|3| DAVID SCHOENBAUM

Die Violine

Eine Kulturgeschichte
des vielseitigsten Instruments der Welt

Aus dem Amerikanischen
von Angelika Legde

|4| Für Yael, Natan, Charlotte und Louisa

Hinweise zur Zitierfähigkeit

Diese epub-Ausgabe ist zitierfähig. Um dies zu erreichen, ist jeweils der Beginn einer Seite mit |xx| gekennzeichnet. Bei Wörtern, die von einer zur nächsten Seite getrennt wurden, steht die Seitenzahl vor dem im epub zusammengeschriebenen Wort. Ebenso steht sie im Anhang vor einer durch den Seitenumbruch getrennten URL.

Aufgrund der unterschiedlichen technischen Gestaltungsmöglichkeiten von eBook und gedrucktem Buch ergeben sich für Abbildungen, Notenbeispiele, Tabellen und ähnliche Elemente geringfügige Differenzen bei der Seitenzuordnung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

eBook-Version 2016

© 2015 Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel

Gemeinschaftsausgabe der Verlage Bärenreiter, Kassel, und J. B. Metzler, Stuttgart und Weimar

Umschlaggestaltung: +CHRISTOWZIK SCHEUCH DESIGN

unter Verwendung eines Fotos von akg-images/De Agostini Picture Library

Lektorat: Sven Hiemke, Hamburg

Kolektorat und Korrektur: Daniel Lettgen, Köln

ISBN 978-3-7618-7039-6

DBV 120 - 08

www.baerenreiter.com raute www.metzlerverlag.de

eBook-Produktion: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

|7| EINLEITUNG
Das weltumspannende Instrument

Am 5. Oktober 1962 tauchte in der Londoner Wochenzeitschrift The Spectator zum ersten Mal in der englischsprachigen Literatur der Begriff »Globalisierung« auf.1 Wer sich für die Violine interessierte, wusste allerdings, dass es dieses Phänomen spätestens seit der Mitte des 16. Jahrhunderts gab.2 Schon 1768 äußerte Jean-Jaques Rousseau in seinem Dictionnaire de musique über die Violine: »Es gibt kein Instrument, das über ein solch reiches und umfassendes Ausdrucksvermögen verfügt.«3 Zeitgenossen und Nachwelt hatten mit dem urteilsfreudigen und streitbaren Rousseau durchaus ihre Schwierigkeiten, doch an dieser Einschätzung gibt es bis heute nichts auszusetzen.

Am Anfang seiner Entwicklung waren die Bauweise und auch der Name des Instruments noch unklar: In Polen als »skrzypce« bekannt, wurde es in Wales »ffidil«, in Litauen »smuikas« und auf Java »biola« genannt. In Transsilvanien baute man es mit drei Saiten, in Südwest-Moldawien mit sieben. Im Südwesten Norwegens, der Heimat der »hardingfele«, wurden vier oder fünf Saiten hinzugefügt, die beim Streichen der vier Hauptsaiten im |8| Gleichklang mitschwangen.4 Portugiesische Händler brachten das Instrument nach Angola und Sumatra, Kelten verbreiteten es vom schottischen Hochland bis zu den Appalachen, und auch bei den Cajuns von Neufundland bis Louisiana war es sehr beliebt. »Im Iran«, so erklärt die englischsprachige Enzyklopädie Grove’s Dictionary of Music, »ist die Violine das einzige westliche Instrument, das ohne Bedenken zur traditionellen Musik zugelassen wird, weil es möglich ist, das gesamte kamanche Repertoire darauf zu spielen.« Schon 1683 wurde berichtet, dass sich kein ungarischer Mann von Stand ohne einen Zigeunergeiger sehen ließ,5 und im frühen 18. Jahrhundert begann für die Waraos im Orinoko Delta von Venezuela die Liebesgeschichte mit der Violine, als sie entdeckten, dass das von ihnen »sekeseke« genannte Instrument bei Fruchtbarkeitsfeiern ebenso einsetzbar war wie auf geselligen Zusammenkünften des Stammes.6

Abhängig vom Wo und Wann konnte die Geige mit Trommeln, Trompeten, Gongs, Dudelsäcken, Mandolinen, Kontrabässen, Akkordeons, Klavieren, Harfen und sogar mit Plattenspielern ergänzt werden. Doch gemessen an dem, was da kommen würde, gewannen ihr vielfältiger Gebrauch und ihre Verbreitung gerade erst an Gestalt.

Paradoxerweise kann niemand genau sagen, wann und wo die Geschichte der Violine beginnt. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts war man sich darüber einig, dass sie irgendwann zwischen Columbus’ erster Reise im Jahr 1492 und Shakespeares Geburt im Jahr 1564 auf der Weltbühne erschien. Dann scheint sie sich – ebenso wie die Kartoffel – schnell verbreitet zu haben, zuerst über ganz Europa, dann – nachdem Europa selbst sich ausbreitete – darüber hinaus. Doch während die Kartoffel eindeutig ein Produkt der Neuen Welt war, tauchte die Violine gleichsam aus dem Nichts auf.

Jean Benjamin de Laborde (1734–1794), ein Freund Rameaus und Hofkomponist von Louis XV., war der Erste, der auf moderne Weise nach den Ursprüngen der Violine suchte, als er an seinem vierbändigen Essai sur la musique ancienne et moderne arbeitete. Er bat Kollegen und Partner, ihre Archive zu durchforsten, und wartete dann geduldig – und vergeblich – ein ganzes Jahr. Am Ende fügte er sich seinem Verleger und ließ sein Buch 1780 ohne eine Antwort erscheinen. »Über etwas so wenig zu wissen, bedeutet nahezu, gar nichts zu wissen«,7 gab er wehmütig zu. Die Violine war keine Erfindung, sondern entstand durch »ein Wachsen, ein Überleben des Stärkeren«, erklärte ein Jahrhundert später der britische Pfarrer und Geigenfreund H. R. Haweis.8

Spätestens seit dem 19. Jahrhundert wurden Prototypen, Verwandte und Vorläufer der Violine in Museen und Privatsammlungen von den großen europäischen Hauptstädten bis hin zum National Music Museum in Vermillion, South Dakota, ausgestellt. Ihre handwerkliche Qualität erstreckte sich von »herzzerreißend wunderbar« bis hin zu »das kann nicht ernst gemeint sein«; mal galt ihre Echtheit als bewiesen, mal war sie Gegenstand von Mutmaßungen |9| und Mythen. An der Schwelle des 21. Jahrhunderts wurden Spuren ihres Stammbaums von England bis Polen und gestalterische Verwandtschaften von den Alpen bis zum Po-Tal nachgewiesen. Doch eine eindeutige Beweiskette für ihre Entwicklung ist nach wie vor schwer zu erstellen.

