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Kim Rylee

Bring mich ans Licht

Thriller





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Vorwort

 

 

 

Die Handlung der Geschichte ist frei erfunden.
Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig.

Prolog

Er kniff das Auge zu, das Salz eines Schweißtropfens brannte. Sein linker Handrücken fuhr über die Stirn, um den Schweißfilm wegzuwischen. Ein lauter Seufzer presste sich aus seiner Kehle empor, während seine Linke wieder ans Lenkrad griff. Er spürte die Feuchtigkeit in den Handflächen. Die Knöchel an den Gelenken traten weiß hervor, seine Finger begannen zu schmerzen. Ein Zeichen, dass er das Lenkrad seit Längerem verkrampft umfasste.

 

Mitte November. In den letzten drei Tagen war es stetig kälter geworden. Dennoch schwitzte er wie im Hochsommer. Eigentlich galt er als sehr ausgeglichener, lässiger, aber zügiger Fahrer. Heute wirkte er steif. Er hatte die Arme angewinkelt und hielt die Ellenbogen fest an den Oberkörper gepresst, seine Nase klebte fast an der Windschutzscheibe. Er sah sich hektisch um. Sein Kopf schnellte nach links, dann nach rechts. Sein Blick sauste nach oben in den Rückspiegel. Dann in den Seitenspiegel. Schließlich wieder auf die Straße. Die hektischen Bewegungen wiederholten sich alle paar Sekunden.

 

Auf der Landstraße herrschte nicht viel Verkehr und er kam gut voran. Hinter ihm holte ein Kleintransporter zügig zu ihm auf. Am Steuer saß eine Frau. Ihr rasanter Fahrstil ließ sie noch nicht einmal den Blinker setzen, als sie zum Überholen ansetzte. Kurz zuckte sein linkes Auge, als sich ihre Blicke trafen. Dann war der Kleintransporter auch schon vorbeigezogen. Hinter sich sah er keinen Wagen mehr. Trotzdem hatte er noch immer das Gefühl, verfolgt zu werden.

Wie gern hätte er seine Frau mitgenommen. Doch die tiefe fremde Stimme am Telefon hatte es ihm untersagt. Er sollte allein kommen. Ohne Sofia. Und das Wichtigste: keine

Polizei. Sonst würden sie seine Tochter umbringen.

»Mein blonder Engel«, murmelte Benoit Legrand vor sich hin, wenn ihm ihr verängstigter Gesichtsausdruck in Erinnerung kam. Das Lösegeld hatte er in einer Sporttasche im Kofferraum verstaut. Immer wieder huschten seine Augen zum Handy auf dem leeren Beifahrersitz. Sobald es klingelte, wollte er keine Sekunde verlieren. Egal, ob das Telefonieren mit einem Handy während der Fahrt nicht erlaubt war. Schließlich ging es hier um Marlene. Sein blonder Engel. Seine einzige Tochter. Sie war doch erst siebzehn. Und das Liebste, was er auf Erden besaß. Er wollte den Gedanken nicht zu Ende denken, was passieren würde, sollte die Polizei ihm wegen dieser Lappalie anhalten. Womöglich noch die fünfhunderttausend Euro in der Sporttasche finden. Fragen stellen.

 Er schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu verscheuchen.

»Marlene. Meine Tochter. Marlene. Ich hoffe, man hat dir nichts Schlimmes angetan.« Sein Unterkiefer verkrampfte sich; er musste schlucken. Er spürte, wie Nervosität ihn bannte und kaum noch einen klaren Gedanken zuließ.

»Was wäre wenn … Nein! Das ist nicht passiert! Das wird nicht passieren. Das darf nicht passieren!« Wie ein Mantra forderte er sich unentwegt selbst zu positiveren Gedanken auf. Wie gern hätte er seine Frau jetzt bei sich gehabt! Sie hätten sich gegenseitig getröstet. Mut zugesprochen. Halt geben können.

Sein Blick wanderte zur digitalen Uhr des BMW Z3. 15.47 Uhr. Er hatte noch dreizehn Minuten. Würde er es schaffen?

»Abbiegung in achthundert Metern. Biegen Sie links ein«, plärrte die monotone Frauenstimme aus dem Navi.

Er atmete tief durch. Keine Erleichterung. Nach wie vor schien eine eiserne Faust sein Herz zu klammern. Und diese Faust drückte unerbittlich weiter zu.

Schließlich erreichte er den Waldweg und bog ein. Noch immer kam kein Gefühl der Erleichterung auf. Vermutlich schaffte er es rechtzeitig. Benoit Legrand zuckte zusammen, als das Handy den ersten Ton von sich gab. Es spielte wieder diese Melodie. Einen Song, den er nicht kannte. Er hasste Popmusik.

Es war nicht sein Handy, man hatte ihm eines zukommen lassen. Zusammen mit einer Nachricht und einem Foto. Das Bild zeigte Marlene mit verweinten Augen. Das Make-up in ihrem sonst sauber geschminkten Gesicht war verschmiert, ihre blonden Locken durcheinander und zerzaust. Man hatte das Handy für das Foto direkt über sie gehalten. Es war nur ein Teil des Bettes zu sehen, an dem man sie mit Handschellen gefesselt hatte: das letzte Lebenszeichen seiner Tochter. Das Foto zeigte keine Hinweise auf den Ort.

Er erinnerte sich wieder mit Schrecken an den Tag, als man ihm dieses Prepaid-Handy hatte zukommen lassen.

 

Er las gerade die Tageszeitung. Die Rettung eines entführten zwölfjährigen Mädchens beherrschte die Schlagzeilen. Er wunderte sich, weshalb ein Entführungsfall aus Hannover in der Tagespresse von Bremen erschien. Ein Polizeihauptkommissar von einer Sondereinheit war mit dem Fall beauftragt worden und bat um Mithilfe. Die Polizei vermutete eine organisierte Verbrecherbande, die national agierte. Laut Bericht wurden zwei Männer gesucht. Einer von ihnen wurde als sehr groß, der andere als etwas kleiner und dicker beschrieben. Mehr Hinweise gab es zum aktuellen Ermittlungsstand nicht. An diesem Morgen war die Welt für Benoit in Ordnung. Er stand kurz vor einem lukrativen Geschäftsabschluss und musste innerlich schmunzeln, als er das Foto vom Polizeihauptkommissar sah. Er wirkte wie der komische Kauz aus einer amerikanischen TV-Serie, an dessen Titel er sich jedoch nicht mehr erinnerte. Er wusste nur noch, dass der Name gleichzeitig der Titel der Serie war.

