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Sandra Berger

Transformation im Flammenmeer





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Träume

 

»Ok, Caro, schildere bitte, wohin dich dein Traum geführt hat«, meinte die Therapeutin interessiert.

Sie saß wie immer mit übereinandergeschlagenen Beinen und einem Schreibblock auf den Oberschenkeln, auf ihrem schwarzen, ledernen Sessel. Ihr Äußeres war enorm gepflegt: weiße Bluse, knielanger, brauner Rock und High Heels. Das kastanienbraune, lange Haar hatte sie sorgfältig zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. In der linken Hand, welche auf dem Block ruhte, hielt sie ihren eleganten, silbernen Füllfederhalter bereit.

Caro saß ihr gegenüber auf einem weiteren schwarzen Sessel. Unruhig kaute sie auf der Unterlippe.

Sie war nervös, wie jedes Mal, wenn sie bei Frau Hoffmann saß. Obwohl die Therapeutin überaus freundlich war, hatte sich Caro immer noch nicht daran gewöhnt, mit einer fremden Person über persönliche Sachen zu sprechen.

Die Psychologin nickte aufmunternd.

Caro seufzte und begann, mit ihren Fingernägeln zu spielen. »Wir befanden uns in den Bergen«, sagte sie leise. »Sebastian und ich waren klettern. Das ist überhaupt nicht mein Ding, allerdings waren wir wirklich gut. Wir kletterten die Felswand empor, als hätten wir das schon immer gekonnt. Naja, mir ist klar, dass man im Traum Dinge tut, die man in der Realität nicht kann. Es fühlte sich einfach so echt an.« Caro biss sich angespannt auf die Lippe.

»Habt ihr miteinander gesprochen?«

»Nein«, erwiderte Caro. »Niemand sagte etwas – so wie immer.«

»Und was geschah anschließend?«, fragte Frau Hoffmann.

»Wir erklommen wie gesagt die Felswand. Nachdem wir oben auf der Plattform waren, nahm mich Sebastian in den Arm und …«, Caro strich sich verlegen über die leicht geröteten Wangen, »… küsste mich innig.«

Die Psychologin schrieb nickend eine Notiz auf ihren Block. »Und weiter?«

»Dann war er plötzlich da…!« Caros Stimme brach bei den letzten Worten. Sie wollte nicht davon erzählen – nicht schon wieder!

Nervös spielte sie mit einem Nagelhäutchen.

»Wie ging der Traum weiter?«, fragte Frau Hoffmann mit ruhiger Stimme.

»Na, wie wohl! So wie es immer endet!« Caro biss sich auf die Lippen, dass es fast weh tat. »Sie wissen doch, wie!«

»Ich möchte, dass du es mir beschreibst.«

Beschämt senkte Caro den Kopf. »Er hat mich ohne Vorwarnung die Plattform hinuntergeworfen.« Tränen rannen ihr über die Wangen, die sie barsch mit dem Handrücken entfernte. »Ich fiel und fiel …«, Sie schluckte beklommen. »Ich hatte Todesangst vor dem Aufprall am Boden!« Nervös strich Caro sich zitternd durch die Haare. »Ich …« Ihre Stimme brach erneut.

Neben ihrem Sessel befand sich ein kleiner Beistelltisch mit einer Box Taschentücher. Sie nahm eines heraus, schnäuzte kräftig und warf das Papiertaschentuch in den Abfalleimer darunter. Die Therapeutin beobachtete sie währenddessen geduldig.

Als sich Caro wieder gefangen hatte, fuhr sie fort. Sie wollte es im Prinzip nicht, allerdings fühlte es sich jedes Mal so befreiend an, dass sie es doch tat. »Ich war ein weiteres Mal dort …« Neue Tränen schwammen in ihren Augen. Befangen presste sie die Lippen aufeinander.

»Sprich weiter, Caro«, ermutigte sie die Psychologin, »erzähl mir von deinem Traum.«

»Es war wie immer!« Sie schluchzte. »Um mich befanden sich überall Flammen! Sie kamen näher und näher, bis ich restlos von ihnen umhüllt war!« Caro weinte bitterlich. »Sie haben mich gequält und fortwährend an meinem Körper gezehrt, bis sie mein Herz erreichten!«

»Und was war mit dem Jungen?«

»Na, was wohl! Er schaute wie immer zu!« Caro schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ich will diese Fragen nicht beantworten! Ich will das nicht mehr!« Sie schniefte erneut und nahm ein weiteres Taschentuch.

