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Traude Engelmann. Leipzigerin von Geburt und aus Zuneigung. Nachkriegskindheit in der Ostvorstadt. Studium der Pädagogik und Journalistik. Redakteurin der Leipziger Volkszeitung und mehrerer im Leipziger Fachbuchverlag beheimateter Fachzeitschriften, darunter des Börsenblattes für den Deutschen Buchhandel. Freischaffend seit 1993 – sowohl als Mitarbeiterin eines Sachverständigenbüros als auch journalistisch und literarisch schreibend.

Traude Engelmann

Die Geldwäscherin

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Lektorat: M. Berger
Korrektorat: Anja Gundlach
Umschlaggestaltung: ama medien
Umschlagmotiv: photocases.com/pischare
Satz: ama medien

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ISBN 978-3-946734-53-6 (ebook)
ISBN 978-3-946734-15-4 (print)

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www.edition-krimi.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

1.

Dass Geld kein Glück bringe, versuchte mir zu ihrer Zeit schon Urgroßmutter weiszumachen. Sicher wären mir damals – ich war erst drei Jahre alt – an der Richtigkeit ihrer Behauptung keinerlei Zweifel gekommen, hätte sie nicht außer zu reden etwas Schwerwiegendes getan; sie nahm den Groschen, den ich ihr geklaut hatte, wieder an sich. Das bedeutete, dass ich nun auf eine der geliebten Zuckerstangen, die es nebenan im Konsum gab, verzichten musste – was ich als so großes Unglück empfand, dass es Urgroßmutter in meinen Augen als Lügnerin entlarvte. Ich habe nie auch nur mit dem kleinsten Gedanken an ihre Ehrenrettung gespielt.

Im Moment bin ich besonders weit davon entfernt. Das, was soeben in mir vorgeht, ähnelt dem Ausbruch einer neuen Liebe; der süße Schreck ist da und die törichte Hoffnung und das Desinteresse an anderen Möglichkeiten des Weiterlebens. Ich stehe in der Leipziger Petersstraße vor einem der Schaufenster eines Kaufhauses und schenke all mein Sinnen und Trachten einem ausgestellten Kleid. Es ist dabei, mich zu verführen. Es verspricht mir, meine Figur vorteilhaft zur Geltung zu bringen und besticht mich mit der Farbe Olivgrün, die gut zu meinem kastanienbraunen Haar passt. Noch nicht einmal sonderlich teuer ist es. Nur vermögen alle diese Vorzüge nichts daran zu ändern, dass ich es nicht bezahlen kann. Aus mit dem Geld, aus mit dem Glück. So läuft das nämlich. ›Überzieh doch weiter!‹, scheint das Kleid noch immer um meine Gunst zu buhlen. Aber an dieser Verlockung fürchte ich zu sehr die Konsequenzen und ergreife die Flucht.

Ich gehe bis zum Markt und biege rechts in die Grimmaische Straße ein. Rebellisch geworden entschließe ich mich, meinen Geldnöten mit einem Kaffee zu trotzen. Der Freisitz am Naschmarkt wimmelt von gutgelaunten Gästen; einer wie der andere scheint ein ausgeglichenes Konto zu haben. Beneidenswert. Ich erobere einen frei werdenden Tisch mit nur zwei Stühlen und schließe vor dem blendenden Glanz der Frühlingssonne die Augen. Das Kleid geht mir nicht aus dem Kopf. Aber gegen den Kauf spricht zu vieles. Da ist der ausgeschöpfte Dispositionskredit und da ist der Sofortkredit mit überschrittenem Fälligkeitsdatum. Vorbei mit Abheben. Dann das ausstehende Arbeitslosengeld – alles verplant. Die laufenden Ausgaben, die Raten, die Ansprüche der Kinder. Es wird nichts mit dem Kleid, es kann nichts werden. Arbeit muss her.

Inzwischen hat am Tisch ein fremder Mann Platz genommen. Er ist groß und breitschultrig, aber nicht gutaussehend. Der auf dem stattlichen Körper thronende Kopf, den er eulenartig hin und her bewegt, wirkt klein und bedeutungslos. Nur die grauen Augen sind schön. Aber sie widerspiegeln Unruhe, Gehetztheit; da wird nicht viel da sein an Mut, Willensstärke und Ausgeglichenheit, den guten männlichen Eigenschaften. Eitelkeit ist eher da. Sicher trommelt die rechte Hand nur wegen des klotzigen Siegelrings auf die Tischplatte. Auch die Bekleidung ist zu pompös, um geschmackvoll zu sein – schwarzweiß gestreifter Anzug, lilafarbenes Hemd, gelbe Krawatte. Ganove. Einer, der ohne zu fragen über den zweiten Stuhl einfach verfügt und wie ein Pfingstochse herumläuft, ist wohl kaum seriös. Kleine Zurechtweisung gefällig? Ein paar deutliche Worte, ein strafender Blick? Ach, zu spät. Der Mann ist plötzlich aufgesprungen und läuft davon. Natürlich wieder grußlos.

Aber, was ist das? Er hat auf dem Tisch etwas liegengelassen – seine Brieftasche. Sie ist abgegriffen und gewölbt. Eine Platzpatrone voller gescheffelter Scheine. Ich glaube, ich rieche und schmecke sie. Kubatabak, Bourbonvanille, Kaviar. Was für ein herrlicher Fund. Ist es einer? Ab wann bin ich eine Finderin? Jetzt schon? In zwei Minuten? Nie? Wahrscheinlich Letzteres, denn ich bin gelähmt. Ich kann nicht zufassen und ich kann nicht denken. Wie weiter? Niemand weiß es. Oder? Da, die Kellnerin bringt meinen Kaffee. Was wird sie sagen? Nichts sagt sie außer ihr Bitteschön. Sonst kein Zeichen von ihr. Fort ist sie wieder. Ich rühre mich nicht. Atme ich eigentlich?

»Dafür bin ich Ihnen Dank schuldig«, sagt jemand mit klangvoller Baritonstimme.

Ich fahre zusammen, als wäre ich beim Stehlen ertappt worden; der Gehetzte ist wieder da. Er setzt sich erneut ohne zu fragen auf den zweiten Stuhl und steckt die Brieftasche ein. Dabei schaut er mich freundlicher an, als ich es für möglich gehalten hätte. Im Gegensatz zu seinem brüskierenden Verhalten noch vor wenigen Minuten, konzentriert er seine Aufmerksamkeit nun völlig auf mich. Er ist in kurzer Zeit ein anderer geworden – zumindest kein Ganove mehr. Ich schlage ein Bein über das andere und rücke meine Frisur zurecht Wie albern, der Mann am Tisch kann höchstens Anfang vierzig sein. Ich aber bin fast fünfundfünfzig Jahre alt.

»Keinesfalls«, wehre ich etwas spät ab und stelle wütend fest, dass ich erröte.

