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Inhalt

Prolog

1  Nächstenliebe kennt keine Obergrenze

2  Teilen muss nicht wehtun

3  Wer ist schon fremd?

4  Auch in Syrien gibt es Duschen

5  Mein Herz spricht arabisch

6  Eine Gesellschaft am Scheideweg

7  Nicht so viel Ich, sondern mehr Wir

8  Was denkst du, was ich glaube?

9  Barmherzigkeit ist klüger

Epilog

Dank

Denk an den Andern

Wenn du dein Frühstück bereitest, denk an den Andern

und vergiss nicht das Futter der Tauben.

Wenn du in deine Kriege ziehst, denk an den Andern

und vergiss nicht jene, die Frieden fordern.

Wenn du deine Wasserrechnung begleichst, denk an die Andern,

die ihr Wasser aus den Wolken saugen müssen.

Wenn du zu deinem Hause zurückkehrst, deinem Hause, denk an den Andern

und vergiss nicht das Volk in den Zelten.

Wenn du schlafen willst und die Sterne zählst, denk an den Andern,

der hat keinen Raum zum Schlafen.

Wenn du dich mit Wortspielen befreist, denk an den Andern

und denk an jene, die die Freiheit der Rede verloren.

Wenn du an die Anderen in der Ferne denkst, denke an dich,

und sage: wäre ich doch eine Kerze im Dunkeln.

Mahmud Darwisch, Übersetzung von Hakam Abdel-Hadi

Prolog

Da stand sie in der Mitte des Saales am Mikrofon. Hätte sie geahnt, dass einige Monate später die Kanzlerin beinahe die gleichen Worte wählen würde, wäre die ältere Dame bei der Bürgerversammlung vielleicht mit etwas mehr Selbstbewusstsein ans Mikrofon getreten. Vermutlich wäre sie aber gar nicht erst aufgestanden, wenn ihr klar gewesen wäre, welche Bedeutung ihre wenigen Worte für mich bekommen sollten. Sie wäre auf ihrem Platz sitzen geblieben, denn sie wollte nichts Bedeutendes sagen. So viel „Gescheites“, wie sie es ausdrückte, war doch schon gesprochen worden.

Vorher war es hoch hergegangen bei der Bürgerversammlung. Streitpunkt war die geplante Eröffnung einer dezentralen Unterkunft in einem ehemaligen Hotel am Marktplatz der Kleinstadt. Gegner der Unterkunft und Befürworter hatten sich gegenseitig zuvor bis ins Detail mit Sachargumenten überhäuft. Gesetzlich vorgegebene Mindestquadratmeter für die Unterbringung von Asylsuchenden und Bauabstandsverordnungen wurden bemüht, um zu belegen, dass das Gebäude für die Unterbringung von Geflüchteten geeignet oder eben völlig ungeeignet sei. Die einen sahen in der zentralen Lage am Marktplatz eine Gefahr für den Tourismus, die anderen entdeckten genau in demselben Standort so etwas wie eine Garantie für gelingende Integration. Keine der beiden Seiten schien sich zu bewegen oder gar überzeugen zu lassen. Dazwischen saßen einige Unentschlossene, die das Ganze eher wie ein Schauspiel betrachteten – und ich.

Mit einer Bekannten aus dem Würzburger Flüchtlingsrat war ich zu der Veranstaltung gefahren, um Argumente zu der Diskussion beisteuern zu können. Aber ich erlebte mich seltsam stumm an dem Abend. Vielleicht lag es an der Tatsache, dass ich mich gerade in meiner Heimatstadt befand. Oder es war dieses eigenartig lähmende Gefühl, das mich in den letzten Monaten immer mal wieder verstummen lässt – und zwar in den Momenten, in denen ich mutlos werde, weil sich Menschen gegenseitig irgendwelche Fakten an den Kopf werfen und ich spüre: Eigentlich geht es um etwas anderes. Auch an diesem Abend im Feuerwehrhaus schien alles unglaublich kompliziert. Nichts bewegte sich.

