STEPHANIE PERKINS (HRSG.)

AUF DEN ERSTEN BLICK

JEDE GROSSE LIEBE HAT IHRE GESCHICHTE

Holly Black, Ally Carter, Matt de la Peña,
Gayle Forman, Jenny Han, David Levithan, Kelly Link,
Myra McEntire, Stephanie Perkins, Rainbow Rowell,
Laini Taylor, Kiersten White

Aus dem Amerikanischen
von Petra Koob-Pawis

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Zuerst erschienen unter dem Titel My True Love Gave to Me
bei St. Martin’s Press, New York City 2014
Copyright © 2014 by Stephanie Perkins
Published by Arrangement with Stephanie Perkins
Midnights Copyright © 2014 by Rainbow Rowell
The Lady and the Fox Copyright © 2014 by Kelly Link
Angels in the Snow Copyright © 2014 by Matt de la Peña
Polaris Is Where You’ll Find Me Copyright © 2014 by Jenny Han
It’s a Yuletide Miracle, Charlie Brown Copyright © 2014 by Stephanie Perkins
Your Temporary Santa Copyright © 2014 by David Levithan
Krampuslauf Copyright © 2014 by Holly Black
What the Hell Have You Done, Sophie Roth? Copyright © 2014 by Gayle Forman Inc.
Beer Buckets and Baby Jesus Copyright © 2014 by Myra McEntire
Welcome to Christmas, CA Copyright © 2014 by Kiersten Brazier
Star of Bethlehem Copyright © 2014 by Ally Carter
The Girl Who Woke the Dreamer Copyright © 2014 by Laini Taylor
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

1. Auflage 2016
© für die deutschsprachige Ausgabe: 2016 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Amerikanischen von Petra Koob-Pawis
Umschlag: nach einer Vorlage von Macmillan Children’s Books, London 2014
ISBN 978-3-401-80585-6

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Inhalt

RAINBOW ROWELL

Mitternächte

KELLY LINK

Die Dame und der Fuchs

MATT DE LA PEÑA

Engel im Schnee

JENNY HAN

Willst du mich finden, dann folge dem Polarstern

STEPHANIE PERKINS

Es ist ein Weihnachtswunder, Charlie Brown

DAVID LEVITHAN

Aushilfs-Santa

HOLLY BLACK

Der Krampus-Lauf

GAYLE FORMAN

Was hast du verdammt noch mal getan, Sophie Roth?

MYRA MCENTIRE

Biereimer und das Jesuskind

KIERSTEN WHITE

Willkommen in Christmas, Kalifornien

ALLY CARTER

Der Stern von Bethlehem

LAINI TAYLOR

Das Mädchen, das den Träumer weckte

Für Jarrod – bester Freund und wahre Liebe

RAINBOW ROWELL

Mitternächte

31. Dezember 2014, kurz vor Mitternacht

Draußen unter dem Vordach der Veranda war es kalt. Eisig. Dunkel.

Dunkel, weil Mags um Mitternacht im Freien war, und dunkel, weil sie im düsteren Schatten stand.

Hier würde keiner nach ihr suchen – absolut niemand und vor allem nicht Noel. Der ganze Trubel würde an ihr vorübergehen.

Zum Glück. Darauf hätte Mags schon vor Jahren kommen können.

Sie lehnte sich gegen die Grundmauern von Alicias Haus und machte sich über den Chex Mix, eine Knabbermischung mit Frühstückszerealien, her, den sie mit nach draußen gebracht hatte. (Alicias Mom machte den besten Chex Mix weit und breit.) Mags hörte, wie drinnen die Musik spielte und dann abbrach. Das war ein gutes Zeichen. Das hieß, dass der Countdown angefangen hatte.

»Zehn!«, hörte sie jemanden rufen.

»Neun!«, stimmten andere ein.

»Acht!«

Mags würde alles verpassen.

Perfekt.

31. Dezember 2011, kurz vor Mitternacht

»Sind da Nüsse drin?«, fragte der Junge.

Mags, die gerade in einen Cracker mit Pesto und Cream Cheese beißen wollte, zögerte. »Ich glaube, da sind Pinienkerne drin …«, sagte sie und schielte nach unten. »Sind das Nüsse?«

»Keine Ahnung«, sagte Mags. »Pinien wachsen nicht auf Bäumen, oder?«

Der Junge zuckte die Schultern. Er hatte zerzauste braune Haare, große blaue Augen und trug ein Pokémon-T-Shirt.

»Mit Nüssen kenne ich mich nicht so aus«, sagte Mags.

»Ich auch nicht«, erwiderte er. »Dabei sollte man das meinen – immerhin könnte ich sterben, wenn ich aus Versehen eine esse. Wenn es etwas gibt, das dich umbringen kann, würdest du dich dann nicht auch richtig gut damit auskennen wollen?«

»Da bin ich mir nicht sicher …« Mags schob den Cracker in ihren Mund und fing an zu kauen. »Ich weiß nicht viel über Krebs. Oder Autounfälle.«

»Ja …« Der Junge blickte traurig auf das Büfett. Er war spindeldürr. Und blass. »Nüsse haben es auf mich abgesehen, auf mich ganz persönlich. Sie sind keine Risikofaktoren, sondern Attentäter.«

»Verdammt«, sagte Mags. »Was hast du den Nüssen getan?«

Der Junge lachte. »Ich hab sie gegessen, nehme ich an.«

Die Musik, die zuvor richtig laut gewesen war, verstummte.

»Es ist gleich Mitternacht!«, rief jemand.

Die beiden sahen sich um. Mags Freundin Alicia, mit der sie in dieselbe Klasse ging, stand auf der Couch. Es war Alicias Party – die erste Neujahrsparty, zu der Mags mit ihren fünfzehn Jahren je eingeladen worden war.

»Neun!«, rief Alicia.

»Acht!« Im Partykeller waren ein paar Dutzend Leute, die jetzt alle laut rückwärtszählten.

»Sieben!«

»Ich bin Noel«, sagte der Junge und streckte die Hand aus.

Mags wischte Pesto-Reste und Nusskrümel von den Fingern und schüttelte seine Hand. »Mags.«

»Vier!«

»Drei!«

»Nett, dich kennenzulernen, Mags.«

»Geht mir auch so, Noel. Glückwunsch, dass du den Nüssen auch in diesem Jahr wieder ein Schnippchen geschlagen hast.«

»Mit dem Pesto-Dip hätten sie mich beinahe gekriegt.«

»Ja.« Sie nickte. »Das war echt knapp.«

31. Dezember 2012, kurz vor Mitternacht

Noel ließ sich gegen die Wand sinken und rutschte neben Mags nach unten, dann stieß er sie sanft mit der Schulter an und blies ihr eine Partytröte ins Gesicht. »Hey.«

»Hey.« Sie lächelte ihn an. Er trug eine karierte Flanelljacke und der Kragen seines weißen Hemds stand offen. Noel war blass und wurde schnell rot. Jetzt gerade war er von der Stirn bis zum zweiten Knopf seines Hemds rosa. »Du bist ja eine richtige Tanzmaschine«, sagte sie.

»Ich tanze gerne, Mags.«

»Ich weiß.«

»Und es gibt nicht so viele Gelegenheiten dazu.«

Sie zog eine Augenbraue hoch.

»Ich mag es, mit anderen Leuten zusammen zu tanzen«, erklärte Noel. »Es geht um das Gemeinschaftsgefühl.«

»Ich habe solange auf deinen Schlips aufgepasst.« Sie hielt ihm die rote Seidenkrawatte hin. Er hatte sie ihr zugeworfen, als er auf dem Couchtisch tanzte.