Ein Trommler und zwei Geiger spielen karnatische Musik, Südindien, 2007

Wo auch immer ihr Ursprung gewesen sein mag: Der Einfluss der Violine auf die westliche Kultur war auf eine gewisse Art ebenso radikal wie der von Druckerpresse und Dampfmaschine. Geigenbauer und -spieler, Komponisten und Sammler hatten sie innerhalb weniger Generationen als einen der großen Durchbrüche in der Kulturgeschichte, sogar der Technologie erkannt. Zum Ende des 17. Jahrhunderts hatte die Violine die Richtung im Instrumentenbau und die Art des Musizierens beeinflusst und eine Vielzahl musikalischer Formen und Ensembles hinterlassen – Sinfonien, Konzerte und Sonaten, Orchester und Streichquartette –, die die ganze Welt umspannte und die musikalische Landschaft bis heute prägt.

Ihre Schöpfer, wer auch immer sie gewesen sein mögen, hatten das, was Sir James Beament »die außerordentlichen Eigenschaften von Bäumen und Tierabfall, von Gehör und musikalischen Menschen« nannte, offensichtlich genutzt, es gut miteinander vermischt und einen Sieger geschaffen. Beament, Insektenphysiologe von Weltruf, Fellow der Royal Society, Amateur-Kontrabassspieler und autodidaktischer Akustiker mit Geigenbauer-Ehefrau und -Sohn, staunte über ein »unmögliches Ding, das nicht bedeutend verändert wurde, seit es sich durch Ausprobieren entwickelte«.

|10|

Władysław Trebunia in traditioneller Kleidung in Żywiec, Polen, 2006

Seine hilfreiche Einführung entmystifiziert die grundlegenden Materialien für den Geigenbau, Fichte und Ahorn, die schwingenden Saiten, die die Violine zum Klingen bringen, den Lack, der ihr Holz schützt, den Leim, der sie zusammenhält, sowie die Prozesse, die sie in den Köpfen von Spielern und Zuhörern anregt. Was übrig bleibt, ist, wie bei ihren Vorgängern von der Mongolei bis Ägypten, ein mit Luft gefüllter Holzkasten, dessen Sinn darin besteht, eine vibrierende Saite zu verstärken. Doch kein Kasten zuvor hatte sich als derart anpassungsfähig und begehrenswert für so viele Menschen erwiesen.9

Fünf Jahrhunderte nach ihrem Debüt ist die Violine eines der wenigen Objekte des Barock, das immer noch in täglichem Gebrauch ist.10 1983 geigte Don Haines, Musikprofessor an der Universität von Iowa, in wallendem Gewand und begleitet von der Blaskapelle der Universität während eines Football-Matchs Vittorio Montis unverwüstlichen Csárdás vor einer jubelnden Menge von fast 50 000 Zuschauern. 2009 stattete Glenn Donnellan, ein Geiger der National Symphony in Washington, einen Baseballschläger, Modell Derek Jeter, |11| mit Saiten, Steg, Wirbeln und elektronischer Verstärkung aus, und fiedelte The Star-Spangled Banner vor einer begeisterten Menge im Stadion und You Tube-Zuschauern auf der ganzen Welt.11

Das neue Instrument verband Gestaltung und Materialien, Wissenschaft, Kunst und Handwerk in einer dem Anschein nach im Himmel geschlossenen Ehe. Ebenso wie ein Baby konnte die Violine buchstäblich überall »gemacht« werden. Anders, als es die Legende will, schuf zwar der jüngere Giuseppe Guarneri (1698–1744), bekannt als »del Gesù«, im Gefängnis keine Violinen. Geoffrey Allison aber, ein Sanitäter der US-Armee, der Holz in den Irak mitnahm und weiteres direkt vom Schlachtfeld aus bestellte, baute 2005/06 während eines 13-monatigen Aufenthalts nebenher sechs Violinen.12 Obwohl empirische Erfahrung Ahorn und Fichte als die besten Rohmaterialien für den Geigenbau ausweist, kamen zuweilen Walfischknochen, Streichhölzer und Aluminium ebenso in Frage. Clair Cline, ein amerikanischer Flieger, der im Zweiten Weltkrieg über Holland abgeschossen worden war und in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet, baute eine Violine aus Bettlatten.13

Die Geige selbst war tragbar, robust und erstaunlich zäh. Ein Flugzeugabsturz im Jahr 1949 allerdings, der die Geigerin Ginette Neveu das Leben kostete, brachte auch ihre Stradivari zum Schweigen; ein Unfall im Jahr 1953, bei dem der Geiger Jacques Thibaud ums Leben kam, ließ auch sein Instrument verstummen; doch im selben Jahr überlebte die del Gesù von 1743, benannt nach dem britischen Geiger John Carrodus, einen Autounfall in New Mexico, bei dem ihr Besitzer, der aus Österreich stammende Amerikaner Ossy Renardy ums Leben kam.

Die Stradivari von 1732, bekannt als »Red Diamond«, wäre vor der Küste Kaliforniens beinahe ertrunken, als sie von einem überraschenden Sturm auf das Meer gefegt wurde, während ihr Besitzer Sascha Jacobsen, damals Konzertmeister der Los Angeles Philharmonic, mit ihr auf dem Heimweg war. Sie wurde am folgenden Tag drei Meilen weiter nördlich am Strand von einem musikbegeisterten Anwalt entdeckt, dessen Frau von dem Verlust im Radio gehört hatte. Beide brachten die vollgesogene Strad auf schnellstem Wege zu Hans Weisshaar, einem Schüler des legendären Restaurators Simone Fernando Sacconi und der einzige Weltklasse-Restaurator westlich von Chicago. Endlose Geduld und rund 700 Stunden Arbeit retteten die »Red Diamond« und machten auch Weisshaar zu einer Legende in seinem Fach.14

2008 rutschte der junge Deutsch-Amerikaner David Garrett im Londoner Barbican Centre auf einer Treppe aus und landete auf seiner Guadagnini von 1772. In diesem Fall wurde geschätzt, dass David Morris von John & Arthur Beare in London für eine Reparatur acht Monate und 60.000 englische Pfund brauchen würde. Doch trotz drei großer und mehrerer kleiner Risse gab es wenig Zweifel, dass die Guadagnini sich ebenfalls erholen würde.15

|12| Unabhängig von ihrem Erbauer erlaubt die bundlose Bauweise der Violine eine ungehinderte Bewegung über ein vieroktaviges Kontinuum von Tonhöhen. Vier in Quinten gestimmte Saiten bringen die diatonische Tonleiter auf vier Fingern unter und erleichtern die Bewegung von Saite zu Saite. Wölbungen und Zargen – »beträchtlich überentwickelt, wie es so viele Dinge in der Vergangenheit zweckmäßigerweise waren«, wie Beament anmerkt –,16 fangen den nach unten gerichteten Druck des Stegs auf. Bis 1840, dem Todesjahr von Paganini, hatten die Saitenspannungen ein Druckgewicht von 35 bis 44 Kilogramm erreicht. Dann verringerte es sich, erreichte aber immer noch 25 bis 30 Kilogramm, was dem Gewicht eines acht oder neun Jahre alten Kindes entspricht – auf einem Instrument, das einschließlich Wirbel, Steg, Saiten und Saitenhalter nur 450 bis 500 Gramm wiegt. Bei einem guten Instrument mit modernen Saiten und korrekter Ausrichtung seiner etwa 70 Teile zahlt sich dies in einem Ton aus, der so einschmeichelnd ist wie die Stimme des Gewissens oder die Schlange im Garten Eden und so komplex und individuell wie Wein, und der dennoch über großen Orchestern in so großen Räumen wie der Londoner Royal Albert Hall mit ihren 5226 Sitzplätzen tragfähig und gut hörbar ist.