Die Psychologin schrieb irgendwelche Notizen auf ihren Schreibblock. »Und du bist dir wirklich sicher, dass dich nichts belastet? Keine Probleme in der Schule, mit deinen Eltern oder deinem Freund?« Caro schüttelte vehement den Kopf. »Drängt er dich allenfalls zu etwas, was du nicht möchtest?« Verdattert warf sie der Therapeutin einen kurzen Blick zu.

Wie bitte?

»Drängt er dich vielleicht, mit ihm ins Bett zu gehen?«

Eine verlegene Röte schoss Caro in die Wagen und sie senkte beschämt den Blick zu Boden. »Nein, das tut er nicht.«

Ich werde sicherlich nicht mit ihr über mein Liebesleben sprechen!, entgegnete sie gedanklich. Als ob sie das irgendetwas angeht!

»Bist du dir ganz sicher? Weißt du, es ist normal …«

»Ich habe doch gesagt, dass er das nicht tut!«, unterbrach sie die Psychologin forsch. »Kann ich jetzt gehen? Ich glaube, ich werde jetzt einfach gehen!«

Ohne die Antwort abzuwarten, warf Caro entschlossen das Taschentuch in den Papierkorb und stand auf.

»Die Sitzung ist noch nicht zu Ende«, erwähnte Frau Hoffmann und betrachtete ihre Klientin durchdringend. »Und ob sie das ist!«, zischte Caro, während sie sich die letzte Träne aus dem Gesicht wischte. »Ich bin schließlich alt genug, um das eigenständig zu entscheiden! Auf Wiedersehen!« Sie wandte sich um und ging zur Türe.

»Wie du meinst, Caro. Es ist deine freie Entscheidung!«

Und ob es meine verfluchte Entscheidung ist!, dachte Caro und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

Wütend stampfte sie den Flur entlang. Als ob ich zulasse, dass sie Sebastian da hineinzieht! Sie schüttelte energisch den Kopf! Ausgerechnet Sebastian! »Es gibt keinen anderen Menschen, der besser verstehen kann, was ich durchmache!«, sprach sie leise zu sich.

Gedankenversunken blieb sie vor dem Fahrstuhl stehen und starrte in ihr Spiegelbild, welches von der metallenen Tür widergespiegelt wurde. Langsam ließ sie dabei die Luft aus ihren Lungen entweichen.

Egal, was Chelsy sagt; ich bin nicht verrückt, auch wenn ich zu einer Psychologin gehe!

Mit einem lauten »Ping« öffnete sich der Fahrstuhl und ein untersetzter, kleiner Mann schaute erwartungsvoll hinaus. Er lächelte freundlich und rückte auf der Stelle etwas zur Seite. Caro schüttelte jedoch vehement den Kopf. »Danke, aber ich nehme die Treppe!«, erklärte sie und steuerte geradewegs zum Treppenhaus. Keine Zehn Pferde kriegen mich in diesen Fahrstuhl! Ich war schon mal eingesperrt! Das genügt mir!

Hastig sprang Caro die Treppen hinunter. Sie hatte für diese Woche genug von diesem Gebäude und ihrer Therapeutin. Sie wollte einfach alles hinter sich lassen und auf andere, bessere Gedanken kommen. Und sie wusste, das würde sie auch gleich. Ein wissendes Lächeln breitete sich auf ihrem durch das Weinen leicht geröteten Gesicht aus.

Sie schob die Tür des Treppenhauses auf und spähte ungeduldig zu der gläsernen Eingangstür. Ob er schon da ist? Aller Voraussicht nach nicht, zumal die Therapiesitzung eigentlich noch 15 Minuten andauerte.

Caro näherte sich der Tür und begann augenblicklich zu strahlen. Sie hatte sich geirrt! Er war da!

Den Rücken ihr zugekehrt, stand er gleich neben dem Eingang und beobachtete die vorbeifahrenden Wagen. Wahrscheinlich träumte er mit offenen Augen von seinem Traumauto.

Ihr Herz machte einen kleinen Luftsprung. Sein Anblick verzauberte sie jedes Mal aufs Neue.

Rasch überquerte sie den marmornen Flur und öffnete die Glastür. »Sebastian!«, rief sie freudestrahlend. Ein blonder Junge mit haselnussbraunen Augen drehte sich überrascht zu ihr um. Als er sie allerdings erblickte, zeichnete sich ein glückliches Lächeln auf seinem Gesicht ab. Ungestüm schlang Caro die Arme um Sebastian und legte liebevoll ihren Kopf auf seine Brust. Zärtlich drückte er ihr einen Kuss auf die Haare und zog sie enger an sich.

