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Andreas M. Sturm

LEICHENTUCH

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Inhalt

Freitag, 24. Dezember, 10.50 Uhr

Freitag, 12.15 Uhr

Sonntag, 26. Dezember, 18.20 Uhr

Montag, 27. Dezember, 2.00 Uhr

Montag, 8.30 Uhr

Montag, 12.45 Uhr

Montag, 17.00 Uhr

Montag, 18.55 Uhr

Dienstag, 28. Dezember, 9.00 Uhr

Montag, 3. Januar, 8.00 Uhr

Montag, 8.30 Uhr

Montag, 9.00 Uhr

Montag, 18.15 Uhr

Dienstag, 4. Januar, 9.20 Uhr

Dienstag, 11.05 Uhr

Dienstag, 16.40 Uhr

Dienstag, 18.15 Uhr

Dienstag, 19.00 Uhr

Mittwoch, 5. Januar, 8.40 Uhr

Mittwoch, 11.10 Uhr

Mittwoch, 17.30 Uhr

Mittwoch, 23.50 Uhr

Donnerstag, 6. Januar, 7.00 Uhr

Donnerstag, 8.25 Uhr

Donnerstag, 9.00 Uhr

Donnerstag, 11.10 Uhr

Donnerstag, 12.25 Uhr

Donnerstag, 17.40 Uhr

Donnerstag, 18.10 Uhr

Donnerstag, 19.00 Uhr

Freitag, 7. Januar, 7.50 Uhr

Freitag, 8.10 Uhr

Freitag, 11.00 Uhr

Freitag, 12.05 Uhr

Freitag, 12.45 Uhr

Freitag, 16.30 Uhr

Freitag, 19.15 Uhr

Freitag, 22.00 Uhr

Sonnabend, 8. Januar, 7.00 Uhr

Sonnabend, 10.45 Uhr

Sonnabend, 13.50 Uhr

Sonnabend, 16.20 Uhr

Sonnabend, 17.45 Uhr

Sonnabend, 18.45 Uhr

Sonnabend, 19.00 Uhr

Sonnabend, 19.30 Uhr

Sonnabend, 23.00 Uhr

Sonntag, 9. Januar, 4.00 Uhr

Sonntag, 8.00 Uhr

Sonntag, 13.15 Uhr

Sonntag, 14.30 Uhr

Sonntag, 15.35 Uhr

Sonntag, 17.25 Uhr

Mittwoch, 19. Januar, 10.30 Uhr

Mittwoch, 14.45 Uhr

Mittwoch, 18.15 Uhr

Mittwoch, 19.35 Uhr

Mittwoch, 20.55 Uhr

Donnerstag, 20. Januar, 0.25 Uhr

Donnerstag, 1.30 Uhr

Donnerstag, 10.45 Uhr

Nachbemerkung

Freitag, 24. Dezember, 10.50 Uhr

Die Wolken hingen tief und schwer über der Stadt. Burkhard Eichler sah aus dem Fenster seines Büros und runzelte die Stirn. Auf ihn wirkten die grauen Gebilde wie eine Drohung. Sie verhießen Schnee, viel Schnee. Burkhard Eichler hoffte verzweifelt auf Wind. Auf einen starken Wind, der die Wolken packen und vor sich her an einen weit entfernten Ort schieben würde. Dort könnte sich das Wetter austoben und seine Last abladen. In eine Stadt gehört kein Schnee. Über Schnee und Eis auf den Straßen freuen sich höchstens die Besitzer von Autowerkstätten, dachte Burkhard Eichler aufgebracht.

Den wahren Grund für seine Aversion gegen Schnee blendete er gern aus. Nur ganz selten gestand er sich die Ursache für seinen Winterhass ein. Offen, gar vor anderen Menschen, würde er nie zu seiner Schwäche stehen. Die lag in seinem mangelnden Geschick, ein Fahrzeug zu steuern. Bei normalen Straßenverhältnissen kam er mit Mühe zurecht. Doch Glatteis oder Schnee überforderten seine Nerven und warfen sein Fahrzeug regelmäßig aus der Bahn.

Und ausgerechnet am heutigen Tag war er mit dem Auto zur Arbeit gefahren, statt wie gewöhnlich die Straßenbahn zu nehmen. Misstrauisch untersuchten seine Blicke erneut den Himmel. Ob das Wetter wohl durchhalten würde?

Er wandte sich ab und blickte in den Spiegel über dem Waschbecken. Missmutig richtete er den Krawattenknoten. Seinen Plan, die Arbeit noch vor dem Mittagessen für dieses Jahr zu beenden, hatte ihm ein aufdringlicher Kunde gründlich verdorben.

Nun war er gezwungen, in einem Meeting gute Miene zum bösen Spiel zu machen und ein Angebot zu präsentieren.

Freitag, 12.15 Uhr

Nach der Sitzung verließ ein gestresster Burkhard Eichler den Bürokomplex auf der Schnorrstraße. Er war sauer. Der potenzielle Kunde hatte sich als äußerst wankelmütiger Zeitgenosse entpuppt und Burkhard Eichler hatte Zweifel, ob je ein Auftrag von diesem eingehen würde. Nachdem er noch halbherzig die obligatorische Verabschiedungsrunde im Kollegium hinter sich gebracht hatte, lief er eilig in den Innenhof. Wenigstens hatten die Schneeflocken gewartet und ihren Tanz noch nicht eingeläutet.

Auf seinem mit einem Schild gekennzeichneten Stellplatz wartete sein Opel auf ihn. Burkhard Eichler gehörte zur Geschäftsleitung und so verfügte er selbstverständlich über einen für ihn reservierten Parkplatz. Er fand, dass ihm das zustand. Schließlich war er einer der Leistungsträger des Unternehmens. Dass die ihm unterstellten Mitarbeiter gezwungen waren, sich ihre Parkmöglichkeiten weitab der Firma zu suchen, war für Burkhard Eichler vollkommen in Ordnung. Wie immer warf er der neben seinem Opel parkenden Angeberkutsche seines Chefs einen missbilligenden Blick zu. Die schwarze Farbe von dessen Auto war unter einer dicken Schmutzschicht mehr zu erahnen als wirklich zu sehen. Der metallicgraue Lack seines Opels hingegen war makellos. Burkhard Eichlers Adlerauge entdeckte jedes noch so winzige Schmutzpartikel und es gehörte zu seinem Ritual, den Wagen nach jeder Fahrt zu reinigen.

Er betätigte die Fernbedienung und die Türverriegelung schnappte hörbar zurück. Genussvoll seufzend ließ er sich in den Fahrersitz sinken und legte seine exklusive Aktentasche aus italienischem Stierleder sorgsam auf dem Beifahrersitz ab. Wie immer vor dem Starten gönnte er sich einen wohlgefälligen Blick auf die Fahrzeugarmaturen. Das Innere seines Wagens brüstete sich ebenfalls mit lupenreiner Sauberkeit.

