiter auf die Hebriden.

An den toten Schwimmer dachte ich schon nicht mehr, als ich durch den Garten, unter den Ästen der Obstbäume, auf mein Haus zuging.

Eine merkwürdige Begegnung

2

Nach zuletzt ziemlich trüben Tagen mit viel Regen, Nebel, sogar Sturm, wird uns Mitte März unverhofft ein schöner Frühlingstag geschenkt.

Ich mache mich zu Fuß auf den Weg hinüber nach Kimmling. Die warmen Sonnenstrahlen zusammen mit der lauen Föhnluft küssen binnen Stunden die Natur sichtbar wach. Nur das zarte Grün scheint zu zögern, traut womöglich einem falschen Frühling nicht, noch changieren die Farben, halten sich mit ihrer Pracht zurück, geben nur ein leises, vorsichtiges Versprechen ab.

Im Kaufladen erstehe ich eine Tüte Himbeerbonbons, bringe den obligatorischen Plausch mit dem Kramer hinter mich, laufe dann nahe der Kirche Pfarrer Demme in die Arme. Ich begleite ihn und zusammen betreten wir das Gotteshaus. Der Pfarrer ist gekommen, um Vorbereitungen für die nächste Messe zu treffen. Vor dem Altar stehend, tauschen wir unsere Meinungen über den Blumenschmuck aus. Kurze Zeit später überlasse ich Hochwürden wieder seinen Obliegenheiten, gehe hinüber zum Seitenausgang, um auf den Friedhof zu gelangen.

Draußen verliert sich die sprechende Stille sakraler Nähe nicht. Vom Ort her ist hier oben nichts zu hören. Langsam schlendere ich den breiten Mittelweg entlang. Im Vorbeigehen betrachte ich die Gräber, lese Namen und Daten, habe vor allem ein Augenmerk auf den Zeitraum, seitdem ich in Kimmling lebe. Den einen oder anderen Namen kenne ich nicht nur, ich kann mich sogar an Gesichter erinnern, was mir bewusst macht, ich bin kein ganz Fremder mehr in dem kleinen Ort über dem See.

Mir kommt ein Mann entgegen, und gleich sehe ich, er ist nicht einmal in seinen mittleren Jahren. Er ist bereits so nahe heran, dass ich sein Gesicht erkennen kann. Kann das wirklich ein Zufall sein? Ist es tatsächlich möglich, dass er mir gerade auf dem Friedhof begegnet, wusste ich selbst noch vor Minuten nicht, dass ich diesen Weg einschlage?

Er lächelt verhalten, irgendwie merkwürdig, ja, mir fällt sogar die Vokabel verschlagen ein, als er ohne jeden Gruß an mir vorübergeht. Ich wende mich nicht um, sehe ihm nicht nach, will er mich doch vermutlich gerade dazu herausfordern. Nein, ich tue ihm diesen Gefallen nicht, setze meinen Weg fort, als sei nichts gewesen.

Der junge Mann und ich, wir sind uns immer wieder begegnet. Einige Male schon im vergangenen Herbst irgendwo in oder um Kimmling herum. Und dann vor Wochen im »Kellertheater«, bei der Premiere meines Stücks, haben wir sogar einige Worte miteinander gewechselt und dabei hat er mir seinen Namen genannt.

Das Zusammentreffen jetzt auf dem Friedhof ist etwas ganz anderes, es ist eine gesuchte, eigenartige Begegnung. Als er hier auf meinen Weg einschwenkt, mir entgegenkommt, sich mir damit sinnbildlich entgegen-stellt, was er körperlich erst später versucht, ist das ein Fixpunkt unserer sonderbaren, so gar nicht alltäglichen Beziehung. Für mich ist es der Anfang, der Moment, ab dem ich ihn wirklich zur Kenntnis nehme.

Nütze den Tag

3

In dieser Stunde der frühen Nacht liegt der See in eine traumhafte Stimmung eingesponnen vor mir, die nicht jeden Tag zu spüren und gerade darum etwas Besonderes ist. Am samtblauen Himmel hängt einer ziemlich großen Laterne gleich ein noch nicht ganz runder Mond, der sein geliehenes silbernes Licht über dem dunklen Land ausschüttet, das Wasser des ruhenden Sees märchenhaft unwirklich glitzern lässt. Wieder einmal wähne ich mich federleicht außerhalb der Zeit. Dieses erstaunliche Phänomen spüre ich nur hier in Kimmling-Hof, wenn sich mir Stunden zu Minuten, Tage zu Stunden verdichten durch diese fast schon mystische Intensität der Ruhe.