 

Seine Sekretärin hatte das Päckchen geöffnet. Sie schien überrascht. In seiner Firma gab es für die Angestellten sonst nur Geräte von Samsung als Firmenhandy. Es machte sie stutzig, als sie das Modell einer anderen Firma in der Hand hielt. Da das Päckchen an ihren Chef adressiert gewesen war, brachte sie es ihm sofort. Sie wollte ihn nur fragen, was es damit auf sich hätte. In dem Moment, als sie ihrem Chef das Handy übergab, begann es plötzlich die seltsame Melodie zu spielen. Beide sahen sich verwirrt an. Ohne seinen Namen zu nennen, nahm er den Anruf mit einem knappen »Ja« entgegen. Die Sekretärin sah nur noch, wie sein Gesicht schlagartig weiß wurde. Sein Mund stand weit offen. Dann blaffte er sie ohne Vorwarnung an.

»Lassen Sie mich allein, Lisa!« Sein Ton war unmissverständlich und sie ließ ihn allein. Keine drei Minuten später sprang die Bürotür zum Chefzimmer auf.

»Ich bin für den Rest des Tages nicht mehr zu sprechen. Verschieben Sie alle meine Termine, Lisa!« Er rauschte an ihrem Vorzimmerschreibtisch vorbei und verschwand.

 

Während der Popsong weiterhin an seinen Nerven zerrte, sah er auch bei diesem Anruf keine Nummer auf dem Display. Hastig tastete seine Hand nach dem schicksalhaften Boten. Er schaute kurz zur Seite. Seine verschwitzte Hand fand endlich, was sie suchte. Dann schaute er wieder nach vorn, auf die Straße; dabei entglitt ihm das Handy und fiel zurück auf den Beifahrersitz. Sein Herzschlag setzte einen Moment aus.

»Merde!« Er trat heftig auf die Bremse. Durch den Ruck rutschte das Handy nach vorn. Er hörte das dumpfe Geräusch des Aufpralls im Fußraum, spürte die Anspannung, fischte nach dem Gerät, der nervtötende Popsong tönte weiter. Er stieß laut den Atem aus, nachdem er das Telefon endlich zu fassen bekam.

Mit zittrigen Fingern drückte er die grüne Taste.

»Ja«, schrie er entnervt das Telefon an. Ein Schweißtropfen rann über die Schläfe die Wange hinunter.

»Sie sind allein gekommen, Herr Legrand. Das ist gut.« Es war dieselbe tiefe Stimme des Mannes, der ihn bereits die letzten beiden Male angerufen hatte. Das erste Mal, als er ihm mitteilte, dass man seine Tochter entführt hatte. Das zweite Mal ging es um die Übergabebedingungen für das Lösegeld.

Diese Worte gaben ihm nun die Gewissheit; er hatte sich nicht getäuscht. Man hatte ihn die ganze Zeit über beobachtet. Obwohl Sofia ihn immer wieder gedrängt hatte, war er nun froh, ihren Bitten nicht nachgekommen zu sein. Er selbst war kaum noch in der Lage, sich zu beherrschen. Und Sofia hatte zu viel Temperament. Bestimmt hätte er sie nicht unter Kontrolle halten können, sobald sie den Entführern gegenüberstehen würden.

»Bitte. Meine Tochter … darf ich ...« Weiter kam er nicht.

»Sie werden Marlene bald wiedersehen, vorausgesetzt, Sie haben das Lösegeld dabei.«

»Sicher. Natürlich. Alles, wie Sie es verlangt haben.« Seine Stimme zitterte vor Aufregung. Und vor Angst davor, dass in letzter Sekunde doch noch etwas schief gehen würde. Etwas, worauf er keinen Einfluss hatte.

»Hören Sie mir jetzt gut zu, Herr Legrand, und befolgen Sie genau meine Anweisungen. Dann steht dem Austausch auch nichts mehr im Wege. Und Sie können Ihre Tochter bald in die Arme schließen.«

Wer ist sie?

 

26. Januar - Heidekreis Klinikum

 

»Wann werden wir mit ihr sprechen können?« Der Hauptkommissar sah durch die Scheibe, während sich eine immense Wut in ihm aufstaute. Zu oft hatte er diese Bilder schon gesehen, und jedes Mal machte es ihn erneut wütend. Dieses Mal war es extrem. Da lag sie. Verkabelt an dem Gerät, das ihren Herzschlag überwachte, die linke Hand in einem Verband. Sie sah friedlich aus, wie sie ruhig im Bett lag und schlief. Doch der Schein trog. Die Hölle war ein Paradies im Vergleich zu dem, was sie durchgemacht hatte. Nur die Beruhigungsmittel ließen sie überhaupt schlafen.

»Sie hat viel erleiden müssen und ist gerade noch mit dem Leben davongekommen«, erklärte der schlanke Mann, der gerade aus dem Krankenzimmer kam, in einem fürsorglichen Ton.

»Was sie jetzt braucht, ist vor allem Ruhe. Viel Ruhe.« Der Arzt warf dem Beamten einen warnenden Blick zu.

»Sie wurde vor sechs Tagen bei uns eingeliefert und ist erst gestern Abend aus dem Koma erwacht. Wenn Sie Glück haben, wird es nicht mehr lange dauern, bis sie ansprechbar ist. Doch ich bitte Sie eindringlich, Herr Held, quälen Sie das arme Mädchen nicht zu sehr. Geben Sie ihr Zeit. Wir wissen nicht, woran sie sich erinnern wird. Sie wird psychologischen Beistand benötigen, um das Trauma zu bewältigen. Gehen Sie vorsichtig mit ihr um, damit sie nicht komplett zerbricht.«

Hauptkommissar Francis Held nickte. »Ich habe bereits eine Psychologin angefordert. Ich verspreche, dass wir behutsam vorgehen werden. Was können Sie mir über ihre Verletzungen sagen, Doktor?«

        Der Arzt schob seine schmale Brille auf der Nase zurecht, bevor er auf das Blatt Papier blickte und eine Seite auf dem Klemmbrett umschlug.

»Sie hat eine Überdehnung am linken Handgelenk sowie Blessuren, Abschürfungen und Hämatome an beiden Handgelenken, ein Hämatom am Genick und weitere im Gesicht, die jedoch schon etwas älter sind. Als sie eingeliefert wurde, war sie komatös, bedingt durch akute Dehydrierung. Augenscheinlich hatte sie in der letzten Zeit auch nichts zu essen bekommen, denn ihr Magen war leer. Wir mussten sie künstlich ernähren. Gestern Abend versuchte sie zum ersten Mal, wieder etwas zu essen. Viel konnte sie nicht zu sich nehmen. Ihr Körper ist noch sehr geschwächt. Wenn sie erwacht und etwas zu trinken verlangt, helfen Sie ihr bitte. Sie darf nicht zu schnell trinken.«

Held fuhr sich mit der Hand über seinen Bartschatten, nachdem der Arzt mit seiner Schilderung fertig war.

