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Andreas M. Sturm legt nach ›Vollstreckung‹, ›Albträume‹ und ›Leichentuch‹ mit ›Trauma‹ seinen vierten Dresden-Krimi um das Ermittlerduo Karin Wolf und Sandra König vor.

Der 1962 in Dresden geborene und dort lebende Autor ist Diplom Betriebswirt und war nach seiner Berufsausbildung zum Werkzeugmacher viele Jahre in der Informatik tätig. Bereits seit seiner Jugend schreibt Andreas M. Sturm. Während es damals eher Kurzgeschichten und Western waren, sind es seit 2009 Krimis – egal ob als Kurzgeschichte oder Roman, in denen er sein Faible für dieses Genre auslebt.

Neben eigenen Veröffentlichungen ist Andreas M. Sturm Herausgeber zahlreicher Krimi-Anthologien wie z. B. ›Sachsenmorde‹, ›Weihnachtsmorde‹ oder die unter Kennern beliebten ›Giftmorde‹ I, II und III.

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Andreas M. Sturm

Trauma

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1. Auflage, Juli 2016
Copyright © 2016 by edition krimi, Leipzig
edition krimi
Alle Rechte vorbehalten

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Lektorat: Elia van Scirouvsky
Umschlaggestaltung: ama medien
Umschlagmotiv: Kerstin Müller
Satz: ama medien

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ISBN 978-3-946734-48-2 (ebook)
ISBN 978-3-946734-07-9 (print)

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www.edition-krimi.de

Sonnabend, 9. April, 02.50 Uhr

Von all den Empfindungen, die sie durchströmten, war nur eine greifbar, Angst. Diese Angst lähmte sie, obwohl sie genau spürte, sie musste fort von diesem Ort. Fort, so weit und so schnell fort wie nur möglich. Doch so sehr sie versuchte ihre Kräfte zu bündeln, es gelang ihr nicht, ihren Körper zu einer Bewegung zu zwingen. Wie paralysiert lag sie auf dem Boden und ihre Gliedmaßen ignorierten den Fluchtbefehl, den ihr Gehirn schrie. Nur ihre Hände öffneten und schlossen sich in einem stetig wiederkehrenden Reflex. Unter ihren Fingern spürte sie feuchte Erde, dürre Zweige und totes Laub. Die halb verrotteten Blätter, die die Herbststürme des vergangenen Jahres von den Ästen geweht hatten, fühlten sich schlüpfrig und mürbe an. Auf ihre nackte Haut trommelten Regentropfen, bildeten Rinnsale und liefen an ihrem Körper herunter. Ihre Wange ruhte auf dem Boden. Modriger Geruch stieg daraus empor und kroch in ihre Atemwege. Wenn sie die Augen öffnete, sah sie durch den Regenschleier unweit vor sich die Umrisse vom Bäumen und Sträuchern, die sich mit ihrer Schwärze von der grauen Dunkelheit abhoben. Der Wind, der über ihren nassen Rücken strich und sie frieren ließ, fuhr in die Zweige und Blätter der Gehölze. Er wühlte in ihnen und die ständige Bewegung der schwarzen Gebilde wirkte auf sie wie ein Winken. Es war als würden die dunklen Schemen ihr eine Botschaft senden. Überdeutlich mahnten sie sie, diesen Ort so rasch wie möglich zu verlassen.

All diese Dinge registrierte sie, doch die Starre, die sie mehr und mehr überkam, hinderte sie daran, die Flucht zu ergreifen. Sie ergab sich einfach und blieb auf dem Bauch liegen.

Aber als sich plötzliche eine unbekannte Hand mit brutalem Griff um ihr linkes Fußgelenk schloss, löste das einen Energieschub in ihrem Körper aus. Ihre Hände suchten verzweifelt nach einem Halt, um sich dem Zerren zu widersetzen. Sie versteifte sich vor Furcht und grub die Finger wie Anker in den Boden, doch sie musste vor dem starken Zug kapitulieren. Die feuchte Erde war keine Hilfe und schmatzend gab sie die Finger frei. Gnadenlos wurde ihr Körper über den Boden nach hinten geschleift. Ihre Verzweiflung wuchs ins Unermessliche, als eine zweite Hand ihr anderes Fußgelenk schnappte und den Zug noch verstärkte. Spitze Zweige stachen schmerzhaft in ihre Schenkel und sie fühlte die Blätter des Gestrüpps, in dem ihre Beine verschwanden. Sie riss den Mund auf, doch die Angst drückte ihr die Kehle zu. Nur sie selbst hörte den gellenden Schrei. Es war wie ein Krampf, der ihre Seele in festem Griff hielt und jede Gegenwehr verhinderte. Ihr Oberkörper war bereits vom Gebüsch verschluckt worden, nur noch Kopf, Schultern und die hilflos zuckenden Arme glitten über das feuchte Gras. Als Letztes, bevor sie gänzlich hinter der Wand aus Blättern verschwand, sah sie zwei Lichtpunkte, die sich tanzend an den schwarzen Bäumen vorbei auf sie zubewegten.

Sonnabend, 13.00 Uhr

Nichts, aber auch gar nichts könnte diesen schönen Tag trüben. Davon war Birgit fest überzeugt. Und sie würde alles tun, um den heutigen Sonnabend zu einem Glanzpunkt in ihrem Leben werden zu lassen. Ihre Chancen dafür standen gut. Und das gleich in doppelter Hinsicht. Die von ihr herbeigesehnte Fotoexkursion würde bei strahlendem Sonnenschein stattfinden und darüber hinaus gab es ein nicht zu verachtendes Sahnehäubchen gratis dazu. Und zwar in Gestalt des ungemein attraktiven Alexander. Der junge Mann war genau wie sie Single – ein Zustand, den Birgit unbedingt ändern wollte – und zudem furchtbar nett. Gleich bei der ersten Veranstaltung des Fotokurses hatte Birgit mehr als nur ein Auge auf diesen Adonis geworfen.

Den Lehrgang hatte sie belegt, weil sie es leid gewesen war, dass all ihre Urlaubsschnappschüsse bei Weitem nicht an die Qualität der von ihr oft bewunderten Fotografien in Fotoausstellungen herankamen. Um ihren Fähigkeiten auf die Sprünge zu helfen, erschien ihr der Kurs für kreative Fotografie bei der Volkshochschule ein geeignetes Mittel zu sein. Birgit hatte keine einzige Veranstaltung versäumt und fand, dass die Ergebnisse, die sie inzwischen aus ihrer Kamera herausholte, um Längen über ihrem ehemaligen Können lagen. Vielleicht wäre sie inzwischen einige Schritte weiter auf ihrem Weg zur gefeierten Fotografin gekommen, wenn nicht der Zufall Alexander in denselben Kurs verschlagen hätte. So war es Birgit häufig sehr schwer gefallen, den Ausführungen des Kursleiters die erforderliche Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Immer wieder waren ihre Blicke von den besprochenen Fotos zu ihrem heimlichen Schwarm gewandert. Bei diesen Ausflügen waren ihre Augen denen von Alexander auffallend oft begegnet. Das Leuchten, welches sie dabei in den Tiefen seiner Augen wahrnahm, konnte sie zu ihrer Freude eindeutig als ein Ja interpretieren.