»Danke.« Er nahm die Krawatte und schlang sie um den Hals. »Du hast sie gut aufgefangen, aber eigentlich wollte ich dich damit auf die Tanzfläche locken.«

»Es war ein Couchtisch, Noel.«

»Da war Platz für zwei, Margaret.«

Mags rümpfte nachdenklich die Nase. »Ich glaube nicht.«

»Bei mir ist immer Platz für dich, auf jedem Couchtisch«, sagte er. »Du bist meine beste Freundin.«

»Pony ist dein bester Freund.«

Noel fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Es war verschwitzt und lockig und fiel über seine Ohren. »Natürlich ist Pony mein bester Freund. Und Frankie. Und Connor.«

»Und deine Mom«, sagte Mags.

Noel grinste sie an. »Und ganz besonders du. Heute ist unser Jahrestag. Ich kann nicht fassen, dass du an unserem Jahrestag nicht mit mir tanzen willst.«

»Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte sie. (Sie wusste genau, wovon er redete.)

»Genau hier ist es passiert.« Noel deutete auf das Büfett, wo Alicias Mom immer kleine Snacks bereitstellte. »Ich hatte eine allergische Reaktion und du hast mein Leben gerettet. Du hast einen Adrenalinstift in mein Herz gestoßen.«

»Ich habe Pesto gegessen«, sagte Mags.

»Heldenhaft«, stimmte Noel zu.

Mit einem Ruck setzte sie sich auf. »Du hast doch nicht etwa von dem Hühnchensalat probiert, oder? Da waren Mandeln drin.«

»Immer bemüht, mein Leben zu retten«, sagte er.

»Hast du?«

»Nein. Aber ich habe vom Fruchtcocktail genascht. Ich glaube, da waren Erdbeeren drin – mein Mund ist schon ganz kribblig.«

Mags sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Geht es dir gut?«

Noel wandte den Blick ab. Er sah erhitzt aus. Und verschwitzt. Seine Zähne schienen zu groß für seinen Mund zu sein und sein Mund war zu groß für sein Gesicht.

»Mir geht’s gut«, sagte er. »Ich lasse es dich wissen, wenn meine Zunge anschwillt.«

»Deine anzüglichen allergischen Reaktionen kannst du für dich behalten«, sagte sie.

Noel wackelte mit den Augenbrauen. »Du solltest mal sehen, was passiert, wenn ich Meeresfrüchte esse.«

Mags verdrehte die Augen und bemühte sich, nicht zu lachen. Nach einer Sekunde sah sie ihn wieder an. »Also gut, was passiert, wenn du Meeresfrüchte isst?«

Er wedelte lässig mit der Hand vor der Brust. »Ich krieg einen Ausschlag.«

Sie runzelte die Stirn. »Wie kommt es, dass du überhaupt noch am Leben bist?«

»Das verdanke ich den täglichen Bemühungen von Helden wie dir.«

»Dann solltest du auf den pinken Salat verzichten«, riet Mags ihm. »Da sind Shrimps drin.«

Noel warf seine rote Krawatte um ihren Hals und lächelte sie an. Es war ein Lächeln und kein Grinsen. »Danke.«

»Ich danke dir.« Sie zog die Enden der Krawatte glatt und betrachtete sie. »Der Schlips passt zu meinem Pullover.« Mags trug ein weites Pullover-Kleid mit irgendeinem skandinavischen Muster aus einer Million Farben.

»Alles passt zu deinem Pullover«, entgegnete er. »Du siehst aus wie ein Osterei zu Weihnachten.«

»Ich komme mir vor wie ein kunterbunter Muppet«, sagte sie. »Wie einer von den flauschigen.«

»Dein Kleid gefällt mir«, sagte Noel. »Es ist ein Fest für die Sinne.«

Sie war sich nicht sicher, ob er sich über sie lustig machte, und beschloss daher, das Thema zu wechseln. »Wo ist Pony?«

»Da drüben.« Noel deutete auf die andere Seite des Raums. »Er wollte schon mal in Position gehen, um ganz zufällig neben Simini zu stehen, wenn es Mitternacht schlägt.«

»Damit er sie küssen kann?«

»Genau«, sagte Noel. »Auf den Mund, wenn alles nach Plan geht.«

»Das ist widerlich.« Mags fummelte an Noels Krawatte herum.

»Küssen?«

»Nein … Küssen ist okay.« Sie spürte, wie sie rot wurde. Zum Glück war sie nicht so blass wie Noel, sonst hätten ihr Gesicht und ihr Hals sie verraten. »Es ist widerlich, wenn man den Silvesterabend dazu benutzt, jemanden zu küssen, der das vielleicht gar nicht will. Wenn man jemanden mit einem Vorwand austrickst.«

»Vielleicht will Simini Pony ja küssen.«

»Vielleicht ist es ihr total peinlich«, sagte Mags. »Aber sie tut es trotzdem, weil sie das Gefühl hat, sie müsste.«

»Er wird sie nicht bedrängen«, erwiderte Noel. »Er wird es erst einmal mit der Augenkontakt-Methode probieren.«

»Was für eine Methode?«

Noel drehte den Kopf und nahm Augenkontakt mit Mags auf. Erwartungsvoll zog er die Augenbrauen hoch und sein Blick wurde weich und verheißungsvoll. Seine Miene sagte eindeutig: Hey, was dagegen, wenn ich dich küsse?

»Oh«, sagte Mags. »Das ist echt gut.«

Noel wechselte blitzartig den Gesichtsausdruck und zog eine Grimasse, um zu sagen: Tja, was denn sonst? »Natürlich ist es gut. Ich habe schon mehr als einmal Mädchen geküsst.«

»Tatsächlich?«, fragte Mags. Sie wusste, dass Noel sich gerne mit Mädchen unterhielt. Aber sie hatte noch nie gehört, dass er eine Freundin hätte. Und das hätte sie bestimmt mitbekommen, immerhin gehörte sie zu Noels vier besten Freunden.

»Pff«, schnaubte er. »Drei Mädchen. Insgesamt acht Mal. Ich kann also von mir behaupten, dass ich weiß, wie Augenkontakt geht.«

Das waren eindeutig mehr Küsse, als Mags sie mit ihren sechzehn Jahren zustande gebracht hatte.

Sie blickte hinüber zu Pony. Er stand neben dem Fernseher. Simini war einen guten Meter entfernt und unterhielt sich mit ihren Freunden.

»Trotzdem«, sagte Mags. »Irgendwie ist es Betrug.«

»Wieso Betrug?« Noel folgte ihrem Blick. »Weder sie noch er sind in einer festen Beziehung.«

»Ich meine nicht diese Art von Betrug«, sagte Mags. »Es geht eher darum, dass man … gewisse Dinge überspringt. Wenn du jemanden magst, dann solltest du dich um ihn bemühen müssen. Du solltest ihn erst kennenlernen müssen – du solltest dir deinen ersten Kuss verdienen.«

»Pony und Simini kennen sich doch schon.«

»Richtig«, stimmte sie zu. »Aber sie sind noch nie miteinander ausgegangen. Hat Simini schon jemals irgendwie zu verstehen gegeben, dass sie Interesse an ihm hat?«

»Manchmal muss man Leuten auf die Sprünge helfen«, sagte Noel. »Ich meine – sieh dir Pony an.«

Das tat Mags. Er trug eine schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Mittlerweile hatte er einen halb herausgewachsenen Irokesenschnitt, aber in der Mittelstufe hatte er noch einen Pferdeschwanz gehabt, deshalb nannten ihn alle immer noch Pony. Er war meistens laut und lustig und manchmal auch laut und unausstehlich. Ständig kritzelte er mit einem Tintenroller seine Arme voll.

