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Über dieses Buch:

England im 12. Jahrhundert: Lady Kates friedliches Leben im Kloster endet abrupt, als die heiligen Mauern von einem Söldnerheer überfallen und niedergebrannt werden. Nachdem sie von Lord John aus den Fängen der Soldaten gerettet wurde, will sie nur noch zurück zu ihrer Familie. Doch ihr attraktiver Retter hat eine weitere erschütternde Nachricht: Kates Eltern wurden brutal ermordet – und sie ist die Alleinerbin. Unversehens wird die junge Frau zum Spielball mächtiger, geldgieriger Männer. Kate sieht nur einen Ausweg, aber der würde die zarte Liebe zu Lord John auf ewig unmöglich machen …

Über die Autorin:

Allegra Winter studierte Englische Literatur und Mittelaltergeschichte. Ausgedehnte Reisen führten sie rund um die Welt, ehe sie begann, sich ihrer großen Leidenschaft – dem Schreiben – zu widmen. Heute lebt sie mit ihrem Mann an der amerikanischen Pazifik- und der deutschen Ostseeküste, wo sie es liebt, herrliche Romanzen zu ersinnen, mit Freunden zu kochen und am Stand Muscheln zu sammeln.

Von Allegra Winter erscheint bei venusbooks auch:

Das stolze Herz der Lady

Der Schwur des Highlanders

Der Highlander und die Rebellin

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eBook-Neuausgabe Oktober 2016

Ein eBook des venusbooks Verlags. venusbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, München.

Dieses Buch erschien bereits unter dem Titel In den starken Armen des Lords.

Copyright © der Originalausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Copyright © der Lizenzausgabe 2016 venusbooks GmbH, München

Copyright © der aktuellen eBook-Neuausgabe 2020 venusbooks Verlag. venusbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Beate Darius

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/lightwavemedia, irisphoto

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95885-405-5

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Allegra Winter

Der Krieger und die Lady

Roman

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Kapitel 1

Kate zog den groben Wollschal fester um ihre Schultern. Jetzt, in der dunkelsten Stunde der Nacht, schien die Luft vor Kälte förmlich zu klirren. In einer langen Reihe schritten die Nonnen zum nächtlichen Stundengebet. Die Füße der Schwestern von Whitefield hatten über die Jahre eine dunkle Spur auf dem grauen Stein hinterlassen. Ein fahler Mond warf speerförmige Muster durch die schmalen scheibenlosen Fenster auf den Fußboden. Nur ein gedämpftes Rascheln verriet, dass sich die Nonnen des Klosters zur Vigil begaben.

Kate folgte Schwester Godith die schmale Stiege hinab in die Kirche. Es war stockdunkel. Einzig das Lesepult war spärlich von einer einsamen Kerze erhellt. Man konnte kaum erahnen, wo sich das Gestühl befand, doch mit schlafwandlerischer Sicherheit nahmen die Schwestern ihre Plätze ein. Die Bank knarrte unter Schwester Godiths Gewicht, als sie sich mit einem unterdrückten Seufzer setzte und sich fröstelnd die Hände rieb. Kate konnte ihren Atem in der Nachtluft sehen. Wie eine graue Wolke stand er vor ihrem Gesicht und löste sich dann langsam auf, bis sie erneut ausatmete und eine neue Wolke entstand. Wenn sie nach der Vigil wieder für wenige Stunden in ihr Bett kriechen konnte, würde sie nicht einschlafen können, weil ihre Füße so kalt waren.

Der Gottesdienst begann und folgte dem vorgegebenen Muster. Heute las Schwester Gertrud. Ihre Stimme war leise und monoton, und es war Kate einfach unmöglich, sich auf die Lesung zu konzentrieren. Sie blickte zu den gesenkten Häuptern im gegenüberliegenden Gestühl. Dort rechts in der zweiten Reihe saß ihre Freundin Elizabeth. Sie war ins Gebet vertieft. Elizabeth hatte sich erst im letzten Frühling dem Orden angeschlossen. Kurz zuvor hatten zwei Schicksalsschläge ihr bisheriges Leben zunichtegemacht. Erst hatte sie ihr einziges Kind an die Grippe verloren, und nur Wochen darauf war ihr Mann einem Unfall zum Opfer gefallen. Obwohl es ihr nicht an Bewerbern gemangelt hatte, hatte Elizabeth die kleine Sattlerwerkstatt ihres Mannes verkauft und um Aufnahme als Novizin im Kloster Whitefield gebeten. Kate und Elizabeth hatten sofort Freundschaft geschlossen.

Kate hingegen war bereits im Mädchenalter nach Whitefield gegeben worden. In den ersten Monaten nach ihrer Ankunft im Kloster hatte sie häufig davon geträumt, dass ihr Vater auf seinem großen Rappen durch das Tor geritten käme, um sie wieder nach Hause zu holen. Kate hatte ernsthaft geglaubt, vor Heimweh sterben zu müssen. Irgendwann hatte sie aber diese Kinderträume aufgegeben und war zu einer eher nüchternen jungen Frau herangewachsen. Sie würde in absehbarer Zukunft die Zweite Profess ablegen, und ihr Leben würde für immer auf diese kleine klösterliche Gemeinschaft begrenzt bleiben. So sehr Kate sich auch bemühte, das Vorteilige zu sehen, der Gedanke daran machte sie beklommen.

Neben sich hörte sie Schwester Godith leise schnarchen, den Kopf auf ihr gewaltiges Doppelkinn gestützt. Kate versuchte, ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Stimme Schwester Gertruds zu lenken, aber ihre Gedanken wanderten stattdessen zum morgigen Tag. Sie sollte bei der Bestandsaufnahme der Vorräte in Felton Hall helfen. Viel zu zählen gab es nicht mehr, denn die Zeiten waren hart. In diesem Vorfrühling des Jahres 1145 tobte der Krieg um die englische Krone bereits mehrere Jahre. Das wechselnde Kriegsglück der beiden Kontrahenten ließ die Auseinandersetzung zwischen Kaiserin Matilde und König Stephen in unberechenbaren Wellen und Richtungen durch das zerstörte Land wogen. Kate atmete seufzend aus, und ihr Atem bildete einen langen weißen Strahl in der Nachtluft. Und doch ging es ihnen noch vergleichsweise gut. Durch geschicktes Wirtschaften hatte Mutter Ann es verstanden, ihre kleine Gemeinschaft sicher durch den Winter zu bringen, aber die Verpflegung war zunehmend eintöniger geworden. Feuerholz und Kerzen waren rar und kostbar. Zu den üblichen Bettlern, die an das Tor klopften und um Almosen baten, war nun auch noch eine stetig wachsende Schar von Flüchtlingen gekommen. Auch Lebensmittel waren inzwischen empfindlich knapp, und die Nonnen von Whitefield warteten sehnsüchtig auf den Frühling.