Und dann trat die ältere Dame ans Saalmikrofon: „Meine Mama hat mir früher mal erzählt, dass in dem Haus schon oft Flüchtlinge gewohnt haben. Das wäre jetzt nicht das erste Mal für das Haus. Leute, wenn das Haus das schafft, dann schaffen wir das auch!“

Das erste Mal an diesem Abend hatte ich das Gefühl, dass sich in dem Saal etwas rührte. Ohne sich an Argumenten und dahinterliegenden Vorurteilen abzuarbeiten, war die Frau aufgestanden und sprach von einem „Wir“. Und mit diesem „Wir“ meinte sie tatsächlich alle.

Weit vor Angela Merkel hatte sie diesen fast magisch wirkenden Satz ausgesprochen: „Wir schaffen das!“

Der Satz schwebte ungeschützt im Raum ohne Netz und doppelten Boden. Das einzige Argument, das die Frau mitgeliefert hatte, klang noch magischer: „Das Haus schafft das!“ Ihre Worte landeten in mir und berührten mich.

Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass ich Tränen in den Augen hatte in diesen Monaten. Solche Momente bewegen mich seither immer wieder dazu, mich zu engagieren.

Von einigen dieser Begebenheiten will ich erzählen. Mir ist bewusst geworden, dass sich für mich in Begegnungen und konkreten Erlebnissen manchmal viel mehr ereignet als in den häufig so festgefahrenen kontroversen Diskussionen. Diese Erfahrungen sind für mich inzwischen auch der Schlüssel zu der Frage geworden, ob und wie wir es schaffen, mit Menschen zusammenzuleben, die bei uns Zuflucht suchen. Natürlich berichte ich hier nur von meinen ganz persönlichen und subjektiven Erlebnissen und von mancher Erkenntnis, die diese Erlebnisse in mir hinterlassen haben.

Diese Situationen und meine Deutungen geben nur einen Bruchteil dessen wieder, was viele Menschen in den vergangenen Monaten erlebt haben. Es finden sich keine allgemeingültigen Antworten auf komplexe Fragen. Meine Sichtweisen bleiben unvollständig und sind darauf angewiesen, von vielen anderen ergänzt zu werden. Im besten Fall sind sie für andere ein Anreiz, den eigenen Erfahrungen mehr zuzutrauen als der ewigen Wiederholung von Positionen zwischen verhärteten gesellschaftlichen Lagern. Vielleicht verhelfen die Überlegungen auch dazu, nüchterne Fakten und Argumentationsketten, die in ihrer Logik unabänderlich zu sein scheinen, für einen Moment zu unterbrechen und ihnen eigene konkrete Erlebnisse, Gesichter und Geschichten an die Seite zu stellen.

Als Theologe möchte ich diese Momente sogar als „heilig“ bezeichnen, weil sie für mich nicht produziert, nicht herbeigeführt oder berechenbar gewesen sind, sondern unverfügbar und geschenkt. Diese Augenblicke ereigneten sich aber nicht in herkömmlichen „heiligen Räumen“, sondern in Notunterkünften, Zelten und Hallen, bei Bürgerversammlungen, bei mir zu Hause in der Küche oder auf der Straße. Immer waren und sind es Situationen voller Menschlichkeit.

Ich habe in den letzten Monaten erlebt, dass ich von manchen als weltfremder „Träumer“ ohne Realitätssinn bezeichnet wurde. Wer hat eigentlich angefangen zu behaupten, subjektive Erfahrungen, Verheißungen und Visionen seien weltfremd? Es gibt nichts Realeres als das, was ich erlebt habe. Es ist an der Zeit, in der öffentlichen Debatte neben den Sachargumenten Erfahrungen zur Sprache zu bringen und diesen Erfahrungen zuzutrauen, dass sie neue Perspektiven in verhärtetete Auseinandersetzungen einbringen können.

Ich zehre von diesen Erlebnissen – und mit mir viele, die sich seit Monaten zuverlässig und gegen manche Widerstände in Notunterkünften, in Hallen und Zelten freiwillig engagieren.

Einmal sagte mir ein verantwortlicher Mitarbeiter in einer Behörde, man sei dankbar für das Engagement so vieler Freiwilliger, aber es sei nicht vorgesehen, dass sie Beziehungen zu Geflüchteten aufbauten. Diese emotionalen Bindungen würden das behördliche Handeln erschweren. Dem gegenüber steht meine Erfahrung der letzten Monate: Die Offenheit für Beziehungen ist ein Reichtum in unserem Land! Wir brauchen Menschen, die sich berühren lassen vom Schicksal anderer. Die bereit sind, mit bisher Fremden verlässliche Bindungen aufzubauen. Denn diese Begegnungen zwischen Menschen lassen ein neues „Wir“ entstehen. Ein Wir, das das eigentliche tragfähige Fundament des Hauses ist, in dem wir gemeinsam leben.

