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Inhaltsverzeichnis

Das Buch
Der Autor
Prolog - Rapawas Geschichte
Teil eins - Moskau
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
Teil zwei - Archangelsk
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
Copyright

Der Autor

Robert Harris, Jahrgang 1956, arbeitete als Fernsehjournalist bei der BBC und als Kolumnist für die Sunday Times, bevor er sich ganz der Schriftstellerei zuwandte. Seine Romane Vaterland und Enigma haben sich mehr als sechs Millionen mal verkauft und sind in dreißig Sprachen übersetzt worden. Er lebt mit seiner Familie in Berkshire, England.

1. Kapitel

Olga Komarowa von der Rosarchiv, der Russischen Archivbehörde, drängte und scheuchte, einen zusammenklappbaren rosa Regenschirm schwingend, ihre erlauchten Gäste durch das Foyer des Ukraina auf die Drehtür zu. Es war eine alte Tür aus schwerem Holz und Glas, zu eng, um mehr als einen Menschen gleichzeitig aufzunehmen, also stellten sich die Wissenschaftler in der trüben Beleuchtung in einer Reihe auf, wie Fallschirmspringer über dem Zielgebiet, und wenn sie an ihr vorbeikamen, tippte Olga jedem von ihnen mit ihrem Schirm leicht auf die Schulter und zählte sie einen nach dem anderen ab, bevor sie in die eisige Moskauer Luft hinausbefördert wurden.

Franklin Adelman von der Yale University machte den Anfang, wie es ihm von Alters und Status wegen zukam. Ihm folgte Moldenhauer vom Bundesarchiv in Koblenz mit seinem albernen doppelten Doktortitel – Dr. Dr. Karl Moldenhauer –, dann die Neomarxisten, Enrico Banfi aus Mailand und Eric Chambers von der London School of Economics, dann der große kalte Krieger Phil Duberstein von der New York University, des weiteren Ivo Godelier von der École normale supérieure, gefolgt vom mürrischen Dave Richards vom St Antony’s, Oxford – ein weiterer Sowjetologe, dessen Welt in Trümmern lag –, dann Velma Byrd vom Nationalarchiv der Vereinigten Staaten, darauf Alastair Findlay vom Department of War Studies in Edinburgh, der noch immer glaubte, die Sonne schiene aus Stalins Arschloch, dann Arthur Saunders von Stanford und schließlich der Mann, wegen dessen Verspätung sie zusätzliche fünf Minuten im Foyer hatten warten müssen  – Dr. C. R. A. Kelso, allgemein Fluke genannt.

Die Tür schlug hart gegen seine Hacken. Draußen hatte sich das Wetter verschlechtert, und es schneite ein wenig. Winzige Flocken, hart wie Sandkörner, peitschten über die breite graue Straße und landeten in seinem Gesicht und auf seinem Haar. Am unteren Ende der Vortreppe, in einer Wolke aus den eigenen weißen Abgasen zitternd, stand ein klappriger Bus bereit, um sie zum Tagungsort zu bringen. Kelso blieb stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden.

»Großer Gott, Fluke«, rief Adelman fröhlich, »Sie sehen einfach grauenhaft aus.«

Kelso dankte mit schwach erhobener Hand. Er sah ein paar Taxifahrer in Steppjacken, die vor Kälte von einem Fuß auf den anderen traten. Arbeiter mühten sich damit ab, eine Rolle Blech von der Ladefläche eines Lastwagens herunterzuheben. Ein koreanischer Geschäftsmann mit einer Pelzmütze fotografierte eine Gruppe von zwanzig anderen, die alle ähnlich gekleidet waren. Aber von Rapawa keine Spur.

»Dr. Kelso, bitte, wir müssen schon wieder auf Sie warten.« Der Schirm schwenkte vorwurfsvoll in seine Richtung. Er beförderte die Zigarette in den Mundwinkel, schwang sich die Tasche auf die Schulter und bewegte sich auf den Bus zu.