»Konntest du früher gehen?«, fragte er überrascht. Caro schüttelte leicht den Kopf. »Ich ging, als ich genug von der Sitzung hatte.« Sebastian schmunzelte. »Das klingt danach, als hättest du sie im Griff. Müsste das ursprünglich nicht umgekehrt sein?« Caro legte den Kopf in den Nacken und schaute ihrem Freund tief in die Augen. »Nur weil sie meine Therapeutin ist, heißt das noch lange nicht, dass ich nach ihrer Pfeife tanze.«

»Ich weiß, Caro.« Liebevoll strich er ihr über das Haar. »Ich wollte dich doch nur ein bisschen necken.« Sebastian streichelte ihr behutsam über die Wange. »Du hast wieder geweint, nicht?«, fragte er bedrückt.

Caro senkte ihren Blick und nickte kaum merklich. »Ich weiß nicht, warum meine Eltern darauf bestehen, dass ich ihr jede Woche meine Träume verrate. Das Ganze ist schon so belastend genug.«

»Du musst versuchen, sie zu verstehen«, meinte Sebastian sanft.

Seine Freundin schnaubte. »Ich muss zur Psychologin, weil SIE Angst haben! Nicht umgekehrt!«

»Ist das nicht verständlich? Die Träume häufen sich und sie sorgen sich um dich.«

Caro erwiderte nichts, sondern legte ihren Kopf wieder an seine Brust.

»Wie viele sind es mittlerweile?«, fragte Sebastian sorgenvoll.

»Über hundert …«, gab Caro zur Antwort. Trotzig hob sie den Kopf. »Wie auch immer, meine Eltern müssen nicht …«

»Caro! Die Abstände werden Mal für Mal kürzer«, fiel er ihr ins Wort. »Angenommen du wärst an ihrer Stelle. Was würdest du tun, wenn dein Kind mitten in der Nacht so laut schreit, als ob es umgebracht würde?«

»Das werde ich ja auch!« Tränen brannten in ihren Augen. Doch sie wollte diese Tränen nicht – sie wollte sie nicht mehr! Sie hatte im letzten halben Jahr genug davon vergossen. Irgendwann war es genug!

Sebastian drückte sie sanft an sich und strich ihr beruhigend über den Rücken. Erschöpft legte Caro den Kopf auf seine Brust und seufzte laut. In seiner Nähe fühlte sie sich beschützt. Als ob ihre beiden Körper ein Schutzschild umgab, welches all die schlimmen Erlebnisse abwehren konnte.

»Meinst du, ich werde die Albträume eines Tages wieder los?«

Sebastian hob unwissend die Schultern. »Ich weiß es nicht, aber ich hoffe es sehr. Dein Vater ist zumal der Meinung, ihr müsst nur den dazugehörigen Auslöser finden, dann verschwinden sie auch wieder.«

Caro legte den Kopf in den Nacken und schaute ihn besorgt an. »Und wenn wir ihn niemals finden? Ich weiß ja selbst nicht, warum jeder Traum damit endet, dass ich im Flammenmeer stehe und elend verbrenne! Ich verstehe es schlichtweg nicht!« Sie schüttelte deprimiert den Kopf. »Ich habe echt genug von dieser Sache, Sebastian. Ich bin es einfach leid. Es soll endlich Schluss damit sein!«

»Und das wird es, Caro, davon bin ich überzeugt!«

Sie lächelte matt. »Du klingst schon wie meine Therapeutin.«

Sebastian grinste. »Ich bin nicht nur dein persönlicher Therapeut, sondern auch dein persönlicher Kuschelbär …«, er drückte sie zärtlich an sich, »… dein persönlicher Küsser …«, er küsste ihr gesamtes Gesicht, wobei Caro belustigt kicherte, »… und dein Spielgefährte im Bett …«, er zwinkerte ihr wissend zu. Seine Freundin schüttelte lachend den Kopf. »Du bist unverbesserlich, Sebastian. Denkst nur an das eine!«

»Ich?« Gespielt erstaunt riss er die Augen weit auf. »Ich würde nie nur an das Eine denken! Nein, ich doch nicht!«

»Spinner!«, lachte Caro und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Lippen.