Er legte den Gurt um, setzte sich bequem und wollte den Zündschlüssel ins Zündschloss stecken, da erahnte er mehr, als dass er sie wirklich wahrnahm eine Bewegung auf der Rückbank. Er erschrak so sehr, dass sich sein Körper verkrampfte und zu zittern begann. Das Nächste, was er spürte, war ein kalter, harter Gegenstand an seinem Hals. Doch bevor er seinen paralysierten Körper zu einer Bewegung zwingen konnte, vernahm er eine leise, böse zischende Stimme: »Nur einen Mucks und du bist tot.«

Burkhard Eichler versuchte, sein Zittern unter Kontrolle zu bringen. »Wenn das ein Scherz sein soll, so finde ich ihn ausgesprochen geschmacklos.« Seine unsichere Stimme verriet, dass er selbst nicht an einen Spaß glaubte.

»Wer von uns beiden geschmacklos oder ekelhaft ist, das müsstest gerade du wissen.«

Bevor Burkhard Eichler mit Mühe einen Protest formulieren konnte, fuhr die Stimme fort: »Du startest jetzt den Wagen und fährst ganz vorsichtig los. Von einer Vollbremsung würde ich dir dringend abraten.« Das gehässige Lachen, welches diese Warnung begleitete, bescherte Burkhard Eichler einen Schweißausbruch, zumal er durch Schielen in Richtung Hals den unangenehm kalten Gegenstand inzwischen als Messer identifiziert hatte. Und das Wissen, dass eine scharfe Klinge an seine Schlagader gepresst wurde, trug nicht dazu bei, seine Fahrkünste zu verbessern. Erschwerend kam hinzu, dass sich die Schweißtropfen ihren Weg von seiner Stirn zu seinen Augen suchten. Vor Aufregung würgte er den Motor zweimal ab. Erst als er vom Parkplatz auf die Straße bog, gelang es ihm, den Wagen gleichmäßig rollen zu lassen. Er fuhr ganz rechts und schlich mit dreißig Kilometern pro Stunde vorsichtig am Bordstein entlang. Sein Fahrgast gab ihm an jeder Seitenstraße Anweisungen, wie er fahren sollte. Zum Glück für Burkhard Eichlers Nerven währte die Fahrt nicht lang. Nur eine kurze Strecke von seinem Parkplatz entfernt befahl die Stimme, das Auto zu parken.

Kaum war das Brummen des Motors verklungen, hob Burkhard Eichler langsam und vorsichtig seine Hand, um mit der Krawatte den brennenden Schweiß aus seinen Augen zu wischen. Hinter ihm ertönte ein leises Kichern. »Das Fahrzeugaußenthermometer zeigt ein Grad unter null. Sollte dir da nicht eher kalt sein?«

»Du bist sicher nicht in mein Auto eingebrochen, weil du dich um mein körperliches Wohlbefinden sorgst. Also was willst du?« Mit dem Verstummen des Motors war ein wenig von der gewohnten Selbstsicherheit in Burkhard Eichlers Stimme zurückgekehrt.

»Nur Geduld. Jetzt fasst du erst einmal schön langsam in deine Aktentasche und holst deine Brieftasche heraus. Und bleibe ja angeschnallt.«

»Was soll denn das jetzt werden? Willst du mich etwa ausrauben?« Da keine Antwort kam, tat er einfach, was von ihm verlangt wurde. Er fand das Lederetui schnell und hielt es unschlüssig in der Hand.

»Soll ich vielleicht noch bitte sagen?«, zischte es aggressiv von hinten.

Burkhard Eichler reichte die Geldbörse über den Sitz und vernahm kurz darauf das Rascheln von Geldscheinen. Sein Hintermann schien abgelenkt zu sein, Eichler zögerte nicht und nutzte die Gelegenheit. Er packte den Arm, der das Messer hielt, und wollte ihn wegdrücken. Doch sein Fahrgast war auf der Hut. Der Druck des Messers verstärkte sich auf der Stelle und Burkhard Eichler fühlte, wie die Klinge in die Haut schnitt. Sofort ließ er von seinem Vorhaben ab und senkte die Arme.

»Beim nächsten Versuch schneide ich tiefer.« Und mit einem kurzen Auflachen: »Nicht einmal hundert Euro. Das ist wohl etwas dürftig für die Dienste, die ich dir in all den Jahren leisten musste.«

Burkhard Eichler holte empört Luft, doch er kam nicht dazu, seinen Unmut zu formulieren. Ein erfreutes Schnalzen unterbrach ihn: »Sieh an, deine EC-Karte. Darf ich um die Geheimzahl bitten?«

Eichler schluckte mühsam. »War ich denn nicht immer großzügig, wenn du Geld wolltest?«

»Ja, das warst du.« Wieder erklang das gemeine Lachen. »Und einen saftigen Nachschlag habe ich immer als Extrabonus zusätzlich erhalten.«

Burkhard Eichler registrierte besorgt, dass die Stimme hinter ihm immer gereizter und ungeduldiger an sein Ohr drang. Trotzdem riss er sich zusammen, um souverän zu erscheinen. »Die Lizenz, mein Konto zu plündern, gebe ich dir jedenfalls nicht.«

Als Reaktion auf seine forschen Worte schnitt das Messer in das Fleisch seines Halses und Burkhard Eichler fühlte, wie ein warmes Rinnsal in seinen Kragen lief. Die Geheimzahl sprudelte nur so von seinen Lippen.

»Na bitte, es geht doch«, dann legte der Fahrgast seine Wange an die von Burkhard Eichler und flüsterte in dessen Ohr: »Du weißt, warum du jetzt sterben musst. Es ist nur schade, dass es so schnell gehen wird. Du hast einen viel qualvolleren Abgang verdient.«

Burkhard Eichler versteifte sich, wollte bitten, doch bevor es ihm gelang, spürte er einen Ruck an seinem Hals und fühlte, wie das scharfe Metall an seiner Kehle entlangfuhr. Schnell füllte sich sein Mund mit Blut und sein trüber werdender Blick erfasste, wie ein Blutschwall über das Armaturenbrett spritzte. Dass seine Füße in einem wilden Tanz gegen die Pedale hämmerten, registrierte er bereits nicht mehr.

Eine einzelne Schneeflocke trudelte vom Himmel herab und schmolz auf der Frontscheibe von Burkhard Eichlers Opel. Sie war der Vorbote einer gewaltigen Heerschar dieser zarten Eiskristalle, die sich wie ein Tuch über das Fahrzeug breiten und so den grausigen Inhalt vor den Blicken der weihnachtlich gestimmten Dresdner verbergen würden.

Etwa drei Kilometer entfernt von Burkhard Eichlers Opel musste auch Karin Wolf bluten. Die Hauptkommissarin befand sich in einem Dresdner Einkaufszentrum, in dem eine wogende, gestresste Kundenmenge die letzten Weihnachtseinkäufe vor Geschäftsschluss tätigte. Wie es Karins pragmatischer Art entsprach, hatte sie bereits lange vor Einsetzen des weihnachtlichen Einkaufsrummels ihre häuslichen Lager mit Vorräten gefüllt. Nur ein paar Kleinigkeiten hatte sie schnell noch vor den Feiertagen besorgen wollen. Eine davon war eine Fernsehzeitschrift. Nach mehreren Anläufen gelang es ihr, sich an den Zeitungsstand heranzudrängen. Sie griff rasch nach dem gewünschten Journal, welches in einem der unteren Fächer lag. Da entglitt einer Kundin, welche über ihr wühlte, ein dickes Modemagazin und fiel genau auf Karins Zeigefinger. Die Haut platzte an der getroffenen Stelle sofort auf und ein dünner Blutfaden rann an Karins Hand entlang. Die Frau, der das Malheur passiert war, zeigte sich vollkommen unbeeindruckt von Karins laut geäußertem Schmerz und ihrem nachfolgenden Protest. Ohne den Versuch einer Entschuldigung wandte sie sich mit spitzer Schnute ab, um sich gleich darauf einem anderen Warenregal zuzuwenden.