»Ein ramponierter Byron« – so hatte eine Sonntagszeitung ihn genannt, als er seinen Lehrstuhl in Oxford aufgegeben hatte und nach New York gegangen war, und die Beschreibung war nicht ganz unzutreffend –, lockiges schwarzes Haar, zu lang und zu dicht, um gepflegt auszusehen, ein feuchter, ausdrucksvoller Mund, bleiche Wangen und der Widerschein eines gewissen Ruhms. Wenn Byron nicht in Missolunghi gestorben wäre, sondern die folgenden zehn Jahre damit verbracht hätte, Whisky zu trinken, zu rauchen, sich in geschlossenen Räumen aufzuhalten und entschlossen jede körperliche Betätigung zu vermeiden, dann hätte er vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit mit Fluke Kelso gehabt.

Er hatte seine üblichen Klamotten an: ein verblichenes blaues Baumwollhemd, dessen oberster Knopf offenstand, eine nachlässig geknotete und leicht besudelte Krawatte, einen schwarzen Kordanzug mit einem schwarzen Ledergürtel, über den sein Bauch ein wenig hervorquoll, mit einem roten Baumwolltaschentuch in der Brusttasche, braune, leicht abgetragene Wildlederschuhe, einen alten blauen Regenmantel. Das war sozusagen Kelsos Uniform, an der sich seit zwanzig Jahren nichts geändert hatte.

»Junge« hatte Rapawa ihn genannt. Das Wort war für einen Mann in mittleren Jahren wie Kelso gleichermaßen absurd und dennoch seltsam zutreffend. Junge.

Die Heizung im Bus lief auf Hochtouren. Niemand redete viel. Er saß ziemlich weit hinten für sich allein und rieb auf der beschlagenen Scheibe herum, während sie die Zufahrt hinaufruckelten, um sich in den Verkehr auf der Brücke einzufädeln. Auf der anderen Seite des Ganges wedelte Saunders ostentativ Kelsos Rauch fort. Unter ihnen, im verdreckten Wasser der Moskwa, schlich ein Schlepper, auf dessen Achterdeck ein Kran montiert war, träge stromaufwärts.

Er wäre beinahe nicht nach Rußland gekommen. Das war der Witz an der Sache. Er wußte sehr genau, wie es sein würde: das schlechte Essen, das belanglose Gerede, die ganze verdammte Langeweile des akademischen Lebens – wo immer mehr über immer weniger geredet wurde. Genau deshalb hatte er Oxford den Rücken gekehrt und war nach New York gegangen. Aber irgendwie war aus den Büchern, die er eigentlich schreiben sollte, bisher nichts geworden. Und außerdem hatte er noch nie der Verlockung Moskaus widerstehen können. Selbst jetzt, in dem muffigen Bus im Mittwochs-Stoßverkehr, konnte er hinter der verdreckten Scheibe die Gewalt der Geschichte spüren: in den dunklen und umbenannten Straßen, den riesigen Mietskasernen, den gestürzten Denkmälern. Hier war sie stärker als an jedem anderen ihm bekannten Ort; sogar stärker als in Berlin. Das war es, was ihn immer wieder nach Moskau zog – die Art, wie die Geschichte zwischen den verrußten Gebäuden hing gleich Schwefel nach einem Blitzschlag.

Sie glauben, alles über den Genossen Stalin zu wissen, stimmt’s, mein Junge? Aber ich kann Ihnen versichern: Sie haben nicht die geringste Ahnung.

Kelso hatte seinen kurzen Vortrag über Stalin und das Archiv am späten Nachmittag des Vortages gehalten, und zwar in seinem wohlbekannten Stil: ohne Notizen, eine Hand in der Hosentasche, wie aus dem Stegreif, provokant. Die russischen Gastgeber hatten erfreulich entsetzt dreingeschaut. Ein paar Leute hatten sogar den Saal verlassen. Also, alles in allem ein wahrer Triumph. Hinterher, als er, wie nicht anders zu erwarten, völlig allein dastand, hatte er sich dazu entschlossen, zu Fuß ins Ukraina zurückzukehren. Es war ein langer Weg, und es wurde bereits dunkel, aber er brauchte die frische Luft. Und irgendwann – er konnte sich nicht mehr erinnern, wo es gewesen war; vielleicht in einer der kleinen Straßen hinter dem Institut oder vielleicht auch später, auf dem Nowy Arbat –, irgendwann hatte er gespürt, daß ihm jemand folgte. Es war nichts Greifbares, nur der flüchtige Eindruck von etwas, das er schon zu oft erlebt hatte – das Flattern eines Mantels oder das Auftauchen eines Kopfes aus der Menge –, aber Kelso war in der schlimmen alten Zeit oft genug in Moskau gewesen, um zu wissen, daß man sich in diesen Dingen nur selten irrte. Man wußte immer, wenn ein Film nicht ganz synchron lief, und sei es nur um Bruchteile; man wußte immer, wenn jemand sich für einen interessierte, und sei es noch so unwahrscheinlich; und man wußte immer, wenn man von jemandem beschattet wurde.