Am heutigen Treffpunkt auf dem Schillerplatz hatte sie Alexander nicht wie sonst mit einem Handschlag, sondern mit einem Küsschen auf die Wange begrüßt. Birgit hatte nur mit Mühe einen wohligen Seufzer unterdrücken können, und um ihre Verlegenheit zu überspielen, hatte sie Alexander einen Wettbewerb vorgeschlagen. Sie würden getrennt voneinander auf dem ›Blauen Wunder‹ die Elbe überqueren und anschließend sollte Alexander auf der linken und sie auf der rechten Seite des Körnerplatzes nach Motiven Ausschau halten. Nach einer Stunde würden sie sich im italienischen Restaurant am Körnerplatz treffen, um bei einer Erfrischung die Fotos zu beurteilen.

Ein zweiter Kuss zum Abschied und schon spurtete Alexander wagemutig über die lebhaft befahrene Straße. Birgit sah ihm nach. Als sie feststellte, dass Alexander, kaum auf der Brücke angekommen, seinen Fotoapparat zückte, startete sie ebenfalls ihre Fotopirsch. Voller Enthusiasmus brachte sie ungefähr in der Mitte der Brücke ihre Kamera in Stellung. Kurz glitt ihr Blick in die Runde. Das Wetter war wirklich ideal. Durch den kurzen Schauer am gestrigen Abend hatte sich die Luft geklärt und Birgit konnte mit seltener Deutlichkeit die Berge der Sächsischen Schweiz erkennen. Dabei war der Himmel nicht eintönig blau, sondern hatte sich mit sehr fotogenen Wolken geschmückt. Begeistert schoss Birgit mehrere Fotos von dem vor ihr liegenden Panorama.

Bevor sie weiterschlenderte, lümmelte sie sich auf die Brüstung und ließ die Szenerie auf sich wirken. Am Flussufer, auf der Seite des Schillerplatzes, standen Angler bewegungslos und hofften auf Beute, gleich nebenan fütterte eine junge Familie Enten und Schwäne, im Biergarten herrschte dichtes Treiben und in der Ferne fuhr ein voll besetzter Schaufelraddampfer der ›Weißen Flotte‹ in Richtung Pirna. Es fiel Birgit schwer, ihre Blicke von dem bunten Trubel zu lösen. Doch sie gab sich einen Ruck. Immerhin wollte sie Alexander mit einzigartigen Aufnahmen beeindrucken. Sie bannte noch einige Details der graublauen Stahlkonstruktion der Loschwitzer Brücke auf den Kamerachip und eilte danach zielstrebig Richtung Körnerplatz. Etwa dreißig Meter vom Elbufer entfernt, stoppte sie erneut. Ihr war ein Mann aufgefallen, der ein leuchtend rotes Kanu mit flottem Paddelschlag stromabwärts trieb. Bevor er unter der Brücke verschwand, legte er eine Pause ein und blickte nach oben. Der Ruderer entdeckte Birgit und winkte zu ihr hinauf. Der hat ebenfalls einen schönen Tag, freute sie sich und winkte begeistert zurück. Dann richtete sie ihr Objektiv auf den Mann im Kanadier und ließ den Auslöser klicken.

Eine Dreiviertelstunde später hastete Birgit im Sturmschritt zum Treffpunkt. Ich hätte den Zeitraum großzügiger bemessen sollen, schimpfte sie mit sich. Die Zeit war echt zu knapp. Sie hätte viel mehr fotografieren können, doch verspäten wollte sie sich auf keinen Fall. Ihre Sorge war unbegründet. Sie hatte bereits einen Tisch gewählt, als Alexander im Laufschritt um die Ecke bog. Erfreut registrierte sie, dass er trotz des schnellen Laufes nicht außer Atem war. Sportlich ist er also auch noch. Ein weiterer Pluspunkt kam auf sein Konto.

Beide bestellten sich einen Espresso, kosteten, dann hielt es Birgit nicht mehr aus. Sie holte ihr Netbook aus der Tasche, schob die Speicherkarte in den SD-Kartenleser und startete das Bildbetrachtungsprogramm. Um besser sehen zu können, rückte Alexander ganz nah an sie heran und legte den Arm um ihre Schultern. Auf einmal versanken für Birgit die gerade noch so wichtigen Fotos in der Bedeutungslosigkeit. Ohne sich wirklich für die Aufnahmen zu interessieren, klickte sie schnell von Bild zu Bild und genoss das wohlige Kribbeln, das Alexanders Nähe in ihrem Körper auslöste. Als sie jedoch zu dem Foto kam, welches den Ruderer in seinem roten Kanu zeigte, versteifte sich Alexanders Haltung. Ohne ein Wort zu verlieren, zog er Birgits Speicherchip aus dem Kartenleser und nestelte mit fiebrigen Bewegungen seine Karte aus dem Kameraschacht. Bevor Birgit fragen konnte, hatte Alexander ein Foto auf den Monitor geholt, welches ebenfalls das rote Kanu zeigte. Birgit wurde blass, als sie die Aufnahme betrachtete. Auf Alexanders Foto fehlte der junge Mann und das Boot driftete führerlos den Fluss hinunter.

Sonnabend, 14.30 Uhr

Mit aller Kraft kämpfte Kriminalhauptkommissarin Karin Wolf gegen die aufsteigenden Tränen. Obwohl Steffen erst seit zwei Monaten in einem Sarg ruhte, war sie noch nicht über seinen Tod hinweggekommen. Da sie aber keine Ambitionen verspürte, der Welt an diesem sonnigen Tag ein verheultes Gesicht zu präsentieren, schluckte sie ihre Trauer hinunter. Viel lieber wollte sie an die Zeit zurückdenken, die sie mit Steffen verbracht hatte. Dies war kein leichtes Vorhaben, zu schwer belasteten die Vorfälle, die zu Steffens Tod geführt hatten, Karins Erinnerungen.

Ihr langjähriger Freund und Kollege, Hauptkommissar Steffen Dahlmann, war aus einer Notlage heraus in die Krallen eines gewissenlosen Verbrechers geraten. Dieser hatte Steffen gezwungen, ihm Informationen über die interne Polizeiarbeit zu versorgen. Doch den letzten Schritt, sich gegen die eigenen Kollegen zu wenden, hatte Steffen nicht vollzogen. Im Gegenteil, er hatte der Verbrecherbande die Stirn geboten, den perfiden Plan der Mörder durchkreuzt und Karin vor einem qualvollen Ende bewahrt. Mit der Schuld, Geheimnisse preisgegeben und damit die Kollegen verraten zu haben, wurde Steffen jedoch nicht fertig. In letzter Konsequenz hatte er seine Waffe gegen sich selbst gerichtet.

