Die grossen Western 157 – Tod und Tränen

Die grossen Western –157–

Tod und Tränen

Roman von U. H. Wilken

Scott Wagoner zieht die Zügel an, beugt sich im Sattel vor und blickt hinunter auf das kleine armselige Nest. Es ist ein warmer Spätabend, Lichter flimmern herauf. Einige schattenhafte Gestalten wandern über die schmale Straße. Stimmen ertönen dumpf und leise.

Über Wagoners hartes Antlitz zieht ein flüchtiges Lächeln, das bitter und freudlos ist.

»Gut«, murmelt er, »gut.«

Mehr nicht. Ein schweigsamer, wortkarger Mann. Ein großer, schlanker und sehniger Mann mit schmalen Schultern, langen Beinen und schlanken festen Händen. Er ist so dürr und geschmeidig wie ein Wüstenwolf – und so gefährlich.

Er reitet in geheimem Auftrag.

Ein langer Weg liegt hinter ihm. Tausend Meilen und mehr. Und sein dunkelbrauner Stetson, die ärmellose Lederjacke und die derbe Hose sind von einer Staubschicht überzogen.

Im ledernen Gewehrschuh – vorn rechts am Sattel – steckt ein 44er Henry-Repetiergewehr. In der Halfter, halb verdeckt von der Lederjacke, ruht ein Walker-Colt.

»Wir brauchen Wasser, Alter«, murmelt er. »Bis zum San Pedro River ist es noch weit, schätze ich. Würde sonst ’nen Bogen um dieses Drecksnest machen.«

Mit einem Schenkeldruck treibt er das müde Pferd an. Langsam nähert er sich der Ortschaft, die er nicht kennt, die noch in Arizona, aber hart an der Grenze nach Mexiko liegen muss. Lässig sitzt er im Sattel und dennoch wachsam.

Dumpf ist der Hufschlag, leise jankt das Leder des Sattelzeugs.

Ein Mann, der sich langsam aus dem Dämmerlicht des Hügels löst und die schmale Straße vor sich liegen sieht.

Schmutzige, schadhafte Lehmhäuser stehen dicht an der Straße – primitive Behausungen, mit Rohr gedeckt. Halb nackte Kinder spielen im Dreck der Straße.

Wagoner lenkt sein großes, abgetriebenes Pferd langsam in die Ortschaft hinein. Die Kinderschar sieht ihn im Zwielicht des scheidenden Tages zuerst, bricht in einen unbeschreiblichen Lärm aus und läuft neben ihm her.

Aus den Häusern kommen mehrere Einwohner. Sie tragen zerlumpte Hosen und Hemden, die schmierig und schmutzig sind. Ein Lauern ist in den dunklen Augen dieser Grenzmexikaner, die ihren kärglichen Lebensunterhalt wohl durch Schmuggeln bestreiten. Sie beginnen zu tuscheln und werfen ihm giftige Blicke zu.

Der Reiter kümmert sich nicht weiter darum. Er sieht die Pulqueria am Ende der Straße und reitet darauf zu. Die Kinder laufen noch immer nebenher.

Vor dem etwas größeren Lehmhaus zügelt er das Pferd, gleitet aus dem Sattel und schlingt die Zügelenden locker um die Haltestange. Die Kinder stehen wie eine schweigende Mauer auf der Straße. Glitzernde, fragende Augen starren ihn an.

Wagoner rückt am Waffengurt und geht auf den Eingang der Pulqueria zu. Vor dem Eingang hängt eine Bastmatte. Er schiebt sie mit der Linken zur Seite und tritt ein.

Beißender Tabaksqualm und verbrauchte Luft schlagen ihm entgegen.

Eine primitive Theke nimmt die eine Raumseite ein. Vor dieser Theke stehen einige schmutzige Tische und Hocker. Auf den grobgezimmerten Tischen brennen Talglichter, und in ihrem Schein erkennt Wagoner die vier Mexikaner und einen hellhäutigen Amerikaner, die in der Ecke des Raumes an einem Tisch sitzen und ihn mit scharfen, misstrauischen Blicken mustern.

Er geht gelassen zur Theke. Feiner Staub wallt vom Lehmboden auf. Leise klirren die Sporen.

Der Wirt hebt den Blick, grinst hämisch und sagt mit einer Fistelstimme: »Señor! Welch Glanz in meiner Hütte! Was wünscht der Señor? Habanero? Oder vielleicht Pulque?«

»Hast du Whisky, Compadre?«

»Natürlich«, versichert der Wirt. »Ich habe alles hier für den Señor. Eine Ehre, Señor …«

»Bueno«, unterbricht Wagoner ihn, »gib mir Whisky, Compadre! Aber guten Whisky, keinen Fusel, verstanden?«

»Sí, Señor, ich habe nur gute Sachen. Es gibt nirgendwo so guten Whisky wie bei Teo Carras.« Der Wirt schiebt ihm ein glanzloses Glas zu und füllt es.

