Ich besuche die Fleischerei, die von der Justizanstalt Poschovar betrieben wird und das Gefängnis versorgt. Das Steak des vorst-sandhischen Steppenrinds, das mir der Fleischer auf einseitig foliertes Papier legt, ist saftig und preiswerter, als man es sonst wo in unserer Stadt bekommen könnte. Trotzdem sehe ich selten andere Käufer.
Ich packe das Steak in meine Kühlbox und mache mich auf den Weg, strample auf dem Fahrrad die Straße zurück zur Kreuzung. Als ich oben ankomme, hat nicht nur die Ampel, sondern auch mein Kopf eine hochrote Farbe angenommen. Das Handy in meiner Gesäßtasche vibriert, ich ziehe es hervor und gehe ran, während auf der querenden Spur Lastwagen vorbeirauschen. »Hallo?«
»Hey, Cousinchen, es ist Zet!«
Ich erkenne die Stimme. Dennoch erwidere ich: »Ich kenne keinen Z.«
Ein Seufzen, das im Lärm der Autos untergeht. »Ich bin’s, Zhang.«
»Hallo, Zhang, was kann ich für dich tun?«
»Du musst mir einen Gefallen tun.«
»Keine Zeit. Ich muss zum Training.«
»Dann liegt Großmama Phengs genau auf deinem Weg! Kannst du kurz vorbeikommen?«
»Du hast keine Ahnung, wo ich mich gerade befinde, ergo weißt du nicht, ob sich Großmama Phengs auf meinem Weg befindet. Ich habe wirklich keine Zeit.«
»Christie …!«, schnurrt mein Cousin ins Telefon. »Darf ich dich erinnern, wer dich das letzte Mal bei Unwetter zu Long gebracht hat?« Genau da ist sie, die Retourkutsche. Hinfahrt gratis, Rückfahrt doppelt bezahlt. Die Ampel schaltet zögerlich auf Gelb, dann Grün. Ich fühle mich äußerst multitaskingfähig, als ich einhändig in die Pedale trete und bei der Überquerung der Kreuzung keine Bruchlandung hinlege.
»Was willst du?«, schnaufe ich.
»Du musst für mich eine Auslieferung machen.«
»Was? Das kann doch nicht dein Ernst sein!«
»Christie, ich schwöre dir, es geht um Leben und Tod!«
Scheiße, dort vorne nähert sich ein Streifenwagen. Warum sind die hier ständig unterwegs? Ich lege eilig auf, stopfe das Handy durch den Kragen meines T-Shirts in den BH und fahre unauffällig weiter. Als ich den Streifenwagen passiere, pfeife ich diskret vor mich hin. Als wollen mich die Geister bestrafen, beginnt es zu regnen.
Bei ›Großmama Phengs‹ angekommen, bin ich bis auf die Haut durchnässt. ›Großmama Phengs‹ ist ein talanidisches Restaurant, betrieben von Lins und Zhangs gemeinsamer Großmutter. Eigentlich heißt es Das Große Song, doch kaum jemand nennt es so.
Zhang sitzt in der Loge rechts vom Eingang. Sie ist zum Kotzen kitschig eingerichtet und der Familie und Freunden vorbehalten. Dafür, dass es sich am Telefon um eine Sache um Leben und Tod gehandelt hat, wirkt er äußerst entspannt. Er lehnt in der Sitzecke, die Beine in den viel zu engen schwarzen Hosen auf dem Tisch abgelegt, und wippt mit seinen Schuhen. Auf seinem schwarzen T-Shirt sind weiße Kopfhörer abgebildet. Es sind dieselbe sündteure Marke Kopfhörer, aus denen Zhang basslastige Musik in die Ohren wummert. Er hält sich für unglaublich alternativ, läuft mit Jutetasche in die Schule und trägt seine schwarzen Stirnfransen ins Gesicht gekämmt und am Hinterkopf aufgestellt. Damit erinnert er mich immer an einen Igel, der kopfüber in eine Pfütze gestürzt ist. Ich trete näher und lasse die Kühltasche auf die Sitzbank fallen. »Leben und Tod, was?«
Er weist mit schwarz lackierten Fingernägeln auf sich selbst. »Liebste Cousine …« Im Gegensatz zu seiner Großmutter hat er sich nie daran gestört, dass wir genetisch nicht verwandt sind. Und so sehr er eine lästige Pestbeule sein kann, so sehr schätze ich ihn für die Leichtigkeit, mit der wir beide Umgang pflegen. »Für Nekromanten geht es immer um Leben und Tod.«
In meiner Familie fließen zwei spezielle Blutlinien zusammen – die eine Hälfte besitzt das Erbe des Drachen, weitergetragen durch den verstorbenen Großvater, die andere besitzt die Macht der Nekromantie, vererbt durch Großmutter Song.