Ich habe es mir nahe den hohen Terrassenfenstern in meinem Schaukelstuhl bequem gemacht, betrachte versonnen das mir dargebotene friedliche Bild, drehe dabei in meiner linken Hand den ovalen, leicht rötlich schimmernden glatten Stein, einen Liebesstein. Magdalena, meine Herzensfreundin, die in meiner geheimen Gemütslandschaft ein unergründlich dunkles Loch mit Licht flutet, hat ihn mir geschenkt, heute Morgen, unten im Bootshaus, bevor wir zum ersten Mal in diesem Jahr die Leinen meines Segelbootes losmachten. Auf den Holzbohlen stehend, unter uns gluckste leise das Wasser, umarmte ich sie, küsste ihre vollen Lippen, sah in ihre tiefen, warmen und so schamlos blickenden grauen Augen.

Beinahe lautlos, von einem Elektromotor angetrieben, bewegte sich die Magdalena langsam vom Steg weg und hinaus in den Kanal im Schilfgürtel. Nachdem wir das freie Wasser erreichten, schaute ich hinüber zu meinem Landhaus, das weiß leuchtend auf dem breiten Buckel von Kimmling-Hof thront. Noch war dieser Blick frisch, hatte noch nichts von schöner Gewohnheit, gefiel mir außerordentlich gut.

Magdalena schaltete den Motor ab, blieb am Ruder, während ich die Segel setzte. Geschmeidig, fast von alleine, drehte sich das Boot in den Wind, nahm Geschwindigkeit auf, und der Bug schnitt leise zischend durch das Wasser. Wir strahlten uns an, ganz dem erhebenden Gefühl hingegeben, scheinbar schwerelos über den See zu fliegen. Übermütig wie Kinder spielten wir mit dem Wind, dem es offenbar auch Spaß machte, mit dicken Backen in die Segel zu blasen. Es war eine Empfindung von Freiheit, es fühlte sich an, als sei man aus der Zeit gehoben, einfach nur zum Genießen auf diesem schönen Planeten.

Wir kreuzten über die weite, glatte Fläche des Sees, peilten immer wieder die unterschiedlichen Landmarken an, bevor wir gegen Mittag eine stille Bucht ansteuerten und hier unweit des Ufers Anker warfen.

Zunächst spannten wir zusammen das Sonnensegel über dem Vorschiff auf. Während ich den Tisch aufstellte, zwei Stühle aufklappte, den Korb mit dem Wein, den Gläsern, Geschirr und Besteck, dem Brot und den leckeren Tapas heraufholte, die hellbraune Leinendecke über den Tisch breitete, die mitgebrachten Köstlichkeiten darauf verteilte, tauschte Magdalena in der Kajüte ihre gelbe Bluse und die lange Hose gegen ein weißes Schleiertuch, um ihre empfindliche helle Haut zu schützen, setzte statt der weißen Sportkappe einen breitrandigen Strohhut auf ihre blonden Haare. Als sie von unten kam, schön wie eine germanische Göttin mit griechischem Gesicht, flog mich der spontane Wunsch an, sie zu malen, wozu ich allerdings überhaupt kein Talent besitze.