Seit jener verhängnisvollen Nacht peinigte sich Karin unablässig mit der Frage, ob sie Steffens Suizid hätte verhindern können. Dabei ließ sie ihren Geist zurück in die Abgründe jenes schrecklichen Kellers wandern, den ein sadistischer Schlächter zu ihrem Grab bestimmt hatte. Minutiös spielte sie dabei die Ereignisse in ihrem Kopf jedes Mal aufs Neue durch. Obwohl Karin wusste, dass sie den grausamen Ausgang des Dramas nicht hatte abwenden können, sank ein Rest von Zweifel als Bodensatz auf den Grund ihrer Seele. Und so wuchs die Schar der Dämonen, die Karins Albträume bevölkerten.

Doch die Trauer um einen verlorenen Freund überwog. Immer wenn Karin an Steffen dachte, geschah das mit Liebe. Viele Jahre hatte sie an seiner Seite Verbrecher gejagt und Steffen hatte sich dabei stets als zuverlässiger Freund erwiesen. Dass er in einem Moment der Schwäche einem Kriminellen auf den Leim gegangen war, hatte Karin längst verziehen. Sie wusste, dass dieser Fehler Steffen durch eine Hölle geschickt hatte, deren Seelenqual mörderisch gewesen war.

Karin hatte das Ihrige getan, um wenigsten einen Teil der Schuld abzutragen, die sie ihrem alten Freund gegenüber empfand. Am Tag nach dem furchtbaren Gemetzel hatte sie begonnen, den Tatsachen eine neue Version zu geben. Nur wenige Kollegen waren über den tatsächlichen Hergang im Bilde. Mit ihnen hatte sich Karin zusammengesetzt und besprochen, dass niemand mit der Wahrheit gedient wäre. Steffens Fehltritt hätte bei Bekanntgabe Wellen geschlagen und der gesamte Polizeiapparat wäre in einem schlechten Licht erschienen. Zur Verantwortung konnte Steffen ohnehin nicht mehr gezogen werden, also was sollte es? Die Kollegen hatten bei dieser Frage stumm genickt und Steffens Andenken blieb ohne Makel. Karin hatte nicht nur im Hinblick auf die Öffentlichkeit den Deckel über Steffens Fehlverhalten gehalten, in erster Linie dachte sie dabei an den Sohn ihres Freundes. Dieser sollte seinen Vater als aufrechten Mann in Erinnerung behalten. Karin fand, dass Steffen dieses Andenken verdient hatte. Eine über Jahrzehnte gelebte Ehrenhaftigkeit konnte nicht durch ein einmaliges Straucheln ausgelöscht werden.

Steffen besaß keine Hinterbliebenen außer diesem Sohn. Der hielt sich, bedingt durch seinen Job als Archäologe, fast nie in Dresden auf. Deshalb hatte sich die ungemein praktisch veranlagte Karin in Rücksprache mit Steffens Filius um sämtliche Beerdigungsmodalitäten gekümmert. Dass sie die Pflege des Grabes übernahm, war für Karin selbstverständlich.

Sie war gerade dabei, bewaffnet mit einer kleinen Schaufel, ein halbes Dutzend Stiefmütterchen einzupflanzen, als sie das Klingeln des Handys aus ihren düsteren Gedanken holte. Ärgerlich legte sie die Pflanze, die sie gerade einsetzen wollte, beiseite und griff nach dem Ruhestörer. Als Karin den Namen der Anruferin am Display las, verflog ihr Missfallen und ein warmer Schein des Glücks zog über ihr Gesicht. Sandra, ihre Partnerin bei der Arbeit und im Leben rief an. Die Botschaft, die ihre Freundin übermittelte, ließ Falten auf Karins Stirn erscheinen. Eilig beendete sie ihre Arbeit, strich noch einmal liebkosend mit der Hand über den Grabstein, seufzte tief und verließ den Friedhof in Richtung Ausgang.

Sonnabend, 15.15 Uhr

»Da treibt er den Fluss hinunter, unser gemütlicher Sonnabendnachmittag.« Mit einem tieftraurigen Blick deutete Oberkommissarin Sandra König in Richtung Elbe. »Bye, bye Shopping Tour und Rieseneisbecher.« Sie seufzte schwer und hob die Schultern in künstlicher Verzweiflung. »Mörder sollten gefälligst auf uns Rücksicht nehmen und es unterlassen am Wochenende ihrem Handwerk nachzugehen.« Sie drehte sich um und schickte der eben angekommenen Karin ein gequältes Lächeln.

Karin drückte einen Ast zur Seite und versuchte an ihrer Kollegin vorbei zu dem am Ufer liegenden Körper zu spähen. Die rot-weißen Absperrbänder, welche den Fundort großzügig begrenzten, flatterten im Wind. Fast wie Zierbänder, die zur Umrandung von Bühnen oder Ständen bei Volksfesten dienten. Der Schriftzug ›Polizeiabsperrung‹, der schwarz und drohend aufgedruckt war, zerstörte die Jahrmarktillusion.

Karin entdeckte den Gerichtsmediziner, Dr. Bretschneider, der neben der Leiche kniend gerade dabei war, ein Thermometer in die Analöffnung des Toten einzuführen. Karin wandte sich schaudernd ab. Ihr war vollkommen bewusst, dass diese Prozedur notwendig war, um anhand der Körpertemperatur den Todeszeitpunkt zu bestimmen, doch trotz ihrer vielen Dienstjahre hatte sie sich immer noch nicht an diesen Vorgang gewöhnt.

»Steht denn bereits fest, dass es sich um Mord handelt?« Ein wenig Hoffnung schwang in ihrer Stimme mit, als sie sich Sandra zuwandte.

»Es könnte natürlich ein Suizid vorliegen. Aber in diesem Fall ein sehr Ungewöhnliches.« Sandra begann zu grinsen. »Und das Opfer müsste äußerst geschickt vorgegangen sein. Ich stelle es mir nämlich ungeheuer schwer vor, auf einem schwankenden Boot die Balance zu halten und mir dabei einen Pfeil in die rechte Achselhöhle zu rammen.« Sandra schien ihre gute Laune wiedergefunden zu haben und schaute Karin unschuldig mit großen Augen an.

»Da komme ich einmal nach dir an einen Tatort und sofort muss ich mir doof kommen lassen.« Karin verdrehte in gespielter Entrüstung die Augen. Dabei war sie sehr froh, dass die stets ausgeglichene Sandra ihre Kollegin war. Der Job hatte viel zu viele Schattenseiten und einzig Sandras unbeschwerte Art und ihre lockeren Sprüche brachten ein wenig Licht in die oft beschwerliche und frustrierende Aufklärungsarbeit.

Voll Dankbarkeit musterte Karin ihre Partnerin. Obwohl sie sich erst vor zwei Stunden von der hübschen, schlanken Frau getrennt hatte, kam es ihr bereits wie eine Ewigkeit vor.

Die Regelung, dass liierte Polizeibeamte nicht in derselben Abteilung arbeiten durften, zwang sie und Sandra zur Heimlichtuerei. Nach außen gaben sie vor, in einer Wohngemeinschaft zu leben und das von einer Beziehung keine Rede sein konnte.

Aber ihre Gefühle unter Verschluss zu halten fiel Karin oft schwer. Sie liebte Sandra, mehr als sie je zuvor einen Menschen geliebt hatte. Vor Rührung sammelten sich nun doch Tränen in Karins Augen.