Nach diesem Zwischenfall hatte Karin nur noch ein Ziel: So schnell es ihr möglich war, wollte sie dieses Chaos hinter sich lassen. Sie holte ein Pflaster aus ihrem Portemonnaie, versorgte ihren Finger, raffte blitzschnell ihre Einkäufe zusammen, bezahlte diese und floh entnervt und angewidert aus dem Einkaufstempel.

Auf ihrem Heimweg wunderte sich Karin wie jedes Jahr aufs Neue, wie es gelang, ein ganzes Volk derart zu manipulieren, dass es sich freiwillig in den Strudel des Konsums ziehen ließ.

Eigentlich liebte Karin die Weihnachtszeit. Sie freute sich über den Lichterglanz, der aus den Fenstern auf die Straße funkelte, und genoss den Duft nach Lebkuchen, Glühwein und Räucherkerzen. Doch der hektische Trubel, der nach Karins Auffassung nichts mit Weihnachten gemein hatte, verleidete ihr das Fest immer mehr.

Eine vorwitzige Schneeflocke, die auf Karins Nase landete, vertrieb die trüben Gedanken. Karin zog belustigt die Nase kraus und blickte nach oben. Die schneeträchtigen, tief hängenden Wolken versprachen eine weiße Weihnacht. Karin liebte Schnee. Ein Spaziergang in dichtem Flockengestöber wäre genau das Richtige für die Festtage.

In ihrer Wohnung angekommen verstaute sie ihre Einkäufe und freute sich auf einen zwar einsamen, dafür aber ruhigen und ungestörten Weihnachtsabend. Doch kaum hatte sie es sich nach dem Abendbrot mit einem Buch und einer dampfenden Kanne Tee bequem gemacht, jagte sie das Läuten der Türklingel aus ihrem Sessel. Ihr Nachbar war der Störenfried, der ihr verlegen lächelnd ein in Geschenkpapier eingeschlagenes Päckchen reichte. Karins Kontakt zu ihren Nachbarn beschränkte sich auf kurze Grußworte und höchstens zwei, drei kurze Sätze belangloser Konversation. Dementsprechend zurückhaltend fiel ihre Reaktion aus. Doch die Erklärung des Nachbarn rettete die Situation: Eine junge, sehr attraktive Dame habe ihm das Päckchen bereits vor Tagen zur Aufbewahrung hinterlassen und die strikte Order erteilt, es am heutigen Abend zu überreichen. Karin dankte dem Nachbarn und zog sich verwundert in ihre Wohnung zurück. Dabei platzte sie fast vor Neugier.

Die Karte im Kuvert auf dem Päckchen lüftete das Geheimnis. Sandra König, ihre Partnerin bei der Arbeit und Karins heimliche Liebe, war der Weihnachtsengel, der ihr diese Überraschung bereitete.

Eine halbe Stunde später stand Karin am Fenster und blickte, mit den Kopfhörern auf den Ohren, hinaus auf das dichte Schneetreiben. Sandra, die mit Karins Musikgeschmack vertraut war, hatte ihr das Album ›Dominator‹ von U.D.O. geschenkt. Die von ihren Tränen feuchte Weihnachtskarte in der Hand haltend, wippte Karin, immer noch vor Rührung heulend, mit der Musik mit.

Sonntag, 26. Dezember, 18.20 Uhr

Hauptkommissarin Karin Wolf war müde. Zwei harte und bittere Tage voller Arbeit lagen hinter ihr. Sie saß an ihrem Schreibtisch und starrte einfach nur in die Luft. Sie war zu erschöpft und deprimiert, um sich den nötigen Ruck zum Aufstehen zu geben. Warum nur, überlegte sie traurig, kommt es gerade an diesen Tagen zu so viel Gewalt?

Karin, die allein lebte, übernahm seit Jahren freiwillig den Dienst an den Feiertagen. Und wie jedes Jahr bereute sie auch diesmal ihre Gutmütigkeit, denn auch dieses Weihnachten wurde sie mit den grausamen und gemeinen Auswüchsen der Gesellschaft konfrontiert. In diesem Jahr hatte das Fest der Liebe abermals Opfer gefordert. Ein junges Paar war beim Zubereiten des Festessens in Streit geraten und die Frau hatte ihren Ehemann niedergestochen. Der Mann war noch auf dem Weg ins Krankenhaus verblutet.

Die Schneemassen, die vom Himmel gefallen waren, hatten gleichfalls ihren Tribut gefordert. Zwei Männer waren beim Schneeschippen am ersten Weihnachtsfeiertag aneinandergeraten und der seit Jahren schwelende Nachbarschaftsstreit war eskaliert. Einer der beiden hatte seine Schneelast vor der Garageneinfahrt des anderen abgeladen, was dieser sich nicht bieten lassen wollte. Er schlug kurzerhand mit seinem Schneeschieber zu und zerschmetterte dabei die Schädeldecke seines Kontrahenten.

Doch die Bilder des Grauens, die Karin an den Schauplätzen von Suiziden vorgefunden hatte, lasteten am meisten auf ihrer Psyche, waren doch gerade die Selbsttötungen der nachdrücklichste Beleg für Einsamkeit und gestorbene Hoffnungen. Auch dieser Jahreswechsel verschonte sie nicht. Spaziergänger hatten am Elbufer die aufgequollene Leiche eines siebzigjährigen Mannes entdeckt und am Bahndamm im Stadtteil Strehlen fand eine Dame, die ihren Hund Gassi führte, ein Bein. Der Rest des jungen Mädchens lag über viele Meter verteilt an den Gleisen. In beiden Fällen war nach Prüfung aller Umstände schnell klar, dass es sich um Suizide handeln musste.

Gegen all diese Vorkommnisse war der Besuch einer Frau, die ihren Mann als vermisst meldete, fast schon banal. Das Einzige, was Karin stutzen ließ, waren die leidgeprüften Gesichtszüge der ehemals sicher attraktiven Frau. Solche Spuren gruben sich nur über Jahre in das Antlitz eines Menschen. Karin hatte die Vermisstenmeldung entgegengenommen und an die entsprechende Abteilung weitergeleitet. Ob der Mann durchgebrannt war oder nicht, damit musste sie sich nicht herumschlagen. Dieser Fall fiel nicht in ihre Zuständigkeit und so würde sie sicher nicht wieder damit konfrontiert werden.

Das kurze Klopfen an der Bürotür riss Karin aus ihren Gedanken. Kriminalrat Haupt schob seine massige Gestalt in den Raum, begrüßte Karin und nahm ohne viele Umstände im Stuhl der abwesenden Oberkommissarin Sandra König Platz. Er brummte etwas Unverständliches und stellte dann eine eher belanglose Frage zu den Suiziden der letzten zwei Tage.

Karin wurde schlagartig munter. Die Tatsache, dass sie ihr Chef an einem Feiertag aufsuchte und ganz gegen seine Art Fragen zu abgeschlossenen Vorgängen stellte, ließ sie hellhörig werden.