»Der Kerl hat keinen Schimmer, wie man einem Mädchen sagt, dass man es mag«, stellte Noel fest. »Nicht den leisesten Schimmer … und jetzt sieh dir Simini an.«

Mags tat es. Simini war klein und zart und schüchtern. Man konnte sich kaum vorstellen, dass sie ihr Schneckenhaus jemals verlassen würde. Wenn man mit ihr reden wollte, musste man unter ihre harte Schale kriechen.

»Nicht alle haben unsere gesellschaftliche Gewandtheit«, seufzte Noel. Er beugte sich zu Mags und deutete auf Pony und Simini. »Nicht alle wissen, wie sie das bekommen können, was sie wollen. Vielleicht ist Mitternacht genau das, was die zwei brauchen, um in die Gänge zu kommen – willst du ihnen das verwehren?«

Mags drehte sich zu Noel. Sein Gesicht war direkt über ihrer Schulter. Er strahlte Wärme aus und roch wie ein Bodyspray von Wallgreens. »Jetzt bist du melodramatisch«, sagte sie.

»Das liegt daran, dass ich dem Tod ins Auge geblickt habe.«

»Sprichst du von dem Tanz auf dem Couchtisch?«

»Nein, von den Erdbeeren.« Er streckte die Zunge heraus und versuchte weiterzusprechen. »Schieht schie dick ausch?«

Mags war noch dabei, Noels Zunge zu inspizieren, als die Musik verstummte.

»Es ist gleich Mitternacht«, rief Alicia, die neben dem Fernseher stand. Auf dem Times Square fing nun der Count Down an. Mags sah, wie Pony von seinem Handy hochblickte und beinahe unmerklich näher an Simini heranrückte.

»Neun!«, hallte es durch den Raum. »Acht!«

»Deine Zunge sieht völlig normal aus«, sagte Mags zu Noel.

Er zog die Zunge zurück und lächelte.

Mags hob die Augenbrauen, ohne es selbst zu merken.

»Alles Gute zum Jahrestag, Noel.«

Noels Blick wurde sanft. Zumindest bildete sie sich das ein.

»Alles Gute zum Jahrestag, Mags.«

»Vier!«

Plötzlich kam Natalie angerannt. Sie ließ sich an der Wand zu Noel herabgleiten und packte ihn an der Schulter.

Natalie war mit Mags und Noel befreundet, auch wenn sie nicht unbedingt zu den besten Freunden zählte. Sie hatte karamellbraune Haare und trug immer Flanellhemden, die über der Brust spannten. »Frohes neues Jahr!«, rief sie.

»Noch nicht«, sagte Mags.

»Eins!«, johlten alle.

»Frohes neues Jahr«, sagte Noel zu Natalie.

Natalie beugte sich zu ihm und er beugte sich zu ihr. Und dann küssten sie sich.

31. Dezember 2013, kurz vor Mitternacht

Noel stand auf der Couchlehne und hatte die Hände nach Mags ausgestreckt.

Mags ging an ihm vorbei und schüttelte nur den Kopf.

»Komm schon!«, rief er über die Musik hinweg.

Sie schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen.

»Das ist unsere letzte Chance, miteinander zu tanzen!«, bettelte er. »Es ist unser Abschlussjahr!«

»Wir können noch monatelang tanzen«, erwiderte Mags. Sie blieb am Essenstisch stehen, um sich eine Mini-Quiche zu holen.

Noel stieg von der Lehne, kletterte auf den Couchtisch und streckte sein langes Bein aus, um mit einem großen Schritt auf das Zweiersofa zu Mags zu gelangen.

»Sie spielen unseren Song«, sagte er.

»Sie spielen ›Baby Got Back‹«, erwiderte Mags.

Noel grinste.

»Nur dass du’s weißt«, stellte sie klar. »Ich werde nicht mit dir tanzen.«

»Das hast du sowieso noch nie getan«, erinnerte er sie.

»Dafür mache ich alles andere mit dir«, schmollte Mags. Das stimmte. Sie lernte mit Noel. Sie aß mit Noel zu Mittag. Sie holte Noel auf dem Weg zur Schule ab. »Ich gehe mit dir sogar zum Friseur.«

Er griff sich an den Hinterkopf. Sein Haar war braun und dicht und fiel in weichen Locken auf den Kragen. »Mags, wenn du nicht dabei bist, dann schneiden sie es viel zu kurz.«

»Ich beschwere mich ja nicht«, sagte sie. »Ich will gerade nur nicht tanzen.«

»Was isst du da?«, fragte er.

»So ’ne Art Quiche, denke ich.«

»Ist das auch was für mich?«

Sie steckte sich ein kleines Stück in den Mund und kaute darauf herum. Es schmeckte weder nach Nüssen noch nach Erdbeeren oder Kiwi oder Meeresfrüchten. »Ich denke schon.« Mags hielt eine Quiche hoch. Noel beugte sich vor und aß ihr aus der Hand. Wie er da auf dem Sofa über ihr stand, war er fast zwei Meter zwanzig groß. Er trug einen lächerlichen weißen Anzug. Dreiteilig. Wo in alles in der Welt kriegte man einen dreiteiligen weißen Anzug her?

»Schmeckt gut«, sagte er. »Danke.« Er griff nach Mags Coke und sie überließ sie ihm – dann setzte er das Getränk ab und legte den Kopf zur Seite. »Margaret. Sie spielen unser Lied.«

Mags lauschte. »Ist das dieser Ke$ha-Song?«

»Lass uns tanzen. Es ist unser Jahrestag.«

»Ich mag es nicht zu tanzen, wenn so viele Leute dabei sind.«

»Aber so ist es doch am schönsten! Beim Tanzen kommt es auf das Gemeinschaftsgefühl an!«

»Für dich vielleicht.« Mags versetzte seinem Oberschenkel einen Stoß. Noel wankte, verlor aber nicht die Balance. »Wir sind nicht ein- und dieselbe Person.«

»Ich weiß«, sagte Noel. »Du musst nicht auf Nüsse verzichten. Iss einen dieser Brownies für mich – und lass mich dabei zuschauen.«

Mags ließ den Blick über das Büfett schweifen und deutete auf einen Teller mit Pekannuss-Brownies. »Die da?«

»Ja«, sagte Noel.

Sie nahm einen Brownie und biss hinein. Ein paar Krümel fielen auf ihr geblümtes Kleid und sie wischte sie weg.

»Schmeckt es?«, fragte er.

»Sehr gut«, antwortete sie. »Sehr nussig. Und saftig.« Sie nahm einen weiteren Bissen.

»Das ist so unfair«, beschwerte sich Noel. Er hielt sich an der Sofalehne fest und beugte sich noch weiter vor. »Zeig mal her.«

Mags öffnete den Mund und streckte die Zunge heraus.

»Echt unfair«, wiederholte er. »Das sieht köstlich aus.«

Sie schloss den Mund und nickte.

»Iss deinen köstlichen Brownie auf und dann tanz mit mir«, bat er sie.

»Die ganze Welt tanzt mit dir«, sagte Mags. »Lass mich damit in Ruhe.«

Sie nahm sich noch eine Quiche und noch einen Brownie und ließ Noel stehen.

In Alicas Keller gab es nicht sehr viele Sitzgelegenheiten, deshalb nahm Mags meistens mit dem Fußboden vorlieb (das war vielleicht auch der Grund, warum Noel meistens auf dem Couchtisch landete). Pony hatte den Sitzsack in der Ecke neben der Bar in Beschlag genommen und Simini saß auf seinem Schoß. Simini lächelte Mags an. Mags erwiderte das Lächeln und winkte ihr zu.