»O doch«, beharrt er, »mehr als Sie denken. Übrigens, Wutzler mein Name, Enriko Wutzler.«

»Gisela Schikaneder. Angenehm.«

Der Sekt, den er bestellt, lässt mich das Noble meines Nichtstuns erahnen. Ich bin die Gute und dieser Wutzler weiß wie sehr. Eigentlich kein uninteressanter Mann, höflich wie er jetzt ist. Schon beim ersten Glas bringt er mich zum Plaudern. Familienstand, Adresse, bisherige Tätigkeit – bitte sehr, in dieser Beziehung habe ich nichts zu verbergen. Von meinem Alter sprechen wir nicht. Hat er es erraten? Hat er nicht. Immerhin sind einige meiner körperlichen Vorzüge noch nicht Opfer der Jahre geworden. Sogar Susanne, immerhin erst achtundvierzigjährig, hoch soll sie leben, pflegt neidisch darauf zu blicken. Na also, kein Grund für Minderwertigkeitskomplexe. Nun aber bringt dieser Wutzler meine derzeitige pekuniäre Situation, wie er sich ausdrückt, zur Sprache, und meine Abwehr schaltet sich ein.

»Frage ich vielleicht Sie nach Ihrer pekuniären Situation?«, poltert es aus mir heraus. Zu dumm, ich habe meine Entrüstung etwas zu kratzbürstig gezeigt – womit ich die Rolle der Distinguierten, die ich übernommen habe, leichtfertig aufs Spiel setze.

»Getroffen«, triumphiert er derb vergnügt, »fragen Sie doch! Mir geht es hervorragend, Ihnen aber nicht. Wollen wir wetten? Sie haben viel Zeit, weil Sie keine Arbeit haben. Und Sie haben kein Geld, weil Sie noch nie eine gute Arbeit hatten. Sekretärin waren Sie, wie Sie sagten? In einer kleinen Reifenfirma? Na prost, das Monatsgehalt kann ich mir vorstellen. Sicher könnte es kaum die Kosten für eine Nacht in der Bar des Hotels The Westin decken.«

»Aber es war ehrlich erworbenes Geld«, werfe ich kleinlaut ein. Dabei ist mir zumute, als würde ich meiner längst entschwundenen Zeit als bescheidene Bürgerin eines sozialistischen Landes die letzte Ehre erweisen – was mit Distinguiertheit ebenfalls wenig zu tun hat. Ich sollte aufhören mit dem Getue. Die Einstellung dieses Mannes zu mir würde es nicht verbessern, zumindest solange ich arm bin. Wahrscheinlich ist es ihm auch egal, was andere – ob distinguiert oder nicht distinguiert – von ihm denken, ausgenommen vielleicht das Finanzamt und ein paar andere unangenehme Partner.

»Ehrlich und versteuert«, ergänzt er und lacht, als habe ich einen Witz gerissen.

»Was denn sonst?« Ich wende mich verwirrt ab und halte nach der Kellnerin Ausschau.

»Ihren Kaffee übernehme selbstverständlich ich«, sagt Wutzler mit einer kleinen Verbeugung. »Und nochmals danke für Ihre Ehrlichkeit.«

»Die Sie in diesem Ausnahmefall schätzen?« Ich lächle ironisch, aber nicht ohne Koketterie und erhebe mich. Er schaut mich einen Moment lang nachdenklich an und steht ebenfalls auf – was ich von ihm keinesfalls erwartet habe.

»Irgendwie passen wir zusammen«, stellt er fest, nimmt meine Rechte und drückt mir seine Visitenkarte in die Handfläche.

»Haben Sie mir jetzt ein Kompliment gemacht?«, frage ich und schaue ihm mutig in die schönen, grauen Augen.

»Und ob. Rufen Sie mich an! Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Übrigens, steht Ihr Name im Telefonbuch?«

»Unter ›Sch‹ wie Schikaneder.«

Auf meinem Weg nach Hause kräht ein Hähnchen in mir. Lustig übertönt es meine Lebenserfahrung, die mir den Wert einer dubiosen Herrenbekanntschaft herunterreden will. Jetzt sind optimistische Träume angesagt. Während mich eine Straßenbahn der Linie Elf vom Augustusplatz aus in Richtung Südvorstadt schaukelt, hebe ich vom Boden der Wirklichkeit beträchtlich ab. Flugs sehe ich mich selbst als Eigentümerin einer dicken Brieftasche. Herrlich, wie meine Gläubiger nach dem Inhalt schnappen und zugleich eine gute Kundin verlieren. Bis zur dritten Haltestelle hält der Zauber an. Dann steige ich aus, das Hähnchen hat ausgekräht. Ich finde mich vor einem Blumengeschäft in der Karl-Liebknecht-Straße – genannt Karli – wieder und zähle das Kleingeld zusammen. Dann, um weiteren Frohsinn bemüht, kaufe ich einen Strauß duftender Maiglöckchen. Damit schlendere ich im Glanz der Abendsonne bis zu einem sandfarbenen Eckhaus aus der Gründerzeit. Ich muss mich weit zurückbeugen, um die Fenster meiner Wohnung erkennen zu können. Sie liegt im fünften Obergeschoss.

»Hallo, Gisela, da bist du ja endlich.« Meine Nachbarin – klein, mollig, hübsch – steht lächelnd in ihrer Tür. Soeben wischt sie sich die Hände an ihrer bunten Schürze ab und zupft dann mit einer für sie typischen neckischen Geste am kurzen Blondhaar, was dort keinerlei Veränderungen hervorruft.

»Hallo Susanne«, erwidere ich nicht halb so begeistert wie sie, denn heute wäre ich ihr gern entwischt. »Tut mir leid, ich habe deinen Kräutertopf vergessen. Nimm die Blumen als Trost.«

»Wunderbar«, sagt Susanne wehmütig, während sie an den Blüten schnuppert, »Maiglöckchen hat mir Friedhelm früher auch einmal geschenkt.«

»Ich glaube, mein Telefon klingelt.« Ich drehe den Schlüssel im Schloss um und versuche zu flüchten; Schlimmeres als weinerliche Erinnerungen an einen verflossenen Ehegatten kann ich mir kaum vorstellen – zumal ich immer noch an Wutzler denke. Und an das olivgrüne Kleid.

»Kommst du später noch herüber?«, fragt Susanne, bevor ich die Tür von innen zuschlagen kann. »Ich habe Spagetti gekocht, die isst du doch so gern.«

»Keine Lust.«

Musste ich so grantig sein? Susanne ist doch in Ordnung, ich mag sie. Nur dieses ständige Gejammer um das Scheitern ihrer Ehe geht mir auf die Nerven. Warum sich Friedhelm Spengler nach vielen gemeinsam verbrachten, glücklichen Jahren, in denen zwei Kinder geboren wurden, plötzlich und unerwartet von ihr scheiden ließ, hat sie bis heute nicht begriffen – wo sie ihm doch emsig alle Steinchen aus dem Weg geräumt hat, während ihm die Neue ständig welche hinwirft. Wahrscheinlich brauchte Friedhelm gerade diese Herausforderung, um sich als Mann zu fühlen, nicht als Kind. Sicher sehnt er sich manchmal nach Susannes unvergleichlich saftigem Schweinebraten mit Kartoffelklößen – eine Vermutung, die sie oft und gern mit mir teilt –, aber weg bleibt er trotzdem. Ich kann das nur gutheißen, denn ich bin die Nutznießerin einer Mütterlichkeit, die mir in meiner Kindheit versagt blieb.