»Das werde ich, Dr. Zerva. Vielen Dank.«

»Ich muss weiter. Warten Sie, bis sie wach ist. Dann können Sie reingehen.« Der Arzt warf ihm einen unmissverständlichen Blick zu, und der Beamte nickte knapp. Dr. Zerva verschwand.

 

Obwohl die Tür zu ihrem Zimmer offen stand, begab Held sich zum riesigen Fenster und schaute hindurch. Als wäre die Zeit stehen geblieben: Das Bild, das sich ihm bot, war noch immer dasselbe.

Plötzlich begann ihr Körper zu zucken, als jagten Tausend Volt durch ihre Muskeln. Die Digitalanzeigen schlugen aus und binnen weniger Sekunden hechteten eine zierliche Schwester mittleren Alters und ein junger Pfleger in den Raum. Es herrschte ein wildes Treiben, während die Schwester versuchte, die Patientin zu beruhigen. Held fuhr sich mit den Händen durch seine Locken und beobachtete alles mit gemischten Gefühlen.

Es dauerte nur vier Minuten, dann hatte sich der Herzschlag wieder normalisiert.

Der Pfleger verließ das Zimmer. Kurz darauf folgte die Schwester.

 Held nahm sie beiseite.

»Ist alles in Ordnung mit ihr?« Seine Sorge rang der Schwester ein professionelles Lächeln ab. Als sie nickte, entspannte er sich ein wenig und atmete hörbar aus.

»Wir haben sie wieder stabilisiert und mussten sie ein wenig sedieren. Sie dürfen jetzt noch nicht zu ihr. Erst, wenn sie aufwacht.«

»Danke, Schwester. Ich warte noch auf die Psychologin.

 Sie soll heute Mittag eintreffen.«

Die Krankenschwester nickte freundlich und ging zurück ins Schwestern-Zimmer.

Vorsichtshalber warf er noch einmal einen Blick durch das Fenster. Nachdem sich seine Augen von ihrem Zustand überzeugt hatten, ging er den Korridor hinunter und besorgte sich einen Kaffee aus dem Automaten im naheliegenden Aufenthaltsraum. Held ließ die junge Frau nur zum Trinken aus den Augen. Das Essen verschob er auf einen späteren Zeitpunkt. Erst einmal wollte er mit dem Opfer sprechen.

 

Er wartete bereits über zwei Stunden und fünf Kaffeetassen lang. Zwischendurch holte er sein Handy hervor, um zu sehen, ob jemand ihm eine SMS geschickt hatte. Unruhig trat er wieder vor das Fenster, als wollte er sich vergewissern, dass sie nicht verschwunden war.

Ihr Brustkorb bewegte sich langsam auf und ab, sie schien ruhig zu atmen. Lediglich ihre Hand zuckte zwischendurch.

Der Beamte wusste, dass es nicht leicht sein würde, mit ihr über das zu sprechen, was passiert war. Doch er wollte den oder die Täter für den Rest ihres erbärmlichen Lebens wegsperren. Diese junge Frau auf dem Krankenbett war der Schlüssel. Sechs Tage hatte sie im Koma gelegen und nun erwachte sie langsam wieder zum Leben. Das hoffte er, nachdem ihn der Anruf am gestrigen Abend aus dem Krankenhaus erreichte. Am liebsten hätte er ihr schon gestern Abend einen Besuch abgestattet, doch der Arzt riet zu dem Zeitpunkt davon ab. Sie war kaum im Stande wahrzunehmen, was um sie herum passierte.

Aber wäre sie überhaupt in der Lage, ihm zu helfen? An was würde sie sich erinnern? Es war seine Aufgabe zu verhindern, dass diese Kerle sich ein weiteres Opfer holten. Held hoffte inständig auf ihre Mithilfe.

 

»Hauptkommissar Held. Francis Held?«

Überrascht, seinen Namen zu hören, drehte er sich um und sah eine hochgewachsene, sehr schlanke Frau. Ihre kurzen, blonden Haare gaben ihrem Gesicht etwas Jungenhaftes; androgyne Erscheinung, ein bezauberndes Lächeln. Mit forschen Schritten kam sie auf ihn zu.

»Ja. Und Sie sind?« Er trat ihr ebenfalls zwei Schritte entgegen, bis sie sich gegenüberstanden. Sie überragte ihn um einige Zentimeter.

»Ich bin Dr. Vera Simms. Die Psychologin, die Sie angefordert hatten. Wie geht es der Patientin? Kann ich sie sehen?«

»Sehr erfreut.« Sie schüttelten sich kurz die Hände.

»Sehen Sie selbst.«

Dr. Simms verzog keine Miene, als sie die Frau auf dem Bett liegen sah, doch er bemerkte, wie sich ihre Atmung veränderte. Ihr schien das Schicksal der jungen Frau ebenfalls an die Nieren zu gehen.

»Ich hatte leider keine Zeit, mir die Akte anzusehen. Was können Sie mir über diesen Fall sagen?«

Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Eine unvorbereitete Psychologin.

»Wie lange sind Sie bereits auf diesem Feld tätig, Dr. Simms?«

Sie schluckte.

»Wie Sie unschwer erkennen können, bin ich nicht gerade erst mit dem Studium fertig geworden. Und dennoch bin ich nicht in der Lage, durch eine Scheibe zu erkennen, was der Patientin zugestoßen ist, und kann eine Diagnose stellen. Außerdem bin ich erst kürzlich hierher gezogen. Man hatte mir diesen Fall zugewiesen, bevor ich meine Koffer auspacken und mich einlesen konnte. Ich habe mich sofort auf den Weg hierher gemacht. Also, was können Sie mir über die Patientin sagen?«

Ihr forsches Auftreten gefiel ihm ganz und gar nicht. Starke Frauen waren nicht sein Ding. Sie hörten selten zu und wussten alles immer besser.

»Bisher nicht viel. Ihren Namen kennen wir noch nicht. Wir fanden sie in einem Keller. Ihre Hände waren mit Handschellen gefesselt und man hatte sie am Hals an die Wand gekettet. Als wir sie fanden, war sie total verwahrlost und schon so gut wie tot. Entweder mussten die Täter plötzlich abreisen oder man hatte sie absichtlich einfach zum Sterben zurückgelassen.«

Diese letzten Bilder liefen wie ein Horrorfilm vor seinem geistigen Auge ab. Er holte einmal tief Luft und sammelte sich.

»Wir wissen nicht, wie lange sie dort bereits war und ob sie sich an irgendetwas erinnert. Das herauszufinden, Doktor Simms, wird wohl Ihre Aufgabe sein.«

Die Psychologin nickte verständnisvoll.