Er war gerade in seinem Hotelzimmer angekommen und spielte mit dem Gedanken, die Minibar zu inspizieren, als man von der Rezeption anrief, um ihm mitzuteilen, daß ein Mann im Foyer warte, der ihn sprechen wolle. Wer? Er wollte seinen Namen nicht nennen, Sir. Aber er war überaus hartnäckig und wollte nicht gehen. Also war Kelso, wenn auch widerstrebend, hinuntergefahren und hatte Rapawa vorgefunden, in einem der Kunstledersessel des Ukraina vor sich hinstarrend, in einem papierdünnen blauen Anzug, aus dem die Unterarme wie dünne Besenstiele herausragten.

»Sie glauben, alles über den Genossen Stalin zu wissen, stimmt’s, mein Junge...?« Das waren seine ersten Worte gewesen.

Und in dem Moment fiel es Kelso auch wieder ein, wo er den alten Mann zum ersten Mal gesehen hatte: bei dem Symposium, in der ersten Reihe der für das Publikum bestimmten Sitze, wo er über seine Kopfhörer aufmerksam die Simultanübersetzung verfolgt und bei jeder feindseligen Erwähnung von J. W. Stalin murmelnd heftigen Widerspruch eingelegt hatte.

Wer bist du? dachte Kelso, während er durch die schmutzige Scheibe schaute. Ein Spinner? Ein Schwindler? Die Antwort auf ein Gebet?

 

Das Symposium würde zur großen Erleichterung Kelsos mit dem heutigen Tag zu Ende gehen, Gott sei Dank. Es wurde im Institut für Marxismus-Leninismus abgehalten  – einem orthodoxen Tempel aus grauem Beton, in der Breschnew-Ära geweiht, mit Marx, Engels und Lenin in gigantischen Basreliefs über dem säulengeschmückten Eingang. Das Erdgeschoß war an eine Privatbank vermietet worden, die inzwischen pleite gegangen war, was den Eindruck der Verwahrlosung noch verstärkte.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, von ein paar gelangweilt aussehenden Miliz-Leuten überwacht, fand eine kleine Demonstration statt – vielleicht hundert Leute, meist ältere, aber auch ein paar Jugendliche mit schwarzen Mützen und Lederjacken waren dabei. Es war die übliche Mischung aus Fanatikern und Schlechtmachern – Marxisten, Nationalisten und Antisemiten. Rote Fahnen mit Hammer und Sichel hingen neben schwarzen, mit dem Zarenadler bestickten Fahnen. Eine alte Dame trug ein Bild von Stalin; eine andere verkaufte Kassetten mit Marschliedern der SS. Ein älterer Mann, über den ein aufgespannter Schirm gehalten wurde, redete über ein Megaphon zu den Leuten; seine Stimme ein metallisch verzerrtes Plärren. Eine kostenlose Zeitung mit Namen Aurora wurde verteilt.

»Kümmern Sie sich nicht um diese Leute«, sagte Olga Komarowa belehrend. Sie war von ihrem Platz neben dem Fahrer aufgestanden und tippte sich an den Kopf. »Die sind verrückt. Alles rote Faschisten.«

»Was sagt der Mann da?« wollte Duberstein wissen, der als Weltautorität über den Sowjetkommunismus galt, obwohl er nie so richtig dazu gekommen war, Russisch zu lernen.