Dazu kommt der Bogen: Lang, kurz, gerade oder in beiden Richtungen gekrümmt, erlaubt er eine Bandbreite von Farbe und Artikulation, die für Kirchen, Theater, höfische Unterhaltung, Salon, Kneipe und Bauerndorf gleichermaßen geeignet und nur durch die Fantasie von Komponisten und Interpreten begrenzt ist. Ein halbes Jahrhundert vor Johann Sebastian Bachs richtungsweisenden Solosonaten und Partiten zeigte der Virtuose und Komponist Heinrich Ignaz Franz Biber dem musikalischen Salzburg, wie mit Geige und Bogen Akkorde und sogar mehrere Stimmen in jeder denkbaren und undenkbaren Tonart bewältigt werden konnten. Ein Jahrhundert später zeigten Paganini und unzählige Nachfolger einem überwältigten Publikum von den Hebriden bis nach St. Petersburg, wie sowohl die linke als auch die rechte Hand Saiten zupfen und damit sogar die Effekte von Laute und Harfe kombinieren konnte.

Wütend über Bundestruppen, die ihn von einem Stück Land vertreiben wollten, das den Osage-Indianern vorbehalten war, schulterte Charles Ingall – der Vater von Laura Ingall Wilder – in den 1870er-Jahren seine Fiedel und empfing die Truppen mit einer mitreißenden Version von The Battle Cry of Freedom (Der Schlachtruf der Freiheit).17 Doch wäre seine Geige der Herausforderung ebenso gewachsen gewesen, hätte er sich für Gavotte, Walzer, Polka, Reel, Foxtrott, Mambo oder Raga entschieden. Eine Tonaufzeichnung des Broken Bed Blues18 der Kansas City Blues Strummers aus dem Jahr 1926 – Produkt einer afroamerikanischen Tradition, die bis in die Sklaverei zurückreicht – liefert immer noch einen überzeugenden Beweis dafür, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als sie von der europäischen Geigen-Schulweisheit erträumt werden.

|13|

Eine Mariachi-Band spielt in einem Restaurant in Zapata, Texas

Eine Violine konnte stehend oder sitzend, an guten und an schlechten Tagen, auf jedem Breiten- oder Längengrad, zu jeder Tageszeit, solo oder in Gruppen, von Königen oder Bauern, Künstlern oder Alleinunterhaltern, Amateuren oder Profis, Erwachsenen oder Kindern, Männern oder Frauen, amerikanischen Sklaven oder leibeigenen Russen gespielt werden. Rudolf Kolisch, Mitte des 20. Jahrhunderts ein Meister der Neuen Musik, hatte sich als Kind bei einem Unfall die linke Hand verletzt und spielte seitdem seitenverkehrt, d. h. mit der Geige in der rechten und dem Bogen in der linken Hand, ebenso Reinhard Goebel, Ende des 20. Jahrhunderts ein Meister der Alten Musik, der unter einem Karpaltunnelsyndrom litt.

Vor allem kann die Geige bis auf den heutigen Tag wie nichts sonst – mit Ausnahme der menschlichen Stimme – singen. »Ist es nicht seltsam, dass Schafdärme die Seele aus eines Menschen Leib ziehen können?«, bemerkt Shakespeares Benedick säuerlich während einer ausgedehnten Festlichkeit.19 »Wie die Töne einer Geige hebt sie süß, süß die Stimmung und schmeichelt unseren Ohren«, sagt Macheath in der Beggar’s Opera, dem Vorläufer der Dreigroschenoper, über das ewig Weibliche.20 Eines der berühmtesten Fotos des |14| 20. Jahrhunderts, Le Violon d’Ingres von Man Ray, zeigt einen nackten weiblichen Rücken mit aufgesetzten F-Löchern. Die Frau als Geige, die Geige als Frau – die Botschaft ist dieselbe: die Geige auf Flügeln des Gesanges.

Bereits 1540 wurden Violinen in einer Streichergruppe, die der englische König Henry VIII. zur Begleitung höfischer Tänze aus Italien mitgebracht hatte, professionell gespielt.21 1603 waren Geigen bei der Beerdigung von Queen Elizabeth I. zu hören.22 Vier Jahre später setzte Claudio Monteverdi, geboren in Cremona und der größte Komponist seiner Zeit, zum ersten Mal ein Trio von Viole da braccio – als Vertreter der Geigenfamilie – ein, um einen dramatischen Punkt in L’Orfeo, der ersten großen Oper, zu unterstreichen, an dem die Titelfigur singt: »Ne temer Déi ché sopra un’aurea cetra/Sol di corde soavi armo le dita.« (»Fürchte dich nicht, edler Gott, denn ich bewaffne meine Finger nur mit den süßen Saiten auf einer goldenen Leier.«) Plötzlich war die Violine, die bis zu diesem Zeitpunkt höchstens mit Begriffen wie »lebendig, populär, aber nur für billige Tanzmusik«23 in Verbindung gebracht wurde, der Schlüssel zu den Pforten der Hölle geworden. Bis zum Ende von Monteverdis Schaffen blieb sie eine feste Größe in seiner Orchestrierung, so wie in Il ritorno d’Ulisse in patria (1639/40), wo sie erneut die Siegerin ist, dieses Mal, wenn Odysseus mit seinem Bogen auf die Freier seiner Frau zielt.

Bis 1750 hatten die Geige und ihre Geschwister Bratsche und Cello alle Konkurrenten wie Gamben, Lauten und Leiern weitgehend auf Dachböden, in Museen und damit in die Vergessenheit getrieben, wo sie bis zur Neuentdeckung der Wiedergabe Alter Musik auf alten Instrumenten etwa 150 Jahre später verblieben. Schon zu Rousseaus’ Zeit reichte die Verbreitung der Violine, die zuerst nur nützlich, dann jedoch für jedes Ensemble außer einer Militärkapelle unverzichtbar war, weit über Europas Grenzen hinaus. Unterdessen bildeten in St. Petersburg zugewanderte Italiener Einheimische dafür aus, italienische Musik auf italienischen Geigen zu spielen, während Thomas Jefferson und sein Bruder Randolph das Instrument im kolonialen Virginia erlernten.24