»Meinen Sie, es gibt einen Zusammenhang mit den anderen Entführungen?«

Held zuckte mit den Achseln.

»Das können wir noch nicht mit Bestimmtheit sagen.«

Dr. Simms schürzte die Lippen.

»Wann können wir mit ihr sprechen?«

»Sobald sie erwacht ist, dürfen wir zu ihr. Dann beginne ich mit der Befragung und hoffe auf Ihre Unterstützung.«

 

Reifenwechsel

 

2. Januar - Hamburg

 

Marianna erwachte, als der Wecker sie mit ihrem Lieblingssong Wrong von Depeche Mode aus dem Schlaf holte. Sie reckte sich und gähnte erst einmal. Ein kalter Windzug überraschte sie, sodass sie kurz die Decke über die Nase zog.

»Wieso ist es so kalt?«

Sie überlegte, ob sie das mollig warme Bett verlassen sollte. Nach kurzer Zeit entschied sie, den inneren Schweinehund zu überwinden und doch Joggen zu gehen. Die vergangenen Feiertage mit der Familie, verwöhnt von der Mutter mit dem vielen guten Essen, waren zu viel gewesen, da musste das Hüftgold wieder verschwinden. Da Marianna sehr schlank war und eine sportliche Figur hatte, fand sie, dass die zwei gewonnenen Kilos sofort wieder abtrainiert werden mussten. Entschlossen schlug sie die Decke zur Seite, doch sofort begann sie zu frösteln.

 

Es war Januar und zu dieser frühen Stunde noch dunkel. Doch in wenigen Minuten würde die Dämmerung einsetzen und das Leben in der Stadt erwachen. Die ersten Schneeflocken waren über Nacht gefallen, die Wege noch nicht geräumt. Ihr Blick schweifte über eine wunderschöne Schneelandschaft. Sie legte ihre Hand auf die Heizung. Sofort zog sie die Hand zurück, als sie den eiskalten Heizkörper spürte. Sie war verärgert.

»Das hat mir gerade noch gefehlt. Draußen haben wir Schnee und drinnen ist die Heizung kaputt. Jetzt muss ich auch noch den Hausmeister anrufen«, murrte sie. Sie beschloss, den Anruf zu verschieben, bis sie vom Joggen zurückkam. Vorher würde der Hausmeister sowieso nicht zu erreichen sein. Sie schlüpfte in ihre warme Unterwäsche, zog sich ein T-Shirt, einen Pullover und ihre Jogginghose über und überlegte, welche Laufschuhe diesem Wetter angemessen waren. Nachdem sie ihre Wahl getroffen hatte, holte sie ihren MP3-Player und verstaute die beiden Wohnungsschlüssel in der Armmanschette. Sie zog Mütze, Jacke und Schal an, band sich die Armmanschette um und sprintete die zwei Stockwerke herunter, immer zwei Stufen auf einmal. Damit begann sie ihr Aufwärmtraining. Vor der Tür atmete sie einmal tief durch, dehnte kurz ihre Beine und lief auf die andere Straßenseite, um ihre tägliche Tour durch den Park zu absolvieren.

 

Der Schneefall ließ bereits nach, und die letzten Schneeflocken bahnten sich gerade ihren Weg zum Boden. Noch unberührt lag die Schneedecke da, ihre Schritte knirschten im Schnee. Sie erreichte die andere Straßenseite mit dem Eingang zum Stadtpark und begann ihren Parcours.

Bei diesem Wetter sah sie nicht so viele Jogger wie sonst. Sie überlegte, ob sie Musik hören sollte, doch jetzt war ihr gerade nicht danach, und so genoss sie die reine Luft und beobachtete beim Laufen ihren Atem. Nur der ältere Herr mit seinem Pudel auf frühmorgendliche Gassi-Tour begegnete ihr. Sie nickte kurz beim Vorbeilaufen, und er grüßte sie mit einer knappen Handbewegung zurück, bevor er seine Arme wieder um den Körper schlang, um sich zu wärmen. Man kannte sich vom Sehen, doch nie wurde ein Wort gewechselt.

Mariianna schaute auf die Uhr. Trotz des Schnees lag sie gut in ihrer Zeit. Normalerweise traf sie sich vor der Hundewiese im Park mit Sybille. Die beiden joggten dann ein Stück des Weges gemeinsam, bis zum nächsten Parkeingang, wo sie sich verabschiedeten. Sybille lief dann noch ein Stück weiter, während sich Marianna auf den Weg nach Hause machte. Heute war Sybille nicht gekommen. Marianna überlegte noch, ob sie einige Minuten warten und auf der Stelle laufen sollte. Ihr Blick ging erneut zur Uhr, die ihr signalisierte weiterzulaufen. Die Abenteuerlust überkam sie, und sie entschied, heute mal einen anderen Weg zu nehmen. Vielleicht traf sie ja noch auf ihre Joggingbegleitung. Doch heute schien sie kein Glück zu haben.

 

Als sie den Park verließ, um auf dem Gehweg nach Hause zu laufen, entdeckte sie einige Meter vor sich einen weißen Lieferwagen. Ein hochgewachsener Mann schien gerade damit fertig geworden zu sein, ein Rad zu wechseln. Jetzt packte er seine Sachen zusammen. Nur noch das defekte Rad lag auf dem schmalen Gehweg; sie musste wohl darum herumlaufen.

Sie bedauerte ihn … bei diesem Wetter eine Reifenpanne!

Als Marianna an ihm vorbeilief, griff plötzlich eine Hand nach ihrem Arm und packte sie. Sie begann zu taumeln, rutschte aus und stürzte dem Mann ungewollt in die Arme.

»Können Sie nicht auf ...« Weiter kam sie nicht. Der Mann schlang seine Arme um sie und drückte ihr seine Hand, die in einem dicken Lederhandschuh verpackt war, fest über den Mund. Marianna wehrte sich, trat und schlug um sich, versuchte zu schreien, doch die riesig wirkende Hand ließ kaum einen Laut durch. Plötzlich tauchte ein weiterer Mann vor ihr auf und sie spürte einen Stich im Hals. Ihre Sinne begannen zu schwinden. Gleichzeitig gaben die Beine unter ihr nach, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Unsanft wurde sie in den Lieferwagen gehievt. Das Letzte, was sie hörte, bevor eine Schwärze sie umfing, war der Knall einer zugeschobenen Wagentür.

 

***

 

    Marianna schlug blinzelnd die Augen auf und blickte in ein maskiertes Gesicht. Noch war alles leicht verschwommen und ihr war übel. So übel, dass sie sich übergeben musste. Der Maskierte sprang zur Seite.