»Er behauptet, die Hoover Institution hätte versucht, das Parteiarchiv für fünf Millionen Dollar zu kaufen«, sagte Adelman. »Er behauptet, wir würden versuchen, ihnen ihre Geschichte zu stehlen.«

Duberstein lachte höhnisch. »Wer sollte denn auf die Idee kommen, deren verdammte Geschichte zu kaufen?« Er schlug mit seinem Siegelring gegen die Scheibe. »Guckt mal, ist das dort nicht ein Fernsehteam?«

Die Aussicht auf eine Kamera brachte erwartungsgemäß Leben in die Gruppe der Akademiker.

»Es sieht so aus ...«

»Wie überaus schmeichelhaft...«

»Wie heißt doch gleich der Mann«, sagte Adelman, »der die Aurora herausbringt? Ist es immer noch derselbe?« Er drehte sich auf seinem Sitz um und rief den Gang hinter: »Fluke – das müßten Sie doch eigentlich wissen. Wie hieß der noch mal? Alter KGB-Mann...«

»Mamantow«, sagte Kelso. Der Fahrer bremste scharf, und Kelso mußte rasch schlucken, damit er sich nicht übergab. »Wladimir Mamantow.«

»Verrückte«, wiederholte Olga, die sich an einer Schlaufe festhielt, während der Bus ruckend zum Stehen kam. »Ich muß mich im Namen von Rosarchiv entschuldigen. Diese Leute sind nicht repräsentativ. Bitte, folgen Sie mir. Kümmern Sie sich einfach nicht um die.«

Sie stiegen aus dem Bus. Ein Kameramann filmte sie, während sie, von Gejohle verfolgt, den asphaltierten Vorplatz überquerten und an ein paar welken Weißtannen vorbeizogen.

Fluke Kelso bewegte sich ganz bewußt ans Ende der Kolonne. Er pflegte seinen Kater, indem er den Kopf bedachtsam aufrecht hielt, als trüge er einen Krug mit Wasser darauf. Ein pickeliger Jüngling mit einer Drahtbrille drängte ihm ein Exemplar von Aurora auf, und Kelso konnte einen flüchtigen Blick auf die Titelseite werfen – eine Karikatur von zionistischen Verschwörern und ein merkwürdiges kabbalistisches Symbol, das ein Mittelding zwischen einem Hakenkreuz und einem Roten Kreuz war –, bevor er es dem jungen Mann wieder an die Brust drückte. Die Demonstranten johlten höhnisch.

Ein Thermometer an der Wand neben dem Eingang zeigte ein Grad minus an. Das alte Namensschild war abgeschraubt und durch ein neues ersetzt worden, aber es paßte nicht ganz, so daß man auf den ersten Blick sehen konnte, daß das Gebäude umbenannt worden war. Jetzt nannte es sich »Russisches Zentrum für die Erhaltung und das Studium von Dokumenten der modernen Geschichte«.

Wieder blieb Kelso zurück – die anderen waren schon längst hineingegangen – und musterte die von Haß erfüllten Gesichter auf der anderen Straßenseite. Dort waren etliche Männer, die ungefähr so alt waren wie Rapawa, durchgefroren und mit von der Kälte geröteten Gesichtern, aber er war nicht unter ihnen. Kelso machte kehrt und ging nach drinnen, in das düstere Foyer, wo er Mantel und Tasche an der Garderobe abgab, bevor er sich unter der vertrauten Statue von Lenin hindurch auf den Weg zum Vortragssaal machte.

Noch so ein Tag.

An dem Symposium nahmen einundneunzig Delegierte teil, und fast alle von ihnen schienen sich in dem kleinen Raum zusammenzudrängen, in dem Kaffee serviert wurde. Er holte sich eine Tasse und zündete sich wieder eine Zigarette an.

»Wer spricht zuerst?« sagte eine Stimme hinter ihm. Es war Adelman.

»Askenow, glaube ich. Über das Mikrofilm-Projekt.«

Adelman stöhnte. Er war aus Boston, in den Siebzigern und in jenem Dämmerungsstadium der Karriere, in dem es so aussieht, als verbrächte man den größten Teil seines Lebens in Flugzeugen oder ausländischen Hotels: Symposien, Konferenzen, Ehrendoktorate – Duberstein behauptete, Adelman habe das Geschichtsstudium zugunsten des Sammelns von Flugkilometern aufgegeben. Aber Kelso mißgönnte ihm seine Ehrungen nicht. Er war gut. Und tapfer. Es hatte vor dreißig Jahren viel Mut dazu gehört, wie er Bücher über die Hungersnot und den Terror zu schreiben, als sämtliche akademischen Fachidioten nur nach Entspannung schrien.