In der Bar gab es keinen Alkohol. Vor jeder Party räumten Alicias Eltern ihn vorsorglich weg. Alle Barstühle waren besetzt, also ließ sich Mags von irgendjemandem auf die Theke hochhelfen.

Sie beobachtete Noel beim Tanzen. (Mit Natalie. Und dann mit Alicia und Connor. Und dann alleine, mit den Armen über dem Kopf.)

Sie beobachtete alle beim Tanzen.

In diesem Keller fanden sämtliche Partys stand. Nach Football-Spielen und nach Schultanzveranstaltungen. Noch vor zwei Jahren hatte Mags hier niemanden außer Alicia gekannt. Jetzt war fast jeder entweder ein bester Freund, ein Freund oder jemand, den sie gut genug kannte, um sich von ihm fernzuhalten.

Oder Noel.

Mags aß ihren Brownie auf und sah zu, wie Noel herumhüpfte.

Noel war ihr allerbester Freund – auch wenn sie es für ihn nicht war. Noel war ihr ganz besonderer Mensch.

Er war der Erste, mit dem sie morgens redete, und der Letzte, dem sie am Abend eine SMS schrieb. Dabei war das weder Absicht noch Methode. So war es einfach zwischen ihnen. Wenn sie Noel etwas nicht erzählte, dann war es so, als wäre es nicht passiert.

Die beiden waren unzertrennlich, seit sie in der zweiten Hälfte der zehnten Klasse gemeinsam den Journalismus-Kurs belegt hatten. (Das war ihr eigentlicher Jahrestag, nicht der Silvesterabend.) Danach hatten sie sich gemeinsam für Fotografie und Tennis eingeschrieben.

Sie waren so enge Freunde, dass Mags im letzten Jahr mit Noel zum Abschlussball gegangen war, obwohl er bereits ein anderes Date hatte.

»Klar kommst du mit uns beiden mit«, hatte Noel gesagt.

»Und Amy hat nichts dagegen?«

»Amy weiß, dass sie uns nur im Doppelpack haben kann. Vielleicht würde sie mich nicht einmal mögen, wenn du nicht immer bei mir wärst.«

(Nach dem Abschlussball waren Noel und Amy nie wieder ausgegangen. Sie waren nicht einmal lange genug zusammen gewesen, um Schluss zu machen.)

Mags überlegte, ob sie sich noch einen Brownie genehmigen sollte, als jemand die Musik abdrehte und jemand anderes die Lichter flackern ließ. Alicia kam an der Bar vorbei und rief: »Gleich ist Mitternacht!«

Pony fing an zu zählen. »Zehn!«

Mags sah sich im Raum um, bis sie Noel entdeckt hatte – er stand auf der Couch und sah sie an. Dann machte er einen Schritt in Mags’ Richtung und stieg mit einem wölfischen Grinsen auf den Couchtisch. Noels Grinsen war immer ein kleines bisschen wölfisch. Er zeigte dabei all seine Zähne. Mags holte tief Luft und stieß sie etwas zittrig wieder aus. (Noel war ihr ganz besonderer Mensch.)

»Acht!«, rief der ganze Raum.

Noel winkte sie zu sich.

Mags zog die Augenbraue hoch.

Er winkte erneut und seine Miene sagte: Komm schon, Mags.

»Vier!«

Da stieg Frankie zu Noel auf den Couchtisch und legte den Arm um seine Schultern.

»Drei!«

Noel drehte sich zu Frankie und grinste.

»Zwei!«

Frankie zog die Augenbrauen hoch.

»Eins!«

Frankie stellte sich auf die Zehenspitzen und Noel beugte sich zu Frankie herunter.

Und dann küssten sie sich.

31. Dezember 2014, gegen 21:00 Uhr

Mags hatte Noel in den Winterferien noch nicht zu Gesicht bekommen, da er Weihnachten mit seiner Familie in Disney World verbracht hatte.

Es sind fast siebenundzwanzig Grad, hatte er ihr geschrieben, und ich habe seit 72 Stunden ununterbrochen Mauseohren auf dem Kopf.

Mags hatte Noel seit August nicht mehr gesehen. Damals war sie in aller Frühe zu ihm nach Hause gegangen, um sich von ihm zu verabschieden, bevor sein Dad ihn nach Notre Dame fuhr.

An Thanksgiving war Noel nicht nach Hause gekommen; der Flug wäre zu teuer gewesen.

Sie hatte Fotos von irgendwelchen Leuten gesehen, die er gepostet hatte. (Leute aus seinem Studentenwohnheim. Leute auf Partys. Mädchen.) Sie und Noel hatten sich Textnachrichten geschickt. Eine ganze Menge sogar. Aber seit August hatte sie ihn nicht mehr gesehen – und auch seine Stimme nicht mehr gehört.

Ehrlich gesagt, wusste sie gar nicht mehr, wie er sich anhörte. Es war das erste Mal, dass sie über Noels Stimme nachdachte. Ob sie dunkel und rau war. Oder hoch und weich. Sie wusste nicht mehr, wie Noel klang – oder wie er aussah, wenn er sich bewegte. Sie sah sein Gesicht nur in Dutzenden von Fotos, die sie immer noch auf ihrem Handy hatte.

Gehst du dieses Jahr zu Alicia?, hatte er ihr gestern geschrieben. Da war er am Flughafen gewesen, auf dem Weg nach Hause.

Wohin sollte ich sonst gehen?, hatte Mags zurückgeschrieben.

Cool.

Mags traf schon frühzeitig bei Alicia ein und half ihr, den Keller sauber zu machen. Dann half sie Alicias Mom beim Glasieren der Brownies. Alicia war über die Winterferien von ihrem College in South Dakota nach Hause gekommen. Sie hatte jetzt ein Tattoo einer Wiesenlerche auf dem Rücken.

Mags hatte keine neuen Tattoos. Sie hatte sich nicht im Geringsten verändert. Sie war ja noch nicht einmal aus Omaha weggekommen, weil sie ein Stipendium für Industrial Design an einer der örtlichen Unis hatte. Ein Vollstipendium. Es wäre dumm von ihr gewesen wegzugehen.

Niemand kam pünktlich zur Party, aber irgendwann waren alle eingetrudelt.

»Kommt Noel auch?«, fragte Alicia, als es nicht mehr dauernd an der Tür läutete.

Woher soll ich das wissen?, hätte Mags am liebsten geantwortet. Dabei wusste sie es genau. »Ja, er kommt«, sagte sie. »Er wird bald da sein.« Auf dem Ärmel ihres Kleids hatte sie einen kleinen Schokoladenfleck. Sie versuchte, ihn mit dem Fingernagel abzukratzen.

Mags hatte sich dreimal umgezogen, ehe sie sich schließlich für dieses Kleid entschieden hatte.

Ursprünglich hatte sie ein Kleid tragen wollen, das Noel immer gefallen hatte, es war grau mit dunkelroten Pfingstrosen. Aber Noel sollte nicht denken, dass sie sich seit ihrer letzten Begegnung kein bisschen weiterentwickelt hatte.

Also hatte sie sich umgezogen. Und dann noch einmal. Zuletzt hatte sie dieses Kleid gewählt, ein cremefarbenes Etuikleid mit Spitze, das sie noch nie zuvor getragen hatte, dazu eine Strumpfhose mit barocken Mustern in Pink und Gold.