»Was stimmt nicht?«, fragte sie direkt. Und bevor er ihr mit Ausflüchten kommen konnte, setzte sie hinzu: »Du hast heute dienstfrei und schneist in mein Büro, um dich nach Fällen zu erkundigen, die schon auf dem Weg zur Staatsanwaltschaft sind. Wenn du nicht hier bist, um mir ein Weihnachtsgeschenk zu überreichen, dann spuck aus, was dich bedrückt.«

Haupt musterte Karin lange und sehr ernst. So ernst, dass Karin im Stillen ihr Gewissen überprüfte, ob sie in letzter Zeit wieder einmal gegen die Dienstvorschrift verstoßen hatte.

»Witkowski ist auf freiem Fuß. Er ist aus der JVA Bautzen geflohen.« Haupt sprach die Worte emotionslos und sein Tonfall stand in krassem Widerspruch zu seinem betroffenen Gesichtsausdruck.

Karin war wie vom Donner gerührt. Ihr war sofort klar, was diese kurze Mitteilung für sie persönlich bedeutete. René Witkowski war bis zu seiner Verhaftung vor anderthalb Jahren der Kopf einer Organisation gewesen, die Drogenhandel, Prostitution, illegalen Waffenhandel und Schutzgelderpressung in Dresden kontrolliert hatte. Er war bei seinen Unternehmungen stets vorsichtig geblieben und obwohl Karin wusste, dass Witkowski an mehreren Morden beteiligt war, war es ihr nie gelungen, ihm etwas nachzuweisen. Dass er letztendlich trotzdem strauchelte, hatte einzig an seiner Gier gelegen. Witkowski hatte ins internationale Waffengeschäft einsteigen wollen und als er Kontakte zu den Taliban knüpfte, war er ins Visier des Bundeskriminalamts geraten. Seine Organisation war von Angelika Hauser, einer Beamtin des BKA, infiltriert worden. Als ausreichend Beweise vorlagen, zerschlugen die Beamten in einer groß angelegten Aktion Witkowskis Verbrecherbande. Ihm selbst war es gelungen, sich im letzten Moment der Verhaftung zu entziehen. Karin Wolf hatte den größten Anteil daran, dass er am Ende doch noch gefasst werden konnte. Bei der Gerichtsverhandlung gegen Witkowski war sie als Zeugin geladen und den Blick, welchen ihr der Verbrecher nach der Urteilsverkündung zugeworfen hatte, hatte sie immer noch in guter Erinnerung. Bis zum jetzigen Moment hatte sie sich in Sicherheit gewähnt, doch nun war es Witkowski gelungen auszubrechen. Ihr schlimmster Feind war frei. Wie zum Teufel konnte das nur passieren? Immerhin hatte Karin ihr Leben riskiert, um die Menschheit von diesem Monster zu erlösen.

Sie blickte ihren Chef an und sah, dass er genau wie sie empfand, doch offensichtlich war er nicht geneigt, das Gespräch fortzuführen.

Karin brach die Stille und zwang sich zu einer ruhigen, sachlichen Frage: »Wie war es Witkowski möglich zu entkommen?«

»Er hat eine Blinddarmentzündung simuliert und wurde auf die Krankenstation verlegt. Von dort gelang ihm die Flucht. Der Direktor der JVA vermutet, dass Witkowski Helfer hatte.« Haupts Stimme klang müde.

»Scheiße«, sagte Karin tonlos, doch nach einem Moment kochten die Emotionen in ihr hoch. »Da riskiere ich meinen Arsch und hole mir die Dresche meines Lebens ab, um dieses Schwein hinter Gitter zu befördern, doch im Handumdrehen ist der Verbrecher wieder auf freiem Fuß.«

Ganz gegen seine Gewohnheit ließ Haupt Karins Kraftworte ohne Tadel durchgehen. Stattdessen schwieg er und es trat abermals Stille ein.

»Wie wollen wir vorgehen?«, fragte Karin schließlich, als das Schweigen drückend wurde. Ihr Ton verdeutlichte, dass die Fragestellung eher als Aufforderung verstanden werden sollte.

»Wir gehen gar nicht vor. Die Angelegenheit liegt beim BKA und bei Europol. Uns bleibt nichts weiter zu tun, als zu hoffen, dass sich Witkowski bereits in ein fernes Land verkrümelt hat und dort irgendwann aufgegriffen wird.«

»Du glaubst doch selbst nicht, was du da sagst. Witkowski ist auf Rache aus und die Ziele seiner Vergeltung sitzen in Dresden. Ich persönlich komme mir dabei vor, als würde ich ein Shirt mit einer großen Zielscheibe auf der Brust tragen.« Karins Stimme war gallig geworden.

Haupt hob resignierend die Arme. »Ich verstehe deine Frustration, aber mir sind die Hände gebunden. Die Anweisung kommt von ganz oben.«

»Vielleicht wird Witkowski von denen gedeckt«, wetterte Karin weiter, »wir beide wissen doch ganz genau, wo die Leute sitzen, die auf Witkowskis Lohnliste stehen. Ich denke, ich wage mich nicht zu weit vor, wenn ich dabei laut an korrupte Mitarbeiter in unseren eigenen Reihen, bei der Staatsanwaltschaft und in der Stadtverwaltung denke.«

»Allzu laut möchtest du solche Gedanken aber nicht von dir geben, sonst kann auch ich dich nicht mehr schützen.«

»Ach lass mal«, winkte Karin mit einem zynischen Lachen ab, »diese Leute müssen sich schön hinten anstellen. Witkowski wird keine Vordrängler dulden.«

»Male nicht gar zu schwarz«, sagte Haupt und wuchtete sich aus dem Stuhl. »Witkowski wird alle Hände voll zu tun haben, seine eigene Haut zu retten. Da bleibt ihm keine Zeit für groß angelegte Rachefeldzüge.« Er blickte zur Uhr. »Du hast schon lange Feierabend. Mach dich auf die Socken und gönn dir einen schönen Abend.«

Mit etwas Glück behält Haupt recht, dachte Karin, als ihr Chef verschwunden war. Ich mache mir Sorgen und Witkowski sitzt in Rio am Strand und lacht sich über mich kaputt. Karin klammerte sich an diesen Gedanken und versuchte, sich auf ihren freien Abend zu freuen. Zwischen den Gefühlen schwankend, packte sie ihren Rucksack und schloss die Bürotür hinter sich.

Auf der Heimfahrt hörte Karin eine CD von Keith Reid. Das fünfte Lied, ›Potters Field‹, gehörte zu ihren absoluten Lieblingsstücken. Als die eindringliche Melodie das Autoinnere füllte, sang sie laut mit. Doch bei der Stelle ›To mark her grave in Potters Field‹, stockte Karin plötzlich der Atem. Ihr wurde bewusst, was sie da gerade gesungen hatte. Wieder kroch die Angst in ihr hoch, die panische Furcht vor Witkowskis Rache. Doch Karin beschloss, sich nicht zu ergeben. Sie ballte energisch ihre Hand zur Faust. Sollte der Verbrecher es doch wagen, sich mit ihr anzulegen. Schon einmal hatte er es versucht und es war nicht Karin, die die Sanitäter vom Ort des Kampfes tragen mussten. Überdies fühlte sie sich viel zu jung, um eine Stelle im Urnenhain für sich zu markieren.