»Hören Sie, Frank«, sagte er. »Tut mir leid wegen des Abendessens.«

»Vergessen Sie’s. Sie hatten eine bessere Verabredung?«

»Könnte man sagen.«

Der Erfrischungsraum war an der Rückseite des Instituts, mit Ausblick auf einen Innenhof, in dessen Zentrum, umgekippt und zwischen Unkraut, zwei Statuen lagen, die von Marx und Engels – zwei Herren aus der viktorianischen Zeit, die ein Morgennickerchen machten und sich vom langen Marsch durch die Geschichte ausruhten.

»Es macht denen hier nichts aus, die beiden vom Sockel zu holen«, sagte Adelman. »Nichts leichter als das. Die beiden sind Ausländer. Und einer von ihnen ist zudem Jude. Erst wenn sie Lenin herunterholen – dann wissen wir, daß sich das Land wirklich verändert hat.«

Kelso nahm einen Schluck Kaffee. »Gestern abend war ein Mann bei mir.«

»Ein Mann? Ich bin enttäuscht.«

»Darf ich Sie um Ihren Rat bitten, Frank?«

Adelman zuckte die Achseln. »Schießen Sie los.«

»Unter vier Augen?«

 

Adelman strich sich übers Kinn. »Kennen Sie den Namen dieses Mannes?«

»Natürlich kenne ich seinen Namen.«

»Seinen wirklichen Namen?«

»Woher soll ich wissen, ob es sein wirklicher Name ist?«

»Dann seine Adresse? Hat er Ihnen seine Adresse genannt?«

»Nein, Frank, er hat seine Adresse nicht genannt, aber er hat das hier zurückgelassen.«

Adelman nahm seine Brille ab und brachte das Streichholzheftchen ganz nahe an seine Augen heran. »Da hat man Sie bestimmt reingelegt«, sagte er schließlich und gab es Kelso zurück. »Ich würde die Finger davon lassen. Und wer hat schon einmal etwas von einer Bar gehört, die ›Robotnik‹ heißt? ›Arbeiter‹. Das gibt’s doch nicht.«

»Aber wenn er mich nur reinlegen wollte«, sagte Kelso und wog das Streichholzheft in der Hand, »warum sollte er dann so überstürzt abhauen?«

»Ganz einfach – weil er nicht wollte, daß Sie ihm auf die Schliche kommen. Er will, daß Sie sich damit beschäftigen  – ihn aufspüren, um ihn dazu zu überreden, daß er Ihnen bei der Suche nach den Papieren hilft. Das ist die Psychologie, die einem cleveren Schwindel zugrunde liegt – die Opfer jagen einer Sache dermaßen nach, daß sie am Ende glauben wollen, daß alles wahr ist. Erinnern Sie sich an die Sache mit den Hitler-Tagebüchern. Entweder das, oder er ist ein Irrer.«

»Er war sehr überzeugend.«

»Das sind Irre oft. Oder es sollte nur ein übler Streich sein. Jemand will Sie zum Narren halten. Haben Sie daran schon gedacht? Sie sind nicht gerade der beliebteste Schüler in der Klasse.«

Kelso schaute den Korridor entlang in Richtung Vortragssaal. Das war keine schlechte Theorie. Es gab eine Menge Leute, die ihn nicht ausstehen konnten. Er war in zu vielen Fernsehsendungen aufgetreten, hatte zu viele Zeitungsartikel geschrieben und zu viele von ihren nutzlosen Büchern rezensiert. Saunders stand an der Ecke und tat so, als unterhielte er sich mit Moldenhauer, aber beide Männer versuchten ganz offensichtlich zu hören, was Kelso mit Adelman besprach. (Saunders hatte sich nach Kelsos Vortrag bitter über seine »Subjektivität« beschwert: »Da fragt man sich doch, weshalb er überhaupt eingeladen worden ist. Man hatte doch den Eindruck erweckt, daß es sich hier um ein Symposium für ernsthafte Wissenschaftler handelte...«)

