Dr. Daniel 67 – Die Macht der Liebe

Dr. Daniel –67–

Die Macht der Liebe

Roman von Marie-Francoise

Dr. Robert Daniel war gerade im Begriff, die Praxis zu verlassen, als das Telefon klingelte. Unschlüssig blickte er zurück. Die Sprechstunde hatte heute extrem lange gedauert – so lange, daß er seine Sprechstundenhilfe Sarina von Gehrau und seine Empfangsdame Gabi Meindl früher nach Hause geschickt hatte.

Mit einem tiefen Seufzer machte Dr. Daniel kehrt. Auch wenn es mittlerweile fast neun Uhr abends war, hätte er es doch nicht fertiggebracht, das klingelnde Telefon zu ignorieren. Die Tatsache, daß er vielleicht dringend gebraucht würde, hätte ihm den ganzen Abend über sicher keine Ruhe gelassen.

»Daniel«, meldete er sich.

»Waldsee-Klinik, Schwester Irmgard«, gab sich die Nachtschwester zu erkennen. »Ihre Frau sagte mir, daß Sie noch in der Praxis wären. Frau Marburg ist vor ein paar Minuten mit heftigen Unterleibsschmerzen in die Klinik gekommen, und Dr. Köh­ler ist nicht sicher, worum es sich handeln könnte.«

»Ich komme sofort«, versprach Dr. Daniel, legte den Hörer auf und verließ eilig die Praxis. Er kannte Sandra Marburg, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, daher wußte er, daß sie nicht wehleidig war. Wenn sie so starke Unterleibsschmerzen hatte, daß sie in die Klinik ging, konnte es sich nur um etwas Ernstes handeln.

Als Dr. Daniel wenige Minuten später die Eingangshalle der Steinhausener Waldsee-Klinik be­trat, fiel ihm ein, daß er seiner Frau Manon nicht Bescheid gesagt hatte. Aber das würde Schwester Irmgard ja gleich erledigen.

Mit langen Schritten ging Dr. Daniel in die Gynäkologie hin­über und betrat schließlich das Untersuchungszimmer, wo San­dra Marburg auf der Liege lag. Bei seinem Eintreten richtete sie sich ein wenig auf. Dr. Daniel fiel sofort die unnatürliche Blässe der jungen Frau auf.

»Es tut mir furchtbar leid, daß man Sie um diese Zeit noch in die Klinik gehetzt hat«, meinte Sandra bedauernd, »aber die Schmerzen waren so schlimm, daß ich es einfach nicht mehr ausgehalten habe.«

»Mach dir keine Gedanken darüber, Sandra«, entgegnete Dr. Daniel. »Dafür bin ich schließlich Arzt.« Er trat zu der Untersuchungsliege. »Beschreibe mir die Schmerzen mal ein bißchen.«

Unschlüssig zuckte Sandra die Schultern. »Ich weiß nicht so recht… es tut schrecklich weh…« Sie deutete auf eine bestimmte Stelle ihres Unterleibs. »Hier etwa, aber es zieht sich inzwischen schon bis zur Schulter hinauf.«

Alarmiert horchte Dr. Daniel auf. »Wann hattest du zuletzt deine Tage?«

Sandra wurde sichtlich verlegen. »Sie müssen mich ja für schlampig halten… ich weiß es nicht. In den letzten Wochen gab es mit Claudia so viel Aufregung… sie hatte Windpocken, und danach kamen dann die Probleme, weil sie plötzlich nicht mehr im Kindergarten bleiben wollte… da wurde ich mit meinen persönlichen Dingen ein wenig nachlässig.«

»Das heißt, es könnte eine Schwangerschaft vorliegen«, folgerte Dr. Daniel, während er schon eine Ultraschalluntersuchung vorbereitete.

Sandra erschrak. »Denken Sie an… eine Fehlgeburt?«

Doch der Arzt schüttelte den Kopf. »Ich denke leider an etwas viel Schlimmeres – eine Eileiterschwangerschaft.« Er wandte sich der Nachtschwester zu, die fast unbemerkt den Raum betreten hatte. »Hat Dr. Köhler eine Urin- oder Blutuntersuchung machen lassen?«

Als Schwester Irmgard verneinte, ordnete Dr. Daniel einen Schwangerschaftstest an. Wäh­rend die Nachtschwester mit San­dras Urinprobe den Raum verließ, setzte sich Dr. Daniel auf die Kante der Untersuchungsliege.

»Ich nehme in der Zwischenzeit schon mal eine transvaginale Sonographie vor«, erklärte er. »Dadurch sparen wir Zeit. Du mußt deine Beine anwinkeln und dann ganz locker auseinanderfallen lassen. Diese Ultraschalluntersuchung von unten ist zwar nicht schmerzhaft, aber natürlich dennoch unangenehm. Versuch dich so gut wie möglich zu entspannen, dann geht es recht schnell.«

Vorsichtig führte Dr. Daniel den speziell geformten Schallkopf ein und betrachtete das Bild, das ihm auf diese Weise aus Sandras Unterleib gesendet wurde.