Wagoner nimmt es und trinkt. Als er es zurückstellt, sagt er: »Ich brauche Wasser, Trinkwasser. Du wirst es mir doch besorgen können, nicht wahr?«

»Sí, Señor, aber es kostet etwas.«

»Ich werde dir dafür drei Dollar geben, mein Freund, drei Dollar.«

»Das ist zu wenig, Señor«, sagt der Wirt und tut betrübt. »Wasser ist wertvoller als Whisky, Pulque oder Milch. Ich kann Ihnen das Wasser für drei Dollar nicht besorgen. Es kostet mehr, Señor.«

Scott Wagoner sieht ihn kühl an.

»Was nützt dir das ganze Geld, wenn du tot bist, Amigo?«

Der Bursche geht einen Schritt zurück und lehnt sich zwischen den Regalen an die Wand. Er atmet hastig, starrt ihn furchtsam an und nickt schließlich. Mit unruhiger Stimme sagt er: »Gut, Señor. Aber wenn ich das Wasser verschenke …«

»Drei Dollar, Amigo, nicht mehr. Draußen steht mein Pferd. Du füllst die Blechflaschen mit Wasser, verstanden?«

Der Wirt schluckt würgend.

»Sí, Señor«, krächzt er und geht schnell hinaus.

Der Amerikaner hinten am Tisch erhebt sich und kommt langsam heran. Er verharrt neben Wagoner an der Theke.

Ein unrasiertes Gesicht, mager und hohlwangig, mit unsteten, flackernden Augen.

»Du willst bestimmt über die Grenze«, sagt er mit hässlichem Grinsen. »Der Krieg ist jetzt vorbei, und nun erinnert man sich wieder der vielen Steckbriefe, wie?«

»Möglich«, sagt Wagoner gelassen.

»Du kommst aus dem Norden, ich weiß es«, spricht der Mann weiter. »Dort ist es jetzt wohl ganz besonders schlimm, nicht wahr?«

»Ja.«

»Warum willst du nach Mexiko? Auch dort kannst du keine Ruhe finden. Die Revolution tobt dort. Dieser Benito Juarez will die Regierung Maximilian stürzen. Warum bleibst du nicht hier? Ich könnte dich gut brauchen.«

Scott sieht ihn abtastend an.

»Wozu?«

»Ah, das wirst du später erfahren, jetzt noch nicht, Mister«, erwidert der Amerikaner. »Du musst dann schon hierbleiben. Du bist hier auch sicher. Sieh mich an, ich lebe hier schon einige Jahre.«

»Dann werde ich es sagen«, sagt Wagoner rau. »Ihr holt den Ranchern hier in Arizona die wenigen Pferde von der Weide, verkauft sie in Mexiko und bietet den Ranchern mexikanische Gäule an. Das ist ein einträgliches Geschäft. Aber ich bin nicht für solche Arten von Geschäften. Und schon gar nicht dann, wenn ein Amerikaner sich darauf einlässt.«

Die Augen seines Gegenübers blitzen auf.

»Was soll das heißen, Mister?«

»Wie’s gesagt wurde«, entgegnete Scott Wagoner hart. Er schießt einen schnellen Blick auf die Gruppe am Tisch ab, sieht die tastende Bewegung des Amerikaners und schlägt auch schon zu. Seine brettharte Handkante trifft das Handgelenk des anderen, und der Colt fällt auf den Lehmboden.

Der Wirt kommt herein. Wie angewurzelt bleibt er an der Bastmatte stehen und sieht den Colt auf dem Boden.

»So ist das also?«, zischt der hagere Pferdedieb hassvoll.

»Sí«, entgegnet Wagoner ruhig, »versuch nicht, mich aus dem Sattel zu schießen. Du würdest es bereuen, bitter bereuen.«

Er geht langsam zurück.

»Sind die Flaschen gefüllt, Compadre?«

»Sí, Señor«, antwortet der Wirt mit einer Stimme, die noch um einige Grade schriller ist.

»Dann geh mir aus dem Weg!«

»Señor, die Dollars …«

»Hier.«

Geschickt fängt der Wirt das Geld auf. Wagoner steht an der Tür. Seine Hände sind frei, der Walker-Colt ist im Halfter. Doch die Burschen wagen nicht, nach den Waffen zu greifen.

Dann gleitet Wagoner hinaus, sitzt auf und reitet an. Schnell ist er aus der Ortschaft und taucht hinter einem Hügel unter. Die Nacht verschluckt ihn.