Montag, 27. Dezember, 2.00 Uhr

Ein harter Stoß holte Angelika Hauser aus der Bewusstlosigkeit. Sie war mit der Hüfte schmerzhaft an eine Kante geprallt. Einem ersten Reflex folgend, wollte sie sich mit der Hand abstützen. Doch sie war nicht in der Lage, ihre Hände zu bewegen. Diese Erkenntnis brachte sie vollends in die Realität zurück. Sie entspannte ihren Körper und versuchte, ihre Situation zu analysieren. Die Hände waren hinter ihrem Rücken gefesselt, um die Fußgelenke hatte man ebenfalls Riemen gebunden und ihr Mund war mit ekelhaft schmeckendem Klebeband verschlossen. Sie lag auf der Seite in einem engen, dunklen Raum. Das ständige Schütteln und die Motorgeräusche sagten ihr, dass es sich um den Kofferraum eines Fahrzeugs handeln musste. Ihre Ausbildung und die jahrelange Erfahrung verhinderten, dass Angelika in Panik verfiel. Sie drängte den in ihrer Kehle emporsteigenden Brechreiz zurück und begann, sich auf die zurückliegenden Ereignisse zu besinnen.

Am vorangegangenen Abend hatte Angelika beschlossen, sich zu amüsieren. Sie war in die Dresdner Neustadt gefahren, um ihrer Stammdiskothek einen Besuch abzustatten. Sie hatte ihre Antenne ausgefahren und wie immer dauerte es nicht lange, bis sie eine Beute erspäht hatte. Die charmante Art und das sportliche Aussehen ihres Kandidaten hatten diesen zum Partner für einen Abend und die darauffolgende Nacht qualifiziert. Sie erinnerte sich sogar noch an den Namen des Typen. Er hatte sich ihr als Sebastian vorgestellt. Sie hatten getanzt, zu viel getrunken und intensiv geflirtet. Das Letzte, was Angelika einfiel, war, dass sie ihn auf sein Hotelzimmer begleitet hatte.

An der Stelle brachen die Erinnerungen ab. Ihre Übelkeit und der Filmriss ließen nur eine Schlussfolgerung zu, Sebastian musste K.-o.-Tropfen in einen ihrer Drinks gemischt haben. Warum er dies getan haben sollte, diese Frage konnte sich Angelika beim besten Willen nicht beantworten. Doch sie vergeudete ihre Kraft nicht mit fruchtlosen Grübeleien. Weshalb man sie gekidnappt hatte, würde sie auf jeden Fall erfahren. Das ständige Herumschleudern in dem Kofferraum bereitete Angelika zunehmend Schmerzen und sie hoffte, dass das Fahrzeug bald seinen Bestimmungsort erreichen würde. Mit etwas Glück war es ihr dann möglich, sich aus dieser Lage zu befreien.

Als der Wagen mit einem jähen Ruck stoppte und gleich darauf die Kofferraumklappe geöffnet wurde, blickte Angelika Hauser in das Gesicht von René Witkowski. In seinem Blick las sie, dass aus einer Befreiung wohl nichts werden würde und sie ihr Glück für immer verlassen hatte.

Wortlos packte Witkowski Angelika an ihrer Kleidung und zerrte sie grob aus dem Wagen. Es gelang ihr nicht, auf den Füßen zu bleiben. Sie fühlte sich matt und ihre Beine waren zu schwach, um ihr Gewicht zu tragen. Doch Witkowski gönnte ihr keine Atempause. Brutal riss er sie auf die Füße und stieß sie in den Rücken. Trotzig blieb sie stehen, versuchte, die Balance zu halten, und sah sich um.

Es war Nacht, der Schnee fiel in dicken Flocken. Nur das Glitzern der Schneedecke und ferne Lichter erhellten die Dunkelheit. Kaum hundert Meter hinter ein paar kleineren Gebäuden floss schwarz die Elbe. Bevor Angelika ihre Umwelt genauer in Augenschein nehmen konnte, zwang sie ein barsches »Vorwärts!«, den in den tiefen Schnee getretenen Pfad zu gehen. Kurz zögerte Angelika, dann stapfte sie mit High Heels an den Füßen los. Durch die Fußfesseln wurde ihr das Gehen zusätzlich erschwert. Die Fesselung war raffiniert. Sie konnte kleine Schritte machen, aber sich blitzschnell herumzuwerfen und Witkowski mit einem Fußtritt zu attackieren, war ihr nicht möglich. Witkowski kannte sie zu gut. Er wusste, dass Angelika eine ausgezeichnete Kickboxerin war, und hatte vorgesorgt.

Nach dreihundert Metern blieb Angelika trotzig stehen und sah sich um. Auch ohne den Anblick der erleuchteten Kuppel der Yenidze, die sich stolz auf dem gegenüberliegenden Ufer erhob, hätte sie sofort gewusst, dass sie sich an der Marienbrücke befanden. Hier war es einsam. Erst recht um diese Zeit. Ein weiterer Schlag in den Rücken trieb sie erbarmungslos weiter, bis Witkowski den Marsch am Brückenpfeiler stoppte.

Angelika lehnte sich, immer noch benommen, an die großen, nach außen gewölbten Steine des Pfeilers. Sie fror entsetzlich. Ihre Hände, die zu Beginn vor Kälte geschmerzt hatten, spürte sie nicht mehr. Abendgarderobe ist für einen nächtlichen Ausflug bei Temperaturen unter null Grad nicht empfehlenswert, dachte sie mit einem Anflug von Zynismus.

Dann schaute sie Witkowski direkt an. Er hatte sich in den anderthalb Jahren seit ihrer letzten Begegnung verändert. Er wirkte härter. Seine Bosheit und seine Brutalität stachen jetzt deutlich aus seinen Zügen hervor. Früher war es ihm fast immer gelungen, sein wahres Wesen hinter einer jovialen Maske zu verbergen.

»Ich wollte nicht gehen, bevor ich Lebewohl gesagt habe.« Auch Witkowskis Stimme klang härter. Härter und älter. »Es gehört sich einfach nicht, so sang- und klanglos zu verschwinden. Sicher, ich könnte schon weit weg sein, aber der persönliche Abschied von dir und deiner Schwester im Geiste ist mir wichtig.« Er streckte den Arm aus und wollte in ihr Haar fassen, doch Angelika schreckte vor seiner Berührung zurück. Zu viel Blut klebte an Witkowskis Händen. Erzürnt stieß er Angelikas Kopf an die Steine. »Hab dich nicht so! Früher warst du anschmiegsamer. Überhaupt … aus uns beiden hätte ein Paar werden können.« Er lächelte gemein. »Ich weiß, ich weiß, dein Job. Doch du hattest deine Chance. Du hättest dich mir nur anvertrauen müssen. Wir hätten einen Weg gefunden. Gemeinsam hätten wir viel bewegen können. Du und ich, wie Bonnie und Clyde … doch dafür ist es jetzt zu spät.« Er trat zurück, fasste in seine Manteltasche und ließ mit hässlichem Klacken sein Krokodilmesser aufschnappen.