»Wenn du mich weiter so gierig anstarrst, halten dich die Leute noch für eine Kannibalin.«

Sandras Kichern holte Karin wieder in die Realität zurück. Sofort schlug sie die Augen nieder. »Du hast recht, ich muss mich besser im Griff haben. Also, wer oder was versaut uns hier den Tag?«

Sandra winkte Karin, hob für diese das Absperrband, schlüpfte nach Karin hindurch und lief mit ihr den schmalen Trampelpfad zum Ufer hinab.

Karin nickte den Beamten der KTU, die das Gelände absuchten, freundlich zu und begrüßte den Gerichtsmediziner. Dr. Bretschneider grüßte zurück, senkte aber unmittelbar darauf den Kopf, um seine Untersuchungen fortzusetzen.

»An dieser Stelle hat sich die vorbeitreibende Leiche am Haken eines Anglers verfangen.« Sandra zeigte mit bezeichnender Geste auf den Klapphocker, neben dem ein mit Wasser gefüllter Eimer stand, in dem zwei Fische Runden drehten. »Zuerst war der Mann stinksauer, weil er vermutete, dass sich irgendwelcher Müll an seiner Angelrute verfangen hat, jetzt sitzt er bibbernd und völlig von der Rolle da hinten im Rettungswagen.« Sandra deutete mit dem Daumen über ihre linke Schulter. »Für ihn ist das natürlich Pech, er hat den Schock fürs Leben weg, für uns ist es ein riesiger Glücksfall. Ohne die Angel dieses Hobbyfischers wäre die Leiche wer weiß wohin getrieben.«

Karin nickte. Sie war an den Einsatzfahrzeugen vorbeigekommen, als sie unter der Loschwitzer Brücke durchgelaufen war.

»Das zu dem Toten gehörende Kanu ist ebenfalls gefunden worden. Es hat sich an der Waldschlösschenbrücke verfangen«, setzte Sandra ihre Ausführungen fort, wurde aber von ihrer Kollegin unterbrochen.

»Was macht dich denn so sicher, dass Kanu und Leiche zusammengehören? Es könnten doch zwei voneinander unabhängige Ereignisse zu den in der Elbe treibenden Objekten geführt haben.« Karins Miene war ein Bild purer Skepsis.

»Irgendwie ist heute unser Glückstag«, sagte Sandra und ein freudloses Lächeln strafte ihre Worte lügen. »Zwei Mitglieder einer Fotoexkursion haben das Boot fotografiert. Einmal mit und einmal ohne Ruderer. Ich habe die Kameras der beiden einkassiert und mithilfe der Fotos und der in den Apparaten integrierten Uhren werde ich in der Lage sein, auf die Sekunde genau den Zeitpunkt des Mordes zu bestimmen.« Sie senkte die Stimme und beugte sich zu Karin. »Eigentlich macht sich unser Doc die ganze Mühe umsonst …« Einen Moment lang schien es, als wäre Sandra drauf und dran die Hand auszustrecken und Dr. Bretschneider an die Schulter zu fassen, doch nach einem kurzen Zögern schüttelte sie den Kopf. »Da wir noch nicht wissen, in welche Richtung sich diese Angelegenheit entwickelt, ist es besser, er bleibt unvoreingenommen«, flüsterte sie und schielte misstrauisch zu dem Forensiker. Sie hätte aber mit normaler Lautstärke sprechen können, Dr. Bretschneider war viel zu vertieft in seine Arbeit, als dass er seine Umwelt zur Kenntnis genommen hätte. Sandra kratzte an ihrer Nase und sprach in normaler Lautstärke weiter: »Der Tatort ist in diesem Fall ebenso eindeutig. Der Ruderer wurde unter dem ›Blauen Wunder‹ ermordet, das wird gleichfalls durch die Fotos dokumentiert.«

Karin beugte sich vorsichtig über den toten Körper und deutete stumm auf den Pfeil, der aus der rechten Körperseite ragte. »Wie du so zartfühlend angedeutet hast, ein Suizid können wir ausschließen. Aber ein Unfall wäre durchaus denkbar. Wenn jemand auf der Wiese neben der Brücke unvorsichtig mit Pfeil und Bogen herumspielt, kann ein Unglück schnell geschehen.«

»Ja, das müssen wir natürlich mit einkalkulieren. Und wenn dem so sein sollte, können wir nur hoffen, dass der Schütze vom Gewissen geplagt wird und bald an unsere Tür klopft.«

»Hübscher Traum. Aber Fortuna wird sich nicht extra für uns ihren Götterarsch aufreißen und uns den Täter auf einem Tablett präsentieren. Was haben wir noch?«

»Die Jungs von der Wasserschutzpolizei konnten anhand eines in dem Boot befindlichen Schildes den Besitzer des Kanus bestimmen. Die haben sich übrigens fast eingemacht, als ich … Moment, ich muss nachschauen …«, Sandra zog einen zerknitterten Zettel aus ihrer Hosentasche, »den Schlauchkanadier respektlos als Schiffchen bezeichnet habe. Der Schlauchkanadier«, sie betonte das Wort extra, »stammt von einem Bootsverleih. Ich habe Jan angerufen und ihm die Informationen der Wasserpolizisten weitergegeben. Er ist bereits auf dem Weg nach Pirna, wo das Kanu ausgeliehen wurde. So, das war’s fürs Erste. Mehr habe ich nicht anzubieten.«

»Ist die Identität des Opfers bekannt?«

»Fehlanzeige. Weder am Körper noch im Schlauchkanadier die geringste Spur, keine Brieftasche oder sonst was Brauchbares. Wenn der arme Kerl einen Brustbeutel oder eine Bauchtasche mit sich geführt hat, liegt das Objekt unserer Begierde jetzt auf dem Grund des Flusses.«

»Dann bleibt uns nichts als abzuwarten, ob Jan fündig wird.« Karin hob die Schultern. »Hier können wir ohnehin nichts tun. Wenn wir jetzt anfangen auf dem Gelände herumzutrampeln und dumme Fragen zu stellen, ziehen die Kollegen von der KTU einen Flunsch. Außerdem …«, sie schnüffelte misstrauisch, »ich befürchte, meine Heuschnupfensaison beginnt, da meide ich die Natur mal lieber. Hast du Beamte zur Befragung der Gaststättenbesucher und des Personals eingeteilt?«

»Hab ich.«

»Gut, dann fahren wir nach Hause, gönnen uns einen Eisbecher und wühlen uns anschließend durch die Fotos von den Kamerachips.«

Sandra grinste zustimmend und gemeinsam verließen die Beamtinnen den Fundort der Leiche.

Sonnabend, 17.15 Uhr

Am Ortseingangsschild von Graupa drosselte er das Tempo. Nicht, dass er vorher zu schnell gefahren wäre. Er achtete immer peinlich darauf, dass er die erlaubte Höchstgeschwindigkeit um maximal acht Kilometer pro Stunde überschritt. Rasantes Fahren hatte ihm noch nie etwas gegeben, es barg nur unnötige Risiken.

Seine Leidenschaft war die Jagd. Die Jagd auf die edelste Beute und den Gewinn, den er daraus zog.