Jap, richtig gehört. Nekromantie. Totenbeschwörung. Ausgerechnet Zhang hat diese Fähigkeit von Großmama Pheng geerbt. Als ob er sich nicht ohnedies schon für den Nabel dieses Universums hält.
Ich reiße die Augen auf, als ich etwas unter dem Ärmel seines T-Shirts hervorblitzen sehe. »Was … ist … das?«
»Das ist ein Tattoo«, präsentiert mir Zhang stolz seinen Oberarm, der wohl gern einen Bizeps und einen Trizeps geschenkt bekommen würde. Die Farbe ist noch frisch und wirkt aufgemalt. Es zeigt ein grässliches, grünes Gesicht mit vertrockneten Lippen, fehlenden Zähnen, blutigem Zahnfleisch und Augen wie schwarze Löcher. »Nekromantie – ein Zombie … du verstehst?«
»Das ist womöglich das Ekligste, das ich in meinem ganzen Leben gesehen habe.«
Er zuckt mit den Augenbrauen, die er sich heimlich zupft, obwohl er es leugnet. »Das verstehst du nicht, Christie. Das ist eine Nekromanten-Sache – ein Insider, quasi.«
Das geifernde, grüne Gesicht verschwindet unter dem Ärmel. »Was sagt Pheng dazu?«
»Oma? Nicht viel.«
»Ich kann nicht fassen, dass deine Eltern dir das erlaubt haben.«
»Die hatten nicht viel zu erlauben …« Wieder diese typische Geste, bei der er mit Zeigefinger und kleinem Finger auf sich selbst weist, als wäre er das Zentrum dieser Welt. Irgendwie ist er das, zumindest für die Welt von Großmama Pheng und seinen Eltern. Es ist kein Wunder, dass er sich so aufführt – mein Vater nennt ihn nicht umsonst einen verzogenen Fratz. »Abgesehen davon hat Linda doch auch Tattoos«, fügt er trotzig an.
»Zhang«, erwidere ich gereizt. »Linda besitzt keine Tattoos. Das sind Drachenmale! Sie hat sie sich nicht ausgesucht. Und du kannst mir glauben, könnte sie ihre Schuppen loswerden – sie würde es tun.«
Er zuckt nur mit den Schultern.
Ich stoße ein lang gezogenes Seufzen aus. »Also gut, was willst du von mir?«
»Ich habe Auslieferdienst bis sechzehn Uhr, muss aber früher weg.«
Ich schaue auf die Uhr. Es ist halb vier. »Die Auslieferung hättest du machen können, während ich hierhergefahren bin. Mit deinem Auto.«
Zhang zieht die Füße vom Tisch, beugt sich vor und packt meine Hände. »Musste mich hübsch machen. Ich habe ein Date.«
Ich stöhne auf und lass meinen Kopf auf die Tischplatte fallen. »… und ich dachte, es geht nicht schlimmer.«
»Bitte, Christie! Es ist nur eine Auslieferung – zwei Häuser! Komm, es ist wirklich nur …!« Sein Betteln höre ich nicht länger, es läuft wie ein langweiliger Kaufhaus-Singsang im Hintergrund ab. Schlecht gelaunt stapfe ich Richtung Küche und entdecke dabei Pheng.
Großmama Pheng Song ist nicht nur der Name des Restaurants, sie ist dieses Restaurant. Als sie mit Großvater Zuko nach Vesper kam, eröffneten sie zuerst unseren Laden. Sie musste rasch einsehen, dass ein Geschäft mit traditioneller talanidischer Medizin in Poschovar nicht der große Bringer war. Deswegen gründete sie alsbald Das Große Song, und was talanidischer Medizin nicht gelang, gelang talanidischem Essen – es zog die Massen an.
Pheng Song sitzt hinter der dunkelrot lackierten Bar und entdeckt mich mit ihren kalten Augen. Ihre Persönlichkeit erfüllt den gesamten Raum und gibt mir wie immer ein bisschen das Gefühl, ersticken zu müssen. Sie trägt die traditionelle talanidische Robe, die sie wie eine Matrone wirken lässt, obwohl sie nicht dick ist. Die zahlreichen Stoffschichten, die unter der Brust festgebunden werden, lassen jeden dick wirken.