Schwester Gertrud hatte geendet und die Vigil war vorüber. Die Schwestern erhoben sich und schritten ein bisschen zu eilig wieder zurück in die bescheidene Wärme ihrer Schlafquartiere.

»Setz dich, meine Tochter.« Mutter Ann deutete auf einen der Stühle an der Wand. Früh am nächsten Morgen war Kate zur Äbtissin gerufen worden. Eine Besprechung mit Mutter Ann, bei der man zum Sitzen aufgefordert wurde, versprach nichts Gutes.

»Komm näher, Kind.«

Kate rückte mit dem Stuhl an den Tisch. Sie saß aufrecht mit im Schoß gefalteten Händen und blickte zur Äbtissin hinüber. Mutter Ann schien in den letzten Monaten geschrumpft zu sein, und ihr ehemals fülliges, rundes Gesicht war nun von Falten durchzogen. Die Gemächer der Mutter Oberin waren klein. Ein Fenster ging nach Süden hinaus und blickte über den Gemüsegarten, der jetzt Anfang März nur ein brauner Acker war.

Kate ahnte, was nun kommen würde.

»Ostern sollst du mit Adelaide und Egatha zusammen das Gelübde ablegen.«

Kate schluckte, aber nichts sonst verriet ihre Gefühle.

»Wie du weißt, ist das so mit deinem Vater verabredet worden«, fuhr Mutter Ann fort. »Fühlst du dich bereit?«

»Selbstverständlich, Mutter Ann.« Sie hielt dem intensiv prüfenden Blick der Äbtissin stand.

»Gut, so sei es denn.«

Als Kate die Tür hinter sich schloss, stand sie einen Moment lang still im dunklen Gang und starrte blicklos vor sich hin. Es war so weit. Sie hatte auf ein Wunder gehofft, aber sie musste sich jetzt endlich mit der Wirklichkeit abfinden.

Es war bereits Nachmittag, als Kate den östlichen Hügel in Richtung Felton erklomm. Das Kloster hatte das gut eine Viertelstunde Fußmarsch entfernt gelegene kleine Anwesen vor einigen Jahren gekauft. Kate wurde oft dort hingeschickt, um zu helfen.

Sie blickte zurück auf Whitefield, das sich in die flache Niederung schmiegte. Nur die Kirche, das Hauptgebäude und der Verbindungsgang waren aus gemauertem Stein. Stallungen, Vorratsräume, Schlafräume und Gästequartier waren aus Holz. Friedlich lag die kleine Anlage in der Nachmittagssonne. Bald würde der Gemüsegarten wieder grünen und für einen abwechslungsreicheren Speiseplan sorgen, und im Rosengarten würden duftende Blüten für den Marienaltar wachsen. Einzelne Rufe aus dem geschäftigen Hof drangen noch an Kates Ohr. Vater Paul aus Herbersham, der sonntags in der Klosterkirche die Messe las, ermahnte die Schwesterngemeinschaft in Whitefield regelmäßig, nicht zu tratschen und gottgefällig zu schweigen. Da Mutter Ann selbst jedoch eine recht mitteilungsfreudige Frau war, klang das Kloster oft eher wie ein Marktplatz. Oder wie ein Hühnerstall, wie Vater Paul gelegentlich erbost feststellte.

Kate schritt zügig aus und atmete tief durch. Sie genoss diese kurzen einsamen Wege, während derer sie ihren Gedanken nachhängen konnte. Die Sonne hatte sich im Laufe des Tages durch die Wolken gekämpft und schien nun schon erfreulich kräftig. Allererste winzige Knospen wagten sich an den frühblühenden Sträuchern hervor, und eine Schar Spatzen zwitscherte im Gebüsch entlang des Fußweges. Im Schatten hinter den Sträuchern lag allerdings noch ein Rest Schnee.

Sie sollte nicht undankbar sein, überlegte Kate. Es hätte sie auch viel schlechter treffen können. Dunkel erinnerte sie sich, wie bitterlich ihre ältere Schwester Cecilia vor ihrer Vermählung mit einem sehr viel älteren Ritter geweint hatte. Kurz danach hatte man Kate nach Whitefield gegeben. Lord Ashbourgh hatte beschlossen, nur für eine Tochter eine Mitgift aufbringen zu wollen, eine Meinung, die von seiner frisch angetrauten jungen zweiten Frau geteilt wurde. Wer weiß, was ihr erspart geblieben war. Oder aber, was sie nun verpassen würde?

Kate umrundete die letzte Hecke und hatte ihr Ziel erreicht.

»Elizabeth! Ich wusste gar nicht, dass du heute auch in Felton bist.«

Elizabeth streckte sich, stieß den Spaten in die Erde und kam zu Kate herüber.

»Ich hätte eigentlich in der Wäscherei helfen sollen.« Elizabeth wischte sich einige Krümel dunkler Erde von ihren sommersprossigen Händen. »Aber es gibt nicht mehr genug Seife, und nun muss erst einmal neue gekocht werden. Allerdings haben wir auch kaum noch Pottasche für die Seife, also wird es wohl noch etwas dauern mit der nächsten Wäsche.«

Kate zog die Nase kraus und schüttelte den Kopf. Nach diesem langen Winter war einfach alles knapp.

»Aber es ist gutes Wetter, und ich bin sowieso lieber draußen als in der feuchten Waschküche.«

»Wollen wir zum Mittag gemeinsam zurückgehen, oder bist du früher fertig?«

Elizabeth sah sich in dem recht kleinen Garten um.

»Ich kann ein bisschen langsamer graben.«

Elizabeth winkte Kate nach, als sie durch den Torbogen im Innenhof verschwand. Der Hof war aus gestampfter Erde, und nur ein kleines Viereck vor der Eingangstür zum Wohnteil des Gebäudes war gepflastert. Aus dieser Tür trat im selben Augenblick Schwester Alberta. Ihre stämmige Figur füllte den schmalen, mit Ochsenblut rot gestrichenen Türrahmen fast ganz aus.

»Wie schön, dass Mutter Ann dich entbehren konnte. Es wächst mir alles über den Kopf.« Sie rollte dramatisch mit den Augen und winkte Kate herein.

»Vielleicht wäre Schwester Alberta im Stillen auch ganz froh, wenn sie die Verantwortung wieder los wäre?«, schlug Elizabeth vor, als sie gegen Mittag gemeinsam mit Kate den Rückweg nach Whitefield antrat.