Zu den Stammkunden des angesehenen Londoner Geigenbauers William Forster (1739–1808) gehörten laut Brian Harvey Offiziere ebenso wie Ärzte, Rechtsanwälte und Geistliche.25 Nicht von ungefähr ließ Patrick O’Brian, Autor einer Reihe hoch angesehener und akribisch recherchierter historischer Romane, die vor seinem Tod im Jahr 2000 20 Bände umfasste, seine Hauptfiguren Aubrey und Maturin ihre Instrumente und Duett-Noten mit an Bord nehmen, bevor sie Anker lichteten und Napoleon herausforderten.26

Doch was man gesät hatte, erntete man auch. Josh Antonia Emidy (oder Emidee), um 1770 in Westafrika geboren, zeigte auf seine Weise, wie sich der Kolonialismus rächen konnte. Nachdem er als Sklave nach Brasilien entführt worden war, brachte man ihn nach Portugal, wo er ein so guter Geiger wurde, dass er sich dem Orchester der Oper in Lissabon anschließen konnte. Offiziere |15| und Besatzung der britischen Fregatte Indefatigable, auf Landgang in der portugiesischen Hauptstadt, waren von ihm so beeindruckt, dass sie ihn als ihren Schiffsgeiger entführten. Fünf Jahre später wurde es ihm endlich in Falmouth erlaubt, an Land zu gehen, wo er gespielt, gelehrt, dirigiert und komponiert und vor seinem Tod im Jahr 1835 einen dortigen Schüler zu glühendem Anti-Sklaverei-Aktivismus inspiriert haben soll.27

In Südindien wurde die Violine ab Mitte des 19. Jahrhunderts so erfolgreich in die karnatische Musik eingeführt,28 dass Ende des 20. Jahrhunderts V. J. Jog, Indiens angesehenster klassischer Geiger, bedauernd einräumen musste, dass seine Geige einen Großteil der Verantwortung dafür trug, dass das einheimische Instrument Sarangi auszusterben drohte.29

Am Ende des 20. Jahrhunderts waren Karrieren, die ehemals ständisch, pittoresk und zufällig waren, längst so global wie Coca-Cola. Der New Yorker Leventritt-Wettbewerb hatte 1967 – zum ersten Mal seit seiner Gründung im Jahr 1939 – zwei Gewinner, von denen keiner amerikanisch oder europäisch war und die außerdem eine halbe Welt trennte. Der eine, Pinchas Zukerman, ein 18-Jähriger aus Tel Aviv und später der Welt als »Pinky« bekannt, gehörte bereits zur dritten Generation einer meist männlichen, russisch-jüdischen Gruppe von Musikern, die die Violinwelt des 20. Jahrhunderts für sich erobert hatte. Die andere, Kyung-wah Chung, eine 19-Jährige aus Seoul und von ihrem Lehrer Ivan Galamian »Cookie« genannt, wurde bald zur Gründungsmutter einer überwiegend weiblichen, ostasiatischen Gruppe, die auf dem Weg war, die Fackel, die jene russisch-jüdischen Männer durch das 20. Jahrhundert getragen hatten, im 21. Jahrhundert zu übernehmen.30 Beide waren nach New York gekommen, um an der gleichen Schule – Juilliard – bei dem gleichen im Iran geborenen und russisch ausgebildeten Lehrer – Galamian – zu studieren, der vor der bolschewistischen Revolution nach Paris geflohen war, bevor er 1937 in die Vereinigten Staaten übersiedelte.

Würde es Rousseau überrascht haben, dass ein Instrument, das schon zu seinen Lebzeiten so vielfältig war wie kein anderes, nach seinem Tod noch universeller wurde? Wahrscheinlich nicht. Schon in der ersten Generation nach Rousseau waren Instrument und Bogen an die Bedürfnisse von Spielern, die mit größeren Orchestern größere Stücke in größeren Sälen spielten, angepasst worden: Praktisch jedes überlebende alte Instrument, bei dem es sich lohnte, wurde mit einem längeren, gekippten Hals und einem wesentlich schwereren Bassbalken ausgestattet, um eine erhöhte Saitenspannung zu ermöglichen und einen stärkeren und brillanteren Ton zu gewinnen.

Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich der Geigenbau in ganz Europa verbreitet. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts überfluteten elsässische, bayerische, sächsische und japanische Hersteller erst Osteuropa, dann Amerika und schließlich die ganze Welt mit erschwinglichen, fabrikmäßig hergestellten |16| Instrumenten, die Amerikaner sogar per Versandhauskatalog erwerben konnten. Am Vorabend des 21. Jahrhunderts schließlich konnte man Anfängergeigen ebenso selbstverständlich in einem taoistischen Tempel in der ostchinesischen Metropole Suzhou erstehen wie im Musikgeschäft auf der Hauptstraße von Parma, der italienischen Stadt, in der Paganini begraben ist. Shar Products wiederum, ein armenisch-amerikanisches Familienunternehmen in Ann Arbor, Michigan, das zu einer Art Neckermann-Versandhaus für Streichinstrument-Zubehör wurde, verkaufte per Internet.

Die bekannten ökonomischen Multiplikatoren eines bürgerlichen Zeitalters – städtisches Wachstum, steigende Einkommen, soziale Mobilität, Professionalisierung, kultureller Snobismus, persönliche Weiterentwicklung, Einwanderung und koloniale Expansion – verstärkten die Vielfalt und Universalität der Violine noch. Neuer Reichtum und neue Städte schufen ein neues Publikum. Neue Orchester, Opern, Theater, Tanzlokale genauso wie Filme, schufen neue Arbeitsplätze für die Absolventen der neuen Konservatorien. Neue Einwanderer brachten Instrumente, Geschmack, Traditionen, Fähigkeiten und Ehrgeiz für ihre Kinder mit. Europäische Soldaten, Verwaltungsbeamte, Geschäftsleute, Ärzte, Lehrer und Missionare streuten ihre Währungen, Sprachen, Waffen, Bazillen, Lokomotiven, Religionen und ihre Musik über immer mehr außereuropäische Orte aus.

Der große deutsche Soziologe Max Weber konstatierte in einem Nachtrag zu seinem monumentalen Werk Wirtschaft und Gesellschaft, dass die westliche Musik das charakteristischste, ansprechendste und potenziell universellste aller europäischen Produkte sei. Er bezog sich dabei auf das Klavier, ein Industrieprodukt, das die temperierte diatonische Tonleiter auf der ganzen Welt so effizient verbreitete wie britische Webstühle und Lokomotiven den Zoll als Maßeinheit für Länge und die British Thermal Unit als Maßeinheit für Wärme. Der Leser kann nur bedauern, dass Weber starb, bevor er seine scharfsinnigen, allerdings nur andeutungsweise entwickelten Ideen in einem Buch ausformulieren konnte.31 Die gleiche Dynamik, die das Klavier so populär gemacht hatte, begünstigte aber auch die im Grunde vorindustrielle Geige, die seit mehr als einem halben Jahrtausend in Europa und Nordamerika heimisch geworden war; sie verbreitete sich in Russland von St. Petersburg bis nach Odessa und Sibirien, in Lateinamerika von Mexiko bis Argentinien, in Ostasien von Korea bis nach Singapur, im Nahen Osten von Israel bis in die Türkei sowie im christlichen Armenien mit einer Diaspora, die sich von Teheran bis nach Kalifornien erstreckte.