An der gewohnten Stelle parkte er sein Motorrad. Auf dieser abgelegenen Wohngebietsstraße fiel es niemandem auf. Weder Dieben noch neugierigen Anwohnern. Er ließ seinen Blick begeistert über die Maschine gleiten. Heute konnte er es sich gestatten, mit ihr zu fahren und das Gefühl der grenzenlosen Freiheit auszuleben, das er im Sattel verspürte. Viel zu oft musste er das Auto nehmen, damit er seine Ausrüstung im Kofferraum verstauen konnte. Aber heute war er mit kleinem Gepäck unterwegs.

Er entnahm dem Topcase seiner Honda Wanderjacke und Rucksack. Stattdessen verstaute er den Integralhelm und seine Lederjacke darin. Im Wald fiel ein Wanderer mit schwarzer Lederjacke auf, in einem graugrünen Parka dagegen nicht.

Er schulterte seinen Rucksack und marschierte los. In den Wäldern, von denen Graupa, wie von einem grünen Ring umgeben war, kannte er abgelegene Orte, die auch an einem Sonnabend nicht von Ausflüglern frequentiert wurden.

Er lief schnell und nach dreißig Minuten verließ er den Wanderweg, um in den Wald einzudringen. Die fünfhundert Meter durchs Unterholz waren beschwerlich. Aber die Lichtung, die sich dann vor seinen Blicken auftat, war die Mühe wert. Hier war er vollkommen ungestört. Er hatte diesen einsamen Ort bei der Jagd entdeckt. Ein Reh hatte versucht, sich hier vor ihm zu verstecken. Doch er war ein guter Jäger, er hatte sich den Platz gemerkt, war am nächsten Tag zurückgekommen und hatte das Tier überrascht. Mit einem einzigen Schuss hatte er es erlegt.

Unwillkürlich schweiften seine Blicke zu dem Windbruch. Dort hatte er den Kadaver des Rehs zurückgelassen. Viel war nicht davon übrig. Die Aasfresser hatten ihren Hunger gestillt. Er jagte nicht um des Fleisches willen, es ging ihm nur um den einen einzigen Moment: Wenn der Tod an das Geschöpf herantrat, um es zu sich zu holen. Wenn die Augen ihr Licht verloren und das letzte Zucken der Muskeln vom Ende kündete. Das Sterben auszulösen und die Sekunden des endgültigen Abschieds mitzuerleben, verschafften ihm mehr Lust und Befriedigung als der Körper der schönsten Frau.

Das Reh hatte ihm einen dieser seltenen Augenblicke beschert. Zärtlich hatte er über das Fell gestreichelt und dabei vor Erregung gezittert, während die Atmung des Tieres immer leiser wurde, bis sie endgültig erstarb.

Die Gelegenheiten für einen finalen Treffer waren rar gesät, deshalb musste er in Form bleiben; jeder Fehlschuss bedeutete eine für immer verlorene Chance.

So wie vor einem Monat. Da hatte er ein Reh getroffen, leider nicht tödlich. Das Tier konnte entkommen und trotz langer Suche war es ihm nicht gelungen, das verwundete Wild aufzuspüren. Er hatte sich maßlos darüber geärgert. Das Reh hatte ihm das kostbare Erlebnis gestohlen und ein zusätzliches Risiko bedeutete es zudem. Wenn jemand den Kadaver fand, in dem der Bolzen steckte, könnte das Probleme verursachen.

Er schnallte den Rucksack ab und holte den Körper der Armbrust sowie Bogen, Pfeile und einen Inbusschlüssel hervor. Das Zusammensetzen der Waffe war wie ein Ritual für ihn. Geschickt montierte er den Bogen am Körper, dann stellte er den Fuß in den Spannbügel und spannte den Bogen.

Das Ende der Lichtung wurde von einem großen alten Baum dominiert. Bereits vor längerer Zeit hatte er mit dem Messer Zeichen in die Rinde des Baumes gegraben, die für einen Außenstehenden nicht zu deuten waren. Für ihn waren es Zielmarkierungen.

Die Entfernung betrug fünfzig Meter, optimal für einen Übungsschuss. Mit einem Büschel Gras prüfte er Windrichtung und -stärke.

Entspannt stand er da, strich spielerisch mit den Fingern über den Bolzen, bevor er ihn einlegte. Dann hob er die Waffe, löste die Sicherung, zielte und drückte gleich darauf ab. Der Pfeil zitterte genau an der Stelle im Baum, die er anvisiert hatte. Drei weitere Schüsse gab er ab, alle mit demselben Ergebnis.

Zufrieden mit sich, zerlegte er die Armbrust wieder in ihre Teile, sammelte die verschossenen Bolzen ein und machte sich auf den Rückweg.

Ehe er die Lichtung verließ, blickte er noch einmal zu den Überresten des Rehs. Ein verlangender Seufzer hob seine Brust. Tief in ihm wuchs die Gier. Lange würde er es nicht mehr aushalten, er brauchte den Kick erneut, wollte wieder das Sterben in den Augen eines Opfers sehen und sich daran berauschen.

Am ›Blauen Wunder‹ war ihm dieser Augenblick versagt geblieben. Der Detektiv hatte erstaunt die Augen aufgerissen, die Hände um den Bolzen gekrampft und war in den Fluss gekippt, noch bevor er tot war. Selbstsüchtig hatte er die Schönheit des Todes mit sich genommen und nicht mit ihm geteilt.

Die ahnungslosen Gesichter der zwei Kommissarinnen hatten ihn nur unzureichend für diesen Verlust entschädigt. Am Tatort hatte er sie leider nicht beobachten können, zu weiträumig war das Gelände abgesperrt. Er sah sie erst, als sie unter den flatternden Bändern zurück in seine Welt krochen. Sie hatten keine Spuren entdeckt. Und das würde so bleiben. Er war ein guter Jäger. Der Beste.

Unterschätzen durfte er sie jedoch nicht. Die Informationen, die er über die Kommissarinnen eingeholt hatte, sprachen eine eindringliche Sprache: Beide konnten ihm gefährlich werden. Von jetzt an behielt er sie gut im Auge. Vielleicht, mit etwas Glück …

Aber das war ein Wunschtraum.

Sonntag, 10. April, 04.05 Uhr

Voll Panik musste sie mit ansehen, wie die tanzenden Lichter wieder hinter den Bäumen zu verschwinden drohten. Ihre Angst steigerte sich ins Unermessliche und erreichte einen Punkt, an dem es ihr möglich wurde, aus der Blockade auszubrechen, die ihren Körper gefangen hielt. Jetzt flogen die Schreie von ihren Lippen und zerrissen die Stille der Nacht. In ihrer abgrundtiefen Verzweiflung bäumte sie sich auf und begann wild und hemmungslos um sich zu schlagen. Sie spürte, wie ihre Fäuste weiches Fleisch trafen und ein Ruf des Schmerzes drang in ihr Bewusstsein …

Erstaunt bemerkte sie, wie Bäume und Sträucher ausgeblendet wurden und stattdessen weiße Wände vor ihren Augen erschienen. Die sie bisher umgebende Dunkelheit wich einem gedämmten Licht. Sie lag nicht mehr auf feuchter Erde, sondern in einem Bett und vor ihr stand eine junge Frau, die sich mit schmerzvoll verzogenem Gesicht die linke Brust rieb.