Erst um Mitternacht rastet er in einer Bergfalte, lockert die Sattelgurte, reibt sein Pferd ab und rollt seine Decke aus. Dann liegt er wach unter dem klaren Sternenhimmel und starrt gedankenversunken empor. Kalt flimmern die Sterne. Irgendwo heulen Kojoten. Leise schnaubt sein Pferd. In den Sträuchern am Hang raschelt und raunt der sanfte Nachtwind.

Die letzte Nacht in Arizona …

Morgen wird er auf mexikanischem Boden reiten. Er denkt an seinen Auftrag. Und er denkt an den unseligen Krieg, der endlich mit dem Sieg der Unionstruppen beendet ist. Viel Leid hat der Krieg gebracht, Blut und Tränen. Und zurückgeblieben sind ein verwüstetes Land, Hunger, Not und Elend.

In wenigen Minuten wird ein neuer Tag beginnen. Der einsame Mann weiß nicht, dass der scheidende Tag ein Schreckenstag in Washington war.

An diesem Abend fuhr Präsident Lincoln mit seiner Frau Mary zu einer Festvorstellung ins Theater. Er saß in seinem Schaukelstuhl, neben ihm seine Frau. Der Jubel der Menge begrüßte ihn. Beim dritten Akt trat ein junger Mann durch die rückwärtige Tür in die Präsidentenloge und schoss Lincoln von hinten in den Kopf. Der Adjutant des siegreichen Generals Grand warf sich dem Attentäter entgegen und wurde verletzt. Der Attentäter, ein Schauspieler aus dem Süden, entkam zu Pferde. Lincoln aber ist ohne Bewusstsein, in dieser Nacht, da Scott Wagoner an der Grenze Mexikos liegt und an seinen Auftrag denkt.

April 1865

Ein schwarzer Freitag …

Wagoner weiß nichts davon. Für ihn gibt es nur ein Ziel tief im Innern Mexikos.

Dort irgendwo kämpft Benito Juarez um seinen Sieg und um die Vernichtung des Kaiserthrons.

Überall im weiten Land Mexikos tobt der Aufstand.

Scott Wagoner schließt die Augen. Er atmet tief und fällt dann in einen festen Schlaf.

Und am frühen Morgen, als der große Präsident Abraham Lincoln stirbt, bricht Wagoner auf und reitet weiter nach Süden. Heiß brennt die Sonne herab, die Luft flimmert und flirrt. Der Glutatem des Tages füllt die Lunge des einsamen Reiters wie mit Feuer. Eine dünne Staubfahne zieht schlangenartig hinter dem Reiter her. Ein windstiller, trockener Tag.

Und vor ihm liegt, grenzenlos weit und verlassen, Mexiko.

Die grelle Helle der Sonne blendet ihn. Schweiß bricht ihm aus. Das Hemd klebt ihm wie eine zweite Haut am Körper. Sand mahlt unter den Hufen des Pferdes.

In den Nachmittagsstunden sieht er den San Pedro River vor sich – ein in der glühend heißen Sonne gleißendes Band. Er reitet hinunter zum Wasser.

Aber auch hier am Fluss wird er nicht lange verweilen.

*

In den unwegsamen Bergen von Sonora befindet sich eines der geheimen Lager der Rebellen – ein wildes Camp, das so versteckt zwischen zwei mächtigen Höhenzügen liegt, dass die Regierungstruppen schon seit vielen Wochen ergebnislos nach dieser Keimzelle der Aufständischen im nordwestlichen Mexiko suchen.

Hier haben sich Vaqueros, Indios und über vierhundert Peones zusammengerottet, um ihrem General zu folgen, wenn die Zeit dazu gekommen ist.

Die Seele dieser Rebellen ist Gilberto Jarales, den alle nur den »General« nennen.

Jarales ist wohl über fünfundvierzig Jahre alt, sein dunkles Haar ist an den Schläfen ergraut. Er ist nur mittelgroß, dabei aber sehr breitschultrig und kräftig.

Dieser Mann mit den grauen wachsamen Augen trägt einen kostbaren Charro-Anzug, der reich verziert ist, und einen Filz-Sombrero.

Vor gar nicht langer Zeit trug Jarales noch die Uniform eines Capitans der Federales, der Regierungstruppen. Aber dann verkrachte er sich mit dem kommandierenden General der Federales, und dieser wollte ihn kurzerhand an die Wand stellen und erschießen lassen.

Er konnte seinem Todfeind – General Miramon – entkommen.