An der Schwelle zum 21. Jahrhundert war die Geige mit Händlern und Geigenbauern in allen Kontinenten und mindestens 44 Ländern so allgegenwärtig wie McDonalds.32 Arvel Bird, ein indianisch-keltischer Geiger, der von den Shivwit Paiute und den Schotten abstammte, bereiste Amerika mit seiner Band Many Tribes, One Fire (Viele Stämme, ein Feuer) von der Chesapeake |17| Bay über Virginia bis Portland und verkaufte zahllose CDs.33 Auch im nichtweißen Südafrika war mit dem Ende der Apartheid die Violine aufgetaucht, wo eine Gruppe engagierter Lehrer mit Hilfe von Sponsoren hart daran arbeitete, Soweto zum neuen Odessa zu machen.34

Arvel Bird, Indianisch-keltischer Geiger, Rankokus Reservat, New Jersey, 2009

Für das Fehlen, die Ablehnung oder zumindest das seltene Vorkommen der Violine zwischen Bombay und dem Jordan gab es viele mögliche Gründe – finanzielle wie kulturelle. Aber es gab mindestens ebenso viele, die praktisch überall sonst dazu führten, dass sie willkommen geheißen und mit Erfolg und mit Gewinnern gleichgesetzt wurde. Sie hatte das Potenzial, heiratsfähigen Töchtern zu einem Mehrwert zu verhelfen, und eine vielgestaltige Anpassungsfähigkeit, die ihr erlaubte, neben der usbekischen »ghijak« zu existieren und der kasachischen »qobyz« fast den Garaus zu machen.35 Dazu kam die seit den 1870er-Jahren von Japan ausgehende allumfassende Modernisierungswelle, die westliche Musik dort genauso heimisch werden ließ wie Baseball und schließlich die gesamte Region bis hin nach Südkorea und Malaysia erfasste.36

1997 rekrutierte die malaysische Ölgesellschaft Petronas ein neues Sinfonieorchester für den neuen Konzertsaal, der im Schatten der Petronas Towers in Kuala Lumpur, dem damals höchsten Gebäude der Welt, entstand. IMG in London, eine Managementfirma mit globaler Reichweite, wurde mit der Anwerbung der Musiker beauftragt. Dieses globale Management wiederum führte zur Einstellung eines britischen Intendanten und eines niederländischen Dirigenten und zur Gründung eines globalen Orchesters, in dem Malaysier kaum vertreten waren. Teilweise schien das neue Orchester eine Antwort auf das in Singapur zu sein,37 teilweise aber auch ein weiterer Schritt innerhalb |18| einer nationalen Modernisierungsstrategie. Auf die Frage eines interessierten Interviewers räumte ein junger malaysischer Diplomat ein, dass er zum ersten Mal von dem Orchester höre. Er erinnerte sich aber daran, dass Mahathir Mohamad, der geschäftige Regierungschef des Landes, zehn Jahre zuvor ein Formel-Eins-Team und Jackie Stewart importiert hatte, bevor es überhaupt lokale Rennstrecken und Fahrer gab.38

Das Orchester des National Music Camp auf den Stufen des State, War and Navy (heute: Eisenhower Executive Office) Building, Washington, DC, 1. März 1930. Präsident Herbert Hoover und Vizepräsident Charles Curtis auf dem Bürgersteig rechts

Die Marktforschung allerdings verwies auf die traumhaften zukünftigen Publikumszahlen, sollte eine Konzerthalle gebaut und ein Orchester angestellt werden. Es war sogar vorstellbar, dass dort eines Tages einheimische Musiker spielen würden. Im Jahr 1915, der 34. Saison der selbstverständlich von |19| Europäern dirigierten Boston Symphony, waren nur acht ihrer Musiker in Amerika geboren, 1973 waren es die meisten der Orchestermitglieder, und ihr Dirigent war ein Japaner. Das Shanghai Municipal Orchestra, 1879 als Shanghai Municipal Public Band gegründet, nahm seinen ersten Chinesen als unbezahlten Freiwilligen im Jahr 1927 auf.39 Die erst 1974 als ein überwiegend britisches Ensemble gegründete Hong Kong Philharmonic beschäftigte eine Generation später drei Chinesen als stellvertretende Konzertmeister und als Geiger fast ausschließlich Asiaten.

Trotz all der tektonischen Verwerfungen aber, die die musikalischen, kulturellen, sozialen und politischen Landschaften über fast fünf Jahrhunderte verwandelten, scheinen drei Leitsätze wie in Stein gemeißelt. Laut dem ersten tauchte die Violine spontan und schon in voller Blüte in Italien auf; der zweite behauptet, dass die besten Geigen in aufsteigender Qualität italienisch, in Italien vor 1800 gebaut und aus dem italienischen Cremona waren; gemäß dem dritten Leitsatz war es schon immer so und würde auch nie anders sein. Alle drei Thesen sind fragwürdig, unhistorisch und irreführend, aber sie haben etwas Positives gemeinsam: Sie verweisen auf die Fragen, woher die Geige kommt, wie es dazu kam, dass die italienische Geige als »die« Geige angesehen wurde, und wer und was sie wie kein anderes Instrument zu einem globalen Sammlerobjekt, einem Talisman und einem Symbol werden ließ.

|61| Über die Berge und immer weiter

In der Zwischenzeit ging der Geigenbau an anderen Orten weiter, nicht zuletzt, weil er nie wirklich aufgegeben worden war. Um 1650 waren in Amsterdam Geigen nach italienischen Vorbildern aufgetaucht, und niederländische Zeitgenossen von Stradivari bauten in einer Zeitspanne von nur einer Generation niederländische Amatis mit derselben Unbekümmertheit, mit der der New Yorker Garment District drei Jahrhunderte später Dior-Kleider schneidern sollte. Nach Auskunft des Amsterdamer Händlers Fred Lindeman waren die Zettel nicht als Kundentäuschung, sondern als Ausdruck von Respekt gedacht. Die Idee war, so folgerte der Musikwissenschaftler Johan Giskes, sich durch die Schaffung von lokalen Versionen eines italienischen Designer-Modells einen Marktanteil zurückzuerobern.183

Eine bevorzugte Erklärung dafür, wie das alles möglich war, geht von einem direkten Einfluss aus. Ab 1660 tauchen italienische Violinen in Amsterdamer Versicherungsunterlagen auf, und in einem Auktionskatalog von 1671 finden sich Violinen aus Cremona.184 Neueste Forschungen haben jedoch keine Spuren von italienischen Geigenbauern in Holland oder von aufstrebenden niederländischen Geigenbauern in Italien entdeckt. Vielleicht gab es aber einen indirekten Einfluss: Francis Lupo, ein Geigenspieler und -bauer aus einer jüdisch-sephardischen Familie, die von Italien nach England und dann zurück auf den Kontinent gezogen war, heiratete eine Witwe. Es ist gut möglich, dass ihr Sohn Cornelius Kleynman – ein sehr guter Geigenbauer – das Handwerk von seinem neuen Stiefvater erlernte.185 Hendrik Jacobs, der bedeutendste niederländische Geigenbauer, wohnte in unmittelbarer Nähe, und seine frühen Instrumente ähneln denen von Kleynman. Auch er heiratete eine Witwe und kam so zu einem Stiefsohn, Pieter Rombouts, der der zweite bemerkenswerte niederländische Geigenbauer wurde. Seine Instrumente ähneln denen von Jacobs.