Oh Gott, ich hatte einen Albtraum! Die Erkenntnis half ihr sich zu entspannen und sie ließ sich zurück in die Kissen sinken.

Nur wie kam es dazu? Der Traum war so real gewesen. Sie konnte immer noch den dumpfen Boden, die glitschigen Blätter und die kratzenden Zweige des Strauches spüren. Es gelang ihr nur selten, sich an den Inhalt eines Traumes zu erinnern und noch nie in ihrem Leben hatte sie derart intensiv geträumt. Sie schob diese Gedanken beiseite, nur um sofort vor das nächste Problem gestellt zu werden. Wo war sie überhaupt?

Wieder kroch Angst in ihr hoch und ihre Blicke hetzten durch den Raum. An der Wand ihr gegenüber hing ein Fernseher. Neben ihrem Bett befand sich ein schwenkbarer Tisch und in ihrer Armbeuge steckte eine Kanüle. Ihre Augen folgten dem Schlauch, an dem die Kanüle befestigt war, bis zu einem Infusionsbeutel, aus dem eine farblose Flüssigkeit in ihre Vene tropfte. Verwirrt realisierte sie, dass sie sich in einem Krankenhaus befinden musste.

»Hatte ich einen Unfall?« Sie erschrak vor ihrer eigenen Stimme, die kratzig und fremd klang. Furchtsam suchten ihre Augen den Mund der jungen Schwester.

Deren schmerzvolle Miene verwandelte sich in tiefes Mitgefühl. Zart strich sie ihr über den Arm. »Der Doktor wird morgen mit Ihnen sprechen.« Dann lächelte sie. »Er hat auch gesagt, dass Sie wieder ganz gesund werden.«

Sie schaute die Schwester dankbar an, bis ihr bewusst wurde, was sie angerichtet hatte. »Es tut mir leid. Tut es sehr weh?«

»Halb so wild. Nichts was nicht nach einer Woche Behandlung mit Hepathrombin-Gel wieder in Ordnung kommt.«

Die junge Schwester trat an das Bett und mit den Worten »das kann ich jetzt entfernen« zog sie die Nadel aus ihrer Armbeuge und klebte ein Pflaster auf die kleine Wunde. »Hier steht Wasser und ein Becher«, sie zeigte zu der kleinen Tischplatte. Sie sollen ausreichend trinken, hat der Arzt gesagt. Wenn Sie etwas benötigen oder Sie sich unwohl fühlen, drücken Sie einfach auf diesen Knopf.« Der Finger wies auf einen roten Druckknopf, der an einem Kabel neben ihrem Kissen baumelte. »Ich hoffe, dass die bösen Träume Sie für den Rest der Nacht in Frieden lassen.«

Als sie sah, dass die Schwester das Licht löschen wollte, hob sie bittend die Hand. Der Arm der jungen Frau stoppte mitten in der Bewegung, sie lächelte verständnisvoll, nickte und verließ den Raum.

Sie fühlte sich müde, legte sich auf die Seite und versuchte zu schlafen. Morgen war ein neuer Tag, er würde Antworten auf all ihre Fragen liefern. Doch sie fand keine Ruhe. Auch als sie sich nach langer Zeit auf die andere Seite drehte, führte sie das nicht in Morpheus Arme. Zusätzlich belastete sie ein dringendes Bedürfnis. Bevor das nicht geklärt ist, kann ich nicht einschlafen, beschloss sie und richtete sich im Bett auf. Nach kurzem Zögern schlug sie die Bettdecke zurück und schwang vorsichtig ihre Beine über den Bettrand. Abwartend blieb sie sitzen, da sich kein Schwindelgefühl einstellte, wurde sie mutiger und erhob sich. Sie fühlte sich schwach und bereit sofort zuzugreifen, ließ sie ihre Hand als Rettungsanker in ständiger Nähe der Tischplatte schweben. Ihren Mut bündelnd löste sie sich nach ein paar Minuten von dem sicheren Halt und langsam, immer darauf bedacht in der Nähe einer Stütze zu bleiben, tappte sie in Richtung Toilette. Als sie ihr Ziel erreicht hatte, bemerkte sie erfreut, dass ihre Kräfte langsam zurückkehrten. Sie erledigte ihr Geschäft und wusch sich anschließend gründlich die Hände. Als ihr Blick in den Spiegel fiel, zuckte sie zurück. Auf der Stirn klebte ein großes Pflaster und im Gesicht bemerkte sie mehrere Hämatome. Ein Auge war komplett zugeschwollen. Zaghaft berührte sie die verletzten Stellen mit dem Finger. Mein Gott, es ist schlimmer als ich befürchtet habe, schoss es ihr durch den Kopf. Ich bin sicher gegen etwas geprallt. Doch sie wollte sich ihren Kopf jetzt nicht zermartern. Sie schloss die Badtür hinter sich und lief zurück zum Bett. Wie die Schwester es vorhergesehen hatte, begann sie der Durst zu quälen. Sie goss sich Wasser in den Becher und trank mit gierigen Schlucken. Dabei ging sie zum Fenster und spähte hinaus. Außer den Lichtern in den anderen Gebäuden und dem Schein der Wegbeleuchtung konnte sie nicht viel erkennen.

Den Becher leerend, begann sie ihre Situation zu analysieren, doch die Überlegungen verliefen im Sand. Es gab zu viele Unbekannte in ihrer Gleichung. Sie hätte die Schwester fragen sollen, in welchem Krankenhaus sie sich überhaupt befand, wie sie hierhergekommen war und wo der Unfall sich ereignet hatte.

Plötzlich stutzte sie. Hatte sie überhaupt einen Unfall? Die Schwester hatte ihre Frage nicht beantwortet. Grübelnd schlurfte sie die wenigen Schritte zurück zum Bett, dabei stahl sich eine ganz neue Frage in ihr Gehirn. Dieses unerwartete Problem traf sie wie ein Schlag und verbannte alle bisher aufgetretenen Fragen in die Bedeutungslosigkeit. Sie geriet ins Wanken und schaffte es gerade noch bis zum Bett. Völlig aufgelöst sank sie in die Kissen, starrte an die Decke und flüsterte: »Wer bin ich?«

Sonntag, 09.15 Uhr

»Einen schönen Sonntagmorgen wünsche ich den Damen.« Zeitgleich mit Karin und Sandra betrat Kriminalrat Haupt das Beratungszimmer. Obwohl er versuchte leise zu sprechen, rollte seine voluminöse Bassstimme wie ein mittelstarkes Gewitter durch den Raum. Er wandte sich in Karins Richtung, holte Luft, doch das Erscheinen von Kriminalkommissar Jan Klingenberg schnitt ihm das Wort ab. Haupt schien nicht böse über die Unterbrechung zu sein. Als sich alle gesetzt hatten, eröffnete er die Versammlung: »So, da bin ich mal gespannt, wer uns dieses herrliche Frühlingswetter verdirbt.«

»So ähnlich habe ich das gestern schon gehört«, murmelte Karin, dann legte sie los: »Berichte von der KTU und der Gerichtsmedizin liegen uns noch nicht vor. Ich fasse mal zusammen, was wir bis jetzt haben.« Dann umriss sie in knappen Worten die Situation, die sie am gestrigen Nachmittag am Fundort der Leiche vorgefunden hatten und packte anschließend, um ihren Worten mehr Gewicht zu verleihen, einen Stapel Fotos auf den Tisch.