Magdalena hatte bei Freunden an der französischen Atlantikküste segeln gelernt. Als sie mir beim Knabbern von italienischen Oliven davon erzählte, wurden in meinem Kopf alte, schon vergessen geglaubte Bilder vom Bodensee lebendig. Unser Internat bot dort Segelkurse während der Sommerferien an. Segeln war eine Sportart, die bis dahin weit außerhalb meiner Interessen lag, vermochte mich also wenig zu locken. Da meinem Vater kaum der Sinn danach stand, mit dem Sohn die freien Sommerwochen zu verbringen, hatte ich jedes Jahr eine andere Lösung gefunden, irgendetwas bot sich mir immer an. In einem Jahr nun, ich war vierzehn, machte mir ein Junge aus einer höheren Klasse den Vorschlag, mit an den Bodensee zum Segelkurs zu kommen. Das war ebenso gut wie sonst irgendein Ziel. Er machte es mir mit Worten und Fotos richtig schmackhaft, sodass es mir schließlich selbst als eine gar nicht so schlechte Idee erschien. Nach zwei weiteren Sommern konnte ich segeln, hatte die Ungestörtheit auf dem See als eine positive Erfahrung kennengelernt, war dem Kameraden fast dankbar für seine so beredte Überzeugungsarbeit. Ich weiß sogar noch seinen Namen, Weinberger, den Vornamen habe ich vergessen. Ein anderer Kursteilnehmer, der nicht aus dem Internat kam, sondern aus Stuttgart, ist mir aus völlig anderen Gründen in Erinnerung geblieben. Aus reichem Haus stammend, besaß er natürlich sein eigenes Boot. Jedem anderen gegenüber ließ er keinen Moment auch nur leise Zweifel darüber aufkommen, dass er zur Elite gehörte, gab sich aufreizend arrogant, war das Maß der Dinge, wie selbstverständlich war er stets der Beste. Nachdem er bei einer Wettfahrt einen Vorteil, der ihm nicht zustand, einfach an sich gerissen hatte, er nicht einmal eine Rüge dafür einstecken musste, nahm ich mir fest vor, ihm bei der Schlussregatta Paroli zu bieten. Und tatsächlich gelang es mir, als Erster die imaginäre Ziellinie zu überfahren. Die Jury jedoch sah das anders, erkannte auf ein eigenartiges Unentschieden. Mein Gegner lächelte süffisant, was mich nicht störte, hatte ich doch erreicht, was mein Antrieb gewesen war, nämlich zu siegen. Ich weiß, wusste es damals schon, ich hatte ihn damit schwer getroffen. Er hat es mir bestätigt, später einmal, in Berlin, wo er als Anwalt für einen Wirtschaftsverband tätig war, spottete sogar elegant über seine gekränkte Eitelkeit, damals.

Magdalena und ich ließen uns Zeit mit dem Essen und dem Wein, saßen im leichten Wind, der über das Wasser strich, genossen den Moment.

Erst am frühen Nachmittag spielte die Magdalena wieder mit Wasser und Wind, zeigte uns bei jedem Manöver, welch ein hervorragendes Boot sie ist.

Den Dolch im Gewande

4

Das traumhaft schöne Panorama lag in einem hellen, fast unwirklichen Licht. Doch der Mann mit dem dunklen Hut hatte keinen Blick übrig für diese einzigartige Naturkulisse, war auch nicht deshalb hier, kannte das alles schon, weswegen die vielen Menschen hier heraufkamen. Auch damals, Ewigkeiten schien das her zu sein, war er mit der Bahn gekommen. Tatsächlich waren nur einige wenige Jahre seitdem vergangen.

Der Gornergrat, dieser magische Anziehungspunkt des Kantons Wallis hoch über Zermatt, dieser ehemals wunderschöne malerische Bergort, der dem Tourismus seine Seele verkauft hat. Was von hier oben die Augen ungläubig staunen, in über dreitausend Metern Höhe sogar den Puls schneller schlagen lässt, war für ihn nichts Neues, ihm waren diese Postkartenbilder gut bekannt.

Es sind da zwei überwältigende Attraktionen: Die eine steht rechts, nämlich Seine Majestät, das Matterhorn, einfach unglaublich prächtig vor dem makellos stahlblauen Himmel. Und, nur eine leichte Drehung des Kopfes nach links, die mächtige Wand des Monte-Rosa-Massivs. Als Zugabe die grandiose Kulisse der Felstürme, allesamt Viertausender. In der Tiefe liegt der Gornergletscher. Die weiten weißen Hänge, die in der Sonne ins Bläuliche changieren. Welcher Maler ist so talentiert, um diese Sicht und die dazugehörenden Gefühle auf einer Leinwand festhalten zu können?

Die Fahrt mit der Zahnradbahn von Zermatt herauf über Brücken und Schluchten, durch Tunnel, an Bergseen vorbei, bereitet die Augen derjenigen, die sehen können, auf das Wunder des Gornergrates vor. Dennoch stehen die Besucher erst einmal gebannt, sprachlos wie Kinder vor dem Weihnachtsbaum, wenn sie den Zug an der Bergstation verlassen.