Angelika erstarrte vor Angst. Sie sah ihrem Mörder in die Augen, als sich der kalte Stahl in ihren Leib bohrte. Auch wenn Witkowski ihren Mund nicht zugeklebt hätte, wäre es ihr unmöglich gewesen zu schreien. Sie fand kaum noch die Kraft zu atmen, so grässlich wütete der Schmerz in ihrem Körper. Als sie spürte, wie die Klinge in ihr weiter nach oben schnitt, zwang sie ihren Blick zur Seite. Witkowskis Gesicht sollte nicht das Letzte sein, was sie in ihrem Leben sah. Sie schaute an ihm vorbei und sah in der Ferne die dunklen Umrisse des Königsufers. Als die Silhouette vor ihren Blicken verschwamm, schloss sie die Lider.

Und dann wurden der Schmerz und ihr Sein von einer tiefen, endgültigen Schwärze aufgesogen.

Montag, 8.30 Uhr

Es entsprach nicht Karin Wolfs Gewohnheit, die Tageszeitung auf ihrer Arbeitsstelle zu lesen. Nicht, dass sie deswegen mit einem schlechten Gewissen zu kämpfen hätte. Bei all den geleisteten Überstunden, die nur zu oft einfach so unter den Tisch fielen, verspürte Karin schon lange keine Skrupel mehr, wenn sie Privatangelegenheiten während der Dienstzeiten erledigte. Der Grund war, dass sie im Büro einfach nicht die erforderliche Konzentration für eine gründliche Lektüre fand.

Doch heute Morgen machte sie eine Ausnahme. Hastig blätterte sie die mitgebrachte Zeitung durch und als sie nicht fand, wonach sie suchte, gleich ein zweites Mal, und diesmal gründlicher. Da entdeckte sie den Artikel. Ganz klein und versteckt, so als würden sich die wenigen Zeilen schämen, dass sie es überhaupt gewagt hatten, in den Nachrichten zu erscheinen. Die Notiz über Witkowskis Ausbruch war mehr als unscheinbar. Nicht einmal sein Name wurde erwähnt. Ihre anschließende Recherche im Internet erbrachte gleichfalls keine nennenswerten Informationen. Witkowskis Flucht wurde als etwas Belangloses wie nebenbei abgehakt. Es war für Karin mehr als offenkundig, dass es Personen gab, die einen Mantel über all dem halten wollten.

Da habe ich doch schon mal ein Buch gelesen, ›Und die Großen lässt man laufen‹, resümierte sie traurig. Das Gefühl der Ohnmacht, welches sie erfasste, frustrierte sie. Karin schloss die Augen und bemühte sich, an etwas Angenehmes zu denken. Aber auf Befehl gelang ihr das nicht. Trotzig stand sie auf und tigerte im Zimmer umher. Dann faltete sie die Zeitung achtlos zusammen und öffnete ein Fenster, um für einen kurzen Moment diesen herrlichen Wintertag zu genießen. Sie lehnte sich ganz weit hinaus und blickte an der Polizeidirektion vorbei in Richtung Frauenkirche. Die Sonne ließ die Kristalle in den hübschen Schneehüten blitzen, mit denen sich die Fenstersimse und Turmspitzen geschmückt hatten. Dieser Anblick vertrieb Karins Schwermut. Ich lasse mich von einem Kriminellen nicht unterkriegen, beschloss sie. Soll er doch laufen, weit, weit weg, und niemals wiederkehren.

Sie stapelte ihre Befürchtungen in der hintersten Ecke ihres Unterbewusstseins, schloss das Fenster und stürzte sich in die Arbeit.

Montag, 12.45 Uhr

Der Geräuschpegel im Speisesaal lag deutlich unter dem gewohnten Niveau. Und trotzdem, oder vielleicht gerade aus diesem Grund, zauberte das Küchenpersonal für die wenigen Mitarbeiter, die zwischen Weihnachten und Neujahr Dienst schieben mussten, etwas besonders Leckeres auf den Tisch.

Karin war der Verlockung des delikaten Mahls erlegen und hatte eine größere Portion als gewöhnlich verdrückt. Satt und zufrieden lehnte sie sich zurück und strich seufzend über ihren gefüllten Bauch. Der Wetterbericht hat weitere Schneefälle vorhergesagt, besänftigte sie ihr Gewissen. Da muss ich heute zum Feierabend vor der Garage Schnee schippen und verbrenne so die überschüssigen Kalorien. Dieser Gedanke freute sie so sehr, dass sie sich gleich noch ein Dessert gönnte. Das verschaffte ihr zusätzlich die Möglichkeit, den Aufenthalt in der Kantine zu verlängern, denn in ihr Büro zog es sie nicht wirklich zurück. Die zuständige Abteilung für Personenfahndung war wegen der Feiertage total unterbesetzt und somit war der Fall des abhandengekommenen Familienvaters wie ein Bumerang zu ihr zurückgekehrt.

Doch selbst der kulinarischste Nachtisch war irgendwann ausgelöffelt und Karin musste zurück zu der Vermisstenmeldung. Lustlos quälte sie sich durch die Berichte. Die Gattin des Verschwundenen war inzwischen viermal auf der Polizeidirektion vorstellig geworden und Karin konnte aus den Berichten herauslesen, wie die Hoffnung der Frau schwand.

Karin legte die Gesprächsprotokolle ab und setzte sich aufrecht. Sie war so satt, dass ihr jede Bewegung schwerfiel. Ächzend griff sie zum Telefonhörer, führte mehrere Gespräche, dann zog sie ihren warmen Mantel über und machte sich auf den Weg.

Da beschließt ein von der Midlife-Crisis geschüttelter Familienvater, dass er von seinem Leben mehr erwarten kann, als immer nur Verantwortung zu tragen, und verpisst sich, dachte Karin ärgerlich, während sie ihr Auto verriegelte. Bestimmt fühlte er sich zu jung, um mit seiner über die Jahre gealterten Frau zu schlafen, und wer zieht die Arschkarte und muss sich mit seinem verärgerten Chef herumschlagen? Ich! Karins gute Laune war verflogen.

Sie war zu oft mit den Gedankengängen fremdgehender Männer konfrontiert worden, als dass sie auch nur den Hauch von Verständnis für deren Gefühle empfinden konnte.

Der erste Schritt ihrer Ermittlungen hatte darin bestanden, den Geschäftsführer des Unternehmens, in welchem der vermisste Herr Eichler tätig war, anzurufen, ihn aus seinem Urlaub zu reißen und zum Firmensitz zu zitieren.

Das Foyer des großen Bürokomplexes auf der Schnorrstraße in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs wirkte zwischen den Feiertagen entvölkert wie ein Supermarkt nach Ladenschluss. Während Karin das Mieterverzeichnis konsultierte, sah sie keine Menschenseele. Nur aus einer oberen Etage klangen Stimmen und das Geklapper von Kaffeegeschirr an ihre Ohren. Nachdem Karin den Sitz des Unternehmens geortet hatte, verschmähte sie wie immer den Aufzug, stieg in das zweite Stockwerk und klopfte forsch an die Tür des Chefbüros.

Der Geschäftsführer, Herr Weinhold, schien seinen Unmut über die Unterbrechung seiner Urlaubstage vergessen zu haben, denn er begrüßte Karin ausgesprochen freundlich und streckte ihr die Hand zur Begrüßung entgegen. Nach dem Handschlag wischte Karin verstohlen die rechte Hand an ihrer Hose ab. Die Finger von Weinhold waren nicht feucht, aber ein so lascher Händedruck war ihr noch nie begegnet. Fünf zusammengebundene Wiener Würste drückten bestimmt herzhafter zu, vermutete Karin schaudernd.