»Sandra konnte anhand der Bilder, die von den beiden Fotoenthusiasten geschossen wurden, die Tatzeit und den Tatort exakt bestimmen. Der Mann im Schlauchkanadier paddelte genau um dreizehn Uhr einunddreißig und fünfzehn Sekunden unter das ›Blaue Wunder‹ und das Boot trieb ohne ihn um dreizehn Uhr einunddreißig und siebenundvierzig Sekunden auf der anderen Seite heraus.«

»Gehen die Uhren in Digitalkameras auf die Sekunde genau?« Jan blickte Karin und Sandra abwechselnd ungläubig an.

»In den Apparaten der beiden Fotografen ist keine Funkuhr eingebaut, wenn du das meinst«, griff Sandra seine Frage auf, »aber in den Metadaten einer Fotografie wird das Datum und die Uhrzeit einer Aufnahme abgelegt. Und durch einen Abgleich beider Kameras konnte ich die Tatzeit ziemlich genau ermitteln. Wichtig für uns ist dabei nicht unbedingt, ob das Boot dreizehn Uhr einunddreißig oder zweiunddreißig unter die Brücke schwamm, sondern wie lange es für die Durchfahrt benötigte. Dieser Wert beträgt exakt zweiunddreißig Sekunden.«

»Ganz genau«, fiel ihr Karin ins Wort. »Und diese Zeitangabe ist entscheidend. Zweiunddreißig Sekunden sind echt zu kurz, um anzulegen, auszusteigen und dem Boot wieder einen Schubs zu geben. Somit können wir von der Tatsache ausgehen, dass vom Ufer aus auf den Ruderer geschossen wurde.«

»Oder von einem anderen Boot«, gab Jan zu bedenken.

»Keine Chance. Die Fotografen hatten beide einen sehr aktiven Finger, somit haben sie unbewusst den kompletten Schiffsverkehr auf der Elbe protokolliert. Zur Tatzeit war kein anderes Wasserfahrzeug in Sicht- geschweige denn in Schussweite.« Sandra lehnte sich lächelnd zurück und rieb sich die Hände. »Endlich mal ein Mord, bei dem die Tatortfotografen zur richtigen Zeit am Ort des Geschehens waren. Es ist nur schade, dass sie nicht gleich einen Schnappschuss des Mörders mitgeliefert haben.«

»Bedauerlich ist ebenfalls, dass wir einen Unfall ausschließen müssen. Der junge Fotograf«, Karin schielte schnell auf ein vor ihr liegendes Blatt Papier, »Alexander heißt er, hat in seinem Eifer ausreichend viele Bilder vom Loschwitzer Elbufer geknipst und da ist keine Spur von einem trainierenden Bogenschützen zu sehen.« Sie hob die Schultern. »Folglich ist es Mord, denn so doof wird wohl keiner sein und mal eben aus Spaß einen Pfeil auf die Elbe hinausschießen, wenn da gerade jemand vorüberpaddelt. Die Befragung der Leute, die sich in den umliegenden Gaststätten aufgehalten haben, hat übrigens nichts gebracht. Keiner hat eine verdächtige Person in der Nähe der Brücke bemerkt.« Sie machte es Sandra nach, lehnte sich im Stuhl zurück und blickte Jan auffordernd an. »Haben deine Nachfragen beim Bootsverleih etwas gebracht?«

Der Angesprochene nickte enthusiastisch. »Der Schlauchkanadier wurde von einem Falk Pinkert gemietet, und zwar neun Uhr fünfundvierzig. Der junge Mann in der Ausleihstation war sehr mitteilsam. So musste ich nicht erst groß nachfragen, um an Informationen zu gelangen. Pinkert ist in dem Bootsverleih kein Unbekannter. Bei schönem Wetter leiht er sich öfter einen Kanadier und paddelt bis Dresden Johannstadt. Laut Aussage des Burschen vom Bootsverleih war Pinkert keiner von den Ruderern, welche die Distanz auf Zeit zurücklegen. Er gehörte eher in die Fraktion der gemütlichen Wasserwanderer und hielt an, um sich in Ruhe umzuschauen, wenn es etwas Interessantes zu sehen gab. Das deckt sich mit der von euch ermittelten Zeit. Pinkert hat demnach dreieinhalb Stunden für den Weg benötigt.« Jan blätterte in den wenigen Seiten Papier, die vor ihm lagen, und tippte dann mit dem Finger auf den Ausdruck einer Internetseite. »Hier habe ich eine Beschreibung für die Wassertour von Pirna nach Dresden. Die Dauer ist mit drei Stunden und zwanzig Minuten angegeben. Es passt also.« Er unterstrich seine Worte mit einem zufriedenen Nicken.

Während seiner Ausführungen musterte Karin ihren jüngeren Kollegen nachdenklich. Sie wurde traurig, wenn sie daran dachte, welche Veränderung sich im vergangenen Vierteljahr in Jan vollzogen hatte. Ihr bisher so unbeschwerter Mitarbeiter hatte sein jungenhaftes Lächeln verloren und präsentierte stattdessen der Welt ein eher sarkastisches Gesicht. Obwohl er gerade einunddreißig Jahre alt geworden war, hatte er bereits erfahren müssen, dass man einen hohen Preis bezahlt, wenn man diesen Job ausübt. Seine Freundin hatte die ständigen Überstunden und Wochenendeinsätze nicht mehr mittragen wollen und in letzter Konsequenz die Beziehung mit Jan beendet.

Karin lächelte düster. Sie kannte das sehr gut. Auch ihre eigene Ehe war an dem Beruf gescheitert. Wenn sie jedoch ehrlich zu sich war, musste sie zugeben, dass sich ihre Beziehung schon Jahre vorher festgefahren hatte. Bei Jan hingegen war das anders, er hatte seine Claudia sehr geliebt und die Enttäuschung hatte tiefe Spuren in seinem Wesen hinterlassen. Das wurde Karin gerade eben jetzt eindringlich vor Augen geführt. Jan stürzte sich verbissen in seine Arbeit, um Vergessen zu finden. Dass diese Hoffnung vergeblich war, wusste Karin. Der Schmerz wegen einer verlorenen und die Sehnsucht nach einer neuen Liebe würden bleiben.

Bevor sie noch deprimierter wurde, brach Karin an dieser Stelle ihren melancholischen Gedankengang ab und konzentrierte sich lieber wieder auf Jans Ausführungen. Der Inhalt seiner nächsten Worte war so bedeutungsvoll, dass ihr das leichtfiel und sie sich vor Anspannung kerzengerade setzte.