Nachdem ich eine Weile am Türpfosten gelehnt und Susanne insgeheim Abbitte geleistet habe, entscheide ich mich endgültig für einen Abend allein. Bloß nicht noch mehr Gutes tun heute. Während ich die Schuhe abstreife, klingelt das Telefon tatsächlich. Annette, meine Große, möchte wissen, ob sie letztens ihr Handy bei mir liegengelassen hätte, das neue mit Fotofunktion. Ich schaue zur Couch, die samt Tisch und Sessel zwischen den beiden Stützbalken in der Mitte des Wohnzimmers steht. Dort haben wir gemeinsam gesessen und unsere Blicke beim Schwatzen über die Dächer der gegenüberliegenden Häuserzeile der Nebenstraße wandern lassen. Ein Handy ist nicht da. Das nimmt Annette so gelassen hin, dass ich vermute, ihr Anruf habe eigentlich einen ganz anderen Grund.

»Mami«, legt sie prompt in ihrem klagendsten Tonfall los, »zu meinem blauen Kostüm brauche ich dringend ein Paar neuer Schuhe, und Sebastian …«

»… ist da ganz anderer Meinung«, ergänze ich. »Du willst, dass ich dir etwas borge, wobei du eigentlich Schenken meinst. Tut mir leid, ich bin blank. Du weißt doch, dass es mit einer neuen Arbeitsstelle noch nicht geklappt hat.«

»Ach, Mami, mit Sebastian ist zur Zeit überhaupt nichts anzufangen. Stell dir vor, heute morgen hat er von mir verlangt, dass ich …«

»Oh«, unterbreche ich den Wortschwall, »die Suppe kocht, der Herd ist an. Ich muss los. Auf bald.« Ich lege schnell auf, damit ich Annette nicht doch noch irgendein Zugeständnis machen kann. Sicher hat sie es darauf angelegt.

Dann krame ich aus der Schultertasche die Visitenkarte hervor. Pinkfarbener Text auf dunkelblauem Grund. Schön kitschig. Zuoberst kleingedruckt ein Firmenname: International Pharmacy Association, Domain Germany. In der Mitte in auffälliger Zwölfpunktschrift Wutzlers Vor- und Zuname – übrigens ohne Titel – sowie in Halbfett seine Funktion, Gebietsleiter Absatz Ostsachsen. Folgen im unteren Teil Firmenanschrift, E-Mail-Adresse, Telefonnummer, Faxnummer. Aha, er muss Ware an den Mann bringen, ganz unromantisch. Hätte ich nicht gedacht. Eigentlich habe ich – nachdem die These vom Ganoven widerlegt schien – eher auf Artist oder Schausteller getippt, wahrscheinlich wegen seiner bunten Aufmachung. Meine Güte, Schwarz und Weiß mit Lila und Gelb. Ist eine ungewohnte Farbkombination schon ein schlechtes Zeichen? Und wenn ja, wofür? Später, während ich mich für die Nacht zurechtmache, stelle ich mir Wutzler schlafend im Bett vor. Er trägt einen Seidenpyjama in Orange, das Muster bilden rote Paradiesvögel.

Drei Tage später grabe ich im Kulturpark Clara Zetkin einen Forsythienstrauch aus. Ich will meine ständigen Absagen an Susanne wiedergutmachen. Für meine Aufgabe als seelische Stütze war ich in letzter Zeit zu gebrechlich. Ich hätte mir eben nicht meine besten und unbequemsten Hochhackigen zumuten sollen, bloß um bei einigen Firmen Eindruck zu schinden. Die Verheißungen ihrer in der Tageszeitung veröffentlichten Anzeigen galten ohnehin nicht mir. Die selbständig arbeitende und aus einem reichen Erfahrungsschatz schöpfende weibliche Büroangestellte sei bereits gefunden worden, hieß die einheitliche Ausrede. Nur einer der Personalchefs – er war schon weißhaarig – ließ die Katze aus dem Sack. Seine Firma, verriet er, könne die Einstellung einer mehr als Fünfunddreißigjährigen nicht in Erwägung ziehen. Ergo, ich bin zu alt. Auf einmal. Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich – natürlich ebenfalls einer Anzeige in der Tageszeitung folgend – den ›Sofortkredit ohne Schufa-Auskunft‹ erhielt. Dabei hat nach meinem Alter niemand gefragt. Auch nicht nach meinem Äußeren. Die Hauptsache war, dass ich unterschreiben konnte.

Am Samstag, gegen Mittag, kehre ich endlich bei Susanne ein. Es gibt Würstchen mit hausgemachtem Kartoffelsalat, dazu ein Bier. Wir sitzen gemütlich am Esstisch und schauen ab und zu durch die Terrassentür nach draußen. Es schüttet. Die gelben Blüten der Forsythie triefen vor Nässe. Wir unterhalten uns über Friedhelm und die Welt. Die gute Qualität des Essens veranlasst mich zwar, längst bekannte Lobgesänge auf einen ungetreuen Ehemaligen ohne Murren über mich ergehen zu lassen, aber eigentlich langweile ich mich. Daran ändert ein Themenwechsel kaum etwas, denn auf Susannes Wunsch geht es nun zum soundsovielten Male um meine eigene fehlerhafte Ehe, deren Scheidung ich wie immer als perfekte Lösung bezeichne. Dann habe ich genug von all der Nachsicht und erhebe mich. Auf dieses Zeichen hin räumt Susanne den Tisch ab und bringt die heutige Post herein, einen kleinen Stoß für mich und einen noch kleineren für sie. Dabei klammert sich ihr Blick fragend an mir fest. Ich erkenne sofort, was ihre Neugier erregt hat – ein Briefumschlag in Weiß, der schlicht gewirkt hätte, wäre nicht das übertriebene Gold der Beschriftung.

»Wutzler«, vermute ich spontan.

»Wutzler?« Susanne ist wie elektrisiert.

»Eine flüchtige Bekanntschaft«, erkläre ich widerstrebend, während ich mich in meine störungsarme Wohnung hinübersehne.

»Was, in deinem Alter? Geht denn das so einfach?«

»Wenn es geht, ist es einfach. Bist du vielleicht dreißig? Nein, du bist achtundvierzig. Also, worin besteht der Unterschied zu mir?«

»Aber ich wollte doch gar keinen Unterschied zwischen dir und mir machen«, fleht Susanne um Versöhnung. Dabei hätte sie gut und gern sagen können: »In sieben Jahren.«

Letztendlich öffne ich den weißen Briefumschlag doch erst in meiner Wohnung. ›Liebe Frau Schikaneder‹, steht in schwarzer Handschrift auf schlichtem, weißem Papier. ›Warum rufen Sie mich denn nicht an? Und zu erreichen sind Sie auch nicht. Ich kann Ihnen ein passables Arbeitsangebot unterbreiten, das wir besprechen müssten. Falls von Ihrer Seite Interesse vorliegt und Sie es ermöglichen können, finden Sie sich doch bitte kommenden Montag gegen sechzehn Uhr am selben Ort wie letztens ein. Herzliche Grüße. Enriko Wutzler. Postskriptum: Welche Ursache hatte eigentlich die senkrechte Falte zwischen Ihren Augenbrauen, als Sie sich noch am Tisch allein wähnten?‹

Ich lese den Brief gleich zweimal. Himmel, ein Arbeitsangebot. Eigentlich müsste ich vor Freude einen Luftsprung machen. Warum tue ich es nicht? Hinter einem Gebietsleiter könnte sich doch ein ernst zu nehmender Posten verbergen. Könnte. Aber dieses Höflichkeitsgehabe. Irgendwie passt das nicht zu diesem Mann. Mit dem Nachsatz kommt er mir sogar sensibel – ausgerechnet er. Das kann nur bedeuten, dass er mich herumkriegen will. Etwa zu einer seriösen Tätigkeit, nach der viele verrückt sind? Glaube ich nicht. Irgendetwas anderes steckt dahinter. Am besten, ich gehe nicht zum Treffpunkt. Oder doch? Dieses Karussell in meinem Kopf. Gottlob, es klingelt. Pause. Vor der Tür steht Florian, mein Kleiner. Da er die stattliche Größe von einem Meter achtzig hat, muss ich zu ihm aufschauen.