Der Mann, der, stumm wie die anderen, ruhig inmitten der Menschen stand, hatte nur Augen für das graue Steingebäude des höchstgelegenen Hotels der Schweiz, dem Kulmhotel Gornergrat. Nein, er war nicht gekommen, um sich von den Bergriesen bezaubern oder gar überwältigen zu lassen. Er hatte völlig anderes im Sinn.

Wie ein Chamäleon passte er sich der Umgebung, der Menschenmenge um ihn herum an, wollte nämlich unbedingt vermeiden aufzufallen, irgendjemandem im Gedächtnis zu bleiben. Dafür wanderten seine Blicke über die vom Schnee geräumten Wege, den weißen Wällen an ihrem Rand, hinauf zum aus grauen Feldsteinen erbauten Hotel und noch weiter aufwärts zu den höchsten Stellen des Grates, zu denen mäandernde dunkle Pfade führten, auf denen die Menschen ununterbrochen auf- und abstiegen.

Nur allmählich, ja beinahe zögernd löste sich der Pulk auf, in dem er gut getarnt war, und die Menschen begannen, den Vorplatz der Bergstation zu verlassen.

Der Mann folgte einer Gruppe, für einen zufälligen Beobachter hätte es fast so ausgesehen, als gehöre er dazu, trabe nur müde ein, zwei Schritte hinterher.

Seitlich, zur Mauer hin, stand ein alter Mann, der ein Paar, das ihm aus kurzer Distanz entgegenlächelte, fotografieren wollte. Sein Unterfangen war nicht ganz einfach. Einerseits konnte er nicht auf seinen Stock verzichten, andererseits benötigte er eigentlich zwei Hände, um den Fotoapparat in Position zu bringen. Schon entglitt ihm bei seinem Kunststück der Stock, und seiner stabilisierenden Stütze beraubt, wankte er, suchte die Balance wieder zu erlangen, fuhr mit den Armen in der Luft herum. Geistesgegenwärtig sprang der Mann, der eben noch vergnügt vor ihm gestanden und auf das Klicken des Auslösers gewartet hatte, auf ihn zu, packte ihn bei den Hüften, bewahrte ihn dadurch vor einem Sturz.

Die Szene dauerte gerade so lange, um den Mann mit dem Hut vorübergehen zu lassen. Gleich darauf erreichte er die Terrasse. Hier drängten sich die Menschen, was ihm nur recht sein konnte. Unauffällig schlängelte er sich auf den Zugang zum Restaurant und Hotel durch. Der Wind machte die Luft schneidend. Es war kalt.

Im Vorraum empfing ihn angenehm kuschelige Wärme. Linker Hand bewegte sich leicht die Schwingtür zum Restaurant. Vor ihm befand sich die schmale Rezeption, hinter der eine blonde Frau zu einem Monitor hin gebeugt stand und nur flüchtig zu ihm herübersah. Sie hatte ihn wohl nicht mal wirklich wahrgenommen, würde sich später also auch nicht an ihn erinnern.

Rechts eine Tür mit einem gelben Schild Kein Eintritt. Der graue Teppichboden hatte feuchte, dunkle Spuren. Er passierte die Schwingtür. Vor ihm lag eines der Restaurants, nur schwach besetzt. Rechts die Treppe, mit einem dunkelroten Läufer bespannt. Er stieg hinauf und oben, nach der letzten Stufe, blieb er stehen.

Seine Gedanken waren bei Julia. Sie musste ganz in der Nähe sein, er spürte deutlich ihre Anwesenheit. Das Radar seiner all-
umfassenden Liebe hatte sie aufgespürt.

Julia hatte ihn verraten, hatte ihn wie eine verfaulte Kartoffel am Wegesrand liegen lassen. Mit welch süßen Worten hatte sie ihn belogen, ihm dick Honig auf seine Gefühle gestrichen. Sie war mit dem Anderen gegangen, verführt von den goldenen Versprechungen des Pinselfritzen, den sie noch kurz zuvor mit perfider Freude gnadenlos verspottet hatte. Jetzt lebte sie mit ihm, logierte mit dem Anderen in diesem Hotel, ließ es sich gut gehen, denn der Kerl konnte ihr mit leichter Hand alles bieten, konnte jeden ihrer Wünsche in Erfüllung gehen lassen. Julia sah mit ihren blauen Augen immer nur einzig und allein auf ihren Vorteil. Immer.