»Ja, manchmal glaube ich das auch, aber sie wird ihre Stellung nicht abgeben wollen.«

»Du machst doch sowieso schon das meiste, Kate. Es wäre nur gerecht, wenn Mutter Ann dir die Verantwortung übertrüge.«

Elizabeth hatte recht. Jetzt, da Kate tatsächlich die Zweite Profess ablegen sollte und ihre Zukunft sich entschieden hatte, war die Aussicht auf die Position in Felton umso reizvoller. Sie würde einen gewissen Grad an Unabhängigkeit erlangen und selbst Entscheidungen fällen können. Es wäre etwas ganz anderes, als wenn sie den Rest ihres Lebens immer nur gesagt bekäme, was sie zu tun hatte. Kaum hatte Kate diesen Gedankengang beendet, als sie schon ein schlechtes Gewissen packte. Alles Streben sollte der Ehre Gottes und dem Wohl des Klosters dienen, wie konnte sie so selbstsüchtige Gedanken haben! Aber zumindest das Wohl von Felton läge in ihren Händen besser als in Albertas Händen, da war Kate sich sicher.

Elizabeth legte Kate die Hand auf den Arm und blickte sie an.

»Aber du hast doch gerade gesagt, dass du zu Ostern die Zweite Profess ablegen sollst. Versuche doch, das Beste daraus zu machen.«

Wie immer hatte Elizabeth recht, dachte Kate. Sie sollte aufhören, auf ein Wunder zu hoffen, dass ihr plötzlich die Tür zu einem anderen Leben aufgestoßen werden würde.

»Glaub mir, dies ist nicht das schlechteste Leben. Und was wolltest du denn lieber machen?«

»Ach, ich weiß auch nicht recht. Ich würde gerne etwas anderes kennenlernen. Die Welt ist so groß und ich habe nichts davon gesehen.«

»Das hast du mit der Mehrzahl aller Menschen gemein.«

Kate stieß unwillig mit dem Fuß einen Kieselstein aus dem Weg. »Aber die scheint es nicht zu stören.«

»Ja, die meisten stört es nicht. Mich hat es nie gestört. Ich wollte bloß genug zum Essen und ein Dach über dem Kopf haben, meine Kinder großziehen und gesund bleiben.«

Kate bekam schon wieder ein schlechtes Gewissen. Warum konnte sie nicht so bescheiden und zufrieden sein wie Elizabeth? Warum musste sie immer alles in Zweifel ziehen, warum wollte sie immer etwas anderes als das, was sie hatte? Sie gingen einen Augenblick schweigend nebeneinander.

»Wenigstens hast du die Liebe kennengelernt.«

Elizabeth blickte überrascht auf.

»Du meinst Gerrit?«

»Natürlich meine ich Gerrit, er war doch dein Gemahl.«

»Er war ein guter Mann«, Elizabeth lächelte wehmütig.

»Hast du ihn denn nicht geliebt?«

»Doch, er war ein freundlicher, fleißiger Mann. Er sah auch gut aus, und ich glaube, er mochte mich sehr.«

Kate war wie vor den Kopf geschlagen. Sie hatte immer angenommen, dass Elizabeths verstorbener Ehemann deren große Liebe gewesen sei. Sie machte einen so entsetzten Gesichtsausdruck, dass Elizabeth anfing zu lachen.

»Nun mach doch nicht so ein Gesicht, Kate. Was hast du denn geglaubt?«

»Dass du ihn wirklich geliebt hast.«

»Habe ich auch.«

»Es klingt aber nicht so.«

»Was glaubst du denn, wie sich Liebe anfühlen muss?«

Kate runzelte nachdenklich die Stirn.

»Anders jedenfalls.«

Sie fühlte sich ertappt und kam sich auch ein bisschen albern vor. Als sie noch um einiges jünger gewesen war, meinte sie, sich in den Pferdeknecht des Verwalters verliebt zu haben. Wochenlang hatte sie von ihm geschwärmt. Der Verwalter kam jedoch nur sehr gelegentlich in Whitefield vorbei. Als es endlich wieder so weit war, musste Kate enttäuscht feststellen, dass ihr Schwarm auf den zweiten Blick doch nicht mehr so großartig war und stattdessen etwas einfältig wirkte. Trotz dieser frühen Enttäuschung hatte Kate aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen die allergrößten Erwartungen an die Liebe. Sie wusste nicht einmal, wo sie diese kuriose Idee herhatte, und ärgerte sich über sich selbst.

Die Glocke rief zum mittäglichen Gebet der Sext. Das Angelusgebet bat Gott um Frieden auf der Welt, und seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges hatte Mutter Ann besonderen Wert auf dieses Stundengebet gelegt. Alle Schwestern kehrten von ihren verschiedenen Aufgaben zurück in die Kirche, und nach dem Gebet wurde gemeinsam im Refektorium die Hauptmahlzeit des Tages eingenommen. Es gab seit Wochen nichts anderes als Getreidebrei. Heute jedoch erhielt jede Schwester einen kleinen verschrumpelten Apfel vom letzten Herbst. Genussvoll biss Kate in das eher unansehnliche Stück Obst und ließ die fruchtige Süße auf der Zunge zergehen. Neben sich hörte sie ein zufriedenes Seufzen von Schwester Godith. Arme Godith, Essen bereitete ihr einen solchen Genuss, dass der eintönige Speiseplan ihr ernsthaft zusetzte. Jetzt jedoch hatte sie die Augen geschlossen und kaute mit Hingabe ihren Apfel.

Sie hatten das Mahl noch nicht beendet, als plötzlich mit einem lauten Poltern ein Mann in den Speisesaal gestürzt kam. Aller Augen richteten sich überrascht zur Tür. Mutter Ann erhob sich und ihre Miene zeigte deutlich, dass sie diese ungehörige Unterbrechung missbilligte. Doch im gleichen Moment wurde erkennbar, dass es sich um einen Notfall handelte. Der Mann atmete schwer, seine Hände und seine Brust waren blutverschmiert.

»Sie kommen!«, keuchte er. »Sie kommen.«

»Wer kommt?« Die Äbtissin eilte auf den zusammenbrechenden Mann zu, Schwester Godith, der die Krankenstation unterstand, auf den Fersen.

Der Mann lag auf den Dielen des Refektoriums und röchelte. Unter ihm breitete sich schnell eine Blutlache auf dem Fußboden aus. Die beiden Nonnen knieten neben dem Sterbenden, der kein weiteres Wort mehr herausbrachte. Der Speisesaal war erfüllt von unterdrücktem Getuschel, das sich zu hörbarem Entsetzen steigerte, als Mutter Ann sich aufrichtete und bekreuzigte.

»Ruhe!«, donnerte die Äbtissin ungewöhnlich heftig.

Das angsterfüllte Gemurmel erstarb, und es trat eine nicht weniger furchtsame Stille ein.

»Ich möchte, dass ihr euch alle in die Kirche begebt, dortbleibt und für die Seele dieses armen Menschen betet.« Sie blickte eindringlich in die Runde. »Ich werde herausfinden, was das alles zu bedeuten hat.«

Schwester Margaret fasste sich als Erste wieder und scheuchte die ihr anvertrauten Novizinnen eilig Richtung Kreuzgang. Die anderen Schwestern folgten in zwei etwas unordentlichen Reihen.