»Hallo Muts«, grüßt Florian gutgelaunt, küsst mich auf die Wange und wirft sich in den Sessel. Seine Lederjacke, die feuchte Spuren aufweist, legt er nicht ab; er hat es also eilig.

»Du bist blass«, stelle ich erst einmal besorgt fest, um ihn anschließend von oben bis unten zu mustern. Genau genommen wirkt er gesund und zufrieden. Im Gesicht, das ich heute besonders hübsch finde, sprießt ein Bärtchen – blond wie sein lockiges Haar. Seine Markenjeans, ein Geburtstagsgeschenk von mir, sind piksauber. Man sieht, dass Frauen ihn mögen.

»Ich lerne nachts«, grinst er. »Übrigens, ich habe eine Ausbildung in Aussicht – gastronomisches Gewerbe, irre Einnahmequelle.«

»Endlich eine gute Nachricht«, sage ich mit theatralischem Blick gen Himmel. Meine Laune bessert sich, was er wahrscheinlich beabsichtigt hat. Seit jeher weiß Florian mich schnell gefügig zu machen, vor allem in einer bestimmten Beziehung.

»Natürlich sind ein paar Investitionen nötig. Von nichts kommt nichts.«

»Das dachte ich mir.« Ich seufze enttäuscht und denke an mein geplündertes Konto. Sollte ich vielleicht doch weiter überziehen?

»Bleib cremig«, empfiehlt er lässig und schaut mich schelmisch an, »es handelt sich nur um eine kleine Anleihe auf mein nächstes Taschengeld. Ein Hunderter würde reichen, zwei Hunderter wären besser.«

»Am allerbesten wäre, du würdest dich bescheiden«, versuche ich es mit Strenge. Dabei ist mir elend zumute. Florians Freunde haben allesamt gut betuchte Eltern. Soll der Junge das Nachsehen haben wie einst ich es hatte? Allein die Vorstellung macht mich fertig.

»Muts, dir zuliebe sofort«, beteuert er und attackiert mein Innenleben nun mit einem gequälten Blick. »Aber um meiner Zukunft willen muss ich jetzt Ansprüche stellen.«

»Wirst du das Geld auch wirklich für dein berufliches Weiterkommen verwenden?«, frage ich weidwund.

»Ach Muts, du bist die Allerbeste.«

Ich ziehe mich um und gehe mit Florian zur nächsten Bankfiliale. Der Geldautomat schluckt meine Karte wie jede andere, scheint ein wenig darauf herumzukauen und spuckt sie wieder aus. Dann lässt er mich lakonisch wissen, dass mein Guthaben erschöpft sei und der gewünschte Betrag nicht ausgezahlt werden könne. Ich seufze ergeben; eine letzte kleine Hoffnung ist gestorben. Florian teilt mir kurz angebunden mit, dass er noch ein Date habe, und sieht zu, dass er weiterkommt. Ich schaue ihm nach. Weint er vielleicht gar? Dann schinde ich mich die Treppe zu meiner Wohnung wieder hinauf. Das lang anhaltende Gekläff des Spitzes aus dem dritten Obergeschoss, das mich gewohnheitsgemäß begleitet, empfinde ich zum ersten Mal als Belästigung. Heute hätte ich nicht übel Lust zurückzubellen.

Am Montag aber scheint die Sonne und den Entschluss, zum Treffpunkt zu gehen, habe ich nachts gegen eins bereits gefasst. Allein schon die Neugier hat einen ausreichenden Grund dafür abgegeben. Während ich die Wohnungstür zuschließe, fällt mir das winzige Zerwürfnis mit Susanne ein. Heute Abend, wenn sie vom Supermarkt heimkehrt, wo sie sich als Kassiererin abrackert, werde ich sie zu einem guten Tropfen einladen. Voraussetzung ist natürlich, dass mir der heutige Tag das nötige Glück bescheren wird. Ansonsten würde ich auf gute Tropfen ohnehin verzichten müssen.

»Können Sie eigentlich Auto fahren?«, fragt Wutzler nach kurzer Begrüßung. Er ist mir bereits am Brunnen mit den beiden Löwen entgegengetreten und versetzt mich auch mit seiner heutigen Aufmachung in Erstaunen: grauer Anzug, graues Hemd, graue Krawatte, auf der Nase eine Brille mit Goldrand. Typ: Geschäftsmann der gehobenen Einflusssphäre oder Heiratsschwindler.

»Wieso?« Ich ringe um Fassung.

»Also nein«, schlussfolgert er.

»Also ja«, korrigiere ich und denke an den kleinen blauen Wagen, der aus meinem Besitz in die Obhut meines Sohnes übergegangen ist. »Hat das etwas mit dem Arbeitsangebot zu tun?«

»Nicht direkt«, druckst er herum. »Aber zur Sache. Die Firma, für die ich arbeite, hat in Leipzig eine Absatzabteilung mit Versand und Auslieferung. Hier ist eine Stelle frei geworden. Die Aufgaben sind überschaubar; vorbereitete Ware mit den Bestelllisten und der Rechnung vergleichen, verpacken lassen, der Post zuführen oder den Abholern am Schalter aushändigen, neue Bestelllisten entgegennehmen, kontrollieren, den Lagermitarbeitern überreichen und so weiter und so fort. Interesse?«

»Schon«, antworte ich gedehnt. »Vor langer Zeit war ich mal Arbeitsvorbereiterin in einer Druckerei; ich weiß wie so etwas geht. Nur verdienen kann man dabei nicht viel.«

»Ihr Gehalt wird sich entwickeln«, versichert er und schaut auf die Uhr. Dann hält er mir die Hand entgegen. »Also schlagen Sie schon ein! Morgen elf Uhr in der Firma?«

»In Ordnung«, sage ich, kurz seine Hand drückend. Dabei ängstigt mich die Vorstellung, dass unsere Abmachung nur eine Posse sei. Aber dann, als ob er meine Zweifel erraten hätte, überzeugt mich Wutzler plötzlich von seiner Glaubwürdigkeit, indem er in die Brusttasche meiner Kostümjacke flink zwei Hundert-Euro-Scheine steckt und etwas von Finderlohn murmelt. In mir balgen sich Scham und Freude – zugunsten der Freude; das olivgrüne Kleid ist erreichbar geworden. Ich ringe um ein passendes Wort des Dankes. Aber Wutzler will es gar nicht hören, er wendet sich ab.

»Vergessen Sie nicht, Ihrer Dame einen Blumenstrauß mitzunehmen«, plappere ich wer weiß warum.