»Verdammt. Blöde Kuh, was soll das?«

»Was ist da drüben los?« Eine weitere Stimme, doch sie konnte keine Person ausmachen.

»Sie hätte mir fast auf die Schuhe gekotzt. Du hast zu viel von diesem Zeugs in die Spritze getan, du Idiot!«

»Selber Idiot! Warum stellst du dich auch neben sie, wenn sie aufwacht. Das ist bei jeder anders. Das kann man nicht abmessen.«

»Komm her! Und bring Eimer und Wasser mit, damit du den Dreck wegmachen kannst.«

 

Sie fiel zurück ins Bett und wollte sich den Mund abwischen, als sie bemerkte, dass sie ihre linke Hand nicht bewegen konnte. Wenigstens war ihre Rechte frei, die langsam zu ihrer Stirn wanderte. Während sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen musste sie blinzeln. Vorsichtig wandte sie ihren Kopf, bis ihr Blick auf etwas silbernes über ihrem Kopf haften blieb. Um ihre linke Hand hatten sie einen silbernen Metallring gelegt. Daran war eine zehn Zentimeter lange Kette befestigt, die an einem weiteren Metallring angebracht war. Man hatte sie mit Handschellen an das Kopfbrett gekettet. Sie legte die Stirn in Falten, doch sofort meldete sich der stechende Schmerz zurück. Mühevoll tastete ihr Blick die Umgebung ab.

 

Sie befand sich in einem Raum, der alles andere als gemütlich wirkte. Kahle hellgraue Wände. Eine einsame Leuchtstoffröhre an der Decke sorgte dafür, dass der Raum kalte Atmosphäre ausstrahlte. Das Licht blendete sie, sodass sie den Kopf zur Seite drehen musste: ein Stuhl, ein kleiner quadratischer Holztisch und das Eisenbett an der Wand, in dem sie lag – das war alles. Auf der gegenüberliegenden Seite entdeckte sie eine schwere Tür, die offen stand. Zudem roch es muffig, wie in einem Keller.

 

Der zweite Entführer – leicht untersetzt und ebenfalls maskiert – trat ein, brachte einen Eimer mit Wasser und reinigte den Fußboden und das Bett. Er würdigte sie keines Blickes. Marianna zog an der Fessel, die ein schrilles Geräusch von sich gab, als Metall über Metall schrammte. Der Ton fuhr durch ihren Kopf, als hätte sie ein Blitz getroffen, und sie ließ sofort davon ab.

»Was wollen Sie von mir? Wo bin ich hier?« Ihre Stimme war nur ein Krächzen, und sie brauchte dringend etwas Wasser, um sich den ekelhaften Geschmack aus dem Mund zu spülen. Keiner der Männer sprach mit ihr.

»Bitte. Bekomme ich etwas Wasser?« Der Kleinere von beiden schaute sie an, nickte dem Großen zu, unterbrach die Säuberungsaktion und kam kurz darauf mit einer kleinen Plastikflasche Wasser zurück. Sie trank und war froh, den ätzenden Geschmack aus der Kehle spülen zu können.

»Danke«, flüsterte sie schüchtern. Misstrauisch blickte sie die Männer an. Beide trugen dunkle Arbeiterhosen und dunkle Wollpullover. Ihre Gesichter verbargen sie unter Motorradmützen, die nur die Augen freiließen. Der eine von ihnen war hochgewachsen, ein Hüne von athletischer Figur. Sie erkannte ihn als denjenigen, der sie überwältigt hatte. Kein Wunder, dass sie keine Chance gegen ihn gehabt hatte, jetzt wo sie ihn in voller Größe vor sich stehen sah. Der andere war viel kleiner. Nur knapp einen Meter siebzig groß und leicht untersetzt. Aber was wollten sie von ihr? Sie war eine einfache Angestellte mit durchschnittlichem Gehalt. Ihre Eltern waren geschieden, und ihr verstorbener Stiefvater hatte ihrer Mutter ebenfalls nichts hinterlassen. Von ihrem leiblichen Vater hatte sie nichts mehr gehört, seit sie sieben Jahre alt war. Sie wusste noch nicht einmal, ob er überhaupt noch lebte. Ihre Mutter hatte nie darüber gesprochen, nachdem er einfach so verschwunden war.

Der Kleinere verschwand schließlich mit dem Putzzeug. Sie setzte sich auf. Ihr war schummrig, sodass sie auf den grauen Fußboden starrte. Außer ihren Socken hatte sie nichts an den Füßen. Wenigstens hatte man ihr die Jogginghose und das Sweatshirt gelassen, auf denen sie nun Schmutzflecken entdeckte.

»Was haben Sie mit mir vor?« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.

Der Große stellte sich vor sie und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Das wird der Boss entscheiden. Wenn du dich ruhig verhältst, wird dir nichts geschehen.« Sie wagte es nicht, aufzusehen, und starrte die schmutzigen Bundeswehrstiefel des Mannes an. Sie glaubte, einen osteuropäischen Akzent in seiner Stimme zu erkennen, den man nur bemerkte, wenn man genau hinhörte. Anscheinend lebte er schon sehr lange hier oder war sogar in Deutschland aufgewachsen.

Der Kleinere kam zurück und brachte ihr zwei mit Salami belegte Schwarzbrote. Er reichte ihr den Teller, doch sie drehte den Kopf weg. Er zuckte nur mit der Schulter, stellte den Teller in ihre Reichweite auf den Boden und verschwand wieder, ohne ein Wort zu sagen. Der Große folgte ihm und schloss die schwere Eisentür hinter sich ab.

Marianna zerrte erneut an ihrer Fessel, kam aber noch immer nicht frei. Stattdessen schnitt das Metall ihr ein wenig ins Handgelenk.

»Au. So’n Mist!« Sofort ließ sie von einem weiteren Versuch ab. Unentwegt starrte sie auf den Teller, während sie darüber nachdachte, weshalb man sie entführt hatte.

Nach einigen Minuten ging das Licht plötzlich aus und es war stockdunkel im Raum.

»Hallo! Hallo! Bitte! Wo bin ich? Will mir keiner sagen,

was hier los ist?« Panik kroch ihre Kehle hinauf und sie hörte, wie ihr Herz unerbittlich gegen die Brust schlug.

»Bitte«, schluchzte sie, doch alles blieb ruhig. Niemand schien sie zu hören und sie selbst vernahm ebenfalls keinerlei Geräusche.

 Im Dunkeln tastete sie nach einer der Brotscheiben, entfernte die Wurst und aß sie auf. Danach legte sie sich hin und versuchte zu schlafen. Sie hörte das Blut laut durch ihre Adern rauschen. Angst fuhr ihr in die Knochen.