Pheng sitzt in ihrem Kleid wie ein Phönix in seinem Nest, dabei zieht sie an ihrer Zigarettenspitze, die am Ende abgeknickt ist, sodass die Zigarette steil in die Höhe ragt. Das grau bestäubte Haar hat sie zu einem Knoten gebunden. Ich sehe in ihrem Gesicht Parallelen zu dem meines Vaters. Doch das, was ich bei ihm als gütig und warm empfinde, erlebe ich bei ihr als kalt, hart und abweisend.
Pheng lächelt nicht. Vater meint, auch in seiner Kindheit hätte sie niemals gelächelt. Sie muss die Freude in Talanis zurückgelassen haben.
Ich weiß, dass Pheng Song ein schwieriges Leben gehabt hat. Sie wurde früh verheiratet, an einen Mann, der über fünfzehn Jahre älter war als sie selbst und den sie kaum kannte. An einen Drachen, noch dazu.
Vater sagt, Beziehungen zwischen Drachen und Nicht-Drachen sind schwierig. Drachen fühlen sich automatisch zu anderen Drachen hingezogen. Es besteht eine chemische Verbindung, die vermutlich helfen soll, die Art nicht aussterben zu lassen. Ich weiß nicht, ob Pheng ihren Mann Zuko geliebt hat. Aber wie ich es verstanden habe, war es ihm nicht möglich, sie zu lieben. Zumindest nicht, wie sie es gern gehabt hätte.
Das erste und älteste Kind starb kurz nach der Überfahrt von Talanis nach Vesper an Sandelmückenfieber. Dann wurde mein Vater geboren – und Pheng schien zu spüren, dass dieses Kind mehr von dem lieblosen Vater geerbt hatte als von ihr. Das machte die Beziehung zu Long ebenso schwierig, wie sie es zu Zuko war, und bescherte meinem Vater eine kalte Kindheit.
Erst das dritte Kind, Onkel Thien, konnte ihr Ruhe bringen. Wie sie bei Long geahnt hatte, dass er den Drachen in sich trug, so wusste sie bei Thien, dass er ihr selbst ähnlicher war als der restlichen Familie.
Thien zeigte nie Anzeichen nekromantischer Fähigkeiten. Niemand ahnte, dass dieses magische Talent eine Generation überspringen würde. Dann kam Zhangs sechster Geburtstag mitsamt der toten Fliege, die er mit Kraft seiner Gedanken bewegte – selbst dann noch, als Onkel Thien sie bereits zum dritten Mal erschlagen hatte.
Linda, Zhang und ich fanden das damals zum Brüllen komisch. Nur die Erwachsenen lachten nicht.
Ich nicke Großmutter Song zu. »Pheng«, spreche ich sie dreist mit ihrem Vornamen an und weiß, dass es sie innerlich zur Weißglut treibt. Wie ein Vulkan, in dessen Innerem Magma brodelt. Ich spüre ihren Blick wie kaltes Eisen und flüchte in die Küche, um die Lieferungen entgegenzunehmen. Mir schlagen die Hitze und der Geruch von Sojasauce und Frittiertem entgegen und ich bin froh, Pheng entfliehen zu können. Eine der Kellnerinnen grüßt mich und tänzelt mit einem Tablett voller Reisschnaps an mir vorbei. Ich wechsle ein paar Worte mit den beiden Köchen, dann verabschiede ich mich durch den Hintereingang, zwei Lieferungen in den Händen.
Eine Tasche mit säuberlich verpacktem Essen am Lenker, schlenkert mein Fahrrad über den Petrikov-Gürtel, um die letzten beiden Bestellungen abzuliefern. Als ein Regenschauer auf mich niedergeht, hasse ich Zhang mit der Kraft all unserer Ahnen. Ich hoffe, seine Verabredung gibt ihm einen Korb.
Ich fahre entgegen der Einbahn der Poschovarer Heide, eine Straße, die früher einmal ein Teil des Stadtparks gewesen ist, der nur noch ein Fünftel seiner ursprünglichen Größe besitzt. Dort liefere ich das erste Essenspaket ab. Die Poschovarer Heide grenzt heute an drei verschiedene Territorien – sie liegt am Rand der Vorstadt und gehört zum Gebiet der Wegemanns, grenzt allerdings auch ans Stadtparkgelände, das die Devoyes beanspruchen. Vier Straßen weiter westlich beginnt das Arbeiterviertel, aus dem ich gerade komme. Es ist das Gebiet von Großmama Pheng.
Bei der Hausnummer 147 halte ich und kette mein Fahrrad an die Laterne. Das letzte Mal, als ich etwas hier in der Gegend ausgeliefert habe, hat man mir mein Bike geklaut. Nur das aufgeschnittene Fahrradschloss lag noch am Boden.