»Hat keinen Zweck«, lacht Wutzler im Gehen, »sie kratzt mir so oder so die Augen aus.«

»Bloß?«, rufe ich ihm übermütig nach. »Ich würde Sie umbringen.«

Er bleibt stehen, verharrt, dreht sich um. »Sie mich?«, fragt er nur und geht weiter, aber sein beißend spöttischer Tonfall bleibt in mir als Missklang zurück. Irgendetwas hat unser beider Einvernehmen schon wieder zerstört. Kein gutes Omen. Verdammt, die Zweifel sind wieder da und die Gedanken an den Schuldenberg. Rettung gibt es sowieso keine. Ach was, abwarten! Wichtig ist jetzt das olivgrüne Kleid. Sonst nichts.

2.

Nachts gegen eins lehne ich grübelnd an der Terrassenbrüstung. Jetzt bloß nicht noch mehr Fehler machen, der dumme Scherz genügt. Ein feiner Mensch, dieser Wutzler. Etwas zickig vielleicht. Seine Reaktion aber auch. So verteidigungsbereit. Als hätte ich ihn ernsthaft bedroht. Hat der Mann keine Menschenkenntnis? Ich und jemanden umbringen. Wo ich kaum eine Fliege totschlagen kann. Schon Marienkäfer sind tabu. Von Menschen gar nicht zu reden. Zugegeben, Jens habe ich versucht zu vergiften. Aber das ist weiß Gott die einzige Ausnahme.

Damals mit Jens, das ging nicht mehr. Immer Alkohol, immer Randale. Und dann die Grapscherei nach Annette. Sie war fünfzehn. Da konnte ich nicht anders. Es war wie jetzt mitten in der Nacht. Ich erhob mich, weil es mein Unterbewusstsein so wollte. Entriss meiner Dieffenbachie zwei große Blätter. Verarbeitete sie im Mixgerät zu einer gelblichen Suppe. Füllte damit eine halbvolle Bierflasche auf. Legte mich wieder hin. Fertig der Mordanschlag. Ich glaube, ich dachte noch darüber nach, wie schön es sein würde ohne Jens. Dann habe ich selig weitergeschlafen.

Jens wäre todsicher hops gegangen. Unwahrscheinlich, dass mein Zutun herausgekommen wäre. Aber was tat ich noch? Ich rief den Notarzt herbei. Bin ich ein Seelchen. Leider. Prompt bereute ich meine gute Tat – zwölf Jahre lang, aber in allen Ehren, versteht sich. Als Jens starb, war es sein eigenes Werk. Wäre ich ein Biest, hätten mir ein Raucherbein und eine Fettleber sicher zu später Genugtuung verholfen. Aber ich bin kein Biest. Sogar Tränen habe ich um den Kerl vergossen – was Florian, seinem Sohn, nicht passieren würde; für dessen Taschengeld hat sich sein Vater ja nie zuständig gefühlt.

Vergleiche ich ihn mit Jens, ist Wutzler ein Traummann, der Geld heranschafft, wie sich das gehört. Der nüchtern bleibt, selbst wenn er trinkt. Der immer aufpasst. Wer sollte den umbringen wollen?

Blöde Frage.

3.

Das einzig Störende an meiner neuen Arbeit sind die Leibesvisitationen. Komischerweise sieht es ganz so aus, als hätten außer mir alle Belegschaftsmitglieder der Absatzabteilung Mitteldeutschland – es sind dreißig – ihren Spaß daran. Krabbelmaus nennen sie die allabendlich nach Ablegen des Dienstkittels fällige Körperkontrolle und begründen damit ihre zeitgleich eintretenden Heiterkeitsausbrüche. Kann sein, dass ihnen ebenso wie mir die Nerven einen Streich spielen und sich dieser Vorgang auf mich nur anders auswirkt – mit Herzflattern. Wer weiß. Der Grund für meine Neurose ist jedenfalls die Vorstellung, dass zufällig ein paar Tablettenkrümel an mir hängenbleiben und im ungünstigsten Moment von mir abbröckeln könnten. Das nämlich würde als Mangel an moralischer Untadeligkeit gelten und unweigerlich zur Kündigung führen. Denn in der International Pharmacy Association, genannt IPA, herrschen strenge Sitten.

Zumindest mein Gewissen ist rein. In den vier Wochen, die ich hier arbeite, habe ich jedweder Versuchung widerstanden, diesen oder jenen Schmerzkiller im Büstenhalter wegzutragen. Mein Posten ist es wert. Vor meiner Zeit wurde er von vielen heiß umworben, bis plötzlich ich darauf saß. Ein Neuling hat den alten Hasen gezeigt, wie man den Igel macht. Allerdings zur Verwunderung des Neulings selbst. Wären die Leute in der Verpackung und im Lager neidisch auf mich, hätte ich Verständnis dafür. Schon die Bezeichnung für mein Amt – Organisatorin für Versand und Auslieferung – hebt mich wertmäßig auf eine höhere Stufe als sie. Die Konsequenz ist erstaunlich – weniger Leistung, mehr Gehalt. Vermutlich hat Wutzler beim Personalchef irgendwo ganz oben im Firmengefüge erfolgreich ein Wort für mich eingelegt. Das ließe darauf schließen, dass er unter den Gebietsvertretern eine Vorrangstellung einnimmt. Ohne Beziehungen wird nichts gelaufen sein. Alle Achtung, lieber Ganove. Jetzt hast du etwas gut bei mir.

Er kommt höchstens alle zehn Tage vorbei, dann aber gründlich. Das heißt, dass er sich Zeit nimmt. Zuerst scherzt er eine Weile mit den Frauen an den beiden Transportbändern, so dass sie lustige Quieklaute von sich geben. Dann betritt er gemächlich den kleinen Schalterraum, wo die zum Abholen bereite Ware liegt. Gemäß einer Anordnung des Absatzleiters begrüße ich ihn hier mit einer Tasse Kaffee und muss leider erleben, wie sich seine gute Laune in schlechte verwandelt. Mir gegenüber und ohne Zeugen hält er kein freundliches Wort für erforderlich; ich habe nichts zu lachen, von quieken ganz zu schweigen.

Deshalb wappne ich mich mit formeller Höflichkeit und widme mich ausschließlich meinen dienstlichen Pflichten. Diese bestehen immer darin, die mit seinem persönlichen Symbol, einer Darstellung des roten Fingerhuts, gekennzeichneten Pakete vorzulegen, die er dann mit seinen Bestelllisten grob vergleicht. Gottlob gab es bisher von seiner Seite niemals Beanstandungen.

Das liegt vor allem daran, dass Wutzler stets einen sogenannten Sonderposten erhält, den das gesamte Personal mit Argusaugen bewacht. Vor Jahren soll ein geringfügiger Fehler beim Zusammenstellen eines Sonderpostens zu mehreren fristlosen Kündigungen geführt haben. Diese böse Erfahrung schwebt seither über den Häuptern der Angestellten, als sollten sie begreifen lernen, was Damokles einst durchmachen musste. Mittlerweile ist mir der Grund für die Angstpsychose klar geworden; jedes Mal, wenn ich mit meiner Unterschrift für die Richtigkeit der Menge und der Zusammensetzung der zu verpackenden Ware bürgen muss, wird auch mir mulmig zumute, denn es geht um ganz verblüffende Werte. Für ein handliches Paket Sonderware, die sich mir nur durch bestimmte Zahlenkombinationen zu erkennen gibt, kassiert die Firma mitunter sechsstellige Beträge. Das dürfte manche Zitterparty rechtfertigen.