Die wahrscheinlichste Erklärung für den Beginn des Geigenbaus in Flandern aber liegt wohl eher in städtischen als familiären Wurzeln. Im späten 16. Jahrhundert war Amsterdam mit seinen 30 000 Einwohnern eines der wichtigen Handelszentren der Niederlande. 1670 hatte die Stadt bereits 200 000 Einwohner, während Brügge und Antwerpen zunehmend an Bedeutung verloren. Amsterdams Handelsnetze erstreckten sich von Indonesien bis nach Italien, und Einwanderer und Flüchtlinge kamen von weit her, sogar von der iberischen Halbinsel oder den Küsten der Ostsee. Geigenbauer waren nicht darunter, doch gab es sowohl unter den Einwohnern als auch unter den Besuchern zahlreiche Italiener und damit einen starken Einfluss der italienischen Kultur. Es überrascht nicht, dass das erste Goldene Zeitalter des holländischen Geigenbaus |62| mehr oder weniger parallel zu den Geschicken der Stadt und der Kaufmannsrepublik verlief, zu der er gehörte. Im Jahr 1600 gab es für eine Bevölkerung von etwa 50 000 Menschen sechs Hersteller von Saiteninstrumenten, nach 1622 waren es mindestens zehn für eine Bevölkerung von etwa 100 000, darunter einer, der sich ausdrücklich als »Geigenbauer« bezeichnete. Ab 1650 nannten sich nahezu alle Bauer von Saiteninstrumenten so, obwohl ihre Angebotspalette aus Lauten, Zithern, Harfen, Gamben, der Tanzmeistergeige im Taschenformat mit Namen »Pochette« und Cembali bestand.186

Unterdessen stieg das Instrument auf der sozialen Leiter empor – vom Fiedler über Berufsmusiker bis zu vornehmen Amateuren, die Stadthäuser bauten und ihre Familien von holländischen Meistern porträtieren ließen. Obwohl Geigenspiel und Geigenbau nach und nach getrennte Wege gingen, passten beide ihr Angebot an die Wünsche der Reichen und Armen, der Bauern und Bürger, der Amateurorchester und der Theaterleiter sowie an die Erfordernisse von Hausmusik und Kirchenkonzerten an. Um 1700 brachten lokale Verleger italienische Musik auf den Markt, noch bevor sie in Italien angeboten wurde,187 und Malerei und Musik kamen sich immer näher, denn Musiker malten, Maler kauften Instrumente, und Söhne von Geigenbauern gingen in den Kunstbetrieb.188

Rombouts Tod im Jahr 1728 markiert das Ende des ersten Goldenen Zeitalters, als die niederländische Herstellung aus den gleichen Gründen wie in Italien aufgegeben wurde. Da die Nachfrage durch in- und ausländische Anbieter gesättigt war, war es für die nächste Generation nur natürlich, dass sie sich auf Handel und Reparatur konzentrierte. Doch in Den Haag, der zweiten Großstadt der Niederlande und einem Zentrum der Diplomatie, brach bald ein zweites Goldenes Zeitalter an, das stark von französischen Geigenbauern beeinflusst war. Dieses Mal entstand die Nachfrage in einer Stadt, in der italienische und deutsche Virtuosen regelmäßig auf ihrem Weg von oder nach England Halt machten, und kam von Freimaurerlogen, literarischen Kreisen, Reform- und politischen Vereinen und Musikgesellschaften.189

Johann Theodorus Cuypers, 1724 in einem deutschen Dorf kurz hinter der Grenze geboren, scheint aus dem Nichts gekommen zu sein. 1752 taucht er als Bürger von Den Haag auf.190 Was er bis dahin getan hatte, ist nicht bekannt, doch hatte er irgendwo, vermutlich von einem französischen Gitarrenbauer mit Sitz in Den Haag, gelernt, Strad-Modelle von guter Qualität zu bauen. Er hinterließ drei Hinweise auf die Vergangenheit und unmittelbare Zukunft des Handels. Ohne eine offensichtliche Verbindung nach Italien war das italienische Modell mittlerweile zum Goldstandard des europäischen Geigenbaus geworden. Durch das Miteinander von Geigern, Lehrern und Geigenbauern hatte die Violine im bürgerlichen Leben einen festen Platz gewonnen. Und die Kombination aus französischem, kulturellem und unternehmerischem Einfluss hatte aus der französischen Violine mit ihrem |63| verlängerten Hals und dem Bassbalken eine gutbürgerliche Version der italienischen Geige entstehen lassen.

England war hier, wie so oft, sowohl typisch als auch ein Fall für sich. Der englische Geigenbau wurde von einem wachsenden Bedarf an Geigenspielern und Instrumenten belebt, verband ausländische Inspiration mit eingewandertem und einheimischem Talent und schuf so ein Vermächtnis, das sowohl einen Vorrat an guten Instrumenten als auch einen Geigenhandel von Weltklasse einschloss. Da der Warenimport vom Kontinent teuer war und die königliche Familie eine Schwäche für das Instrument hatte, wurde der Bau von Celli in England zu einer Spezialität. Das früheste bekannte englische Cello tauchte im Jahr 1672 in Oxford auf.191

Während der englische Geigenhandel zum internationalen Standard wurde, waren die Instrumente – außer Celli und Bögen – kaum über Dover hinaus bekannt. Doch zu Hause wurden sie hoch geschätzt, wenn auch oft mit einem leicht defensiven Unterton. »Ohne in irgendeiner Weise von der wirklichen Güte der Instrumente von Wm. Forster ablenken zu wollen […], können wir getrost behaupten, dass die großen Cremoneser Geigenbauer konkurrenzlos waren«, warnte ein viktorianischer Schriftsteller angehende Käufer. »Wm. Forsters Violoncelli stehen jedoch (in England jedenfalls) sowohl bei Berufsmusikern als auch bei Amateuren in hohem Ansehen und erzielen gute Preise.«192

