Christian Lunzer - Peter Hiess

Der Fall Kate Webster

Roh und gekocht

 

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Kreittmayrstr. 26, 80335 München

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Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-95616-567-2

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Inhalt

Roh und gekocht

Quellen

Lust auf mehr?

Mütter, Töchter, Ehefrauen

Gift & Galle

Auf Messers Schneide

Weibliche Tugenden

Mörderische Arbeitsmarktverwaltung

Mord am Arbeitsplatz

Arbeitsplatz und Ausbildung

Die Autoren

Der Verlag

Impressum

 

Roh und gekocht

Die ersten Spuren – oder besser die ersten Teile – fanden zwei Kohlenhändler: Mr. Henry Wheatley und sein Kollege schoben am frühen Morgen des 5. März 1879 ihren Karren am Themse-Ufer bei Richmond flussaufwärts. Bei der Barnes-Brücke sah Wheatley einen großen schwarzen Behälter im Wasser nahe am Ufer liegen. Er sprang über die Böschung und zog ihn an Land. Es war ein großer, hölzerner Koffer, der mit einem Vorhängeschloss gesichert und mit dicken Seilen verschnürt war. Mit seinem Federmesser schnitt er die Knoten durch und sprengte das Schloss auf. Der Deckel fiel zurück, aber der Inhalt war anders, als Mr. Wheatley sich ihn erwartet und vielleicht auch erhofft hatte: Der Koffer enthielt große Stücke rohes Fleisch, das wahrscheinlich von einem Metzgereibetrieb stammte. Sein Kollege vermutete, dass es sich um Schweinefleisch handelte. Trotzdem waren sich beide ihres Urteils nicht ganz sicher. Warum sollte ein Fleischer Abfälle so sorgfältig entsorgen, indem er sie in einen Koffer packte, diesen fest verschloss und dann in den Fluss warf, wenn er doch einfacher und profitabler feine Wurst daraus erzeugen hätte können?

Die beiden Männer meldeten deshalb ihre Entdeckung auf der nahe gelegenen Polizeistation von Barnes. Inspector Marber brach sofort zur Fundstelle auf und nahm den praktischen Arzt des Ortes, Dr. James Adam, gleich mit. Dem genügte ein kurzer Blick auf die Fundgegenstände der Kohlenhändler, um deren Diagnose in Frage zu stellen. Er war fast hundertprozentig davon überzeugt, Menschenfleisch vor sich zu haben, und ließ den Koffer samt Inhalt zur genaueren Untersuchung ins Gemeindeleichenhaus bringen.

Die Totenbeschau ergab zwei Fakten, die Dr. Adam für unumstößlich hielt. Erstens handelte es sich um Teile einer weiblichen Leiche, bei der nur der Kopf und ein Bein fehlten. Die Frau musste zu Lebzeiten um die 50 Jahre alt und ungefähr 1,50 Meter groß gewesen sein; sie hatte schwarzes, nur leicht angegrautes Haar gehabt. Zweitens war die Zerstückelung nach dem Tod mit roher Gewalt, wahrscheinlich mit einem Messer und einer Hacke, ohne eine Spur von anatomischen Kenntnissen erfolgt. Beim dritten Faktum allerdings traute sich der Gemeindearzt nicht allein zu urteilen, sondern zog einen berühmteren Kollegen mit Erfahrung in forensischer Medizin bei. Doch Professor Dr. Thomas Bond vom Westminster Hospital konnte Adams Befund nur bestätigen. Da kaum Verwesungsspuren festzustellen waren, obwohl der Koffer garantiert längere Zeit im Wasser gelegen war, und die Haut der Leiche einen seltsamen, unnatürlichen, pergamentartigen Zustand aufwies, mussten die Teile gekocht worden sein.