»Frau Schikaneder«, mahnte der Absatzleiter beim Einstellungsgespräch, »eine einzige Null zu wenig auf der Rechnung bedeutet für die Firma eine gewaltige Einbuße. Dagegen ist Ihr Jahresgehalt eine Belanglosigkeit. Trotzdem würden wir es nicht gern umsonst ausgeben.«

»Eben, wegen der Null«, bestätigte ich.

Welches Zeug aber ist so furchtbar teuer, dass es die Nullen massenweise hintenansetzt? Niemand verrät es mir. Wutzler brauche ich nicht zu fragen, die Frauen an den Transportbändern wissen es ebenso wenig wie ich, und die paar Geheimnisträger des Personals lieben ihre Schweigepflicht wie den Weltfrieden. Einmal habe ich versucht, mit einer Flasche Wodka den Lagerleiter zum Reden zu bringen, weil er außer dem Absatzleiter als einziges Mitglied der Belegschaft das Sondermagazin betreten darf. Der Mann schaute mir offen in die Augen und hob die Schultern. Dann erklärte er mir, wie einfach sich der Vertrieb von Medikamenten bedeckt halten lässt. Geringe Mengen der Erzeugnisse stecken jeweils in Kleinpackungen, diese als Bestandteil bestimmter Losgrößen in Paketen, diese wiederum in Paletten. Die unterschiedlichen Produkte werden lediglich durch Positionsnummern und schleierhafte lateinische Kurzbezeichnungen auseinandergehalten. Genauso wie auf meinem Kontrolltisch.

Es ist Freitag vor Pfingsten, als Wutzler bei seinem Besuch verändert wirkt. Der hellbraune Anzug, den er mit lässiger Selbstverständlichkeit trägt, macht ihn zu einer vornehmen Erscheinung – was ihn offensichtlich von seinen Witzeleien abhält, denn das lustige Quieken bleibt aus. Dennoch lässt er es sich nicht nehmen, die übliche Unterhaltungsschau zu veranstalten. Als er nicht weit von mir entfernt bei einer der Frauen am Transportband für den Postversand steht, schaut er plötzlich zu mir herüber, und das Lächeln auf seinem Gesicht scheint weniger seiner Gesprächspartnerin als mir zu gelten. Was will er von mir? Als sich Wutzler auf den Schalterraum zu bewegt, verlasse ich meinen Platz am Kontrolltisch und laufe ihm nach. Kann sein, dass er erst einmal über das Wetter spricht und dann erst über sein Anliegen. Aber ein Anliegen wird er haben.

»Frau Schikaneder«, empfängt mich Wutzler und strahlt mich an, »Sie sehen heute wieder bezaubernd aus.«

»Ach«, entgegne ich trocken. Nimmt er mich auf den Arm? Im Arbeitskittel und mit straff zum Knoten gezwungenem Haar bin ich ganz sicher keine Augenweide.

»Schauen Sie nicht so skeptisch«, tut er überzeugt, »Sie wirken erwartungsfroh, als würden Sie einem schönen Abend entgegenfiebern. Das kleidet Sie.«

»Ja, einem Abend vor dem Fernsehapparat«, bestätige ich lachend und bewundere insgeheim, wie gewandt er sich aus der Affäre gezogen hat.

»Falsch!« triumphiert er, als würde er mir einen Lottogewinn ankündigen. »Sie werden sich mit einem reizenden jungen Mann in einem guten Restaurant köstlich amüsieren.«

»Heißt der reizende junge Mann vielleicht Enriko Wutzler?« Der Tonfall meiner Frage dürfte das Durcheinander, das er in meinem Inneren angerichtet hat, deutlich gezeigt haben. Mit einem solchen Vorschlag war ja nun wirklich nicht zu rechnen gewesen.

»Heißt er. Und einen Korb nimmt er nicht an, vor allem nicht aus der Hand einer schönen Frau. Also nach Dienstschluss beim Griechen drüben?«

»Na gut«, erkläre ich mich einverstanden. Eine Absage wäre undankbar; Wutzler hat mir diesen Job hier verschafft. Allerdings nörgle ich insgeheim an meinem dunkelblauen Hosenanzug herum, der im Umkleideraum auf dem Bügel hängt. Das olivgrüne Kleid wäre mir lieber gewesen.

Das Restaurant Ägäis ist bekannt für gutes Essen, guten Wein und akzeptable Preise. Auch schätzen viele Gäste die hier gebotene Gelegenheit, sich zu jeder Jahreszeit an einem südlichen Strand wähnen zu können – im Sommer im Garten, im Winter in der Glasveranda. Jetzt, Anfang Juni, sind die Kübel mit Palmen längst ins Freie gerückt worden und unter Tischen und Stühlen aus dunklem Holz knirscht frischer weißer Sand.

Wutzler kommt mir im hellbraunen Anzug entgegen und lobt das Wetter – mit dem Ergebnis, dass wir uns einen Platz im Freien aussuchen. Vor dem Essen nehmen wir einen Aperitif, während des Essens – wir haben uns auf gespickte Lammkeulen geeinigt – trinken wir eine Flasche Rotwein. Angeregt blinzle ich in die Abendsonne und gebe mich witzig, was mir von Glas zu Glas leichter fällt. Wutzler scheint sich köstlich zu amüsieren; er schneidet ausschließlich heitere Themen an – Urlaub, Reisen, süßes Leben. Wann kommt er eigentlich zu der Sache, deretwegen er mich hergelockt hat?

Bei der zweiten Flasche Rotwein dunkelt es; die Lampen gehen an, und auf einer kleinen Tanzfläche drehen sich einige Paare zu griechischer Schmachtmusik. Bald gehören Wutzler und ich zu den Unentwegten, die keine Runde auslassen. Er tanzt himmlisch. Mit einer Seligkeit, die ich mir nicht mehr zugetraut habe, hänge ich in seinen Armen. Wieso finde ich mich eigentlich nicht lächerlich? Unsinn, ich bin jung und schön und begehrenswert, und Wutzler, den ich seit einer Stunde Enriko nenne, ist es auch. Er singt und lacht, als habe er das große Glück gefunden, und zwar an meiner Seite, man bedenke. Sämtliche Vorbehalte ihm gegenüber waren sowieso nur ein Irrtum. Im Leben geht es halt manchmal ähnlich zu wie in einem Film; zuerst bekriegen sich die Helden, zuletzt finden sie sich. Und was bedeutet ›finden‹? Schweben vielleicht. Nein fallen. Fallen.

Meine Wahrnehmungsfähigkeit meldet sich mit außergewöhnlicher Übelkeit zurück. Ich springe nackt aus dem Bett, wo Wutzler schlafend einen abgrundtiefen Seufzer nach dem anderen ausstößt, stolpere über herumliegende Sachen und laufe ins Bad, um mich zu übergeben. Einem solchen Inferno war mein Körper seit der letzten Schwangerschaft nicht mehr ausgesetzt. Was ist mit mir los? Ich putze die Zähne, stürze gierig ein Glas Wasser hinunter und dusche mich. Dann geht es mir besser. Im Bademantel schleiche ich barfuß zur offenstehenden Terrassentür, um an der frischen Luft völlig zur Besinnung zum kommen. Wutzler stößt noch immer abgrundtiefe Seufzer aus. Zugleich, kaum wahrnehmbar, schwebt im Raum eine Melodie. Als Kind habe ich dieses Heitschi Bumbeitschi voller Inbrunst gesungen. Jetzt ist es ein Rufzeichen und tönt von der Couch herüber, wo Wutzlers Jackett liegt. Ich nehme es, gehe damit hinaus und ziehe die Terrassentür hinter mir zu.