»Kate«, Mutter Ann winkte Kate aus der hastigen Prozession, »hilf, den Leichnam aufzubahren.«

Kate nickte und folgte Godith, die sich auf den Weg machte, eine Bahre zu holen.

Ihre Gedanken rasten. Was hatte der Mann mit »sie kommen« gemeint? Es konnte sich doch nur um einen bevorstehenden Angriff handeln. Wer würde sie angreifen?

»Es wird alles in Ordnung kommen. Wir werden in der Kirche in Sicherheit sein, und uns wird nichts zustoßen.« Schwester Godith sprach mehr, um sich selbst zu beruhigen. »Sie werden die Vorräte plündern und wieder verschwinden.«

Kates Instinkt riet ihr eindringlich zur Flucht. Sie hatte von Söldnerheeren gehört, von wilden unkontrollierten Banden, die vor nichts Halt machten. Nein, sie wären in der Kirche nicht sicher, sie mussten fliehen, und zwar sofort. Kate fühlte Panik in sich aufsteigen, als sie mit Godith zusammen die Bahre ins Refektorium zurückbrachte. Sie legten sie neben dem Toten auf die Dielen und hievten den Mann auf die feste Leinenbespannung.

Wir müssen hier weg, schrie es in Kate. Stattdessen arrangierte sie sorgfältig die Arme des Toten neben dessen Körper, und Godith schloss seine Augen. Der Mann war nicht sehr schwer. Sie hoben die Bahre an und trugen ihre Last langsam zum Ausgang. Kate blickte sich um. Der Speisesaal war ein einziges Durcheinander, schmutziges Geschirr und Apfelreste lagen auf dem sonst so ordentlichen Tisch, einige Stühle waren umgestürzt. Es war ein Omen der Verwüstung, und Kate konnte kaum noch die Ruhe bewahren, Furcht drückte ihr die Luft ab. Sie schritten durch den Kreuzgang. Ein schweißnasses Pferd tänzelte nervös im Hof, der ansonsten leer war und so verlassen fast unheimlich wirkte. Es musste das Reittier des Verstorbenen sein. Jetzt hörten sie plötzlich Geräusche am inzwischen verschlossenen Tor und das Gebrüll von Männern.

Kates Knie begannen zu zitterten. Äxte schlugen gegen die Balken des Eingangsportals. Augenblicke später barst das Holz, und Godith ließ vor Schreck die Bahre los. Sie rannte quer über den Hof in Richtung Kirchentür. Kate machte einen Satz zurück in den Schatten des Kreuzgangs, als sie auch schon Reiter in den Hof preschen sah. Der erste von ihnen fing Godith vor der Kirche ab. Mit einem einzigen Streich trieb er sein Schwert in ihren Rücken. Blut spritzte rot auf den gepflasterten Boden. Kate stockte der Atem. Nein, das Heiligtum der Kirche würde diese Barbaren nicht abhalten. Sie rannte durch den Gang zurück in den Speisesaal und glitt der Länge nach unter den Tisch des Refektoriums. Splitter der Fußbodendielen bohrten sich in ihre Hände.

»Sie sind alle in der Kirche«, hörte sie eine Männerstimme von der Tür her.

Sie war hier nicht sicher, niemand war mehr sicher, sie musste sofort fliehen! Vorsichtig lugte sie unter dem Tisch hervor. Sie hörte den Lärm der Zerstörung im Hof und Schreie aus der Kirche, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließen. So schnell sie konnte, kroch sie auf allen vieren zum anderen Ende des langen Saales und spähte kurz aus dem letzten Fenster, das in den Hof führte. Die Kirche befand sich auf der entgegengesetzten Seite, und die Mehrzahl der Männer hatte sich zunächst dorthin gewandt. Die rückwärtige kleine Tür zum Garten konnte Kate nur erreichen, wenn sie ein kurzes Stück den Hof durchquerte. Zitternd drückte sie sich in den Schatten des Mauerwerks.

Sie musste es wagen. Todesmutig trat Kate aus dem schützenden Dunkel, doch das Bild, das sich ihr bot, ließ sie erstarren. Die Kirchenpforte war aufgebrochen, die Söldner hatten eine ihrer Ordensschwestern schon auf den Hof gezerrt. Kate konnte nicht erkennen, wer es war. Alles, was sie sah, war die Kehrseite eines Mannes, seine Beinlinge waren hinunter zu seinen Knöcheln gerutscht. Links und rechts von seinen Schenkeln baumelten die nackten Beine einer Frau, er musste sie auf den Stapel Feuerholz neben dem Eingang gehoben haben. Ihre Füße wippten rhythmisch auf und ab. Zwei weitere Söldner hielten ihre Arme fest. Ihre Gesichter waren zu Fratzen böser Gier verzogen. Kate stand einen winzigen Augenblick wie gelähmt und konnte die Augen nicht von dem entsetzlichen Spektakel wenden. Es gab nichts, was sie tun konnte. Blitzschnell bog sie um die Ecke des Hofes und verschwand wieder im Gebäude. Augenblicke darauf rannte sie um ihr Leben Richtung Felton Hall.

Wenig später erreichte sie keuchend das Anwesen. Dort herrschte schon helle Panik. Die Verwalterin stürzte auf Kate zu. Schwester Alberta war völlig aufgelöst. Mit Mühe konnte Kate sich aus ihrem hysterischen Gestammel einen Reim machen. Ein Reiter aus dem benachbarten Dorf Wilton war wenige Augenblicke vor Kate da gewesen. Die Angreifer gehörten zu einer durchziehenden Armee von Söldnern, und sie mordeten, raubten und plünderten alles, was ihnen in den Weg kam. Wie die Nonnen von Whitefield waren auch die Bewohner von Wilton von dem Angriff völlig überrascht worden. Der Bote war weiter nach Herbersham geritten, um die Menschen zu warnen. Es gab keine Zeit zu verlieren!

»Wir müssen Mutter Ann warnen«, stammelte Alberta.

»Es ist zu spät! Ich komme doch gerade aus Whitefield.«

»Zu spät?« Alberta starrte Kate entsetzt an, und der Schock ließ die Anwesenden verstummen. Irgendjemand musste jetzt das Kommando ergreifen.

»Die Söldner haben Whitefield schon erreicht.« Kate blickte in die Runde. »Wir müssen hier sofort verschwinden, ehe sie den Hof entdecken.«

Keine der Schwestern rührte sich.

»Ihr da! Kommt her!«, kommandierte Kate zwei stämmige junge Mädchen und einen einzelnen verbliebenen Arbeiterjungen zu sich, die sich verängstigt am Tor herumdrückten. Zwar wurde Kate des Öfteren ihr Dickkopf vorgeworfen, aber ebenso war es in Whitefield unbestritten, dass sie die Gabe hatte, in schwierigen Situationen einen kühlen Kopf zu behalten.