»Dazu haben die nicht genügend Grips«, sagte Kelso. Er winkte den beiden zu und freute sich, als sie rasch aus seinem Blickfeld verschwanden. »Oder Phantasie.«

»Auf alle Fälle haben Sie ein ganz besonderes Talent, sich Feinde zu machen.«

»Sie kennen doch die Redensart: Viel Feind, viel Ehr.«

Adelman öffnete den Mund, um etwas dazu zu sagen, doch dann schien er es sich anders überlegt zu haben. »Wie geht es Margaret, wenn ich fragen darf?«

»Wem? Ach so, Sie meinen die arme Margaret. Der geht’s gut, danke für die Nachfrage. Sie ist wohlauf und munter. Den Anwälten zufolge.«

»Und den Jungen?«

»Die genießen den Frühling ihrer Adoleszenz.«

»Und das Buch? Es ist eine Weile her, seit wir zuletzt dar über gesprochen haben. Wie weit sind Sie damit inzwischen gediehen?«

»Ich sitze daran.«

»Zweihundert Seiten? Einhundert?«

»Was soll das, Frank?«

»Wie viele Seiten?«

»Ich weiß es nicht.« Kelso fuhr mit der Zunge über die trockenen Lippen. Es war fast unglaublich, aber er hatte das Gefühl, jetzt einen Drink nötig zu haben. »Vielleicht hundert.« Vor seinen Augen erstand das Bild eines leeren grauen Bildschirms, auf dem schwach ein Cursor flackerte wie der Puls einer lebenserhaltenden Maschine, die einen anfleht, daß man sie abschaltet. Er hatte noch kein einziges Wort geschrieben. »Also, Frank, es könnte doch etwas dahinterstecken, meinen Sie nicht? Schließlich neigte Stalin dazu, Dinge zu horten. Hat Chruschtschow nach Stalins Tod nicht in einem Geheimfach in dessen Schreibtisch einen Brief gefunden?« Er rieb sich den schmerzenden Kopf. »Den berühmten Brief von Lenin, in dem er Stalin vorwirft, wie der seine Frau behandelt? War das nicht so? Und dann gab es doch noch die Liste des Politbüros, bei der alle Namen angekreuzt waren, die der nächsten Säuberung zum Opfer fallen sollten. Und seine Bibliothek – erinnern Sie sich an seine Bibliothek? Er hatte in fast jedem Buch Notizen gemacht.«

»Und worauf wollen Sie hinaus?«

»Ich will damit nur sagen, daß doch etwas daran sein könnte, das ist alles. Daß Stalin nicht Hitler war. Daß er Dinge niederschrieb.«

»Quod volimus credimus libenter«, deklamierte Adelman. »Was bedeutet...«

»Ich weiß, was es bedeutet...«

»... was bedeutet, mein lieber Fluke, daß wir immer das glauben, was wir glauben möchten.« Adelman schlug Kelso leicht auf den Arm. »Das möchten Sie aber nicht hören, oder? Tut mir leid. Wenn es Ihnen lieber ist, lüge ich auch. Ich sage Ihnen, daß dieser Mann eine einmalige Chance darstellt, daß seine Geschichte nicht ausgemachter Blödsinn ist. Ich sage Ihnen, daß er Sie zu Stalins unveröffentlichten Memoiren führen wird, daß Sie die Geschichte umschreiben werden. Sie werden Millionen von Dollar einheimsen, die Frauen werden Ihnen zu Füßen liegen, Duberstein und Saunders werden einen Chor bilden und mitten auf dem Harvard Yard eine Lobeshymne auf Sie singen.«

»Schon gut, Frank.« Kelso lehnte den Hinterkopf an die Wand. »Ich habe verstanden. Ich weiß es nicht. Es ist nur... Vielleicht hätten Sie dabeisein müssen...« Er redete weiter, weil es ihm widerstrebte, seine Niederlage einzugestehen. »Es ist nur so, daß es bei mir eine Glocke zum Läuten bringt. Bei Ihnen nicht?«