Sie hatte vor ihrem Schlafzimmerspiegel gestanden und sich betrachtet. Ihr dunkelbraunes Haar. Ihre dichten Augenbrauen und das stumpfe Kinn. Sie hatte versucht, sich so zu sehen, wie Noel sie bei ihrer ersten Begegnung seit August sehen würde. Gleich darauf hatte sie sich bemüht, so zu tun, als wäre es ihr egal.

Dann war sie aus dem Haus gegangen.

Sie war auf halbem Weg zu ihrem Auto gewesen, als sie noch einmal in ihr Zimmer zurückgekehrt war und die Ohrringe angelegt hatte, die Noel ihr im Vorjahr zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte – Engelsflügel.

Als Noel schließlich eintraf, war Mags gerade in ein Gespräch mit Pony vertieft. Er war auf einer Uni in Iowa und studierte Ingenieurswissenschaften. Er hatte sein Haar wachsen lassen und trug es wieder zu einem Pferdeschwanz gebunden. Simini zupfte ständig daran herum, weil es ihr gefiel. Sie studierte Kunst in Utah, wollte aber nach Iowa wechseln. Womöglich wechselte Pony aber auch nach Utah. Oder sie trafen sich irgendwo in der Mitte.

»Was ist in der Mitte?«, fragte Pony. »Nebraska? Scheiße, Süße, vielleicht sollten wir einfach nach Hause zurückkehren.«

Mags spürte es sofort, als Noel den Raum betrat. (Er kam zur Hintertür herein und brachte einen Schwall kalter Luft mit.)

Sie blickte über Ponys Schulter hinweg und sah Noel – und Noel sah sie. Mit großen Schritten durchquerte er den Kellerraum, stieg über das Zweiersofa, den Couchtisch und die Couch hinweg. Er zwängte sich zwischen Pony und Simini hindurch, schlang die Arme um Mags und wirbelte sie im Kreis herum.

»Mags!«, sagte Noel.

»Noel«, flüsterte Mags.

Danach umarmte Noel auch Pony und Simini. Und Frankie und Alicia und Connor. Und alle anderen. Noel war ein Umarmer. Schließlich kehrte er zu Mags zurück, schob sie an die Wand und hielt sie dort in einer Umarmung gefangen. »Oh Gott, Mags«, sagte er. »Verlass mich nie.«

»Ich habe dich nie verlassen«, murmelte sie in seine Brust. »Ich bin immer da.«

»Dann lass nicht zu, dass ich dich verlasse«, flüsterte er in ihre Haare hinein.

»Wann gehst du wieder nach Notre Dame zurück?«, fragte sie.

»Am Sonntag.«

Noel trug eine weinrote Hose (weicher als Jeans und rauer als Samt), ein blau-blau-gestreiftes T-Shirt und eine graue Jacke mit aufgestelltem Kragen.

Er war so blass wie immer.

Seine Augen waren so groß und so blau wie immer.

Aber seine Haare waren kurz geschnitten: Stoppeln am Hinterkopf und an den Ohren, lange braune Locken über der Stirn. Mags berührte mit der Hand seinen Hinterkopf. Es fühlte sich so an, als würde etwas fehlen.

»Ich hätte dich mitnehmen sollen, Margaret«, seufzte er. »Die Frau, die mich malträtiert hat, konnte gar nicht aufhören.«

»Nein.« Mags rubbelte Noels Stoppelhaare. »Es sieht gut aus. Es steht dir.«

Alles war wie immer und alles war anders.

Dieselben Leute. Dieselbe Musik. Dieselben Sofas.

Aber in den vergangenen vier Monaten hatten sich alle verändert und in ganz verschiedene Richtungen weiterentwickelt.

Frankie hatte Bier mitgebracht und es unter der Couch versteckt und Natalie war schon bei ihrer Ankunft betrunken gewesen. Connor hatte seinen neuen College-Freund angeschleppt. Alle hassten ihn und Alicia versuchte immer wieder, Connor beiseitezuziehen, um ihm das zu sagen. Der Keller schien voller als sonst und es wurde auch mehr nicht so viel getanzt …

Die Gäste tanzten wie auf einer normalen Party, einer Party bei irgendjemandem. Früher waren die Partys noch anders gewesen. Fünfundzwanzig Leute waren in einem Kellerraum zusammengekommen und alle hatten sich so gut gekannt, dass niemand sich zurückhalten musste.

An diesem Abend tanzte nicht einmal Noel. Er blieb bei Pony und Simini und Frankie. Und er wich nicht von Mags’ Seite, als wären er und sie aneinandergeklebt.

Sie war so froh, dass sie und Noel nie aufgehört hatten, sich Nachrichten zu schreiben – dass sie immer noch wusste, welche Sorgen er beim Aufwachen hatte. Die Insider-Witze der anderen waren sieben Monate alt, aber Noel und Mags hatten nichts voneinander verpasst.

Noel nahm ein Bier, das Frankie ihm anbot, aber als er sah, wie Mags die Augen verdrehte, reichte er es an Pony weiter.

»Ist es nicht merkwürdig, immer noch in Omaha zu sein?«, fragte Simini Mags. »Jetzt, da alle anderen weg sind?«

»Es ist so, als würdest du nach Ladenschluss durchs Einkaufszentrum laufen«, antwortete Mags. »Ich vermisse euch alle sehr.«

Noel schreckte aus seinen Gedanken hoch. »Hey«, sagte er zu Mags und zupfte an ihrem Ärmel.

»Was denn?«

»Komm, komm – komm mit.«

Er zog Mags weg von ihren Freunden, aus dem Keller hinaus, die Treppe hoch. Im Erdgeschoss sagte er: »Zu weit. Hier hört man die Musik nicht.«

»Was?«

Sie gingen die Treppe wieder hinunter und blieben auf halbem Weg stehen. Noel tauschte Plätze mit ihr, sodass sie eine Stufe höher stand als er. »Tanz mit mir, Mags. Sie spielen unser Lied.«

Mags tippte sich an den Kopf. »›A Thousand Years‹?«

»Das ist unser richtiger Song«, sagte er. »Tanz mit mir.«

»Wie kann das unser Song sein?«, fragte sie.

»Das Lied lief, als wir uns kennenlernten«, sagte Noel.

»Wann?«

»Als wir uns kennenlernten«, wiederholte Noel und machte eine kreisende Handbewegung, wie um Mags zur Eile anzutreiben.

»Als wir uns hier kennenlernten?«

»Ja, genau. Unten im Keller. In der Zehnten. Als du mein Leben gerettet hast.«

»Ich habe nie dein Leben gerettet, Noel.«

»Warum verdirbst du mir immer diese Geschichte?«

»Du erinnerst dich tatsächlich noch an das Lied, das lief, als wir uns kennenlernten?«

»Ich weiß genau, welcher Song wann lief«, sagte er. »Immer.«

Das stimmte. »Echt?«, fragte Mags, der nichts Besseres einfiel.

Noel stöhnte.

»Ich will aber nicht tanzen«, sagte sie.

»Du magst nur nicht inmitten von anderen Leuten tanzen«, erinnerte er sie.

»Das ist wahr.«

»Warte mal kurz.« Mit einem Seufzer rannte Noel die Treppe hinunter. »Geh nicht weg!«, rief er zu ihr hoch.

»Ich gehe nie irgendwohin«, rief sie zurück.

Sie hörte, wie der Song von vorne anfing.