»Treibt das Vieh in den Wald. Wenn Soldaten in eure Nähe kommen sollten, jagt das Vieh in alle Richtungen und versteckt euch.«

Sie riss den Novizinnen die leuchtendweißen Hauben vom Kopf.

»Gott beschütze euch und nun schnell.«

Die drei rannten davon, und Alberta und Judith, eine etwas einfältig aussehende Novizin um die zwanzig, starrten Kate an.

»Wir versuchen, uns in der Sommerscheune zu verstecken. Los«, kommandierte Kate und hastete durch die Seitentür des ummauerten Hofes in Richtung Norden. Sie hetzten über die kahlen Felder. Als sie sich auf die erste Anhöhe emporgekämpft hatten, blickte Kate sich atemlos um. Am Horizont bewegte sich eine große Anzahl brauner Punkte in ihre Richtung. Die Armee war schon ganz nah, Reiter würden den Hof in kurzer Zeit erreicht haben. Kate stürmte den Hang hinunter zu einem kleinen Fluss, der sich durch die hügelige Landschaft wand. Auf der anderen Seite begann der Wald, in den sie die Kinder mit den Kühen geschickt hatte. Es war nichts zu hören, hoffentlich würden die Söldner sie nicht finden.

Sie rannten, so schnell sie konnten, parallel zum Wasserlauf, so brauchten sie weniger Kraft als im hügeligen Terrain und konnten trotzdem in Deckung bleiben. Kate wusste nicht, wie lange sie schon so panisch dahinstürzten. Ihre Lunge brannte. Schwester Alberta war hochrot im Gesicht und sah aus, als ob sie jeden Moment zusammenbrechen würde; und Judith hinkte immer weiter hinterher und drohte den Anschluss zu verlieren. Schließlich kamen sie an eine Stelle, wo sich der Wasserlauf zu einem kleinen See verbreiterte. Im Sommer würde er mit Reet bewachsen sein und wäre ein perfektes Versteck gewesen. Aber jetzt ragten nur spärlich einige tote Stängel aus dem moorigen Untergrund. Suchend sah sich Kate um. Sie benötigten eine Pause, aber dafür brauchten sie Deckung. Sie wateten durch das eiskalte Wasser des kleinen Baches und schlugen sich ein gutes Stück in den Wald.

»Kurzer Halt hier«, keuchte Kate. Sie ließen sich auf den Waldboden fallen. Einige Zeit hörten sie nur ihren eigenen, schweren Atem in der Stille des Waldes. Kate überlegte, wo sie sich befanden. Hoffentlich waren sie inzwischen aus der Marschlinie des Heeres, aber sicher konnte sie nicht sein.

Eine kleine Weile lagen sie still auf dem Waldboden. Kates Atem hatte sich schließlich beruhigt. Sie lauschte angestrengt. Neben den Geräuschen des Waldes meinte sie auch, in der Ferne den Lärm vieler Menschen zu hören.

»Wir müssen weiter.« Mühsam zwang sie sich auf die Füße.

»Ich kann nicht mehr weiter.« Schwester Alberta war immer noch außer Atem, und ihr Busen hob und senkte sich stoßweise.

»Ich werde hierblieben und mich verstecken, ich kann nicht mehr laufen.« Judith schüttelte ebenfalls den Kopf. Sie hatte ihre Sandalen verloren, und ihre Füße waren zerkratzt und blutig.

Kate runzelte die Stirn. Sie waren hier nicht sicher, wenn auch nur einige wenige Söldner ausschwärmten, würde man sie finden. Offensichtlich hatten sie zudem eine Spur in Form von Sandalen und einem Kopftuch hinterlassen. Aber es gab keinen Zweifel, ihre Begleiterinnen konnten nicht mehr weiter.

»Gut. Bleibt hier und seid ganz still. Ich werde mich umsehen, ob ich ein besseres Versteck für uns finde.«

Kate hastete davon. Vielleicht gab es irgendwo einen dichteren Hain oder eine Erdhöhle. Das Unterholz war winterlich kahl und bot nicht viel Sichtschutz. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie schließlich einen alten, umgestürzten Baum fand, der in den vergangenen Sommern von Ranken und Moosen überwuchert worden war. Das Gestrüpp war mit toten Blättern bedeckt und bildete so eine kleine Höhle. Kate bezweifelte, dass sie alle darin Platz finden würden, aber ein besseres Versteck war weit und breit nicht zu sehen. Sie eilte zurück, um Alberta und Judith zu holen.

Je mehr sie sich jedoch der Lichtung, auf der sie die beiden zurückgelassen hatte, wieder näherte, desto mehr verlangsamte sich ihr Schritt. Sie hielt an und lauschte, schlich wieder vorsichtig etwas weiter, stand erneut regungslos und lauschte. Stille. Sie war zu weit entfernt, um den Platz einsehen zu können, aber irgendetwas stimmte nicht. Zwar hatte sie ihren Begleiterinnen eingeschärft, mucksmäuschenstill zu sein, aber diese Stille war merkwürdig. Es war eine Totenstille.

Plötzlich vernahm Kate einen unterdrückten Laut. In Sekundenbruchteilen machte sie auf dem Absatz kehrt und schoss in die entgegengesetzte Richtung davon. Sie hörte mehrere Verfolger ganz dicht hinter sich. Und rannte um ihr Leben. Sie preschte durchs Unterholz, Zweige peitschten ihr ins Gesicht und rissen an ihrem Kleid. Sie rannte und rannte, bis sie das Gefühl hatte, ihre Beine würden jeden Moment unter ihr nachgeben. Sie konnte ihre Verfolger nicht deutlich hören, wusste aber auch nicht, wie groß der Abstand zwischen ihnen war. Da plötzlich blieb Kates Fuß an einer Wurzel hängen, und sie schlug der Länge nach hin. Es war aus!

Kapitel 2

Wenige Tage zuvor hatte sich weit entfernt von den Kriegswirren im Süden an der schottischen Grenze eine andere Tragödie ereignet.

Die Nachricht vom Überfall und dem Massaker an der Familie Ashbourgh erreichte Lord Ravenhurst beim Abendessen in Gestalt seines Freundes Sir Charles. Eine Bande gesetzloser Verbrecher hatte die komplette Familie in ihrer Sommerresidenz abgeschlachtet, die Bediensteten massakriert, alles geraubt und dann den gesamten Gutshof niedergebrannt. Selbst in gesetzlosen Zeiten wie diesen war das eine Ungeheuerlichkeit. Die Reaktion seiner Lordschaft auf diesen blutrünstigen Bericht war:

»Tatsächlich?«

Sir Charles war verdutzt.