Als sie sich wieder lösen wollte, legte er hastig seine Hand in ihren Nacken und küsste sie ein zweites Mal innig. Sie schmunzelte entzückt und erwiderte seinen Kuss.

»Möchtest du noch irgendetwas Besonderes unternehmen, bevor ich los muss?«, fragte Sebastian, als er sie aus seiner Umarmung ließ.

»Ich finde es doof, dass du gehst«, meinte Caro freudlos.

»Es ist nur übers Wochenende«. Ihr Freund betrachtete sie aus liebevollen Augen.

»Ich weiß einfach nicht, wie ich eine ganze Woche mit meiner zickigen Cousine überstehen soll.«

»Du könntest immer noch mitkommen«, wandte Sebastian vorsichtig ein. Augenblicklich legte sich eine leichte Verbitterung über ihr Gesicht. »Du weißt, dass ich das nicht kann!« »Aber möglicherweise passiert es ja nicht. Es ist nur eine Nacht.« Sie schüttelte vehement den Kopf. »Nein! Es geht nicht!«

Sebastian atmete tief ein und zog seine Freundin zu sich her. Einfühlsam drückte er ihr einen sanften Kuss auf die Stirn.

»Versuche, deiner Cousine einfach aus dem Weg zu gehen. Ok?«

»Haha, sehr witzig«, raunte Caro und verzog das Gesicht. »Das ist ja so gut möglich, wenn man sich das gleiche Zimmer teilen muss!«

Bedrücktheit zeichnete sich auf Sebastians Gesichtszügen ab. »Meinst du, du kriegst das in dieser Zeit mit deinen Träumen hin?«

Sie hob unwissend die Schultern. »Naja, sie wissen es ja.« Caro strich ihm grübelnd über das Brustbein. »Und dennoch hoffe ich, dass ich keinen Albtraum habe. Meine Cousine bringt mich um, wenn ich ihren Schönheitsschlaf störe.« Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Als würde das bei der noch was bringen!«

Sebastian lachte auf. »Ich sehe, das wird eine interessante Woche. Ich hoffe, ihr überlebt es beide.« Er zwinkerte belustigt.

»Dass du mir in der Zwischenzeit auch keine andere anlachst, hörst du?«, bemerkte Caro und zupfte nervös an seinem Ärmel. Sebastian schaute ihr tief in die Augen und zog sie an seine Brust. »Als hätte ich das nötig!« Ein liebevolles Lächeln umspielte seine Lippen. »Ich liebe dich.« Seine Hand legte sich besitzergreifend an ihren Hinterkopf, wobei er ihr sanft einen Kuss gab.

Ihr Peiniger

 

Die weiteren Stunden verbrachten Caro und Sebastian damit, engumschlungen auf ihrem Bett zu liegen und eine DVD zu schauen. Viel davon kriegten sie nicht mit. Sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich hingebungsvoll zu streicheln, Neckereien zuzuflüstern und sich abermals zärtlich zu küssen.

 

Die hölzerne Veranda vor Caros Elternhaus verbreitete eine Spur alte Film-Romantik, als sie nun dicht beieinander standen und sich verabschiedeten.

Entschlossen zog Caro ihren Freund an ihre Brust und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. »Schreibst du mir, sobald du da bist?« Sie musterte ihn bedrückt.

»Ich weiß leider nicht, ob wir dort Empfang haben.« »Ihr geht bloß campen und nicht auf eine Wildnis-Expedition! An irgendeiner Stelle wird es sicher Handyempfang geben!«

»Was heißt hier bloß?«, bemerkte Sebastian gespielt empört. »Ich werde dir sofort schreiben, wenn wir angekommen sind – egal ob mit oder ohne Empfang.«

Caro runzelte die Stirn, begann daraufhin zu lachen. »Versuchst du mich gerade zu veräppeln?« Sie gab ihm einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter.

»Das würde ich nie tun!«, entgegnete er entrüstet und küsste sie anschließend ein weiteres Mal.

»Das DU mir anständig bleibst, wenn ich fort bin.« Er lächelte ab ihren Worten. »Als würde ICH irgendetwas Unanständiges tun!«

»Also, da könnte ich schon manche Dinge aufzählen …«, meinte sie. Gekünstelt hob er die Augenbrauen, um ein leichtes Entsetzen auf sein Gesicht zu zaubern. Caro lachte auf und gab ihm einen zweiten Klaps auf die Schulter.