Im Morgengrauen sollte er erschossen werden, aber seine eigene Schwadron, die ihn liebte und verehrte, befreite ihn in der Nacht aus dem Kerker. Jarales und seine gesamte Schwadron konnten entkommen. Und er bahnte sich einen Weg quer durch Mexiko bis in die Provinz Sonora, um hier zu den Aufständischen zu stoßen.

Die Kunde von seiner verwegenen und tollkühnen Befreiung eilte durch die Provinzen. Die arme Bevölkerung horchte auf. Und auch Benito Juarez erfuhr davon. Er gab Jarales den Oberbefehl über die Rebellen im Nordwesten.

Die Regierung Maximilian erkannte die drohende Gefahr im Norden und ließ die Garnisonen der Federales verstärken. Selbst die Rurales bekamen Order, auf Gilberto Jarales und seine Rebellen Jagd zu machen.

Er weiß, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis ihr Schlupfwinkel ausfindig gemacht worden ist.

Deshalb plant er, bereits in drei Tagen die Berge zu verlassen. Er hat seine Rebellen zu Kampfgruppen eingeteilt, seine Soldaten zu Führern dieser Gruppen gemacht. Er kann also das Rebellenheer in kleine Kampfeinheiten auflösen und beweglich sein.

Am Tage vor dem Aufbruch erreicht ein junger Reiter das Lager. Die kostbare Kleidung des Mannes ist durchschwitzt.

Wenn man Rio Sierra betrachtet, weiß man nicht, ob er nun Mexikaner oder Amerikaner ist. Er ist schlank und drahtig. Unter dem riesigen Plüsch-Sombrero, der mit einer goldenen Borte verziert ist, glänzt sein schwarzes Haar in der Sonne. Seine Nase ist kühn geschwungen.

Das markante Gesicht ist tiefbraun, scharf geschnitten und kantig. Dunkle Augen blitzen in diesem verwegenen Antlitz.

Ein einstmals weißes Hemd schimmert unter dem reich verzierten Bolero-Jäckchen hervor. Die mausgraue Hose – an den Knien eng, unten weit und etwas geschlitzt – sitzt ihm wie auf den Leib geschneidert. Um seine schmale Hüfte liegt ein schwerer Kreuzgurt, und aus den silberverzierten Halftern ragen die abgewetzten Kolben schwerer Walker-Colts hervor.

Die Reitstiefel mit den hohen Absätzen sind aus bestem Leder gearbeitet und tragen silberne Sporen.

Rio Sierra kleidet sich wie ein begüterter Mexikaner, aber er spricht mit dem Akzent eines Nordamerikaners.

Niemand weiß, woher er kommt, von wem er abstammt.

Er muss lange geritten sein. Seine Jacke ist verstaubt, die Hose ist an den Knien von den scharfen Nadeln der Kandelaberkakteen zerrissen worden.

Langsam lenkt er sein abgetriebenes Pferd zum Zelt des Generals, sitzt dort ab. Der schwerbewaffnete Posten neben dem Zelteingang bringt sein Gewehr in Anschlag.

»Sag dem General, dass Rio Sierra zurückgekommen ist, Hombre«, sagt Rio zu dem Indio und verhält vor dem Zelteingang.

Der Indio nickt und glaubt sich sehr wichtig. Er schlägt die Zeltplane zurück und geht hinein.

Sierra überfliegt mit einem Blick das Lager. Überall hocken, stehen oder liegen Indios, Peones und ehemalige Vaqueros herum. Es wird gelacht und getrunken. Waffen blitzen in der Nachmittagssonne – Pistolen, Gewehre und schwertartige Haumesser, die im Nahkampf sehr gefährlich sind.

Die Rebellen tragen schmutzige Hemden und bunte Ponchos. Überall bewegen sich die riesigen Sombreros aus Strohgeflecht. Die ehemaligen Soldaten Gilberto Jarales’ fallen dazwischen sofort auf. Sie tragen noch immer ihre Uniformen, verstaubt, zerrissen. An den Hosen leuchten breite rote oder weiße Biesen.

»Está bien – es ist gut«, tönt eine tiefe Stimme aus dem Zelt. »Er soll zu mir kommen.«

Da lächelt Rio. Er beugt sich hinab und schlüpft ins Zelt. Dann steht er vor General Gilberto Jarales. Der Rebellengeneral streckt ihm die Hand entgegen.

»Es ist gut, dass du kommst, mein junger Freund«, sagt Jarales und schlägt ihm leicht auf die Schulter. »Morgen werden wir aufbrechen und diese Berge verlassen. Bringst du eine gute Nachricht, Amigo?«

»Sí, mein General. Die Ebene unten ist frei. Ich habe keinen Soldato gesehen, keine Staubfahne, nichts. Ich lag zwei Tage auf der Mesa und beobachtete die Ebene.«