»Es war einfach, über den ermordeten Herrn Pinkert weitere Informationen zu erlangen. Durch sein Gewerbe als Privatdetektiv haben wir ein umfangreiches Dossier in unserer Datenbank.« Jan war sich des Paukenschlags, den er auslöste, durchaus bewusst und entsprechend groß war die Genugtuung, die aus seinen Augen leuchtete. Er öffnete den Mund, um mit seinen Ausführungen fortzufahren, doch der erstaunte Ausruf von Sandra stoppte ihn.

»Na das ist ja ein Ding! Da werden wir uns vor lauter Tatverdächtigen nicht mehr retten können. Jeder Ehemann, der von Pinkert beim Fremdgehen entlarvt wurde, kann der Täter sein.«

»Hast du die Adressen für uns?« Karin hielt es nicht im Stuhl und sie trat hinter Jan.

Der nickte bedächtig. »Immer schön cool bleiben, Chefin. Es gibt nur eine Anschrift. Pinkert bewohnte eine Doppelhaushälfte in Strehlen und dort befindet sich auch seine Geschäftsadresse. Ich war gestern Abend noch da und habe geklingelt. Zu meiner Beruhigung hat niemand geöffnet«, Jan gönnte sich eine kleine Pause und grinste zu Karin hoch. »Erleichtert war ich, weil Pinkert allein dort lebt und die Anwesenheit anderer Personen zusätzliche Arbeit für mich bedeutet hätte. Ich habe vor und hinter dem Haus eine Inspektionsrunde gedreht und als ich nichts Verdächtiges bemerkt habe, die Haustür versiegelt und beim zuständigen Revier Bescheid gesagt und gebeten, dass die Jungs ein Auge auf das Haus haben sollen.«

Karin entspannte sich auf der Stelle. »Das hast du fein gemacht. Wenn es eine Auszeichnung für gute Ermittlungsarbeit gäbe, einen ›Goldenen Maigret‹ zum Beispiel, würde ich dir den jetzt anheften.« Sie drehte eine Runde im Raum, um ihre Gedanken zu sortieren, stellte sich dann hinter ihren Stuhl und umfasste die Lehne. »Ich schlage vor, dass wir uns aufteilen. Ich fahre auf dem schnellsten Weg zu Pinkerts Haus und warte dort auf die Kollegen von der KTU. Sandra besucht Dr. Bretschneider in der Gerichtsmedizin. Eventuell kann er uns Näheres über die Waffe sagen. Und Jan ermittelt die Hinterbliebenen von Pinkert.«

»Ist bereits alles erledigt.« Jan fischte ein Blatt aus seinem kleinen Stapel. »Pinkert war solo, war auch nie verheiratet. Seine Eltern leben in Dresden, und zwar in der Johannstadt. Dann gibt es noch eine Tante, die Schwester seiner Mutter, und die war bei ihm angestellt. Sie wohnt in Niedersedlitz. Zu der würde ich zuerst fahren wollen.«

»Zweckmäßig wäre das schon, aber ich denke der Anstand gebietet uns, die Eltern des Toten als Erste zu unterrichten. Jan, du hast die Wahl: Gerichtsmedizin oder Todesbote?« Karin hatte sich wieder gesetzt, blickte mit einem verhaltenen Lächeln in Jans Richtung und blies eine Haarsträhne von den Augen. Sie wusste, dass sich Jan um keinen Preis freiwillig dem gerichtsmedizinischen Institut nähern würde, da er mit schöner Regelmäßigkeit bei einer Obduktion ohnmächtig wurde. Dieser Umstand sorgte immer wieder für Heiterkeit bei den Mitgliedern der Mordkommission. Die Alternative war gleichfalls kein Zuckerschlecken. Eltern die Nachricht von der Ermordung ihres Sohnes zu überbringen, war eine schwere und deprimierende Aufgabe. Bisher hatte dies meist Steffen Dahlmann übernommen. Karin, die für sich bereits beschlossen hatte, dass sie die Rollen tauschen und Jan zur Wohnung des Detektivs schicken würde, seufzte tief. Steffens Tod hatte eine Lücke gerissen.

An dieser Stelle meldete sich Kriminalrat Haupt zu Wort, der sich während der gesamten Besprechung in Schweigen gehüllt hatte. »Ich bin mit der Herangehensweise prinzipiell einverstanden, aber eine Änderung wird es geben: Karin wird einem anderen Fall zugeteilt. Die Ermittlergruppe wird aus Sandra, Jan und Heidi, die ab Mitte nächster Woche wieder da ist, bestehen. Als Ermittlungsleiterin bestimme ich Sandra.«

Haupts Worte bewirkten, dass Jan Klingenberg die Kinnlade herunterklappte, Sandra ihre Augen erstaunt aufriss und Karin sich in ihrem Stuhl zurücklehnte und nervös mit ihren Fingern auf die Lehne trommelte. Sie war die ranghöchste Beamtin und niemand im Raum wäre auf den Gedanken gekommen, dass nicht sie die Untersuchungen leiten würde. Haupt war sich der Tatsache sehr wohl bewusst, dass er seine Entscheidung bereits zum Beginn der Sitzung hätte bekannt geben müssen. Da er sich aber an drei Fingern abzählen konnte, wie Karin auf seine Verlautbarung reagieren würde, hatte er sie in weiser Voraussicht bis zum Schluss aufgespart. Dass er mit seiner Einschätzung richtig gelegen hatte, bewies Karins trotziges Gesicht und das ärgerliche Funkeln in ihren Augen.

»Als Namen für die Ermittlungsgruppe schlage ich ›Blaues Wunder‹ vor. Das klingt unverfänglich und ist eindeutig«, meinte er mit einem bemühten Lächeln, welches bei den Anwesenden nicht auf Zustimmung stieß. »Die Neuaufteilung der Aufgaben überlasse ich ganz dir«, sagte Haupt, unbeirrt von dem betretenen Schweigen, zu Sandra. Dann schob er seinen Stuhl zurück, erhob sich und warf Karin einen auffordernden Blick zu. »Würdest du mich bitte in mein Büro begleiten.«

Wie ferngesteuert stand Karin auf und trottete hinter Haupts breiter Gestalt den Gang entlang. Sie war ratlos. In den vergangenen Wochen hatte sie sich kein größeres Dienstvergehen zuschulden kommen lassen, welches Grundlage für Haupts Entscheidung sein könnte. Dass ihr Chef sie von dem Fall abzog, kam einer Suspendierung gleich. Plötzlich schoss ein Gedanke durch ihren Kopf, der ihr einen Schweißausbruch bescherte. Sollte Haupt etwa von ihr und Sandra Wind bekommen haben? Karin wollte sich die schrecklichen Folgen, wenn in der Polizeidirektion bekannt würde, dass sie und Sandra ein Liebespaar sind, lieber nicht ausmalen. Die gemeinsame Zeit in einer Abteilung wäre vorbei. Eine von ihnen würde versetzt werden. An dieser Stelle ihrer Überlegungen beschloss Karin, diese grauenvolle Konsequenz nicht an sich herankommen zu lassen. Stattdessen zwang sie sich zur Ruhe und versuchte unschuldig auszusehen.