Was war er so naiv, ja richtig dumm gewesen. Hätte er es doch besser wissen müssen. Müssen. Mit dem Feuer zu spielen war immer mit Risiko verbunden. Er sah ihren Auftritt vor Beginn dieser verfluchten Vernissage noch ganz genau vor sich. Wie sie scheinbar moralisch empört auf den Vorschlag Tulipans, des populärsten Malers dieser Zeit, ihm nackt Modell zu sitzen, reagierte! Wie hatte sie gelacht, dem Maler glatt ins Gesicht gesagt, sie lasse sich nicht von seinen Basedow-Augen schamlos anstarren. Nach der Vernissage, unendlich von ihrer Liebe überzeugt, hatte er ihr am Tresen einer kleinen Bar mit spöttischen Worten vorgehalten, feige die Möglichkeit aus der Hand gegeben zu haben, dem geheimnisvollen Tulipan auf die Finger zu sehen. Er war inzwischen überzeugt, dass er es gewesen war, der sie letztendlich mit seinen spitzen Worten in die Arme des Malers getrieben hatte. Und genau das machte ihn schier wahnsinnig.

Er sah sie sofort, als er das obere Restaurant betrat, obwohl sie ihm den Rücken zudrehte. Julia war alleine in dem Raum, so hätte er sich das nicht zu wünschen gewagt, saß in einem Korbsessel, der mit freiem Blick zum Matterhorn vor dem Panoramafenster stand, und telefonierte. Wäre sie nicht so intensiv mit ihrem Gespräch beschäftigt gewesen, hätte sie ihn im Spiegel des Fensters kommen sehen müssen. Aber auch das wäre ihm einerlei gewesen.

Ganz ruhig, ohne Hast, griff er in die Außentasche seiner wattierten grauen Jacke, trat lautlos hinter Julia, beugte sich nach vorne und rammte ihr mit voller Wucht einen Holzstichel ins Herz.

Amor, der Gott der Liebe, trifft dich mitten ins Herz, meine Liebe.

Julia gab nur einen leisen Seufzer von sich. Das Handy entglitt ihrer Hand, fiel fast lautlos neben den Sessel auf den Teppichboden.

Mit einer beinahe jubelnden Erleichterung meinte er, durch den Raum zurück auf die Tür zuzuschweben. Wie von einem ganz speziellen Spot angestrahlt, herausgehoben aus dem Augenblick, nahm er jede Einzelheit überdeutlich wahr. Was er sah, brannte sich für immer als Einzelbilder in sein Gedächtnis ein. Der lange, verlassene Tresen. Das brennende Feuer im offenen Kamin. Der handgewebte, wunderschöne Wandteppich, der zwischen Kamin und Tür hing. Die große, runde Uhr über der Tür.

Nie mehr konnte sie ihn verlassen. Julia gehörte jetzt für immer ihm. Die Euphorie durchströmte ihn wie eine warme Dusche.

Ein neues rotes Buch

5

Länger als gewöhnlich sitze ich in meiner Bibliothek, blättere versonnen in einem voluminösen Band mit Albrecht Dürers Skizzen, deren an Zauberei grenzende Meisterschaft mich immer wieder neu fasziniert.

Mein Smartphone meldet sich, reißt die Ruhe, in die ich mich eingesponnen habe, entzwei. Nur wenige Momente zögere ich, mich aus meiner Kontemplation holen zu lassen.

Francis Wyman ruft aus Seattle an. Ich schalte auf den Monitor um. FaceTime. Es spricht sich besser, wenn man sein Gegenüber sieht.

Francis gehört einem besonderen Kreis an. Obwohl wir diesen Zirkel nie explizit so bezeichneten, war es dennoch eine Art Bruderschaft, so etwas wie ein Orden, nämlich der enge Führungskreis von »Pythagoras«. Nur Rainer Fall, mein Partner in der Firma, hatte in meinem Beisein mal, wenn auch halb im Spaß, von den Brüdern und Schwestern mit mir als schwarzem Abt gesprochen. Von Anfang an hatte ich mir als Mitbegründer und CEO von »Pythagoras« das letzte Wort über eine Aufnahme in die Führungsriege vorbehalten. Ich war also König Artus, sie bildeten meine Tafelrunde, die allerdings keinen festen Ort hatte, sich unregelmäßig traf, mal in Rom, mal in London, in New York, auf Hawaii … Jeder Einzelne des Clubs zog für den König in den Kampf, riskierte sogar hin und wieder seinen Kopf. Der König jedoch hielt zu seinen Vasallen immer eine gewisse Distanz, niemand kam nahe an ihn heran, denn Vertrautheit war ihm nicht gegeben. War es nicht vielleicht gerade diese unterkühlte Zurückhaltung, verbunden mit einer unangreifbaren Höflichkeit, dem stets offenen Ohr und der unbedingten Loyalität, die uns verband?