Da kam Noel auch schon wieder hochgerannt. Auf der Stufe unter ihr blieb er stehen und breitete die Arme aus. »Bitte.«

Seufzend hob Mags die Hände. Sie wusste nicht recht, was sie mit ihnen anstellen sollte …

Noel nahm Mags’ eine Hand in seine, legte ihre andere Hand auf seine Schulter und schlang seinen Arm um ihre Taille. »Oh Mann«, sagte er. »War das wirklich so schwer?«

»Ich frage mich, warum dir das so wichtig ist«, sagte sie. »Zu tanzen.«

»Ich frage mich, warum dir das so wichtig ist«, sagte er. »Nicht mit mir zu tanzen.«

Auf der Treppe war Mags ein kleines bisschen größer als Noel. Sie standen da und wiegten sich hin und her.

Alicias Mom kam die Treppe herunter. »Hey, Mags. Hey, Noel – wie geht’s in Notre Dame?«

Noel zog Mags näher zu sich heran, damit Mrs Porter an ihnen vorbeikonnte. »Gut«, sagte er.

»Beim Spiel gegen Michigan habt ihr wohl ein Nickerchen gemacht.«

»Ich bin nicht im Football-Team«, sagte Noel.

»Das ist keine Entschuldigung«, erwiderte Mrs Porter.

Auch als Alicias Mom schon weg war, ließ Noel Mags nicht los. Er hatte den Arm um ihre Hüfte gelegt und sie berührten sich an Bauch und Brust.

Im Laufe der Jahre hatten sie sich schon sehr oft berührt, als Freunde. Noel mochte es, Leute anzufassen. Noel umarmte. Noel kitzelte und zupfte an den Haaren. Noel zog andere zu sich auf den Schoß. Und offensichtlich küsste er jeden, der ihn an Silvester ansah und die Augenbrauen hob …

Aber Mags hatte er noch nie so gehalten.

Sie hatte noch nie seine Gürtelschnalle an ihrer Hüfte gespürt. Sie hatte noch nie seinen Atem geschmeckt.

Mrs Porter kam wieder die Treppe herauf, was Noel zum Anlass nahm, Mags noch etwas enger zu halten.

»A Thousand Years« fing von vorne an.

»Hast du jemandem gebeten, es als Dauerschleife laufen zu lassen?«, fragte Mags.

»Ich habe die Repeat-Taste gedrückt«, antwortete er. »Irgendwann werden es die anderen schon merken und den nächsten Song spielen.«

»Gehört das nicht zum Soundtrack von Twilight?«

»Tanz mit mir, Mags.«

»Das tu ich doch«, sagte sie.

»Ich weiß. Hör nicht auf damit.«

»Okay.« Mags hatte bis jetzt den Rücken durchgedrückt, damit sie nicht die Balance verlor, wenn Noel sie losließ. Jetzt entspannte sie sich. Sie ließ sich von ihm halten und ihr Arm glitt über seine Schulter. Sie berührte seinen Hinterkopf, weil sie es so wollte – weil dort immer noch etwas fehlte.

»Es gefällt dir nicht«, stellte er fest.

»Doch, das tut es«, erwiderte sie. »Es ist nur anders.«

»Du bist anders.«

Mags’ Gesichtsausdruck sagte: Du bist verrückt.

»Es stimmt«, beharrte Noel.

»Ich bin so wie immer«, erwiderte sie. »Ich bin die Einzige, die so wie immer ist.«

»Du bist diejenige, die sich am meisten verändert hat.«

»Wie kommst du darauf?«

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Wir anderen sind weggegangen und du hast losgelassen – deshalb bist du diejenige, die am weitesten weggedriftet ist.«

»So ein Quatsch«, widersprach Mags. »Wir schreiben uns doch jeden Tag.«

»Das reicht nicht«, sagte er. »Dieses Kleid habe ich zum Beispiel noch nie gesehen.«

»Gefällt es dir denn nicht?«

»Das meine ich nicht.« Noel schüttelte den Kopf. Sie war es nicht gewohnt, ihn so zu sehen. So aufgekratzt. »Es gefällt mir. Es ist hübsch. Aber es ist anders. Du bist anders. Ich habe das Gefühl, nicht nahe genug an dich heranzukommen.« Er drückte seine Stirn gegen ihre.

Sie erwiderte den Druck. »Wir sind schon ziemlich nahe beieinander, Noel.«

Er seufzte frustriert. Sein Atem drang in ihre Nase und ihren Mund. »Warum hast du keinen festen Freund?«

Mags runzelte die Stirn. »Vielleicht habe ich ja einen.«

Noel legte den Kopf in den Nacken. »So etwas würdest du mir vorenthalten?«, fragte er bestürzt.

»Nein«, beruhigte sie ihn. »Nein, Noel, natürlich nicht. Ich würde es dir sagen. Keine Ahnung, was du von mir hören willst. Ich weiß nicht, warum ich keinen Freund habe.«

»Es wird immer schlimmer werden«, sagte er. »Du wirst dich weiter verändern.«

»Tja, du auch«, sagte sie.

»Ich verändere mich nie.«

Mags lachte. »Du bist ein Kaleidoskop. Ich muss dich nur einen Moment aus den Augen lassen und schon hast du dich wieder verändert.«

»Das musst du doch bestimmt hassen«, sagte er.

Mags schüttelte den Kopf und rieb ihre Nase an seiner. »Ich liebe es.«

Sie hörten auf, sich hin und her zu wiegen.

»Tanzen wir eigentlich noch?«, fragte sie.

»Natürlich tanzen wir noch. Bilde dir bloß nichts ein, Margaret.« Er ließ ihre Hand los und schlang auch noch den anderen Arm um sie. »Geh ja nicht weg.«

»Ich gehe nie irgendwohin«, flüsterte Mags.

Noel schüttelte den Kopf, wie wenn er sie bei einer Lüge ertappt hätte. »Du bist meine allerbeste Freundin«, sagte er.

»Du hast viele beste Freunde«, erwiderte sie.

»Nein«, widersprach Noel. »Ich habe nur dich.«

Mags schlang ihre Arme um seinen Hals und hielt sich fest. Sie drückte ihre Stirn gegen seine. Er roch nach Haut.

»Ich kann gar nicht nah genug bei dir sein«, murmelte Noel.

Irgendwann fiel es auf, dass andauernd derselbe Song lief, und jemand beendete die Endlosschleife.

Dass Mags und Noel verschwunden waren, blieb ebenfalls nicht unbemerkt. Natalie machte sich auf die Suche nach Noel. »Noel! Komm, tanz mit mir! Sie spielen unser Lied!«

Es war der Ke$ha-Song.

Noel löste sich von Mags und grinste verlegen. Er tat so, als hätte er sich gerade auf der Treppe albern benommen. Aber sie würde sicher großzügig darüber hinwegsehen, nicht wahr? Im Keller war eine Party in vollem Gange, dort sollten sie jetzt eigentlich sein, oder?

Noel ging nach unten und Mags folgte ihm.

Die Party hatte sich verändert, während sie weg gewesen waren. Alle schienen wieder ein bisschen jünger geworden zu sein. Sie hatten die Schuhe abgestreift und hüpften auf den Sofas herum. Sie sangen den kompletten Text zu den Songs, zu denen sie schon immer mitgesungen hatten.

Noel zog seine Jacke aus und warf sie Mags zu, und sie erwischte sie sogar, weil sie gut fangen konnte.

Noel sah gut aus.

Groß und blass. In dunkelroten Jeans, die außer ihm niemand tragen würde. In einem T-Shirt, das letztes Jahr noch an ihm geschlackert hätte.

Er sah so gut aus.

Und sie liebte ihn so sehr.

Diesmal würde Mags es nicht ertragen können.

Sie würde nicht in einer anderen Ecke stehen und zusehen, wie Noel irgendjemanden küsste. Nicht heute Nacht. Sie würde nicht zusehen, wie irgendeine andere den Kuss bekam, für den sie sich schon so lange, schon seit sie sich kannten, angestrengt hatte.