Der Zettel mit der Adresse weist mich an, an Tür Nummer 7 zu läuten. Es dauert eine Weile, bis der Lautsprecher knackt. »Hallo?«
»Großmama Phengs hier«, antworte ich.
»Tür 7.« Der Türöffner schnarrt, ich stopfe das Papier in die Hosentasche und betrete das Haus.
Das Tor fällt hinter mir ins Schloss, das Geräusch hallt durch das Treppenhaus. Es gibt keinen Aufzug, daher erklimme ich eine Stufe nach der anderen. Tür 1, 2, 3, weiter in den zweiten Stock – 4, 5, 6. Als ich im dritten Stock ankomme, steht Tür 7 ein Stück offen. Musik dringt auf den Gang. Ich trete näher und klopfe vorsichtig, die Tür schwingt dadurch nach innen. Ich sehe einen Schatten, der sich dem Eingang nähert.
Im nächsten Moment erschlägt mich der Geruch.
Es ist, als hätte man ein Tierheim voller räudiger Köter durch den Mahr-Fluss laufen lassen und nun verschanzen sie sich allesamt in dieser Wohnung. Der Geruch von nassem Hund ist allgegenwärtig. Er quillt aus dem Appartement, dringt in meine Nase und legt sich in all seiner regentriefenden Haarigkeit auf meine Zunge.
Ich schlage mir die Hand vor die Nase und lasse dabei fast das Essen fallen. Die Tür wird weiter aufgerissen, ein Mann starrt mich an, als ich nach dem Henkel grapsche.
Hastig ziehe ich die Hand vom Gesicht und versuche, ein Lächeln zustande zu bringen.
Der Mann ist Mitte zwanzig bis Anfang dreißig, besitzt hellbraunes, kurz geschnittenes Haar, das sich im Ansatz wellt und in einen viel längeren Bart übergeht. Unruhig trete ich von einem Bein auf das andere und öffne schließlich den Mund. Ich atme ein (es schmeckt nach Hund, nach nassem, vollgesabbertem Hund) und stoße mit hoher Stimme aus: »Songs hier, ich bringe Ihnen das Essen.« Ich strecke ihm den Sack entgegen. »49,80, bitte.«
Der Mann macht keine Anstalten, die Tüte entgegenzunehmen. Er starrt mich an und wirkt ganz und gar unzufrieden. »Du bist nicht vom Songs«, sagt er. Seine Stimme ist tief und dunkel und raspelt durch meine Gehörgänge.
Diese Aussage überrascht mich, sodass ich einen Moment lang vergesse, die Luft anzuhalten. »W-wie bitte?«, entgegne ich verdattert. Das Paket in meiner Hand zittert, schließlich hat der Typ für ungefähr sieben Leute Essen bestellt.
»Du bist nicht vom Songs. Dort arbeitet ein Junge. Siebzehn, achtzehn Jahre alt. Er beliefert uns immer.«
Meine Augen verengen sich. »Sie reden von meinem Cousin, Zhang. Und falls Sie ihn jemals arbeiten gesehen haben, gratuliere ich Ihnen, denn das geschieht äußerst selten.« Ich zwinge meine Hand ein Stück in die Höhe, sodass der Sack vor seinem Gesicht baumelt. Der Geruch des Essens überdeckt für einen Moment den der Hunde. Seltsam, sollte dieses Rudel bei Regen spazieren gewesen sein, müssten die Tiere aufgestachelt durch die Wohnung laufen, doch es ist weder etwas zu sehen noch zu hören.
Der Typ greift nach seiner Bestellung und nimmt sie widerwillig entgegen. Man könnte meinen, er wäre enttäuscht, dass ich ihn beliefere. Vielleicht steht er heimlich auf meinen Grufti-Cousin? Die Wege der Geister sind unergründlich.
Mit der freien Hand fasst der Typ in seine Hosentasche und fischt einen zerknitterten Fünfziger hervor. »Passt schon«, sagt er und knallt mir die Tür vor der Nase zu.
Ich lecke mir über die Lippen und überlege, ob ich noch einmal anklopfen soll, um dem Typen zu sagen, dass er ein ungehobelter, stinkender Klotz ist, doch ich lasse es. Ich bin schon eine halbe Stunde zu spät fürs Training. Daher laufe ich das Treppenhaus hinunter, zur Tür raus und werfe mich aufs Fahrrad. Als ich losfahre, hör ich, wie aus einem der oberen Fenster ein wölfisches Heulen ertönt. Klingt nach einem gigantischen Biest. Jetzt bin ich froh, den Hundebesitzer nicht angepöbelt zu haben.