»Tatsächlich? Ist das alles, was du dazu zu sagen hast? Eine marodierende, gesetzlose Bande so nahe deiner Grenze. Eine ganze Familie ausradiert. Kaum zu glauben.« Er ließ sich kopfschüttelnd auf einen der ausladenden Holzstühle fallen und nahm einen tiefen Zug aus dem Bierkrug, der ihm gereicht wurde.

Lord John blickte versonnen in sein eigenes Bier. Welch ein Glücksfall, schoss es ihm durch den Kopf. So unvermutet wurden die Karten neu gemischt. Nicht, dass ihn das Massaker an Ashbourgh und seiner Familie besonders freute, aber bedauern konnte er es auch nicht recht. Vielmehr tat sich unverhofft eine Gelegenheit auf, seinen Einfluss auf die benachbarten Ländereien auszudehnen. Er würde schnell handeln müssen.

Sie befanden sich in der großen Halle von Burg Ravenhurst. In dem massiven, gemauerten Kamin prasselte ein helles Feuer, das den Bereich davor erleuchtete. Dort standen ein schwerer Holztisch und eine Anzahl bequemer Holzsessel, die mit Schaffellen belegt waren, um den Benutzer vor der kalten Zugluft im Rücken zu schützen. Burg Ravenhurst war eine recht neue, wehrhafte Anlage. Sie stand auf einem Felsen, der die Weite der umliegenden Hügel bis zur schottischen Grenze überblickte. Die Burg war von einer schlichten, strengen Schönheit, die so gar nicht der gängigen Mode von bunten Bemalungen und farbenfrohen Wimpeln folgen wollte.

Eigentlich war die Burg ein Abbild ihres Erbauers, dachte Charles. Er betrachtete seinen Freund mit zusammengekniffenen Augen. Lord John war hochgewachsen und schlank. Seine Bewegungen waren geschmeidig, und seine unerwartete Kraft und Ausdauer hatten schon so manchen seiner Feinde das Leben gekostet. Er war ein gut aussehender Mann, aber seine durchdringenden grauen Augen und der harte Zug um seinen Mund ließen die Ebenmäßigkeit seiner Züge und den Glanz seiner dunkelbraunen Locken verblassen. Und dieser Eindruck täuschte nicht. Lord John war ein harter Mann, gegen sich selbst und gegen andere. Unter seiner häufig gleichgültig wirkenden Fassade verbarg sich außerdem ein gefährlicher Jähzorn.

Auf den ersten Blick hätte man sie nicht für Freunde gehalten. Im Gegensatz zu Lord John, der sich schmucklos und in dunklen Farben kleidete, liebte Sir Charles alles Prächtige und war immer ganz nach der neuesten Mode ausstaffiert. Heute trug er ein zweifarbiges, längsgestreiftes Wams in Rot und Grün. Seine Beine steckten in eng anliegenden Hosen aus feinster Wolle in einem Ockerton, und an seinen Füßen befanden sich ausgesprochen spitz zulaufende Kurzstiefel, die am oberen Rand mit kleinen goldenen Troddeln verziert waren. Sein kunstvoll zurechtgemachtes Äußeres täuschte allerdings nicht darüber hinweg, dass auch Sir Charles ein erfahrener Kämpfer war. An seiner Seite hing ein Schwert, mit dem er durchaus umzugehen vermochte. Was ihn noch von Lord John unterschied, war sein offenes, freundliches Wesen, sein natürlicher Charme und die Eleganz seiner Umgangsformen. Charles war etwa so groß wie John und eher drahtig als muskulös, seine braunen Augen lachten gerne. Charles und John kannten sich von Kindesbeinen an und waren bis auf eine einzige Unterbrechung stets unzertrennlich gewesen.

»Was meinst du, John, wer steckt wirklich dahinter? Das erscheint mir alles so merkwürdig. Meines Wissens ist die Ashbourgh-Linie damit beendet. Wer übernimmt jetzt den Besitz? Und wer wird überhaupt das Lehen vergeben, König Stephen oder Kaiserin Matilde?«

Lord John blickte auf.

»Ashbourgh hat der Kaiserin Gefolgschaft geschworen.«

»Ich wette, dass Ludam seine Hände im Spiel hatte«, grübelte Sir Charles laut. »Aber selbst er könnte nicht so etwas Niederträchtiges planen, wie eine ganze adlige Familie auszurotten.«

»Ich fürchte, da schmeichelst du Ludams Wesen. Es scheint mir exakt das zu sein, was er ausbrüten würde. Ich kann nicht sagen, dass ich Ashbourghs Tod bedauere. Kein sehr rühmliches Ende, wie ein Schwein abgestochen zu werden. Aber eigentlich auch ganz passend.« Lord John erhob sich. Er streckte seine langen Glieder und gähnte.

»Ich gehe zu Bett, und du solltest das auch tun, da wir morgen eine längere Reise in den Süden machen werden.«

Überrascht sah Sir Charles seinen Freund fragend an.

»Wir werden Lady Katherine Ashbourgh aus dem Kloster holen, und ich werde sie heiraten und damit dieses leidige Grenzproblem im Südwesten beenden. Gute Nacht, Charles.«

Damit wandte sich Lord John um und stieg die breite steinerne Treppe hinauf in die Wohngemächer der Burg.

Sir Charles stand wie vom Donner gerührt in der Halle. Das konnte doch wohl nicht sein Ernst sein, dachte er. Nun, da John Lady Katherine erwähnt hatte, erinnerte sich Charles dunkel, dass es da tatsächlich noch eine zweite Tochter aus erster Ehe gegeben hatte. Lebte sie überhaupt noch? Er hatte um ihre Existenz völlig vergessen. Und Henry von Ludam wahrscheinlich auch - oder wer immer hinter dem Attentat steckte. Sir Charles runzelte die Stirn, das würde kein einfaches Unterfangen werden, die Maid zu entführen. Und eine Maid war sie wahrscheinlich inzwischen auch nicht mehr, eher eine alte Jungfer. Ernsthafte Bedenken hatte Charles allerdings nur bezüglich dieser unvermittelten Heiratsabsicht. John war dreiunddreißig und brauchte einen Erben. Wenn er sich verheiratete, würde er sicherstellen, den größtmöglichen Vorteil aus der Verbindung zu ziehen. Johns erste Ehe war kurz gewesen und hatte ein tragisches Ende genommen. Es war eine ausgesprochen vorteilhafte Beziehung für beide Seiten gewesen.