»Der Test ist positiv«, meldete Schwester Irmgard.

»Positiv?« wiederholte San­dra. »Heißt das, ich bin tatsächlich schwanger?«

Dr. Daniel, der wußte, daß eine Schwangerschaft für Sandra an sich kein Problem dargestellt hätte, schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, Sandra, leider nicht. Die Gebärmutter ist leer, das bedeutet, daß sich das befruchtete Ei im Eileiter eingenistet hat.« Behutsam zog er den Schallkopf zurück, dann sah er die Nachtschwester an, die abwartend in der halboffenen Tür stehengeblieben war. »Rufen Sie Dr. Parker an. Wir müssen sofort operieren. Wer hat Bereitschaft?«

»Frau Dr. Reintaler«, antwortete Irmgard.

Dr. Daniel nickte. »Das paßt ja ausgezeichnet. Sie mußt die Erste Assistenz übernehmen. Außerdem brauche ich die OP-Schwester. Beeilen Sie sich, Irmgard. Ach ja«, hielt er sie noch einmal zurück. »Wenn die Ärzte und Petra alarmiert sind, sagen Sie doch bitte meiner Frau Bescheid.«

»In Ordnung, Herr Doktor.«

Irmgard verschwand im Laufschritt, während sich Dr. Daniel seiner jungen Patientin zuwandte.

»Es tut mir leid, daß ich dich so überrumpeln mußte«, meinte er. »Aber in einem solchen Fall ist rasches Handeln entscheidend, denn wenn das befruchtete Ei den Eileiter erst gesprengt hat, dann kann er nicht mehr gerettet werden. Das würde bedeuten, daß ich ihn entfernen müßte, und dadurch würden deine Chancen für eine weitere Schwangerschaft um fünfzig Prozent sinken.«

Sandra nickte etwas halbherzig. »Aber… wenn ich schwanger bin… ich meine… das Baby ist doch da. Kann man es nicht irgendwie vom Eileiter in die Gebärmutter schieben?«

Bedauernd schüttelte Dr. Daniel den Kopf. »Nein, Sandra, so weit ist die Medizin leider noch nicht. Gelegentlich verkümmert eine Eileiterschwangerschaft einfach, aber da du Schmerzen hast, ist in deinem Fall nicht damit zu rechnen.« Er half Sandra auf eine fahrbare Trage und schob diese aus dem Untersuchungszimmer in den Operationssaal.

»Wann hast du zuletzt etwas gegessen?« wollte er wissen.

»Heute früh«, antwortete Sandra. »Mir war den ganzen Tag so schrecklich übel, daß ich keinen Bissen mehr hinuntergebracht habe.«

In diesem Moment trafen auch schon die OP-Schwestern Petra Dölling, der Anästhesist Dr. Jeffrey Parker und die Gynäkologin Dr. Alena Reintaler ein und wurden von Dr. Daniel in wenigen Worten informiert, dann wandte er sich Sandra noch einmal zu.

»Dr. Parker wird sich jetzt um dich kümmern«, meinte er. »Wenn du aufwachst, ist alles vorbei.«

Sandra nickte, doch dann fielen ihr plötzlich tausend Kleinigkeiten ein: Ihr langjähriger Lebensgefährte Florian, ihr Töchterchen Claudia… die Steuererklärung, die sie noch nicht abgeschickt hatte… die ungewaschene Wäsche, die im Keller lag…

»Das hat alles Zeit«, meinte Dr. Daniel lächelnd, berührte für einen Augenblick ihr Gesicht und blickte sie beruhigend an. »Du wirst jetzt ein bißchen schlafen.«

Da trat ein Arzt zu ihr, von dem sie wegen des Mundschutzes nur ein Paar strahlend blaue Augen sehen konnte.

»Ich bin Dr. Parker«, stellte er sich vor, und an den kleinen Fältchen, die sich um seine Augenwinkel bildeten, konnte sie erkennen, daß er sie anlächelte. »Keine Angst, Frau Marburg, ich werde Sie nur ein wenig schlafen schicken.« Er nahm von der OP-Schwester eine Infusionsnadel entgegen und setzte sie an einer Vene knapp hinter dem Handgelenk der Patientin an. »Nicht erschrecken, das tut jetzt ein bißchen weh.«

Sandra zuckte zusammen, als sie den schmerzhaften Stich spürte.