 

***

 

Das Licht ging plötzlich an und Marianna hörte, wie jemand die Tür aufschloss. Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Der Große kam herein und befreite ihre Hand von der Fessel. Wortlos packte er ihren Oberarm und zog sie aus dem Bett.

»Wo bringen Sie mich hin?« In ihrer Stimme lagen Angst und Erschöpfung. Sie hatte nicht viel schlafen können. Und als sie endlich eingeschlafen war, wurde sie schon wieder unsanft geweckt. Grob zerrte er sie hinter sich her.

 

Marianna hatte Gelegenheit, noch weitere Räume zu sehen. Der neben ihrem Gefängnis glich einem Wohnzimmer. Sie sah einen Schreibtisch, ein braunes Sofa aus den Siebzigern mit zwei passenden Sesseln, ein runder Holztisch und ein Röhrenfernseher auf einer kleinen Anrichte, die Wände ebenso kahl wie alle anderen.

Sie stellte fest, dass auch dieser Raum kein Fenster hatte und ebenfalls durch eine schwere Eisentür verschlossen wurde. Das ließ sie vermuten, dass sie sich in einem Keller oder einen Bunker befanden. Doch wo war ein unbewohnter Bunker in ihrer Nähe? Wie lange war sie bewusstlos gewesen? Wo hatte man sie hingebracht und warum? Diese Fragen beschäftigten sie die ganze Zeit und sie suchte noch immer nach einer Antwort. Der Hüne würde sie ihr sicherlich nicht geben.

Sie passierten die Tür, die sie zu einem fensterlosen Korridor führte, gingen ein paar Schritte und hielten vor einer weiteren schweren Tür zu ihrer Rechten, die jedoch etwas schmaler war als die anderen zuvor.

Er öffnete sie und stieß Marianna grob in den Raum hinein.

»Mach dich sauber. Solltest du nach Hilfe rufen wollen ..., hier kann dich niemand hören«, erklärte er in einem Ton, der keinen Zweifel aufkommen ließ.

Dann fiel die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss.

 

Sie befand sich in einem Bad. Der Raum maß vielleicht acht Quadratmeter und war im selben trüben Grau gehalten wie die anderen Räume. Vor ihr sah sie ein WC, zu ihrer Linken ein Waschbecken mit einer kleinen viereckigen Spiegelfliese an der Wand; daneben ein kleiner Hängeschrank aus Holzimitat. Sie sah weiter nach links und erblickte die Dusche.

Marianna fand ein zusammengefaltetes Handtuch auf dem Waschbecken und ein kleines Stück Seife sowie eine Zahnbürste nebst Zahnpasta. Sie war sich nicht sicher, ob sie unter die Dusche gehen sollte, und wartete noch einige Minuten ab, während sie versuchte, Geräusche von außen zu vernehmen. Sie beschloss, erst einmal ihre Notdurft zu verrichten. Die Ruhe um sie herum ließ sie erschaudern. Sie hörte nichts. Keine Autos, kein Fluglärm.

Nichts.

Es war totenstill.

Obwohl ihr nicht wohl bei der Sache war, zog sie sich aus und duschte. Das Wasser war lauwarm. Keine Temperatur, bei der man länger unter der Dusche verweilen wollte. Sie duschte kurz, putzte sich die Zähne und zog ihre Unterwäsche, Socken, Jogginghose und Sweatshirt wieder an. In ihrer Hosentasche ließ sie das Stück Seife verschwinden und hoffte, dass dies nicht auffiele. Sie fand eine Bürste im Hängeschrank und kämmte ihr langes braunes Haar, als der Hüne wieder hereinkam.

Abrupt drehte sie sich um und blickte in seine dunklen, kalten Augen. Ein Schauer lief ihr den Rücken herunter. Langsam ging sie auf ihn zu. Wieder packte er ihren Arm, sodass die Haarbürste zu Boden fiel, doch er schenkte dem keine Beachtung. Er zerrte die junge Frau zurück ins Zimmer, wo er sie erneut mit der Hand ans Bett fesselte.

 

Der Kleine kam herein und brachte ihr Wasser und Weißbrot mit Marmelade. Diesmal nahm sie es wortlos entgegen.

Nachdem die Tür verschlossen worden war, wollte sie keine weitere Sekunde mehr verstreichen lassen und startete den Versuch, sich aus den Fesseln zu befreien. Sie zog das Stück Seife aus der Tasche hervor. Die Flasche Wasser vor ihr kam ihr gerade recht. Sie nahm das Wasser und ließ einige Tropfen über die Seife rinnen. Danach verteilte sie die schmierige Flüssigkeit um ihr Handgelenk und ihre Hand. Sie hatte schmale Finger, und wenn sie den Daumen in ihre Handfläche legte und die Finger zusammenpresste, würde sie sich daraus befreien können.

 

Es dauerte eine Weile, doch dann hatte sie es geschafft, und die Hand rutschte heraus. Den Schmerzensschrei unterdrückte sie, indem sie ihre Lippen zusammenpresste, als der Stahl über ihre Handknöchel scheuerte. Noch hatte sie keinen ausgereiften Fluchtplan entwickelt und würde zum größten Teil improvisieren müssen. Auf jeden Fall musste sie dafür Sorge tragen, dass man sie nicht sofort verfolgen konnte. Sie betete, dass der Schlüssel zu ihrem Gefängnis im Schloss steckte, sodass sie ihre Entführer einsperren konnte, wenn die den Raum betraten, um nach ihr zu sehen. Sobald sie draußen wäre, würde sie die Polizei rufen.

Unruhige Minuten verstrichen. Sie hoffte, dass man bald die Überbleibsel ihres Frühstücks abholen würde. Zumindest glaubte sie, dass es ihr Frühstück war anhand der Mahlzeit, die man ihr brachte. Sicher war sie nicht. Auch wusste sie nicht, welcher Tag es war.

Sie hatte genau eine Chance. Eine zweite würde sie nicht bekommen.

Erleichtert stieß sie den Atem aus, als sie ihre befreite Hand betrachtete. Nebenan hörte sie, wie Geschirr klapperte. Als würde jemand den Abwasch machen. Jedoch vernahm sie keine Stimmen. Noch nicht einmal ein Radio oder Fernseher waren eingeschaltet. Die Sekunden dehnten sich wie Stunden.

Endlich. Als sie das Schloss hörte, hielt sie den Atem an. Sie erblickte einen Schatten auf dem Fußboden. Die Silhouette des Untersetzten, als er den Raum betrat und stehenblieb.

Hektisch schaute er sich um.