Kurz vor Mitternacht nahm Mags eine Handvoll Chex Mix und tat so, als würde sie in den Flur hinausgehen. Als würde sie zur Toilette wollen. Oder als würde sie den Ofenfilter überprüfen wollen.

Dann schlich sie zur Hintertür hinaus. Niemand würde auf die Idee kommen, draußen im Schnee nach ihr zu suchen.

Es war kalt, aber Mags hatte immer noch Noels Jacke, also zog sie sie an. Sie lehnte sich gegen die Kellermauer von Alicias Haus, aß den Chex Mix von Alicias Mom – Mrs Porter machte wirklich den allerbesten Chex Mix – und lauschte der Musik.

Plötzlich brach die Musik ab und der Countdown fing an.

Es war gut, dass Mags hier draußen war, denn drinnen zu sein, hätte zu sehr wehgetan. Es hatte immer wehgetan und diesmal würde es sie umbringen.

»Sieben!«

»Sechs!«

»Mags?«, rief jemand.

Es war Noel.

»Margaret?«

»Vier!«

»Hier«, sagte Mags. Dann, etwas lauter: »Hier!« Immerhin war sie seine beste Freundin. Ihm aus dem Weg zu gehen, war das eine, sich vor ihm zu verstecken, war etwas anderes.

»Zwei!«

Sie entdeckte Noel in einem Streifen Mondlicht, der durch die Verandadielen fiel. Sein Blick war sanft und er zog ganz langsam die Augenbrauen hoch.

»Eins!«

Mags nickte. Sie stieß sich mit der Schulter von der Mauer ab, aber Noel drückte sie wieder zurück. Er presste sie gegen die Wand, halb umarmte er sie, halb hielt er sie gefangen.

Dann küsste er sie stürmisch.

Mags verschränkte die Arme hinter seinem Kopf, drückte ihr Gesicht an seines, ihr Kinn an sein Kinn, ihren offenen Mund an seinen offenen Mund.

Noel hielt sich an ihren Schultern fest.

Nach ein paar Minuten – vielleicht waren es auch mehr als nur ein paar Minuten, vielleicht sogar eine ganze Weile – hatten beide die Gewissheit, dass der andere nicht weggehen würde.

Sie ließen sich los.

Mags liebkoste Noels Locken, strich sie aus seinem Gesicht. Noel presste Mags mit seinem Körper, von der Hüfte bis zur Schulter, gegen die Wand und küsste sie zum Rhythmus irgendeines Lieds, das gerade lief.

Als er sich von ihr löste, wollte sie ihm sagen, dass sie ihn liebte. Als er sich von ihr löste, wollte sie ihn bitten, sie nicht loszulassen. Noel hob den Kopf.

»Bleib«, bat Mags.

»Mags«, flüsterte Noel. »Meine Lippen werden taub.«

»Dann hör auf, mich zu küssen«, sagte sie. »Aber bleib da.«

»Nein …« Noel löste sich von ihr und Mags wurde vorne ganz kalt. »Meine Lippen werden taub – hast du etwa Erdbeeren gegessen?«

»Oh Gott«, stieß sie hervor. »Chex Mix.«

»Chex Mix?«

»Cashews«, sagte sie. »Und womöglich auch noch andere Nüsse.«

»Ah«, sagte Noel.

Doch da zog Mags ihn bereits von der Hausmauer weg. »Hast du etwas dabei?«

»Benadryl«, sagte er. »In meinem Auto. Aber es macht mich schläfrig. Vielleicht brauche ich es ja gar nicht.«

»Wo sind deine Schlüssel?«

»In meiner Tasche«, murmelte er und deutete auf Mags und auf seine Jacke. Seine Zunge schien bereits anzuschwellen.

Mags fand die Schlüssel und zog Noel mit sich fort. Er hatte sein Auto an der Straße geparkt und das Benadryl lag im Handschuhfach. Mags sah zu, wie Noel es einnahm, dann baute sie sich mit verschränkten Armen vor ihm auf und wartete ab.

»Kriegst du Luft?«, fragte sie ihn.

»Ja, ich kann atmen.«

»Was passiert jetzt normalerweise?«

Er grinste. »So etwas ist noch nie passiert.«

»Du weißt genau, was ich meine.«

»Mein Mund kribbelt. Zunge und Lippen schwellen an und ich kriege einen Ausschlag. Willst du mich untersuchen?« Wölfisches Grinsen.

»Und dann?«, fragte sie.

»Gar nichts«, sagte er. »Dann nehme ich Benadryl. Ich habe einen Adrenalinstift, aber bisher musste ich ihn noch nie benutzen.«

»Ich schau nach, ob du schon Ausschlag hast«, sagte sie.

Er grinste wieder und streckte die Arme aus. Mags untersuchte sie, dann hob sie sein gestreiftes T-Shirt … Er war blass. Und er hatte eine Gänsehaut. Auf seiner Brust waren Sommersprossen, die sie noch nie gesehen hatte.

»Ich glaube, du hast keinen Ausschlag«, meinte sie schließlich.

»Ich merke schon, wie das Benadryl wirkt.« Er ließ die Arme sinken und legte sie um Mags.

»Küss mich nicht«, sagte Mags.

»Nicht sofort«, sagte Noel. »Ich werde dich nicht sofort wieder küssen.«

Sie lehnte sich gegen ihn, schmiegte die Schläfe an sein Kinn und schloss die Augen.

»Ich wusste, du würdest mein Leben retten«, sagte er.

»Ich müsste dich nicht retten, wenn ich dich nicht zuvor fast umgebracht hätte.«

»Bilde dir nicht zu viel darauf ein. Die Nüsse waren die Übeltäter. Sie hatten es auf mich abgesehen.«

Mags nickte.

Eine Zeit lang schwiegen sie.

»Noel?«

»Ja?«

Sie musste ihm die Frage stellen, musste sich dazu durchringen. »Bist du nur melodramatisch?«

»Mags, ich schwöre dir. Ich würde dir niemals eine allergische Reaktion vorspielen.«

»Nein«, sagte sie. »Ich meine den Kuss.«

»Da war mehr als nur ein Kuss …«

»Ich spreche von allen Küssen«, sagte sie. »Wolltest du nur ein wenig – übertreiben?«

Mags wappnete sich innerlich gegen eine alberne Antwort.

»Nein«, sagte Noel. Dann fügte er hinzu: »Wolltest du dich nur über mich lustig machen?«

»Oh Gott, nein!«, rief sie. »Hattest du etwa den Eindruck?«

Noel schüttelte den Kopf und rieb sein Kinn an ihrer Schläfe.

»Was machen wir hier eigentlich?«, fragte Mags.

»Ich weiß nicht …«, antwortete er nach einer Weile. »Ich weiß, dass alles sich verändert, aber … ich will dich nicht verlieren. Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder jemanden wie dich finde.«

»Ich habe nicht vor wegzugehen, Noel.«

»Oh doch«, antwortete er und drückte sie an sich. »Und das ist okay. Ich will nur … dass du mich mitnimmst.«

Mags fiel keine Antwort darauf ein.

Es war kalt. Noel zitterte. Eigentlich müsste sie ihm jetzt seine Jacke zurückgeben.

»Mags?«

»Ja?«

»Sag mir, was du willst.«

Mags schluckte.