»Natürlich. Bei mir bringt es auch eine Glocke zum Läuten. Eine Alarmglocke.« Adelman zog eine alte Taschenuhr hervor. »Wir müssen zurück, sonst wird Olga wütend.« Er legte den Arm um Kelsos Schultern und führte ihn den Korridor entlang. »Sie können ohnehin nichts unternehmen. Morgen fliegen wir nach New York zurück. Lassen Sie uns miteinander reden, wenn wir wieder zu Hause sind. Zusehen, ob es in der Fakultät etwas für Sie gibt. Sie waren ein großartiger Lehrer.«

»Ich war ein lausiger Lehrer.«

»Sie waren ein großartiger Lehrer, bis Sie sich von den billigen Sirenen des Journalismus und der Publicity vom Pfad der Gelehrsamkeit und Rechtschaffenheit fortlocken ließen. Hallo, Olga.«

»Da sind Sie ja! Die Sitzung fängt gleich an. Oh, Dr. Kelso... das geht aber nicht... hier dürfen Sie nicht rauchen.« Sie lehnte sich vor und holte ihm die Zigarette aus dem Mund. Sie hatte ein glänzendes Gesicht mit ausgezupften Augenbrauen und einem flaumigen, gebleichten Damenbart. Sie ließ die Kippe in den Bodensatz seines Kaffees fallen und nahm ihm die Tasse ab.

»Weshalb ist es hier so hell?« fragte Kelso. Er legte die Hand auf die Stirn. Aus dem Vortragssaal drang gleißendes Scheinwerferlicht.

»Fernsehen«, sagte Olga stolz. »Sie machen eine Sendung über uns.«

»Ein lokaler Sender?« Adelman rückte seine Krawatte zurecht. »Oder überregional?«

»Satellit, Professor. International

»So, und wo sollen wir sitzen?« flüsterte Adelman, der die Augen gegen das grelle Licht abschirmte.

»Dr. Kelso? Könnten Sie ein paar Worte sagen?« Ein amerikanischer Akzent. Kelso drehte sich um und sah einen großen, jungen Mann, der ihm vage bekannt vorkam.

»Wie bitte?«

»R. J. O’Brian«, sagte der Mann und streckte ihm die Hand hin. »Moskau-Korrespondent, Satellite News System. Wir machen einen Sonderbericht über die Kontroverse...«

»Lieber nicht«, sagte Kelso. »Aber Professor Adelman hier – ich bin sicher, ihm wäre es ein Vergnügen...«

Bei der Aussicht auf ein Fernsehinterview schien Adelman anzuschwellen wie eine aufblasbare Puppe. »Nun, solange es nicht in einer offiziellen Eigenschaft ist...«

O’Brian ignorierte ihn. »Könnte ich Sie wirklich nicht überreden?« sagte er zu Kelso. »Nichts, was Sie der Welt mitteilen möchten? Ich habe Ihr Buch über den Zusammenbruch des Kommunismus gelesen. Wann ist das noch mal erschienen? Vor drei Jahren?«

»Vier«, sagte Kelso.

»Ich glaube sogar, vor fünf«, sagte Adelman.

Sogar eher vor sechs, dachte Kelso. Mein Gott, wo war nur die Zeit geblieben? »Tut mir leid, Mr. O’Brian«, sagte er. »Trotzdem vielen Dank, aber ich halte mich neuerdings vom Fernsehen fern.« Er sah Adelman an. »Allem Anschein nach ist es nämlich nur eine billige Sirene.«

»Später, bitte«, zischte Olga. »Interviews später. Der Direktor spricht bereits. Bitte.« Kelso spürte ihren Schirm im Rücken, als sie ihn in den Saal steuerte. »Bitte. Bitte ...«

 

Nachdem auch die russischen Delegierten erschienen waren und dazu ein paar diplomatische Beobachter, die Presse und vielleicht fünfzig Personen aus dem öffentlichen Leben, war der Saal beeindruckend voll. Kelso ließ sich schwer auf seinen Platz in der zweiten Reihe sinken. Oben auf dem Podium hatte Professor Walentin Askenow vom Russischen Staatsarchiv mit einer langatmigen Erläuterung des Übertragens der Parteiunterlagen auf Mikrofilm begonnen. O’Brians Kameramann ging rückwärts den Mittelgang entlang und filmte das Publikum. Die schrille Verstärkung von Askenows sonorer Stimme schien eine schmerzende Kammer in Kelsos Innenohr zu durchbohren. Schon jetzt herrschte im Saal eine Art metallischer Neon-Lethargie. Ein anstrengender Tag dehnte sich vor ihm aus. Er schlug die Hände vors Gesicht.