Als die Tür kurz davor war, ins Schloss zu fallen, sah sie ihn, mit dem Rücken zu ihr. Marianna nahm all ihren Mut zusammen und verpasste ihm einen kräftigen Tritt in den Rücken. Überrascht stieß er einen Schrei aus, taumelte in Richtung Bett und stürzte, bis er sich mit den Händen auf dem kühlen Boden abfing. Dabei stieß er einen lauten Fluch aus. Sie hielt die Luft an, während sie einen schnellen Blick in den nächsten Raum wagte. Erleichtert stellte sie fest, dass der Hüne nicht da war und atmete heftig aus. Sie waren sich wohl sehr sicher, dass sie nicht fliehen konnte.

In ihrer Aufregung dachte sie nicht mehr daran, hinter sich die Tür abzuschließen. Sie wollte nur noch raus. Weg von diesem schrecklichen Ort. Ein Hoffnungsschimmer. Ihr Herz raste und sie hatte Angst, dass ihre Entführer es schlagen hörten. Um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, öffnete sie vorsichtig die Tür zum Korridor und schlich zügig am Bad vorbei. Auch hier war alles ruhig. Nur ein kurzes Stöhnen aus dem anderen Raum unterbrach die Stille. Dann schaute sie zur Tür am Ende des Flurs, die sich von den anderen unterschied. Sie war breiter und hatte ein großes Schlüsselloch wie bei einer alten Kellertür. Ihre Nerven waren kurz vor dem Zerreißen. Vor ihr lag die Tür zur Freiheit, und sie betete, dass sie nicht verschlossen war.

 

Inzwischen hatte der Untersetzte sich wieder gefangen.

Seine Hand wanderte zum Kreuz. Er rappelte sich hoch und nahm die Verfolgung auf.

Sie hörte Schritte, wie seine schweren Stiefel über den blanken Boden polterten. Sein Rücken schien aber so zu schmerzen, dass er nur langsam vorankam.

»Dieses Miststück hätte mir fast das Rückgrat gebrochen.« Er hielt sich immer noch den Rücken, als er das Wohnzimmer durchquerte.

Marianna wusste, er war nicht mehr weit weg, schaute sich um und drückte die klobige Türklinke nach unten. Sie zog daran. Es klackte. Die Tür schien nicht verschlossen zu sein. Das Adrenalin in ihren Adern gab ihr Kraft – und mit einem Ruck öffnete sie die Tür. Dabei warf sie einen letzten Blick zurück, um sich zu vergewissern, dass ihr Verfolger noch nicht zu sehen war.

Als seine Schritte immer lauter wurden, zog sie die Tür ganz auf. Ängstlich blickte sie nach vorn, und zuckte erschrocken zusammen. Ihr Körper erstarrte vor Schreck. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in ein Gesicht, dessen kalten Augen sich abrupt in schmale Schlitze verwandelten. Zeit zum Nachdenken blieb ihr nicht. Sie spürte nur, dass ihr Herz zwei Schläge aussetzte.

 

Er trug einen langen dicken Wintermantel, der ihn noch gigantischer erscheinen ließ. Der Hüne stand vor ihr. Sofort ließ er die Einkaufstüte fallen und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige. Marianna schrie vor Schmerz laut auf. Die Wucht des Schlages traf sie so unerwartet, dass sie zu Boden stürzte und dort schwer atmend liegen blieb. Ihre Hand befühlte die Wange und in ihrem Kopf surrte es. In dem Moment betrat der Untersetzte den Flur.

»Gut, dass du sie aufhalten konntest. Dieses Biest hat mir in den Rücken getreten.« Seine rechte Hand fasste ins Kreuz und er bog den Rücken durch. Dabei schob sich sein Bauch nach vorn, als hätte er gerade eine ganze Kuh verspeist.

Der Hüne packte sie an den Haaren und zog sie daran hoch.

»Au!« Sie griff mit beiden Händen nach seinem Handgelenk und versuchte so, die Schmerzen zu vermindern.

»Komm mit!«

Sie wusste nicht, ob ihr oder dem Untersetzten diese Aufforderung galt. Ihr ließ man keine Wahl und der Untersetzte folgte ihnen ebenfalls.

Er zog sie bis zum Zimmer hinter sich her. Immer wieder schrie sie vor Schmerz auf, hatte das Gefühl, er würde ihr das Haar büschelweise ausreißen, doch er ignorierte sie nur.

»Los, Max. Die Handschellen.«

Der Untersetzte löste die Handschellen vom Bett und reichte sie dem Hünen. Der schmiss Marianna auf die Matratze. Die Heftigkeit überraschte sie erneut, sodass sie kurz die Orientierung verlor und ehe sie sich versah, knallte eine zweite Ohrfeige. Marianna gab ihren Widerstand auf. Ihr Körper befand sich in einem Schockzustand. Sie wusste plötzlich nicht mehr, wie ihr geschah.

»Ich hatte dich gewarnt. Das hast du dir nun selbst zuzuschreiben!«

Seine braunen Augen blitzten vor Zorn, die Lippen waren zu einer schmalen Linie gepresst, als sie durch einen Tränenschleier in sein Gesicht sah.

 

Er hatte ein spitz zulaufendes Kinn und eine flache breite Nase, wie die eines Boxers, der bereits mehrere Kämpfe im Ring hinter sich gebracht hatte. Sein dunkelblondes Haar war relativ kurz, sodass die Locken nur zu erahnen waren.

Er führte ihre Hände über den Kopf zusammen und fesselte beide ans Kopfende des Bettes, indem er die Handschellen um die Metallstange herumlegte.

Marianna spürte einen Schmerz, als sich die Metallringe fest um ihre Handgelenke legten.

»Bitte. Schlagen Sie mich nicht mehr«, wimmerte sie, als sie seine Hand über ihrem Gesicht erblickte. Sie erwartete eine weitere Ohrfeige, schloss ihre Augen für den nächsten Schlag, der ihr die Sinne rauben würde.

»Nicht, Matt! Wir brauchen sie lebend. Du schlägst sie noch tot.«

Er hielt inne und sein Kiefer mahlte. Sie hörte, wie seine Zähne knirschten.

»Wage es nicht noch einmal, Dummheiten zu machen«, drohte er mit zusammengebissenen Zähnen.

»Komm, Max! Heute bekommt sie nichts zu essen und auch nichts zu trinken. Das sollte ihr zu denken geben.« Max und Matt verließen den Raum. Die Tür knallte ins Schloss und wurde verschlossen.

Marianna lag nur da. Sie wagte es nicht, sich zu bewegen. Er hatte ihr die Handschellen so eng um ihre Gelenke gelegt, dass sie beinahe die Blutzufuhr abschnürten. Seife würde diesmal nicht ausreichen, um sich daraus zu befreien.

 

Ihre Flucht war brutal vereitelt worden und eine weitere Chance würde es nicht mehr geben. Das wusste sie nun, durch diese schmerzliche Lektion, die ihr gerade erteilt worden war.