In den drei Jahren, seit sie und Noel befreundet waren, hatten sie viel Zeit damit verbracht, so zu tun, als würde sie nur das brauchen, was er ihr ohnehin gab. Sie hatte sich eingeredet, dass da ein Unterschied war zwischen dem, was man wollte, und dem, was man brauchte …

»Ich will, dass du mein ganz besonderer Mensch bist«, sagte Mags. »Ich will dich sehen. Und hören. Ich will, dass du am Leben bleibst. Und ich will, dass du aufhörst, andere Leute zu küssen, nur weil sie zufällig neben dir stehen, wenn an Silvester am Times Square die Lichtkugel nach unten sinkt.«

Noel lachte.

»Und ich will, dass du mich nicht auslachst«, sagte sie.

Er lehnte sich zurück und sah sie an. »Das ist gar nicht nötig.«

Sie gab ihm mit geschlossenen Lippen einen Kuss aufs Kinn.

»Du brauchst das nicht zu wollen«, sagte er eindringlich. »Du kannst es haben, Mags. Wenn du mich haben willst.«

»Ich habe dich immer gewollt«, antwortete sie und war selbst erschrocken darüber, wie sehr das stimmte.

Noel beugte sich vor, um sie zu küssen. Sie schmiegte ihre Stirn an seinen Mund.

Keiner sagte ein Wort.

Es war kalt.

»Alles Gute zum Jahrestag, Mags.«

»Frohes neues Jahr, Noel.«

KELLY LINK

Die Dame und der Fuchs

Jemand ist im Garten.

»Daniel«, sagt Miranda. »Das ist Santa Claus. Er schaut durchs Fenster.«

»Nein, tut er nicht«, sagt Daniel. Er blickt nicht einmal hoch. »Wir haben unsere Geschenke schon. Und außerdem. Es gibt keinen Santa.«

Sie sitzen gemeinsam unter dem Baum, dem berühmten Honeywell-Weihnachtsbaum. Sie sind beide elf Jahre alt. Es ist gerade genug Platz, um sich im Schneidersitz gegen den Stamm zu lehnen. Daniel lässt die Eisenbahn um den Baum fahren, vorwärts, rückwärts, dann wieder vorwärts. Miranda bewundert ihr schönstes Geschenk, eine Schere mit vergoldeten Griffen, die wie ein Kranich aussieht. Die Schneidblätter bilden den Schnabel. Mit einem Schnipp, Schnipp schneidet sie die spröden Nadeln einzeln von dem Zweig über ihr ab. Kiefernduft. Grüner Nadelregen.

Draußen muss es sehr kalt sein. Am Fenster schimmert der Frost. Es ist schon lange nach Schlafenszeit. Wenn es nicht Santa Claus ist, dann könnte es ein Einbrecher sein, der auf Schmuck aus ist. Oder ein Axtmörder.

Natürlich könnte es auch einer von Daniels Hunderten von Onkeln und Cousins sein. Es fehlt der Bart und das Gesicht am Fenster ist kein glückliches. Auch wenn es in der Dunkelheit und durch den Raureif am Fenster kaum zu erkennen ist, hat es die typischen Honeywell-Züge. Der Raum ist voll mit erwachsenen Honeywells, die über Dinge reden, über die Honeywells immer reden, also über alles, Pferde und Häuser, Gott und Fundamente, Bräunungsstudios und – natürlich – das Theater. Das Theater ist immer dabei. Die Honeywells reden gerne. Wenn die Honeywells keinen Rollentext haben, improvisieren sie. Die Welt ist eine Bühne.

Einen Honeywell sieht man nur selten allein. Sie kommen gebündelt wie Bananenstauden. Sie kommen nicht als einzelne Späher, sondern in Geschwadern. Und sosehr Miranda das rotgoldene Honeywell-Haar, das übersteigerte, ausdrucksstarke gute Aussehen der Honeywells, ihr Repertoire an Scherzen und Geheimnissen, an Gedichten und Unsinn bewundert, sosehr braucht sie hin und wieder auch einmal eine Pause davon. Die Honeywells erwarten, dass man selbst ebenfalls redet. Sie stellen Fragen, bis einem der Mund ganz trocken ist vom vielen Antworten.

Daniel ist ein ungewöhnlich ruhiger Honeywell. Ihm ist es egal, ob man da ist oder nicht.

Miranda schlängelt sich unter dem Baum hervor und drängt sich zwischen den vielen langbeinigen Honeywells mit schwarzen Fliegen und Partykleidern hindurch: apokalyptisch oranger Taft, fließender enger Satin in Kanariengelb und Violett, üppige weiße Seide, hier und da bereits mit Weinflecken darauf.

Man tätschelt sie am Kopf und zwinkert ihr zu. Jemand in einem goldenen Gewand sagt: »Armes kleines Lämmchen.«

»Baaaaah humbug«, platzt Miranda heraus und macht sich davon. Ihr eigenes Kleid ist aus grünem Cordsamt. Empire-Taille. Es kneift an den Achseln. Mirandas Interesse an diesen Dingen ist zum Teil fachlicher Art. Ihre Mutter Joannie (seit sechs Monaten in einem Gefängnis in Phuket, wo sie noch viele weitere Jahre bleiben wird) war Elspeth Honeywells Garderobiere und Vertraute.

Daniel ist Elspeths Sohn. Miranda ist Elspeths Patentochter.

Zwei Männer küssen sich lasziv in der Küche. Sie lehnen sich dabei an das Waschbecken, wo eines der neuen Honeywell-Kätzchen aus einer Sauciere Soße aufleckt. Ein Mädchen – nur ein paar Jahre älter als Miranda – legt fleckige, zerfledderte Tarotkarten auf den Bauerntisch. Leere Weinflaschen liegen da wie schräg gestellte Kanonen. Ein Fleischmesser steckt in einem massakrierten Weihnachtskuchen. Aus dem Ofen sickert die Wärme. Im Warmhaltefach des Standherds schlafen die anderen Kätzchen in einer verkrusteten Pfanne.

Miranda nimmt eine Tüte mit Partymüll – lippenstiftverschmierte Servietten, Wegwerfsektgläser, fettige Pastetenreste – und trägt sie zur Küchentür. Die Katzenmutter schlüpft herein, während Miranda hinausgeht.

Es schneit. Große, klebrige Klumpen schmelzen auf ihren Haaren, ihren Wangen. Schnee an Weihnachten. In Phuket natürlich nicht. Sie überlegt, was es in einem thailändischen Gefängnis an Weihnachten zu essen gibt. Ihre Mutter machte immer Weihnachtskuchen und Miranda half ihr beim Ausrollen des Marzipans.

Sie schlittert mit ihren Ballerinas übers Gras, bindet den Müllsack zu und lehnt ihn gegen die Stufen. Da ist der Mann im Garten, er steht immer noch am Fenster und sieht hinein.

Er muss Miranda gehört haben. Bestimmt hört er sie. Ihre Schritte auf dem gefrorenen Gras. Aber er dreht sich nicht um.

Selbst von hinten erkennt man ihn als Honeywell. Schlacksig und gelbhaarig. Vollkommen still. Er schafft es, vollkommen still zu sein. In einer vollkommenen Pose, die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Unnatürlich natürlich. Der Schnee, der Mirandas Nase zum Laufen bringt und ihre Wangen vor Kälte fleckig macht, schmilzt nicht auf den hellen Honeywell-Haaren oder den Schulterstücken seines ungewöhnlichen Kleidungsstücks.

Typisch Honeywell, denkt Miranda. Ein Streit unter Liebenden. Oder er hat sich über eine Bemerkung von jemandem geärgert und schmollt sich jetzt gut aussehend in der Kälte zu Tode. Ihre Mutter hat ihr zu verstehen gegeben, wie man sich verhält, wenn ein Honeywell ein Drama aus etwas macht, das kein Drama verlangt. Strenge ist der Schlüssel.

Justaucorps