Fünfundzwanzig Millionen Seiten ..., dozierte Askenow, fünfundzwanzigtausend Rollen Mikrofilm... sieben Millionen Dollar...

Kelso ließ die Hände an den Wangen heruntergleiten, bis die Finger zusammentrafen und seinen Mund bedeckten. Betrüger! hätte er am liebsten geschrien. Lügner! Er schaute sich um. Weshalb saßen alle einfach nur seelenruhig da? Schließlich wußten sie ebensogut wie er, daß neun Zehntel des besten Materials nach wie vor unter Verschluß gehalten wurden und daß man an den Großteil vom Rest nur durch Bestechung drankam. Er hatte gehört, daß der augenblickliche Preis für eine erbeutete Nazi-Akte tausend Dollar und eine Flasche Scotch betrug.

»Ich verschwinde hier«, flüsterte er Adelman zu.

»Das geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Es wäre unhöflich. Bleiben Sie um Himmels willen einfach hier sitzen, und tun Sie so, als wären Sie interessiert, wie alle anderen Leute auch.« Adelman sagte das alles aus dem Mundwinkel heraus, ohne den Blick vom Podium abzuwenden.

Kelso hielt eine halbe Minute lang still. »Erzählen Sie den anderen, ich sei krank«, sagte er dann.

»Das werde ich nicht tun.«

»Lassen Sie mich vorbei, Frank. Ich muß mich übergeben.«

»Himmel...«

Adelman schwang die Beine zur Seite und drückte sich tiefer in den Sitz. In einem vergeblichen Versuch, weniger aufzufallen, duckte sich Kelso und stolperte über die Füße seiner Kollegen. Dabei stieß er gegen das in eleganten schwarzen Nylonstrümpfen steckende Schienbein von Ms. Velma Byrd.

»Passen Sie doch auf, Kelso«, sagte Velma.

Professor Askenow schaute von seinen Notizen auf und verstummte. Kelso war sich einer verstärkten, summenden Stille bewußt und einer Art kollektiver Bewegung im Publikum, als hätte sich ein großes Tier umgedreht, um den Reviereindringling zu beobachten. Das alles schien eine Ewigkeit lang anzudauern, jedenfalls so lange, wie er brauchte, um ans hintere Ende des Saals zu gelangen. Erst als er unter dem marmornen Blick von Lenin hindurchgegangen war und den leeren Korridor erreicht hatte, setzte die monotone Vortragsstimme wieder ein.

 

Kelso saß hinter der verriegelten Tür einer Toilettenkabine im Erdgeschoß des früheren Instituts für Marxismus-Leninismus und öffnete seine Segeltuchtasche. Da waren die Utensilien seiner Profession: ein gelber Notizblock, Bleistifte, ein Radiergummi, ein kleines Schweizer Armeemesser, ein Begrüßungspäckchen von den Organisatoren des Symposiums, ein Wörterbuch, eine Straßenkarte von Moskau, sein Kassettenrecorder und ein Filofax, das ein Palimpsest von alten Telefonnummern, verlorengegangenen Kontakten, ehemaligen Freundinnen, früheren Leben war.

Da war etwas an der Geschichte des alten Mannes, das ihm bekannt vorkam, aber er konnte sich nicht erinnern, was es war. Er holte den Kassettenrecorder heraus, drückte REWIND, ließ das Band eine Weile zurückspulen, dann drückte er PLAY. Er hielt das Gerät ans Ohr und lauschte Rapawas blecherner Gespensterstimme.

»... das Zimmer des Genossen Stalin war das Zimmer eines einfachen Mannes. Das muß man Stalin lassen. Er ist immer einer von uns gewesen ...«

REWIND. PLAY.

»... aber etwas war überaus merkwürdig, mein Junge: Er hatte seine glänzenden neuen Schuhe ausgezogen und sie unter einen der dicken Arme geklemmt ...«

REWIND. PLAY.

»... wissen Sie, was Blischnjaja bedeutet, mein Junge? ...«

»... was Blischnjaja bedeutet, mein Junge? ...«

»... was Blischnjaja ...«