Doch es hatte sich gezeigt, dass die Braut leider ein hochempfindsames Wesen mit einer übernervösen Veranlagung war. Eine verhängnisvolle Eigenschaft in einer Ehe mit einem Mann wie John. Wenige Monate nach der Vermählung hatte sich Lady Ravenhurst nach einem Streit mit ihrem Gatten in einer hysterischen Verwirrung von den Zinnen der Burg gestürzt. Es war ein unglaublicher Skandal gewesen. Gerüchte behaupteten, dass John seine Frau absichtlich in den Tod getrieben hätte. Nur Charles wusste, wie sehr John der Freitod seiner jungen Frau bestürzt hatte. Der Gedanke, dass sie den Tod einem Leben an seiner Seite vorgezogen hatte, hatte seinen Freund zutiefst getroffen. In den folgenden Jahren hatte er nichts unternommen, um den wilden Gerüchten Einhalt zu gebieten. Vielmehr schien es, als hätte er sein Bestes gegeben, um dem Ruf des Monsters gerecht zu werden. Charles konnte nur hoffen, dass Lady Katherine von robusterer Konstitution war.

Es war noch nicht ganz hell, als sie am nächsten Morgen aufbrachen. Charles, der alles andere als ein Frühaufsteher war, wurde zusätzlich verärgert, als John ihn darauf hinwies, dass Eile geboten sei und ein zusätzliches Pony für Charles‘ Gepäck nicht vorgesehen war.

»Barbar!«

John lachte nur und schwang sich in den Sattel. Zwei Männer aus Ravenhursts Gefolge waren ebenfalls mit von der Partie. Die erste Stunde ritten sie schweigend durch die stille Heidelandschaft. Schließlich trieb Charles seinen Rotfuchs neben John, der an der Spitze ritt.

»Na, aufgewacht?«

»Das kann noch gut zwei Stündchen dauern«, brummte Charles. »Also, was zum Teufel mache ich hier in aller Herrgottsfrühe ohne Gepäck?«

»Ohne Gepäck?« John nickte in Richtung von Charles' prallen Satteltaschen.

Charles starrte ihn nur finster an.

»Wie ich gestern bereits sagte, werden wir meine Braut abholen«, erklärte John.

»Die Braut ist davon informiert worden?«

»Nein.«

»Weiß sie wenigstens, dass sie deine Braut ist?«

»Nein.«

Charles schüttelte den Kopf. Nach einer Pause fragte er: »Hast du sie überhaupt schon mal gesehen?«

»Nein.«

»Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen! Du hast also gestern Abend ganz spontan beschlossen, diese Tochter von Ashbourgh zu heiraten?«

»Genau.«

»Das finde ich schon ziemlich merkwürdig.«

»Charles, nun sei doch bitte nicht so begriffsstutzig«, seufzte Lord John. »Die Gelegenheit für diese Verbindung hat sich doch erst gestern Abend ergeben.«

»Dass du dich überhaupt an die Maid erinnerst«, wunderte sich Charles. »Woher weißt du, wo sie ist?«

»Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, immer genauestens über die Angelegenheiten meiner Feinde Bescheid zu wissen.«

»Ach.«

»Manchmal weiß ich sogar mehr über sie als sie selbst.« Um Johns Mund spielte ein zufriedenes kleines Lächeln.

»Ich nehme an, es hat einen Grund, dass wir uns so verdammt beeilen müssen?«

»Allerdings.«

Charles boxte John in die Seite, um ihn zum Weiterreden zu bewegen.

»Es ist ganz einfach: Ludam hat sich Ashbourghs entledigt, in der Hoffnung, das Lehen für sich beanspruchen zu können. Er hat auch ganz gute Chancen, da es an seinen Besitz grenzt und die Zusammenführung einen gewaltigen geografischen Vorteil für beide Lehen brächte. Egal für welchen Oberherren.«

»Aber Ravenhurst grenzt doch auch an deinen Besitz. Dann hättest du genauso große Ansprüche«, gab Charles zu bedenken.

»Weder die Kaiserin noch König Stephen werden mir freiwillig mehr Macht abtreten.«

Es trat wieder eine Pause ein, Charles dachte nach. Es stimmte, dass der jetzige Lord Ravenhurst es verstanden hatte, sein Einflussgebiet erheblich auszudehnen. Er war außerdem über seine Mutter mit einem der benachbarten schottischen Clans im Norden verwandt. Er hatte sich, so weit es ging, aus dem Thronstreit herausgehalten, was an sich schon eine diplomatische Meisterleistung war. Um sich das Gebiet zu sichern, musste er allen anderen Interessenten zuvorkommen. Deshalb die Eile. Wenn er die rechtmäßige Erbin heiraten würde, dann ginge das Lehen selbstverständlich an ihn. Das konnte nicht so leicht angefochten werden, wenn er erst einmal Tatsachen geschaffen hatte.

»Wenn es diese Tochter nicht gäbe, wer wäre der Nächste in der Reihe?«

»Stratton.«

»Das Wiesel? Den möchte ich auch nicht zum Nachbarn haben.« In Charles‘ Ton schwang Abscheu mit.

»Allerdings ist sein Anspruch nicht sehr stark und könnte leicht durch taktische Erwägungen aufgehoben werden.«

»Kann es nicht sein, dass Ludam diese Tochter auch schon beiseitegeräumt hat?«

»Möglicherweise. Allerdings glaube ich eher, dass er Lady Katherine übersehen hat. Mir wurde jedenfalls nichts von einer Reise oder einem Botengang in Richtung Süden berichtet. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis er seinen Fehler bemerkt, aber es wäre wünschenswert, wenn er mir nicht zuvorkäme und Lady Kathrine am Leben bliebe.« Damit gab John seinem Hengst die Sporen und ließ ihn in einen scharfen Trab fallen.

Und um ihr Leben zitterte Kate, als sie keuchend auf dem Waldboden kauerte. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Jeden Moment würden ihre Verfolger sie packen. Doch es blieb still, sie hörte nur die Geräusche des Waldes und ganz entfernt Stimmen. Sie verharrte regungslos, zu erschöpft, um sich zu bewegen. Der Tag näherte sich dem Ende. Sie beobachtete einen kleinen Käfer, der über ihre Hand krabbelte. Wie nahe Terror und Frieden beieinanderlagen. Dem Wald und seinen Tieren war das menschliche Drama gänzlich gleichgültig.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie schließlich mühsam aufstand. Sie musste sich unbedingt nach einem sicheren Quartier für die Nacht umsehen, und sie war sehr hungrig. Was wohl aus Alberta und Judith geworden war? Kate mochte nicht daran denken. Sie hatte die Orientierung verloren und wusste nicht mehr, wo sie sich befand. Mit der Dämmerung kam auch die Kälte wieder. Sie stolperte ziellos durch das Unterholz. Obwohl sie sich sehr bemühte, leise zu sein, schien es, als würden das Rascheln des Laubes und das Knacken der zerbrechenden Zweige unter ihren Füßen meilenweit durch den Wald hallen. Immer wieder blieb sie stehen, um zu lauschen und sich umzusehen. Sie hatte das Gefühl, dass Hunderte von Augenpaaren sie beobachteten. Kate zwang sich, nicht an Wölfe und wilde Eber zu denken. Es ging jetzt etwas bergan. Obwohl sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie Einzelheiten doch erst in letzter Minute ausmachen. Urplötzlich lichtete sich der Wald, und sie stand wieder im Freien.