Händler auf dem europäischen Festland wussten nichts von englischen Instrumenten, wie Arthur Hill im Jahr 1911 grimmig bemerkte, und taten alles, um ihre Erben ebenso unwissend zu halten, indem sie Zettel vertauschten, wo immer sie ihnen in die Hände fielen. Hill hatte dem legendären Fritz Kreisler gerade eine Violine von Daniel Parker, einem Londoner Geigenbauer, der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts lebte, verkauft. Der begeisterte Kreisler, der sie in der Nacht zuvor öffentlich gespielt hatte, fand sie so gut wie seine del Gesù. Aber auch er wollte das Etikett entfernt haben, sodass er sie nach seiner Rückkehr nach Deutschland als ein Produkt eines Meisters aus dem 18. Jahrhundert, Tomaso Balestrieri aus Mantua, ausgeben konnte.193 30 Jahre später zeigte er sie auf einer Party in New York stolz seinem Kollegen, dem großen Nathan Milstein. Die angebliche Balestrieri, erklärte er, war unterdessen zur »Parker Strad« geworden, denn »sie klingt so gut«.194

Zwischen den Höhepunkten gab es längere Zeiten der Stagnation, in denen die lokale Produktion einen Verlauf nahm, den Charles Beare »W-förmig« nannte.195 Der erste Höhepunkt bestand an der Schwelle des 18. Jahrhunderts aus einer Gruppe begabter Geigenbauer. Der zweite umfasste Mitte des 19. Jahrhunderts eine Gruppe von ebenso begabten, häufig schillernderen und für die Nachwelt besser dokumentierten Kopisten. Es sollten etwa 150 Jahre vergehen, bevor das »W« im späten 20. Jahrhundert einen dritten Höhepunkt erreichte – in |64| einer Gruppe von Restauratoren und genialen Kopisten, die sich von Bremen bis Minneapolis etabliert hatten und deren Fähigkeiten allgemein geschätzt wurden.

Gemeinsamer Ahne aller drei Gruppen war ein Gambenensemble, das zunächst im Jahr 1495 in Mantua aufgetaucht und in England mit Begeisterung aufgenommen worden war. Um 1600 scheinen Violinen fest etabliert gewesen zu sein, obwohl sie durchaus gewöhnungsbedürftig waren. Thomas Mace, ein zeitgenössischer Lautenspieler und Komponist, beklagte sich über »ihren hochgeschätzten Lärm, der die Ohren eines Mannes zum Glühen bringen kann«. Doch noch vor seinem Tod war das, was für den einen Komponisten die »schimpfenden Geigen« waren, für den anderen die »fröhlichen Geigen«, deren »silberne Töne […] so göttlich süß« waren, dass sie den Zuhörer dazu bringen konnten, sich »in Tränen und Gebeten zu Chloes Füßen aufzulösen.«196

Roger North, ein ungewöhnlich kluger und nachdenklicher Beobachter, schrieb den Erfolg der Geige dem »sehr guten Ton, über den dieses Instrument verfügt« und ihrer Fähigkeit zu, Halbtöne und sogar Doppelgriffe rein zu spielen. Außerdem verband er schnell das Potenzial des Instruments mit einem Spieler, der »etwas von der Leistungsfähigkeit und Dimension der Instrumente sowie der erforderlichen Geschicklichkeit, die zu ihnen gehört, versteht«.197 Besonders beeindruckt war er von Nicola Matteis, einem Italiener, der über Deutschland nach London gekommen war und »die Gesellschaft mit einer Kraft und Vielfalt für mehr als eine Stunde in Bann schlug, dass es kaum ein Flüstern im Raum gab, obwohl er voll besetzt war«.198

Im Gegensatz zu Holland hatte England seit Langem eine direkte Verbindung nach Italien. Die ersten Spieler, die für das Streicherensemble von Henry VIII. aus Italien angeworben worden waren, brachten ihre Instrumente nicht nur mit, sondern könnten sie sogar selber gebaut haben. Zu Purcells Zeit waren aus dem Geigenspieler, der traditionell gleichzeitig Geigenbauer war, zwei nahezu autonome Berufe hervorgegangen. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass die neueren Einwanderer englische Instrumente gespielt oder gar erworben haben, geht gegen Null. Man kann davon ausgehen, dass der junge Gasparo Visconti, ein gebürtiger Cremoneser, der Stradivari gekannt und sogar mit ihm gearbeitet hatte, eine Strad spielte, als er um 1700 nach London kam.

Das Orchester des Hofes führte bereits im Jahr 1637 Cremoneser Instrumente ein, als der lokale Geigenbauer John Woodrington eine »neue Cremonia Vyolin« gebaut hatte, offensichtlich in Anlehnung an ein importiertes Original. Ab Mitte des Jahrhunderts kaufte ein Spieler oder Gentleman, der es sich leisten konnte, entweder ein italienisches Instrument oder eine Stainer von dem großen, durch Amati beeinflussten Tiroler. Laut Beare führte dann die Beliebtheit von Stainer-Geigen dazu, dass sie häufig – und meistens schlecht und billig – kopiert wurden, was den britischen Geigenbau in ein Tief führte, das ein halbes Jahrhundert andauern sollte.199

|65| Bereits 1704 wurde Stradivaris langer Schatten in der Arbeit von Barak Norman, einem der ersten wichtigen britischen Geigenbauer, sichtbar.200 Erst um die Wende zum 19. Jahrhundert zeigten Superstars wie Giovanni Battista Viotti oder später Niccolò Paganini, zu was eine Strad oder del Gesù mit ihren erweiterten Griffbrettern und verstärkten Bassbalken fähig war. Von da an wich die Nachfrage nach im Inland hergestellten Stainers einer Vorliebe für im Inland hergestellte Strads – von Regalware bis zur Konzertqualität.201

Ebenso wie ein erstklassiges Geigenspiel hing ein hochqualifizierter Geigenbau stark von italienischen und deutschen Importen ab. Eine der ersten Violinen aus England stammte von Jacob Rayman, einem gebürtigen Füssener, der sich 1625 in London angesiedelt hatte.202 Vincenzo Panormo, von Beare, Dilworth und Kass als der wichtigste englische Geigenbauer seiner Zeit angesehen, war eigentlich ein Sizilianer, der seit Jahrzehnten in Frankreich gearbeitet hatte, bevor er in seinem fünften Lebensjahrzehnt das revolutionäre Paris verließ, um sich in London niederzulassen.203

Die Frage ist allerdings, warum einheimische Talente so lange brauchten, um sichtbar zu werden. Bis Mitte des 16. Jahrhunderts gab es englische Gamben von beispielhafter Eleganz und technischer Raffinesse und Käufer, die bereit waren, für sie Spitzenpreise zu zahlen.204 Doch es sollten fast anderthalb Jahrhunderte vergehen, bis inländische Violinen von vergleichbarer Eleganz und Raffinesse auf dem englischen Markt erschienen. Im Jahr 1726 deutet North zumindest eine mögliche Erklärung an, wenn er schreibt: »Der Einsatz der Violine war sehr gering, […] außer durch gewöhnliche Fiedler«.205 Doch die Bevorzugung der Gambe durch die Oberschicht war in einer Gesellschaft, die selbst bei Cricket-Mannschaften bis weit ins 20. Jahrhundert zwischen Gentlemen und Spielern unterschied, nur eines der Hindernisse für einen ernst zu nehmenden Geigenbau, zu denen vermutlich auch der soziale Status des Handwerks gehörte. »Es ist eine bemerkenswerte Tatsache und zeigt die Unterschiede in Sitten und Gebräuchen der verschiedenen Länder«, seufzte Pearce, »dass sowohl Amati als auch Stradivari offenbar aus alten und ehrbaren Familien stammten und dennoch trotz ihrer Aufnahme einer Tätigkeit, die in England den guten Namen einer Familie befleckt hätte, von ihren Mitbürgern bis zu ihrem Tod respektiert und geehrt wurden.«206