Ob das Zusammenleben in einem Haus gelingt, hängt nur zum Teil davon ab, ob der Bauplan und damit die äußeren Bedingungen stimmen. Wesentlich ist, dass sich die Menschen in diesem Haus aufeinander einlassen und überhaupt zusammenleben wollen. Genauso scheint es mir im Augenblick in unserer Gesellschaft darauf anzukommen, dass wir uns dafür entscheiden, wirklich mit Geflüchteten zusammenleben zu wollen. Strategien, ökonomische Prognosen oder gesetzliche Rahmenbedingungen sind wichtig und ordnen den äußeren Rahmen. Sie bleiben aber statisch, wenn die Begegnungen unter den Menschen fehlen. Wenn ich von meinen Erfahrungen erzähle, dann vor allem, um damit anderen Menschen Mut zu machen und in ihnen die Neugier zu wecken, den direkten Kontakt mit Menschen auf der Flucht zu suchen. Mir geht es aber auch darum, den vielen Menschen, die als Freiwillige eigene Erfahrungen gesammelt haben, ans Herz zu legen: Traut euren Erfahrungen und lasst euch nicht von lauten Parolen oder vermeintlichen Sachargumenten einschüchtern! Ihr habt mit dem, was ihr erlebt habt, etwas Wesentliches zum Thema beizutragen.

Ich bin der festen Überzeugung: Auch dieses Haus, unsere Gesellschaft, kann es schaffen und zu einem Ort werden, an dem jeder einen Platz findet.

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Nächstenliebe kennt keine Obergrenze

Ich sitze im Auto und höre im Radio eine Nachricht, die wie eine Erfolgsmeldung klingt: Die Flüchtlingszahlen sind Anfang des Jahres 2016 gesunken. Als Grund hierfür werden der Winter und neue Grenzzäune in Europa genannt. Auf mich wirken die Formulierungen in der Meldung zynisch. Wie weit ist es gekommen, dass wir es als Erfolg feiern, wenn es Menschen nicht zu uns schaffen und stattdessen irgendwo in Lagern unter menschenunwürdigen Bedingungen ausharren müssen? Ich kann es kaum fassen, was aus der Willkommenseuphorie des Sommers 2015 geworden ist. Wie kann es sein, dass die Stimmung in unserem Land so schnell umschlägt?

Ich habe in diesem Augenblick das dumpfe Gefühl, die Unkultur des Wegschauens könnte schon gesiegt haben. Nach dem Motto: Hauptsache weniger Flüchtlinge im Land, wir wollen gar nicht wissen, wie es ihnen woanders ergeht. Manchmal möchte ich denen, die für die Abschottungspolitik verantwortlich sind, Geschichten von konkreten Menschen erzählen, die mir täglich begegnen. Am liebsten würde ich ihnen Fotos zeigen mit Gesichtern oder sie mitnehmen in die Unterkünfte, in denen Menschen sitzen, die sich Sorgen machen um Angehörige, die irgendwo an einer Grenze festsitzen.

Immer wieder wird gesagt, aus Betroffenheit heraus ließe sich keine Realpolitik gestalten. Wenn ich Meldungen wie die von den gesunkenen Flüchtlingszahlen höre, denke ich mir: Und so weit kommt es, wenn Realpolitik ohne Betroffenheit und beziehungslos gemacht wird. Für mich hat aber jede dieser politischen Entscheidungen Auswirkungen auf Menschen mit Namen und Gesichtern. Ist das etwa ein Fehler?

Ein junger Mann aus Syrien hat mir erzählt, dass seine Schwester mit ihrer Familie aus Aleppo an die türkische Grenze geflohen ist und dort darauf wartet, in die Türkei einreisen zu dürfen. Die Bombardierungen durch russische Kampfflugzeuge haben der Familie mit den kleinen Kindern ein Bleiben in ihrer Heimat unmöglich gemacht. Ich frage ihn jeden Tag, ob er etwas Neues von seiner Schwester gehört hat. Die ersten Tage antwortet er mir noch mit einem Lächeln auf den Lippen und mit Hoffnung: „Noch warten sie, weil die Grenzen dicht sind, aber vielleicht heute Nacht.“ Nach vier Tagen erzählt er mir traurig, seine Schwester sei mit ihrer Familie nach Aleppo in den Krieg zurückgekehrt. Die Türkei halte die Grenze weiter verschlossen und für die Kinder sei es nicht länger zumutbar, bei Kälte unter freiem Himmel zu warten.