Der Mond war noch nicht aufgegangen, und es war sehr dunkel. Vor ihr lag ein Acker. Sie folgte der kahlen Wallhecke, in der Hoffnung, einen Hof oder zumindest eine Scheune zu finden. Das Feld mündete in einem kleinen Weg. Kate beschloss, dem Weg nach links zu folgen, und nach etwa einer halben Stunde entdeckte sie tatsächlich zu ihrer großen Erleichterung nicht weit entfernt ein schwaches Licht. Es war ein kleiner Bauernhof, der von ein paar niedrigen Bäumen umgeben war. Kate schöpfte neue Hoffnung und beschleunigte ihre müden Schritte in Richtung des schmalen hellen Streifens, der einen warmen Platz zum Schlafen und vielleicht auch eine Mahlzeit versprach.

Sie erreichte die angelehnte Tür, durch die der Lichtstrahl in die Schwärze der Nacht schien.

»Hallo?«, rief sie leise und schob die Tür ein bisschen weiter auf.

Kate prallte zurück. Das Haus bestand aus einem einzigen Raum. In dem offenen Kamin brannte ein mächtiges Feuer, die Flammen fraßen gierig an einem Holzstuhl. Es herrschte ein furchtbares Durcheinander, alles war zerbrochen und wahllos umhergeworfen worden. Und überall war Blut. Entsetzt entdeckte Kate die aufgeschlitzten Körper zweier Menschen neben der Feuerstelle. Sie wirbelte herum und stürzte hinaus, genau in dem Moment, als zwei Männer um die Ecke des Hauses bogen.

»He, da ist noch wer!«, schrie einer der Männer und setzte ihr nach.

Wieder rannte Kate um ihr Leben, sie hastete über das offene Stoppelfeld, das sich hinter der kleinen Bauernkate anschloss. Fast hätte sie die Hecke erreicht, aber der zweite Mann hatte sich auf sein Pferd geschwungen und war schneller. Er erwischte Kate am Kragensaum ihres Kleides. Sie stolperte und hing nun wehrlos im Griff des Reiters. Er wendete und schleifte sie zurück zum Hof. Kate hatte das Gefühl, erwürgt zu werden.

»Na, was haben wir denn da?« Der Mann glitt aus dem Sattel und zerrte sie ins Licht. Er starrte sie gierig an.

»Gar nicht übel«, stellte er fest und grinste hämisch auf Kate nieder. Die Reihe gelber Zahnstummel ließ sie erschauern. Die Männer gehörten eindeutig zu dem Söldnerheer, beide trugen zerschlissene Kettenhemden und Schwerter an der Seite.

»Ken, komm jetzt, wir müssen zurück ins Lager«, drängte der andere, ein pockennarbiger Bursche mit langen fettigen Haaren. »Nimm sie einfach mit, ich will nicht schon wieder Ärger kriegen, weil wir zu spät sind. Wir können doch nach dem Essen unseren Spaß mit ihr haben.« Er lachte gehässig.

Kate wurde brutal zum Pferd gestoßen. Ken holte ein grobes Seil aus der Satteltasche und band ihr die Hände zusammen. Dann stieg er auf und zerrte sie vor sich auf das Pferd.

Kate spürte Panik in sich aufsteigen. Sie musste ihre Angst beherrschen und einen klaren Kopf behalten, ermahnte sie sich verzweifelt. Der Söldner stank erbärmlich, und sie unterdrückte einen Brechreiz. Die beiden Männer trieben eine magere Kuh vor sich her. Für dieses bedauernswerte Geschöpf hatten sie nun zwei Menschen ermordet. Sie ritten über die dunklen Felder, und nach einiger Zeit hörte Kate den Lärm eines Feldlagers, und nun sah sie auch den Schein zahlreicher Lagerfeuer.

Es war ein Lager von gewaltigen Ausmaßen, viel größer, als sie es sich vorgestellt hatte. Es herrschte laute Geschäftigkeit, und obwohl die Mehrzahl der Männer aussah wie grobschlächtige Barbaren, schien doch eine gewisse Disziplin vorhanden zu sein. Es wurden Zelte errichtet, runde mit bunten Verzierungen und kleinere rechteckige in schlichtem Graubraun. Eine Gruppe von Männern trieb Holzpfähle in den Boden und trennte mit Seilen kleine, provisorische Koppeln für Pferde und Vieh ab. Zahlreiche Feuer brannten. Aus dem Stimmengewirr hörte Kate einzelne gebrüllte Befehle, und irgendwo wurde ein Schwein geschlachtet. Sie ritten ein Stück durch das Lager und hielten schließlich an einem Zelt, vor dessen Eingang eine Fackel brannte. Kate wurde vom Pferd gestoßen und landete schmerzhaft auf dem harten Boden. Die Söldner meldeten sich bei ihrem Offizier, der aus dem Zelt getreten war. Die magere Kuh wurde weggeführt. Der Offizier musterte Kate kurz und wendete sich bereits ab, als sie sich hochrappelte und ihn hastig ansprach.

»Herr, Ihr begeht einen Fehler, mich Euren Leuten zu überlassen. Mein Name ist Lady Katherine Ashbourgh, und meine Familie wird ein hohes Lösegeld zahlen, mich unversehrt zurückzubekommen. Ich bin aus dem Kloster Whitefield geflohen.« Kates Atem ging schnell.

Der Offizier wandte sich ihr wieder zu, diesmal schien er interessiert: »So, eine Adlige willst du also sein? Und kannst du das auch beweisen?«

»In Whitefield gibt es Dokumente, die meine Herkunft belegen.« Kate versuchte, gefasst und zuversichtlich zu klingen.

»Whitefield gibt es nicht mehr. Hast du was anderes zu bieten?«

In Kates Kopf drehte sich alles, es war zum Schlimmsten gekommen. Sie hatten das Kloster niedergebrannt, dem Erdboden gleichgemacht. Waren auch alle ihre Schwestern ermordet worden, wie die armen Bauern für ihre magere Kuh? Es war, als hätte sie den Boden unter ihren Füßen verloren. Der Offizier sagte etwas zu ihr, aber sie konnte es nicht verstehen, das Rauschen in ihren Ohren war zu laut. Jetzt brüllte er sie an, aber sie konnte ihn immer noch nicht verstehen, sie blinzelte. Etwas traf sie hart in den Kniekehlen, und sie fiel hin. Sie wurde zu einem der hölzernen Zeltpfosten geschleift und dort festgebunden. Der Offizier ging davon.