Sie verdrängte die unangenehme Empfindung und kam sofort zur Sache: »Es tut mir leid, dass ich Sie in Ihrem Urlaub stören musste, aber Ihr Mitarbeiter, Herr Eichler, ist seit dem 24. Dezember verschwunden.«

Weinhold stutzte, dann lächelte er unpersönlich. »Ich bin bereits vor einer halben Stunde hier eingetroffen und habe die Zeit für einen Routinerundgang durch sämtliche Räume genutzt. In der Firma hält sich Burkhard mit Sicherheit nicht auf.« Er überlegte kurz und fügte grinsend hinzu: »Und bei mir zu Hause ist er auch nicht eingezogen.«

Karin konnte solche Witzchen nicht leiden. Viel zu oft waren dumme Sprüche wie dieser bei ähnlichen Gelegenheiten ihr gegenüber geäußert worden. Ihre Erfahrungen hatten sie aber eins gelehrt: Es gab vier Gründe, die sich hinter diesen Späßen versteckten konnten. Der erste und banalste Grund war, dass ihr Gesprächspartner mit ihr flirten wollte, aber die Blicke von Weinhold waren bei der Begrüßung nur sehr oberflächlich über sie geglitten. Punkt eins entfiel somit. Möglichkeit zwei: Weinhold könnte zu den albernen Typen zählen, die ständig den Witzbold herauskehren müssen, aber den Eindruck machte er ihr eher nicht. Die dritte Ursache für seinen geschmacklosen Ulk war die häufigste: Ihr Gegenüber nahm die Angelegenheit einfach nicht ernst. Doch Karin wusste, dass es noch ein viertes Motiv für seine Witzelei geben könnte: Weinhold könnte etwas zu verbergen haben. Karin beschloss, seinen Spruch zu ignorieren. Aber durch seine spöttische Bemerkung war Karins Aufmerksamkeit geweckt worden. Sie begann, den Mann ausgiebig zu mustern. Er schien ein wandelnder Widerspruch zu sein. Der maßgeschneiderte Anzug, der seine hagere Gestalt einhüllte, hätte elegant wirken können, doch Karin merkte es jeder Bewegung ihres Gegenübers an, wie unwohl er sich in dieser Garderobe fühlte. Sein Bart war ungepflegt und das schüttere und strähnige Haar schrie nach einem Friseur. Die Ursache für das paradoxe Erscheinungsbild schien nicht nur dem Umstand geschuldet zu sein, dass sie ihn aus seinem Urlaub gerissen hatte. Augenscheinlich wurde hier ein Mensch gezwungen, eine Rolle zu spielen, in der er sich nicht wohlfühlte.

Sie verdrängte ihren Eindruck und sortierte kurz ihre Gedanken. Dann begann sie mit der Befragung: »Da wir bisher nur wissen, dass Herr Eichler am Vierundzwanzigsten nicht wie erwartet zu Hause angekommen ist, will ich die Angelegenheit noch nicht dramatisieren. Ist Ihnen eventuell bekannt, ob Herr Eichler eine Geliebte hat und er sich bei dieser aufhalten könnte?«

Weinhold stutzte, dann lächelte er – ein wenig seltsam, wie Karin fand. »Nein, Burkhard hat keine Geliebte.«

»Und da sind Sie sich absolut sicher?«, hakte Karin misstrauisch nach.

»Burkhard zählt zu den Typen, die gern ein wenig angeben. Sie verstehen, was ich meine?« Er feixte anzüglich. »Wenn es ihm gelungen wäre, bei einer Frau zu landen, hätte er ganz bestimmt eine zweideutige Bemerkung fallen lassen. Darauf hinzuweisen, was für ein toller Hecht er sei, diese Gelegenheit hätte sich Burkhard nie entgehen lassen.«

»Gut. Das will ich erst einmal so stehen lassen. Können Sie mir sagen, wie die Ehe der Eichlers war?«

»Ich kannte seine Frau zwar, aber wir pflegten keinen privaten Kontakt. Wenn Burkhard seine Gattin zu Betriebsvergnügen mitbrachte, konnte ich jedenfalls keine Misstöne zwischen den beiden bemerken.«

»Gibt es in der Firma oder im sonstigen Umfeld von Herrn Eichler einen Menschen, dessen Hass er sich zugezogen haben könnte?« Karin versuchte bei ihren Fragestellungen vergeblich, Augenkontakt mit dem Geschäftsführer herzustellen, er entzog sich ihren Blicken stets nach wenigen Sekunden.

Weinhold schüttelte im Zeitlupentempo seinen Kopf. »Nein«, kam es nach langer Bedenkzeit von seinen Lippen. »Höchstens … aber das ist zu abwegig.«

»Herr Eichler ist spurlos verschwunden. Da ist nichts zu absurd, als dass es nicht wichtig für die Ermittlungen sein könnte.«

»Bedingt durch die Finanzkrise mussten wir uns von einigen Mitarbeitern trennen. Es traf auch Burkhards engsten Kollegen, Herrn Conrad. Die zwei waren für die Umsetzung von Projekten im IT-Bereich tätig. Es kam zu einem Zerwürfnis zwischen Burkhard und Conrad. Conrad vertrat die Meinung, wenn einer im Unternehmen überflüssig sei, dann Burkhard. Das war vor ungefähr zwei Jahren. Conrad schied im Zorn von uns.«

»Hat er Drohungen gegenüber Herrn Eichler ausgesprochen?«

»Nein, meines Wissens nach nicht.«

»Sind Ihnen weitere Personen bekannt, die nicht gut auf Herrn Eichler zu sprechen sind?«

Weinhold schüttelte energisch den Kopf und Karin registrierte mit Verwunderung, dass seine Blicke fortwährend unstet im Raum umherirrten.

»Frau Eichler gab an, dass ihr Gatte am Tag seines Verschwindens mit dem Auto zur Arbeit gefahren ist. Gibt es einen firmeneigenen Parkplatz?«

»Für die Geschäftsleitung sind Stellflächen reserviert.« Der Themenwechsel bewirkte, dass sich Weinhold mit einem Schlag entspannte. »Am Weihnachtstag kam Burkhard tatsächlich mit seinem Wagen. Das war auffällig, weil Schnee in der Luft lag und Burkhard bei solchen Witterungsverhältnissen immer die öffentlichen Verkehrsmittel nutzt. Er ist kein guter Autofahrer.« Sein abfälliger Blick verriet Karin nur zu gut, was Weinhold von unsicheren Autolenkern hielt.

»Steht sein Fahrzeug noch auf dem Platz?«

»Nein. Von meinem Fenster kann ich auf das Parkgelände herunterblicken und ich habe beobachtet, wie Burkhard am Weihnachtstag in seinen Opel stieg und davonfuhr. Sein Abgang, oder besser seine Wegfahrt, war sehr sehenswert. Er hat es doch tatsächlich geschafft, den Motor seines Opels zweimal abzuwürgen.«

Karin erhob sich abrupt und schaute Weinhold auffordernd an. »Ich würde mir Herrn Eichlers Stellplatz gern ansehen und da ich sonst keine weiteren Fragen an Sie habe, bitte ich Sie als Letztes um Ihre Begleitung und die Adresse von Herrn Conrad.«

Der plötzliche Aufbruch schien Weinhold sehr gelegen zu kommen. Er schnellte förmlich aus seinem Chefsessel, warf sich seine Jacke über und führte Karin durch die Hintertür hinaus auf den Parkplatz.