Die Radiomeldung von den gesunkenen Flüchtlingszahlen hat für mich in diesem Augenblick ein trauriges Gesicht bekommen. Ich schäme mich für diese Meldung, mehr aber noch für die Haltung, die zu der Wende in der Asylpolitik und damit zu dieser Nachricht geführt hat. Die Begrenzung der Flüchtlingszahlen scheint auf einmal zu so etwas wie einem Wert geworden zu sein. Für mich bezeichnet dieser Weg der Abschottung eine wirkliche gesellschaftliche Krise.

Ja, wir leben in einer Krisensituation. Aber diese Situation wird zu Unrecht als „Flüchtlingskrise“ bezeichnet, als seien Menschen, die vor Bomben fliehen, Auslöser der Krise. Richtig wäre, von einer „Humanitätskrise“ oder von einer „Wertekrise“ zu sprechen. Denn wenn an den Grenzen Europas die Humanität Obergrenzen geopfert wird, dann sind tatsächlich Werte bedroht. Wenn nach wie vor an Außengrenzen Europas Menschen ertrinken, die Schutz suchen, dann befinden wir uns längst in einer tiefen Humanitätskrise.

Schon 2013 sprach Papst Franziskus angesichts der vielen Toten im Mittelmeer von einer „Schande“ für Europa. Und auch der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Marx, fand im Herbst 2015 scharfe Worte: „Wenn wir Menschen in Not sozusagen an unseren Grenzen sterben lassen, dann pfeife ich auf die christliche Identität. Das kann ja nicht sein. Christliche Identität bedeutet als Erstes, dem Nächsten begegnen, der schwach ist.“1 Gerade als Christen sind wir in unserem Innersten, in unserer christlichen Identität betroffen. Die Not und das Sterben von Menschen müssen uns beunruhigen, in Bewegung setzen!

Mir ist sehr wohl bewusst, dass wir vor großen Herausforderungen stehen, machen wir tatsächlich Ernst mit der Nächstenliebe. Eine Gesellschaft, die Humanität ohne Obergrenze zu praktizieren versucht, steht vor einer ungeheuren Belastungsprobe. Aber die Lösung kann nicht sein, die Humanität in Frage zu stellen, sondern vielmehr stehen die Kriterien für die Belastungsgrenzen auf dem Prüfstand.

Wenn dort schon für manche die Belastungsgrenze erreicht ist, wo unser Wohlstand nicht mehr auf dem gleichen hohen Niveau wie bisher gehalten werden kann, dann ist doch diese Verteidigung des Wohlstands in Frage zu stellen, nicht aber der Wert der Humanität. Vielleicht haben wir schon längst die Obergrenze des Wohlstands überschritten, die Möglichkeiten der Humanität dagegen noch nicht voll ausgeschöpft. Vielleicht könnte es sogar eine der Aufgaben der christlichen Kirchen in der derzeitigen Diskussion sein, die uralten christlichen Tugenden des Teilens und des Verzichts positiv ins Gespräch zu bringen.

Ein Mehr an Humanität – oder christlich gesprochen Nächstenliebe – würde uns möglicherweise zumuten, bisherige unantastbare Belastungsgrenzen zu überschreiten. Aber so viele Menschen, die in den letzten Monaten genau diese Tugenden für mich überzeugend gelebt haben und nicht nur davon reden, bestätigen: Wir verzichten vielleicht auf die eine oder andere Annehmlichkeit und an mancher Stelle tut das Teilen sogar weh, aber wir verlieren dabei nichts.

Vieles ist anders geworden in unserem Leben, seit wir zum Beispiel einen Teil unserer Freizeit oder unseres Wohnraums und damit unseres ganz konkreten Wohlstandes im Alltag mit Geflüchteten teilen. Aber vieles ist eben auch besser geworden!

1 Pressekonferenz am Rande der Tagung der DBK in Würzburg am 12.09.15.