»Schikaneder«, flüstere ich verschwommen ins Handy. Morgens gegen drei will mir sicher eine Rivalin auf die Schliche kommen.

»Wille. Wer sind Sie?« Die Stimme ist erstaunlicherweise männlich und könnte die eines strengen Oberlehrers sein.

»Ich bin Herrn Wutzlers … Partnerin«, beantworte ich seine Frage entsprechend brav.

»Partnerin, soso. Dann teilen Sie Ihrem Herrn Wutzler am besten blitzschnell mit, dass er sich unverzüglich selbst mit mir in Verbindung zu setzen hat. Ich gebe ihm noch zehn Minuten, mehr nicht.«

»Warten Sie!«, rufe ich, bevor er auflegen kann, und ziehe aus Wutzlers Jacketttasche den Kugelschreiber. »Welche Telefonnummer?«

»Wollen Sie mich veralbern?«

Ich starre auf die Ziffernfolge, die ich von der optischen Datenanzeige auf mein Papiertaschentuch übertragen habe, und lasse das Gespräch in mir nachklingen. Diese Stimme. Wie Eis. Wie zischendes Eis. Dazu der Name Wille. War das der Wille, den ich meine? Der mit der Machtfülle und der Lust zu quälen? Wille. Vom Alter her hätte er mein Vater sein können. Ebenso wie der Mann am Telefon. Wille. Welchen Vornamen hatte er eigentlich? Er hieß Egon, Egon Wille. War er das vorhin oder war er es nicht? Mein Gott, der Mann am Telefon kann ebenso gut Artur oder Otto heißen. Nicht gerade Egon. Und wenn doch? Auch egal.

»Was machst du denn hier draußen?« Wutzler, um den nackten Körper die Steppdecke gewickelt, steht in der Tür und gähnt. Sein Blick zeugt von Ruhe und Zufriedenheit. So mag ich ihn.

»Ich überlege, wie ich am schnellsten wieder ins Bett komme«, flirte ich. Plötzlich bin ich von Wille frei. Wutzler ist da und erinnert mich an ein nebulöses Miteinander. Hat es Spaß gemacht? Ich weiß es nicht mehr. Aber dieser sinnbetörende Duft war gut – wahrscheinlich von einem teuren Rasierwasser.

»Mit meinem Handy im Griff?«, fragt Wutzler ohne Misstrauen. Dabei lächelt er.

»Es hatte geklingelt«, versuche ich es mit einer möglichst kurzen Erklärung. »Ein Mann war dran; er verlangt, dass du dich mit ihm in Verbindung setzt – innerhalb von zehn Minuten.«

»Was?«, faucht derselbe Mensch, dem ich soeben noch gewogen war, mit bösem Blick. »Das sagst du mir erst jetzt?«

»Eher ging nicht«, entgegne ich betont leise.

»Wer war es? Na los, rede!«

»Artur hieß er, glaube ich. Artur Wille.«

»Egon Wille«, weist mich Wutzler erregt zurecht und stürzt meine Gefühle, ohne es zu ahnen, in ein Eisloch. Ich reiche ihm das Handy und gehe ins Zimmer. Die Tür drücke ich zu, bis auf einen kleinen Spalt, der mir die Gewissheit gibt, dass ich jedes Wort, das draußen gesprochen wird, hören werde. Dann werfe ich mich in den Sessel. Von hier aus erkenne ich im ersten Licht des Tages gut, dass Wutzler auf der Terrasse nervös auf und ab geht. Wahrscheinlich hat er die Nummer, die auf meinem Papiertaschentuch steht, bereits gewählt und niemand nimmt ab. Egon Wille traue ich zu, dass er Untergebene gern schmoren lässt; und Wutzler dürfte ein Untergebener sein. Meine Sinne sind geschärft.

»Oh«, höre ich es von draußen her plötzlich jubeln, »schönen guten Morgen auch. Wie geht es Ihnen, Herr Doktor Wille?« Die Stille, die nun eintritt, füllt Wutzler mit Bewegungen aus. Er lässt sich auf einen Stuhl fallen, schüttelt unentwegt den Kopf und springt wieder auf. Dann lässt er die Steppdecke los. Ab und zu höre ich ihn stöhnen.

»Aber keineswegs«, beteuert Wutzler, »das Problem der Überproduktion kenne ich natürlich. Eine solche Aktivität von meiner Seite würde doch gar keinen Sinn ergeben. Polen, Russen, Ukrainer – was sollte ich mit denen anfangen? Qualität ist gefragt. Ich setze mich schließlich nicht für jeden Dreck ein. Ich weiß, was ich Ihnen …« Stille. Wutzler rauft sich das Haar, so dass es fülliger wirkt als ungerauft und meines Erachtens für sein Aussehen von Vorteil ist.

»Bitte, Herr Doktor Wille, drohen Sie mir nicht! Ich tue noch immer mein Bestes, um Ihre Parameter einzuhalten. Denken Sie an das vergangene Quartal! Alles roger. Nein, dagegen kann ich mich nur …«

Der Gesprächspartner scheint aufgelegt zu haben. Ich erhebe mich, bereit wegzulaufen. Doch dann verharre ich in der Gewissheit, gar nicht entdeckt werden zu können, denn Wutzler hat sich abgewendet und schaut hinab auf die Straße. In seiner lässigen Haltung wirkt er wie Apollo – jung, stattlich, schön. Unwillkürlich schicke ich meinen Blick von den schmalen Hüften aus hinauf zu den ausladenden Schultern und den muskulösen Oberarmen, worauf sich in mir ein paar gute alte erotische Wünsche regen. Ich werfe mich im Bademantel aufs Bett und warte, aber mein offensichtlich angeschlagener Gast lässt sich Zeit. Dafür braucht meine Müdigkeit nur wenige Minuten, um mich zu besiegen. Als ich wieder aufwache, scheint die Sonne und Wutzler ist fortgegangen.

›Guten Morgen, Gisela‹, hat er flüchtig auf ein Notizblatt geschrieben, ›ich habe dringend noch einen Auftrag zu erfüllen, aber mein Versprechen halte ich. Wir machen uns in Basel zwei wunderschöne Pfingsttage mit allem Drum und Dran. Pack Dir ein paar hübsche Sachen ein! Nachmittags gegen drei hole ich Dich ab. Auf bald. Enriko.‹

Basel. Wieso denn Basel? Nichts in meiner getrübten Erinnerung an die letzten zwölf Stunden rechtfertigt auch nur den Gedanken an eine Reise in die Schweiz. Oder doch? Sollte ich meine Zusage im Rausch lediglich vergessen haben? Ich glaube es nicht. Ich glaube eher, Wutzler spielt mit mir. Von wegen Basel. Eigentlich müsste ich mich auf und davon machen und nachmittags gegen drei nicht zuhause sein. Aber ich sehe es anders kommen, denn es gibt eine Verlockung, und die heißt Wille. Er ist es, der mich abstößt und anzieht und meine Neugier maßlos steigert. Ausgerechnet er. Wo ich die Begegnung mit ihm vergessen wollte. Jetzt will ich das nicht mehr. Keine Ahnung, warum. Oder doch? Wille scheint Wutzler überlegen zu sein. Eine interessante Feststellung. Am besten, ich nehme die Einladung an.