»Schon vorbei«, meinte Dr. Parker beruhigend, zog die Nadel zurück und schob die Infusionskanüle vorsichtig weiter in die Vene vor. »Ich verspreche Ihnen, daß ich Ihnen nun keine Schmerzen mehr zufügen werde.«

»War gar nicht so schlimm«, flüsterte Sandra tapfer, dann blickte sie zu dem Arzt auf. »Florian weiß nichts von dieser Operation. Er ist bei Claudia geblieben. Zuerst wollte er mich begleiten, aber… ich dachte, es wäre nicht so tragisch… doch jetzt… ich… ich habe Angst…«

»Völlig unnötig«, meinte Dr. Parker mit sanfter Stimme. »Dr. Daniel ist ein erstklassiger Arzt, aber ich glaube, das wissen Sie schon. Und was Ihren Mann betrifft – ich werde dafür sorgen, daß man ihm Bescheid sagt.« Er lächelte wieder, was Sandra an den Fältchen erkennen konnte, die sich erneut um seine Augen bildeten. »Jetzt besser mit der Angst?«

Sandra wirkte noch immer ziemlich besorgt. »Ich… ich werde doch wieder aufwachen, oder?«

»Natürlich«, versicherte Dr. Parker, während er die Spritze zur Narkoseeinleitung entgegennahm. »Dr. Daniel ist Direktor dieser Klinik und achtet zusammen mit dem Chefarzt darauf, daß nur erstklassige Ärzte eingestellt werden. Wenn ich Sie nach diesem Eingriff nicht wieder wachbekommen würde, wäre ich ein miserabler Anästhesist. Dann würde ich auch bestimmt nicht hier arbeiten. Sind Sie jetzt beruhigt?«

Das war Sandra noch immer nicht. »Es geht ja gar nicht um mich persönlich, sondern… um meine kleine Claudia…«

»Keine Angst, Frau Marburg«, wiederholte Dr. Parker. »Es wird alles gutgehen. Sie werden jetzt schlafen, und ich werde ganz genau auf Sie aufpassen.« Er drückte die Spritze auf die zuvor gelegte Infusionsnadel und preßte den Inhalt so direkt in die Vene. Fast augenblicklich war Sandra eingeschlafen.

Die OP-Schwester deckte ihren Körper mit sterilen grünen Tüchern ab – nur das Operationsfeld blieb frei. Dr. Parker verabreichte der Patientin ein Medikament zur Muskelerschlaffung. Danach würde in wenigen Augenblicken auch die Spontanatmung zum Erliegen kommen. Routiniert griff der junge Anästhesist nach dem Lanryngoskop, prüfte die Stimmbänder und schob vorsichtig aber zügig den Endotrachealtubus durch den Mund in die Luftröhre der Patientin. Die Maschine übernahm jetzt ihre Beatmung, und gleichzeitig mit dem Sauerstoff bekam Sandra auf diesem Weg Narkosegas in die Lunge. Das hatte den Vorteil, daß der Anästhesist genau dosieren konnte, wieviel Gas nötig war, um die Narkose der Patientin aufrechtzuerhalten.

»Tubus ist drin«, meldete Dr. Parker, als Dr. Daniel und Alena Reintaler an den OP-Tisch traten. »Sie können anfangen.«

Dr. Daniel streckte die rechte Hand aus und bekam von Schwester Petra das Skalpell gereicht.

»Das war knapp«, stellte Alena fest, als sie die Haken ansetzte, um Dr. Daniel freie Sicht auf das Operationsfeld zu verschaffen.

Dr. Daniel nickte. »Eine halbe Stunde später, und der Eileiter wäre von dem befruchteten Ei gesprengt worden.«

Gewissenhaft ging der Arzt zu Werke, doch obwohl er auf eine langjährige Erfahrung zurückblicken konnte und auch schon so manche Eileiterschwangerschaft operativ behoben hatte, kostete es ihn diesmal wirklich Mühe, den betroffenen Eileiter zu retten.

»Ich hätte das nicht geschafft«, gab Alena freimütig zu, als Dr. Daniel den Eingriff erfolgreich beendet hatte. Dabei blickte sie voller Bewunderung zu dem Arzt auf.

Dr. Daniel winkte bescheiden ab. »Warten Sie nur, bis Sie einmal so lange Gynäkologin sind wie ich, dann schaffen Sie so etwas auch.« Er seufzte leise. »Obwohl ich zugeben will, daß das wirklich ein hartes Stück Arbeit war.«

Jetzt trat er vom OP-Tisch zurück und wandte sich Dr. Parker zu. »Bringen Sie die Patientin bitte auf Intensiv, Jeff. Ich will sichergehen, daß keine Komplikationen auftreten.«

»In Ordnung, Robert«, stimmte der junge Anästhesist zu, während er begann, Sandra zu extubieren. Um ihr die Spontanatmung zu erleichtern, bekam sie durch einen dünnen Plastik­schlauch, der vor ihre Nase gelegt wurde, Sauerstoff, dann schob Dr. Parker das fahrbare Bett, in dem Sandra jetzt lag, zur Intensivstation hinüber.

In der Zwischenzeit hatte sich Dr. Daniel die Hände gewaschen und kam nun auch, um nach seiner Patientin zu sehen.