»Fertig rumgeschmust jetzt!« Caros Vater trat mit Koffern beladen aus dem Haus. »Ihr bekommt noch wunde Lippen von eurem ständigen Rumgeknutsche.« Er zwinkerte belustigt.

»Etwa eifersüchtig?«, entgegnete seine Tochter verschmitzt und drückte ihrem Freund einen weiteren Kuss auf die Lippen. Der Vater grinste. »Was du kannst, das beherrsche ich nicht erst seit gestern!« Er schlang die Arme um seine Frau, die in diesem Moment aus der Tür trat, und gab ihr einen dicken Schmatz. Überrascht riss diese die Augen weit auf.

Caro und Sebastian prusteten ob dieses Schauspiels lauthals heraus. Als der Vater seine Frau wieder losließ, fiel er in das Lachen mit ein.

»Habe ich irgendwas verpasst?«, fragte die Mutter verdutzt. »Nein nein, Thea.« Ihr Ehemann schüttelte den Kopf. »Ich wollte der heutigen Jugend nur zeigen, dass wir es noch genauso drauf haben wie sie!« Er zwinkerte seiner Tochter amüsiert zu.

»Aha ...« Seine Frau krauste die Stirn. »Ihr seid beide die genau gleichen Spaßvögel. Wie der Vater so die Tochter!«

»Und der Spaßvogel-Vater findet jetzt, dass wir gehen sollten. Unser Wellness-Hotel wartet!« Er trat zu Caro und umarmte sie liebevoll. »Dass du mir keine Dummheiten machst bei Tante Sophie, verstanden?«

»Dad!« Caro warf ihm einen empörten Blick zu. »Ich bin 17 und kein kleines Kind mehr!«

»Aber immer noch jung genug, um einen Streit mit deiner Cousine auszutragen!« Seine Tochter verdrehte missmutig die Augen.

»Ach, lass sie, Peter! Caro wird sich mit Chelsy schon wieder vertragen, nicht? Schließlich wart ihr mal beste Freundinnen.« »Ja, Mum, und da waren wir zwei Jahre oder so ...«, meinte Caro kopfschüttelnd.

»Egal! Ich wünsche dir in jedem Fall einen schönen Aufenthalt bei deiner Tante. Grüße sie alle von uns, in Ordnung?« Die Mutter drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange. »Ja Mum, ich werde es ausrichten.«

»Genieße das Camping, Sebastian!« Caros Vater klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Vielen Dank, das werde ich.«

»Auf Wiedersehen, Sebastian.« Die Mutter drückte auch ihm einen Kuss auf die Wange. Angewidert verzog er leicht das Gesicht. Caro kicherte.

Freudestrahlend setzte sich Thea zu ihrem Ehemann in den Wagen. Dieser nickte den Jugendlichen zum Abschied nochmals zu und fuhr los.

 

Als der Wagen hinter der Kurve verschwand, wandte sich Sebastian Caro zu. Zärtlich strich er ihr über den Arm. »Ich muss auch los.« »Jetzt schon?« Er nickte. »Ich muss um zwei bei Reto sein, sonst fahren sie unter Umständen ohne mich.« Er gab ihr einen von Liebe erfüllten Kuss. »Ich werde dir schreiben, wenn es möglich ist. Versprochen.« »Ich liebe dich«, hauchte Caro und drückte ihre Lippen auf seine. »Ich liebe dich immer einmal mehr!« Ihr Freund zwinkerte amüsiert.

»Haha, sehr witzig!« Sie kicherte. »Mach das du wegkommst!«

 

Sebastians Rad stand an die Veranda gelehnt. Elegant hob er sein Bein und schwang sich in den Sattel.

»Und dass du mir ja anständig bleibst!« Ein verschmitztes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Keine Mädchenprügeleien! Vor allem, wenn ich nicht zusehen kann!« »Verschwinde jetzt«, schimpfte Caro lachend.

Sebastian trat grinsend in die Pedale. Zum Abschied drehte er sich nochmals um und schenkte ihr einen Luftkuss. Caro lächelte und sah ihm nach, bis auch er hinter der Kurve verschwand.

Seufzend wandte sie sich dem leeren Haus zu und ging langsam die Verandatreppen hoch. »Und da war es nur noch eine ...«, sagte sie zu sich selber.

Die Hand auf den Türknopf gelegt, blickte sie wehmütig über die Schulter zurück an den Ort, wo vorhin Sebastians Fahrrad stand. Verwundert runzelte sie die Stirn.