Erwachen

 

26. Januar - Heidekreis Klinikum

 

»Ich glaube, sie wacht auf. Kommen Sie, Hauptkommissar Held«, forderte Dr. Simms ihn auf.

Beide betraten das Krankenzimmer, und während Dr. Simms sich einen Stuhl ans Bett zog, untersuchte Held das Zimmer. Neben ihrem Bett stand ein Tischchen mit einem leeren Glas und einer Flasche Wasser darauf. Er ging zum schmalen Schrank, fand jedoch nur ein paar Kleidungsstücke, die man ihr ins Regal des Schrankes gelegt hatte; ihre Kleidung befand sich bei der Spurensicherung. Da er nichts Auffälliges daran entdecken konnte, legte er alles fein säuberlich zurück und schloss leise die Schranktür. Er trat an das Fußende des Bettes und beobachtete, wie sie langsam die Augen öffnete. Ihre Lippen sahen aus wie Schmirgelpapier und waren an einigen Stellen mit einer leichten Blutkruste belegt. Er griff nach der Flasche Wasser und füllte etwas in das Glas auf dem kleinen Tischchen.

Die Frau blickte ihn an und schluckte. Zu sprechen war ihr nicht möglich. Der Hals war trocken und überhaupt fühlte sich alles wie ausgedörrt an.

»Wasser?« Fragte er mit einem Lächeln und sie nickte kaum merkbar. Vorsichtig näherte er sich ihr und stärkte ihr den Rücken mit seiner Hand. Er nahm den Trinkhalm und führte ihn an ihren Mund.

»Dr. Zerva sagte, Sie sollen vorsichtig trinken. Also immer nur einen kleinen Schluck nach dem anderen. In Ordnung?«

Sie nickte erneut. Als sie nach dem Glas greifen wollte, zog er es weg. Sofort begann das Überwachungsgerät für ihren Herzschlag auszuschlagen, an dem sie noch immer  angeschlossen war.

»Bitte. Lassen Sie mich Ihnen helfen. Langsam trinken. Sie sind in Sicherheit. Hier kann Ihnen nichts mehr geschehen.« Seine Stimme sollte sanft und beruhigend auf sie wirken. Sie starrte ihn an und legte die Hand zurück in den Schoß. Sie versuchte, nicht zu gierig zu trinken, doch ihr Körper brauchte Flüssigkeit. Die Infusion hatte sie zwar mit dem Nötigsten versorgt, doch die Trockenheit in ihrer Kehle konnte sie ihr nicht nehmen. Nachdem sie einige Schlucke zu sich genommen hatte, stellte er das Glas auf dem Tisch ab. Dann setzte er sich an die Bettkante und sah sie an.

»Ich bin Hauptkommissar Francis Held vom LKA Düsseldorf. Ich leite die Sonderkommission für Menschenraub und Erpressung. Und das ist Dr. Vera Simms.« Mit einer Handbewegung deutete er auf die schlanke Frau.

»Sie ist Psychologin und wird Ihnen helfen, das Vergangene besser zu bewältigen. Verraten Sie mir Ihren Namen?«

Die junge Frau sank ins Bett zurück, während sie ihren Blick zum Fenster richtete. Er ahnte, dass sie zu einem Baum schaute, dessen Äste mit Schnee bedeckt waren. Tränen liefen an ihren Wangen herunter.

»Es wäre schön, wenn Sie uns sagen könnten, wie Sie heißen.« Dr. Simms mischte sich nun in das Gespräch ein.

»Können Sie sich an Ihren Namen erinnern?«

Die Frau drehte ihren Kopf und blickte in Dr. Simms Augen. Die nahm ein Tuch aus der Box und reichte es ihr. Als die junge Frau sich das Gesicht getrocknet hatte, öffnete sie den Mund.

»Ma ...« Sofort verstummte sie wieder. Mehr bekam sie nicht heraus. Ihre Kehle schmerzte. Sie fasste sich an den Hals, schluckte und verzog schmerzhaft das Gesicht.

»Verstehe. Der Tubus scheint Ihre Luftröhre ein wenig geschädigt zu haben. Das kann schon mal vorkommen. Es müsste aber bald besser werden«, sagte Dr. Simms im professionellen Ton, bevor sie sich dem Hauptkommissar zuwendete.

»Wir sollten die Befragung um einige Stunden verschieben, bis sich ihr Hals beruhigt hat.«

Held nickte.

»Sollen wir jemanden verständigen?«

Die junge Frau blickte wieder aus dem Fenster und eine weitere Träne lief über ihre Wange. Dr. Simms gab ihm ein Zeichen, dass sie gehen sollten. Hauptkommissar Held folgte ihr nur widerwillig.

»Wie gehen wir weiter vor?« Fragte Dr. Simms, während sie den Korridor herunter gingen.

»Das LKA Hannover hat mir ein Büro zur Verfügung gestellt. Was ist mit Ihnen, Doktor? Wo wohnen Sie?«

»Ich muss in nördlicher Richtung. Mein neues Domizil ist in Hamburg. Doch ich werde mir vorerst ein Zimmer in Hannover suchen. Oder kennen Sie zufällig ein nettes Hotel?«

Held überlegte zwei Sekunden. »Leider nein. Doch ich kann ...« Er stockte. Dr. Simms legte den Kopf leicht schief und lächelte verführerisch.

Held räusperte sich. »Im Revier wurde mir eine junge Polizistin zugeteilt.« Er rieb sich mit dem Zeigefinger an der Schläfe, als er versuchte, sich an ihren Namen zu erinnern.

»Ihr Name ist Porter«, fiel es ihm wieder ein.

»Ich werde sie darum bitten, dass man Ihnen ein vernünftiges Hotelzimmer bucht.«

»Was ist mit dem Hotel, in dem Sie untergekommen sind?«

»Ich habe dort eine Wohnung. Meine Frau ...«, er verzog kurz das Gesicht, was der Psychologin nicht unbemerkt blieb.

»Sie ist Kostümbildnerin und hat sich eine neue Anstellung in einem Theater in einer anderen Stadt gesucht. Daher lebe ich allein«, beendete er hastig die Erklärung und beschleunigte seine Schritte. Sie musste ahnen, dass er darüber nicht sprechen wollte, dennoch konnte sie aus ihrer Haut nicht heraus.

»Leben Sie schon länger getrennt?«

»Das tut hier nichts zur Sache, Dr. Simms.«

Die Psychologin hob die Hände in einer abwehrenden Geste. »In Ordnung. Fahren wir ins Revier, damit ich mir ein Hotelzimmer suchen kann. Somit erspare ich mir viel Fahrerei, und wir können unsere Zusammenarbeit besser koordinieren. Wäre Ihnen das Recht?«

»Sicher.«