»Pythagoras« hatte für den nordamerikanischen Markt einen neuen Statthalter gesucht. Francis war uns empfohlen worden, er selbst hatte signalisiert, zu uns kommen zu wollen. Wir trafen uns in Seattle. An einem klaren sonnigen Tag mit leichtem Wind fuhren wir hinaus zu den Inseln, spazierten am Strand entlang, stundenlang. Noch bevor wir das windschiefe Strandrestaurant betraten, quasi auf der steilen Holztreppe hinauf, besiegelten wir mit einem Handschlag unseren Pakt. Die Einzelheiten würden die Anwälte festzurren.

Francis steuerte seitdem das Schiff an allen Untiefen vorbei, um alle Klippen herum, smart, mit dem richtigen Gefühl für das jeweilig angebrachte Timing. Wir sind nach meinem Rückzug vom Chefsessel in lockerer, privater Verbindung geblieben. (Dazu möchte ich anmerken: Zu keinem Mitglied der Tafelrunde ist nach meinem Verzicht auf den Königsthron bei »Pythagoras« der private Kontakt abgerissen.) Dieser Anruf jetzt ist nicht der eines Ordensbruders, nicht der eines Freundes, Francis sucht ganz explizit meine Unterstützung als ehemaliger Vorstandsvorsitzender. Er hat ein ernstes Problem, ich kann das Dilemma verstehen, in dem er steckt, höre ihm zu, danach er mir.

Später lege ich die CD mit Beethovens fünfter Symphonie, eine Aufnahme von Herbert von Karajan mit den Berliner Philharmonikern, in den Player.

Ich darf mich der Freude des Denkens hingeben – und dem Versinken in die Ruhe, denn die Außenwelt hat ihren Tribut erhalten und ich habe die Freiheit, mit meiner Zeit zu spielen. Nichts erscheint mir kostbarer als die Zeit, auch und vor allem, weil ich tief drinnen in mir weiß, dass meine letztlich unbekannte Restzeit beschränkt ist.

Gewollt zögere ich den Moment hinaus, in dem ich meinen Füller mit grüner Tinte betanke, das nächste noch leere rote Buch aufschlage, den ersten Satz, den ersten Abschnitt schreibe, einen Satz an den nächsten reihe. Noch bin ich mit meinen vorbereitenden Gedanken nicht so weit.

Irgendwann in der nächsten Stunde dann gleitet die Feder über das Papier.

Seit Wochen schleicht sich dieser Mann, ich kann ihn gewiss noch jung nennen, auf immer engeren Kreisen an mich heran, und wie er das tut, gefällt mir überhaupt nicht. Er heißt Lancelot. Zunächst schenkte ich ihm wenig Beachtung, tauchte er doch erst einmal nur als eine Randfigur auf. Dann zeigte er sich jedoch wiederholt in meinem Umfeld, zielte immer spürbarer auf meinen Frieden ab. Noch vermochte ich mir nicht zu erklären, was ihn antreiben könnte, mir partout meine ruhigen Tage zu stören.

Ich frage mich endlich, inwieweit meine Lebensweise das Böse wie ein Magnet anzieht? Wie soll ich mir sonst die fast schon in regelmäßigen Abständen aufkeimenden, heimtückischen Attacken erklären?

Leicht werde ich es dem Angreifer nicht machen. In mir wird er kein zahmes Opferlamm finden. Ich bin sicher, er weiß nicht, dass mit mir nicht gut Kirschen essen ist. Ich werde ihm die Stirn bieten, und sei es auch, ihm mit letzter Konsequenz entgegenzutreten.

In der Scheibe des Bücherschrankes sehe ich mich mit kalten Augen schmunzeln.

Eiswein