Das puritanische Intermezzo scheint ein weiteres Hindernis gewesen zu sein. Die Puritaner geißelten ohnehin die feine Gesellschaft und waren Musikern und dem, was Mace ihre »Extravaganzen« nannte, wenig freundlich gesinnt. Harvey berichtet von einer Anzahl talentierter Möbeltischler aus Holland, Frankreich und Deutschland, deren von Italien und Tirol beeinflusste Fähigkeiten dem Geigenbau hätten zugutekommen können, wären sie nicht Calvinisten gewesen. Er dokumentiert auch eine zeitgenössische Violine aus Metall. Anscheinend war sie kein Einzelstück, wurde möglicherweise gespielt, |66| und es ist nahezu sicher, dass sie dem Kesselflicker oder Metallarbeiter John Bunyan gehörte, bevor dieser Baptist wurde, zu predigen begann und seine Aufmerksamkeit seinem literarischen Meisterwerk The Pilgrim’s Progress zuwandte.

Dennoch, so behauptet North, zogen es viele vor, lieber »zu Hause zu fiedeln, als rauszugehen und Prügel zu beziehen«.207 Während das Musizieren in der Öffentlichkeit stagnierte, scheint die Hausmusik tatsächlich erblüht zu sein. Die zurückweichenden Fluten der Revolution hinterließen eine Unmenge von Amateurgeigern, die ein gemeinsames Interesse an Lehrwerken, Handbüchern, Instrumenten und Noten verband. Doch paradoxerweise machten die gleichen Umstände, die das Aufkommen eines einheimischen Stradivari und einer eigenen Geigenindustrie verhindert hatten, Import und Handel zunehmend lohnend. Der Handel, ursprünglich aus einem vielschichtigen Netzwerk von Schutzgemeinschaften im Schatten der London Bridge entstanden, folgte der Stadtentwicklung nach Westen in die Welten von Defoe, Hogarth und Samuel Smiles, dem Propheten der frühen viktorianischen Selbsthilfe.

Inzwischen zogen angehende Geigenbauer wie die Familien Forster, Dodd, und Kennedy aus der Provinz in die große Stadt, wo sie und ihre Nachkommen über mehrere Generationen hinweg den Markt dominierten. Einige von ihnen waren überaus erfolgreich, so wie George Miller Hare, der 1725 als wohlhabender Besitzer einer Werkstatt in St. Paul’s Church Yard starb. Im Jahr 1741, demselben Jahr, in dem Henry Fielding von seinem Verleger 183 Pfund für sein Buch Joseph Andrews erhielt – während ein Landpfarrer seine Frau und sechs Kinder von einem Jahreseinkommen von 23 Pfund ernährte –, versicherte Peter Wamsley seine Werkstatt in Piccadilly für 1.000 Pfund.208 Bis zum Ende des Jahrhunderts hatte Richard Duke, der am meisten bewunderte Geigenbauer seiner Zeit, mit seiner florierenden Werkstatt eine besondere Beziehung zum Herzog von Gloucester aufgebaut und private Unterkünfte in Old Gloucester Street und Werkstätten in Gloucester Place errichtet. An der Schwelle des 19. Jahrhunderts beschäftigte John Betts, Geselle bei Duke und selber ein angesehener Geigenbauer, den noch angeseheneren Panormo sowie Henry Lockey Hill, dessen Enkel das Familiengeschäft zum Ritz des Violinhandels machen sollte.

Unzählige andere fielen Epidemien, Armut oder der Vergessenheit anheim. John Kennedy wurde wegen Schulden eingekerkert. Dasselbe geschah mit dem »schottischen Stradivari« Matthew Hardie, der vormals als Schreiner und Soldat gearbeitet hatte. Der Bogenmacher John Dodd trank sich zu Tode. Von den vier geigenbauenden Söhnen des begabten Bernhard Simon Fendt, einem Emigranten aus Füssen, erreichte nur Bernhard jr. ein mittleres Alter.

Wiederum andere, wie John Lott (1804–1870), führten ein unkonventionelles und buntes Leben. Als Sohn und Bruder von Geigenbauern hatte Lott das Handwerk von seinem Vater gelernt und führte es eine Zeit lang auch aus, bis »der Geigenhandel eine von diesen Erkältungen bekam, der alle modischen |67| Gewerbe unterliegen«, wie Charles Reade schrieb.209 Lott überlebte – allerdings nur knapp – eine kurze, aber dramatische Karriere als Feuerwerkskünstler und eine weitere als Wanderschauspieler; er trat einem Theaterorchester bei, wo er seinen Bogen mit Seife einstrich, um beim Geigen gesehen, aber nicht gehört zu werden, und bereiste Europa und Amerika als Wächter eines temperamentvollen und am Ende gemeingefährlichen Zirkuselefanten.

Zwischen den Engagements lernte er, Buchenholz so zu bemalen, dass es wie Eiche, Ahorn oder Nussbaum aussah. Diese Kunst kam ihm ein paar Jahre später zustatten, da die Nachfrage nach hochwertigen Geigenkopien so anstieg wie der Kurs von Eisenbahnaktien. In den späten 1840er-Jahren kopierte Lott Geigen von Guarneri derart erfolgreich, dass die erste Frau von Yehudi Menuhin ihrem Mann ein Jahrhundert später eine als Original kaufte. Als Menuhin sie wesentlich später wieder verkaufen wollte, musste Beare ihm mitteilen, dass es sich um eine Kopie handelte. Damit, so erinnerte sich Beare bedauernd, endete eine langjährige Freundschaft.210

Lott selber hätte vermutlich den Voller-Brüdern William und Arthur und ihrem Vater Charles – einem Kutscher, der über Musikunterricht, den Parfümhandel und die Kriegsmarine zum Geigenbau gekommen war – applaudiert, die Mitte der 1880er-Jahre italienische Instrumente für den führenden Londoner Geigenhändler Hart & Son kopierten. 1899 bestätigte Meredith Morris, der später ein Verzeichnis britischer Geigenbauer erstellen sollte,211 dass es fast unmöglich sei, eine del Gesù von Voller vom Original zu unterscheiden.212 Kopien von Voller, die nicht unbedingt als solche identifiziert wurden, verkauften sich in Italien mittlerweile denkbar gut.

Die Voller-Brüder, die als selbstständige Heimarbeiter in immer bessere Wohngegenden zogen, vergaben die Anfertigung von Geigenzetteln für 6  60-jährigehatte.213