Ist da nicht gerade jemand um die Ecke gerannt?

Caro zog fragend die Augenbrauen hoch. »Na toll! Jetzt sehe ich schon Gespenster«, murmelte sie und öffnete die Haustür.

Ein entsetzter Schrei entfuhr augenblicklich ihrer Kehle. Ein Junge mit braunen gekrausten Haaren und blauen Augen stand direkt vor ihr. Wütend funkelte er sie an.

Von Panik ergriffen, drehte sich Caro ruckartig um und rannte die Verandatreppen hinunter. Sie wollte auf dem schnellsten Weg fort von ihm.

Auf der letzten Stufe strauchelte sie allerdings und fiel vornüber auf die Knie. Ein heftiger Schmerz durchzog unverzüglich ihren Körper. Stöhnend rollte sie sich auf die Seite. Das Herz schlug zehn Mal so schnell wie normal in ihrer Brust. Ihr Gesicht war kreidebleich, die Augen weit aufgerissen. Mit dem Gefühl, nicht richtig atmen zu können, blickte Caro ängstlich zu der offenstehenden Tür.

Nichts! Da stand kein Junge! Niemand war zu sehen!

Verstört rappelte sie sich hoch. Ihr Knie pochte immer noch vor Schmerz, doch sie schenkte ihm keine Beachtung. Ihre Gedanken kreisten unentwegt um den Jungen.

Ist er wirklich in der Tür gestanden? Aufgewühlt strich sie sich die Haare aus dem Gesicht. Das ist nicht möglich! Er kann nicht hier sein!

»Er ist nur ein Erzeugnis deiner Albträume!«, wiederholte sie die Worte, welche die Psychologin jeweils benützte. »Er ist nicht real! Er ist NICHT real!«

Entsetzt schüttelte sie den Kopf. »Jetzt klinge ich bereits wie Frau Hoffmann!« Caro schnaubte laut.

Ihren besorgten Blick auf die offenstehende Tür gerichtet, ging sie vorsichtig die Treppen hinauf. Ihr geschundenes Knie zitterte leicht.

Und was, wenn sich der Junge womöglich noch im Haus befindet?

Caro schüttelte erneut den Kopf. Das war aber nicht möglich! Zumal er nur ein Produkt ihrer Fantasie war. Er konnte unmöglich hier sein!

»Und ich frage mich, warum meine Eltern mich zu einer Therapeutin schicken? Sie haben wirklich allen Grund dazu!«

Vorsichtig drückte sie die Tür weiter auf und spähte hinein.

Nichts! Da war nichts Ungewöhnliches!

Vor ihr befand sich ein Regal, an dem unzählige Jacken hingen, während sich darunter die Schuhe der gesamten Familie stapelten.

Langsam betrat Caro den Flur und äugte zu ihrer Rechten ins Wohnzimmer. Das perlfarbene Sofa mit dem Beistelltisch und dem Flachbildfernseher drauf, die Bilder an der Wand, die Vase von Großvater, welche direkt neben dem Fenster stand – alles war wie immer!

»Ich habe es mir nur eingebildet! Da ist nichts! Überhaupt nichts!«

Mit dem Griff nach ihrem Rucksack, der neben dem Stapel von Schuhen lag, atmete sie erleichtert auf.

Caro nahm den Schlüssel aus einem kleinen Holzkästchen an der Wand, trat aus dem Haus und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Nachdem sie abgeschlossen hatte, verstaute sie den Schlüssel in ihrem Rucksack.

Ihr Vater hatte zum Glück bereits gestern die große Reisetasche zur Tante gebracht. So hatte sie heute nur noch das Nötigste wie Pyjama, Schminkzeug, Handy und Brieftasche in den Rucksack gepackt.

Auf der letzten Verandastufe warf Caro einen verstohlenen Blick zur Haustür zurück. Sie konnte das gerade Geschehene einfach nicht vergessen.

Es war so real! Als ob er wahrhaftig vor mir stünde!

Caro versuchte, die Gedanken abzuschütteln, und ging zu ihrem Fahrrad, welches um die Ecke bei der Garage stand.

Auf eine Art empfand sie es nun trotz alledem als Erleichterung, die gesamte Woche bei ihren Verwandten zu verbringen. Nach diesem unheimlichen Erlebnis wollte sie nicht alleine im Haus sein. Nein, nicht nach dieser eigenartigen Begegnung mit dem Peiniger ihrer Albträume!