»Was für ein Mann«, schwärmt Susanne, die vor Arbeitsbeginn noch ihren Einsamkeitsfrust bei mir loswerden möchte. »Den würde ich dir gern ausspannen. Diese Kraft, diese Eleganz. Friedhelm ist ja auch nicht gerade schwach und unbeholfen. Ich weiß, wovon ich rede.«

»Und wovon redest du?«, frage ich ungnädig.

»Natürlich von deiner Eroberung. Das Poltern gegen Mitternacht, das Hundegekläff – ich musste nachschauen, was los ist. Wenn du nicht bereits in den allerbesten Händen gewesen wärst, hätte ich erste Hilfe leisten müssen. So blau bist du vorher noch nie gewesen.«

»Meinst du? Übrigens, der Mann war Wutzler. Er hat mich zu einer Pfingstreise eingeladen. Ich werde zusagen.«

»Schade. Ich dachte, dass wir zusammen durchs Connewitzer Holz wandern und Neuigkeiten austauschen würden.«

»Später mal«, verspreche ich erleichtert.

Wutzler steht kurz vor drei in der Tür. Er trägt eine hellgraue sportliche Kombination mit rotem T-Shirt und wirkt, als sei er in Eile. Im Widerspruch dazu setzt er sich auf die Couch und schlägt vor, die Reise mit einer Pause zu beginnen. Gleichmut vortäuschend schenke ich Kaffee ein und geselle mich zu ihm. Er sei mir eine Erklärung schuldig, sage ich und drohe ihm neckisch mit dem Finger. Warum eigentlich Basel? Er gibt seinem Gesicht einen Verzeihung heischenden Ausdruck und erzählt von seinen Träumen. Erst Basel, später Zürich, noch später Bern – so habe er sich das gewünscht seit er ein kleiner Junge war. Ich solle ihm seinen raschen Entschluss doch bitte nicht verübeln und mitkommen. Nur eines wäre noch zu klären, die Hinfahrt. Aha, denkt es in mir, aber ich schweige. Alsdann höre ich, dass Wutzler unterwegs noch einen Dienstauftrag zu erfüllen habe. Ich könne das Reiseziel doch inzwischen bequem mit dem Zug erreichen.

»Und dann bin ich in Basel«, schmolle ich ein wenig, »und keiner holt mich ab.«

»Ich hole dich ab – hundertprozentig«, versichert er befreit lachend, denn meinen Widerstand hat er wohl als nichtig erkannt.

»Wann?«

»Morgen früh kurz vor acht auf dem Baseler Hauptbahnhof. Merk dir das! Baseler Hauptbahnhof. Hier ist die Fahrkarte für den Nachtzug nach Zürich. Ab Leipzig zweiundzwanzig Uhr sechzehn, Bahnsteig Elf.«

»Na, wenn das so ist.«

Offensichtlich zufrieden erhebt sich Wutzler, entnimmt seinem dicken Aktenkoffer einen hartschaligen schwarzen Kasten mit dem Volumen eines hohen Schuhkartons und stellt ihn vor mich auf den Tisch. Das sei ein kleiner Dank für die letzte Nacht, flüstert er beschwörend, ich möge doch bitte tagsüber davon Gebrauch machen, vor allem in Basel. Ich öffne den Kasten und erkenne mein erstauntes Gesicht im Spiegel der Innenseite des Deckels. Davor sind auf drei Etagen die in Farbe und Form unterschiedlichsten Utensilien der Kunst des Schminkens angeordnet. Was für ein wertvolles Geschenk, soviel Kosmetikartikel auf einmal konnte ich mir noch nie leisten. Es scheint, dass die letzte Nacht ein Knüller war, auch wenn ich mich kaum daran erinnern kann – ausgenommen das Telefongespräch.

»Wer ist eigentlich dieser Wille?«, frage ich beiläufig und fange mit dem Spiegel Wutzlers Gesichtsausdruck auf.

»Wer wohl, ein Geschäftspartner.« Seine Stimme klingt gleichgültig, aber seine Augen sind lauernd auf mich gerichtet.

»Wohnt er hier in der Nähe? Im Nachbarhaus steht der Name am Klingelbrett. Ist das dein Wille?«

»Unsinn, der wohnt bestimmt nicht in einem Mietshaus. Die richtige Adresse erfährt kein normaler Sterblicher.«

»Fast keiner«, korrigiere ich spaßig, »denk an den Postzusteller!«

»Ich glaube nicht, dass der die richtige Adresse kennt.«

Nach Wutzlers Abschied, den er mit einem langen Kuss besiegelt hat, überdenke ich das Neue in meinem Leben. Erstaunlich ist seine Verflechtung mit alten Geschichten, das Schicksalhafte an alledem. Die kommende Zeit macht wohl eine Strategie nötig. Aber eine Strategie fällt mir nicht ein. Um doch etwas Planmäßiges zu tun, gehe ich zum Telefon. Meine einzige Sorge ist die, dass Florian nicht abnimmt.

»Schikaneder«, höre ich ihn murmeln. Den Hintergrund seiner Stimme bildet die Geräuschkulisse einer größeren Ansammlung von jungen Leuten.

»Hier auch. Hast du etwas getrunken?«, gehe ich auf mein Ziel los.

»Nein«, antwortet er, »ich bin mit dem Auto hier.«

»Ist es das kleine blaue, das eigentlich mir gehört?«

»Ja, ich wollte es dir gestern zurückbringen, aber …«

»… aber es ist etwas dazwischen gekommen und nun bringst du es mir heute.«

»Eigentlich nicht, ich wollte …«

»Hör zu mein Junge, ich mache dir einen Vorschlag! Du darfst das Auto noch eine ganze Woche behalten, wenn du mich heute Abend gegen einundzwanzig Uhr zum Hauptbahnhof bringst.«

»Kein Problem.«

»Aber zuvor müsstest du noch im Computer die Telefonauskunft für ganz Deutschland aktivieren – ich meine die CD, die ich dir vor kurzem überlassen habe – und die Nummer einer Frau namens Liselotte Kühn in Karlsruhe ermitteln. Geht das?«

»Na ja, geht. Karlsruhe. Liselotte Kühn. Wer ist das?«

»Deine Großmutter.«

»Ich habe eine lebende Großmutter?«

»Ebenso wie ich eine lebende Mutter habe.«

4.

Einmal Karlsruhe und zurück. Sechzehn Jahre ist es her, dass ich zum ersten Mal mit dem Zug in Richtung Zürich fuhr. Oder schwebte. Ich war auf dem Weg zu der fremden Frau, die mich geboren hat. Diese Aufregung damals, diese Hoffnung. Alles rosa. Gefühle vom Feinsten. Unser grausames nationales Schicksal aber auch. Sie ein Opfer, ich ein Opfer. Und nun die Vereinigung. Ganz großes Nachwendekino. Passt. Es war eine blütenweiße Weste, die ich meiner leiblichen Mutter zum Geschenk machen wollte, sie hätte ihr prima zu Gesicht gestanden. Aber sie zog das gute Stück nicht an, sie hatte eine andere Vorstellung von Mode als ich.

»Ich heiße Liselotte, auch für dich.«