Auf dem Weg dorthin sprach er kein Wort und Karin verspürte gleichfalls keinerlei Interesse an einem belanglosen Plausch. War der Geschäftsführer zu Beginn des Gespräches noch entgegenkommend gewesen, wirkte er nun zunehmend genervt.

Neben einer verdreckten schwarzen Luxuslimousine blieb Weinhold stehen, deutete stumm auf den leeren und verschneiten Parkplatz neben dem Wagen und verkroch sich mürrisch in seine dicke Winterjacke.

»Danke, das wäre im Moment alles von meiner Seite.« Karin nickte dem Mann kurz zu und widmete ihr gesamtes Interesse dem Stellplatz.

Weinhold murmelte eine Verabschiedung, stieg in seinen Wagen, gab zu viel Gas und schlitterte mit durchdrehenden Rädern vom Parkplatz. Karin sah ihm kopfschüttelnd nach, dann musste sie grinsen. Auto und Fahrer haben sich von ihrem Äußeren jedenfalls ganz prima aufeinander abgestimmt und fahren kann der Weinhold ebenfalls nicht. Dieser Gedanke belustigte sie und mit lächelndem Gesicht lief sie eilig zu ihrem Fahrzeug. Sie holte einen Handfeger aus dem Kofferraum und ging zu Eichlers verwaistem Stellplatz zurück. Hier kehrte sie vorsichtig den gefallenen Schnee zur Seite. Als sie fertig war, betrachtete sie gründlich die vollkommen freigelegte Stellfläche. Der Schnee hatte überall locker gelegen und sich leicht entfernen lassen.

Auf der Fahrt zu ihrem nächsten Ziel wurde Karin nachdenklich. Seit dem Gespräch mit dem Chef des Verschwundenen nahm sie den Vermisstenfall sehr ernst. Eins war ihr klar geworden: Sollte Eichler nicht wieder auftauchen, würde ihm Weinhold keine Träne nachweinen.

Montag, 17.00 Uhr

Da niemand den Versuch unternommen hatte, eine Bahn freizuschaufeln, lag der Schnee auf den Wegen noch so hoch, wie er gefallen war. Karin bahnte sich ihren Weg durch die kleine Reihenhaussiedlung im Stadtteil Leubnitz-Neuostra. Doch das Stapfen durch den hohen Schnee bereitete ihr eher Lust als Mühe. Seit ihrer Kindheit liebte sie das freundliche Knirschen des Schnees unter ihren Schritten.

Vor dem Eigenheim der Familie Eichler angekommen, klopfte sie erst einmal ihre Hosen ab, dann ließ sie ihre Blicke schweifen. Der Schnee lag in einer dicken Schicht auf den Dächern der Carports und aus den umliegenden Gehölzen hatten die Flocken bizarre Gebilde geformt. Zusammen mit dem strahlenden Sonnenschein bot sich Karins Augen eine anheimelnde Winterlandschaft – eine schneeweiße Unschuld. Karin lächelte düster. Sie wusste leider zu genau, dass dies ein trügerisches Klischee war.

In der Wohnung der Eichlers war nicht das geringste Anzeichen von beschaulicher Atmosphäre oder gar festlicher Stimmung zu spüren. Frau Eichler war mit verquollenen Augen in einem großen Ohrensessel versunken und der anwesende Sohn saß steif und wie eingefroren auf einem Stuhl.

Karin hielt sich nicht lange mit der Vorrede auf. »Da wir bis jetzt noch keine Information über den gegenwärtigen Aufenthaltsort Ihres Gatten haben, muss ich Ihnen ein paar Fragen stellen.«

Frau Eichler nickte schwach.

»Es ist mir unangenehm, dieses Thema anzuschneiden, aber es lässt sich nicht vermeiden. Gibt es in Ihrer Ehe Probleme?«

Frau Eichler schniefte und schüttelte dann den Kopf. Doch bevor sie etwas sagen konnte, erwachte ihr Sohn aus seiner Starre und riss das Wort an sich: »Das ist wieder einmal typisch. Statt nach meinem Vater zu forschen, will sich die Polizei Arbeit sparen und versucht, uns den Schwarzen Peter in die Schuhe zu schieben.«

Karin wandte sich dem Sohn zu. Sie hatte ihn bisher bewusst ignoriert, da er bei ihrem Eintreten auf ihren freundlichen Gruß abweisend reagiert hatte. Seine plötzliche Aggression verwunderte sie und doof kommen ließ sie sich nicht gern, schon gar nicht von einem selbstgefälligen, unreifen Flegel.

»Wenn die Polizei jegliche Arbeit scheut, weshalb, glauben Sie wohl, habe ich mich dann auf den Weg zu Ihnen gemacht? Sehe ich aus, als wäre ich eine von den Sternsingern und hier, um nach Spenden zu fragen?«

Unter Karins bitterbösem Blick schrumpfte der Sohn des Hauses um mehrere Zentimeter und hielt den Mund.

Frau Eichler hatte den kurzen Zwischenfall teilnahmslos verfolgt und Karin war sich nicht sicher, ob sie ihn überhaupt wahrgenommen hatte.

Karin zwang sich, eine freundliche Miene aufzusetzen, immerhin war der Familienvater verschwunden. Aber ihr Lächeln wirkte aufgesetzt. Es wollte ihr nicht gelingen, das ungute Gefühl abzuschütteln, welches sie gleich nach Betreten des Hauses überfallen hatte.

Sie geduldete sich einen Moment, dann schaute sie Frau Eichler direkt an und wiederholte ihre Frage.

»Nein«, kam es zögerlich. »Wir führen eine gute Ehe. Es ist nicht alles perfekt, aber unsere Gemeinschaft steht auf stabilen Füßen.«

Besser kann ich ›ständigen Psychoterror in der Beziehung‹ auch nicht umschreiben, dachte Karin und schoss ihre nächste Frage ab: »Gibt es eine Frau, die sich Ihrem Mann nähert, um sich zwischen ihn und Sie zu stellen?« Nicht nur du kannst prima um die Ecke artikulieren, freute sich Karin über ihr Satzgebilde.

Frau Eichler freute sich nicht. Sie ließ den Kopf sinken und schaute betreten auf ihre Füße. Karin betrachtete die Frau nachdenklich, dann wandte sie sich blitzschnell an den Sohn und sagte: »Da Ihre Mutter offenbar mit der Situation überfordert ist, reiche ich meine Frage an Sie weiter. Ich habe übrigens nicht gefragt, um früher Feierabend zu machen, sondern um die Hintergründe des Verschwindens Ihres Herrn Vaters zu erhellen.« Und wesentlich umgänglicher setzte sie hinzu: »Glauben Sie mir, ich stelle diese Art von Fragen höchst ungern, aber es muss sein.«

»Nein, meine Mutter würde es spüren, wenn mein Vater sie mit einer anderen Frau betrügen würde. Und ehe Sie nachfragen, ich pflege ein inniges Verhältnis zu meiner Mutter. Sie hätte sich mir in so einem Fall anvertraut.«