Cover

Robin Sloan

DIE SONDERBARE

BUCHHANDLUNG

DES MR. PENUMBRA

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Ruth Keen

Karl Blessing Verlag

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Originaltitel: Mr. Penumbra’s 24-Hour-Bookstore
Originalverlag: Farrar, Straus and Giroux
Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds
für die freundliche Unterstützung dieser Arbeit.
Copyright © 2014 by Karl Blessing Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Geviert, München
Umschlagmotiv: Getty Images/luoman
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-09323-5
V002
www.blessing-verlag.de
www.penguinrandomhouse.de

Für Betty Ann und Jim

INHALT

Die Buchhandlung

Die Bibliothek

Der Turm

Epilog

DIE BUCHHANDLUNG

AUSHILFE GESUCHT

Verloren im Schatten der Regale, falle ich fast von der Leiter. Ich bin jetzt genau auf halber Höhe angelangt. Der Boden der Buchhandlung liegt tief unter mir, die Oberfläche eines Planeten, von dem ich mich weit entfernt habe. Die Regale türmen sich über mir auf, und dort, wo sie enden, ist es dunkel – die Bücher stehen dicht an dicht und lassen kein Licht hindurch. Gut möglich, dass dort auch die Luft dünner ist. Ich glaube, ich habe eine Fledermaus gesehen.

Verzweifelt klammere ich mich fest, eine Hand an der Leiter, die andere am Rand des Regalbretts, sodass meine Knöchel weiß hervortreten. Meine Augen schweifen über eine Reihe von Buchrücken – und da steht es. Das Buch, das ich suche.

Aber fangen wir lieber von vorn an.

Ich heiße Clay Jannon, und mit Papier kam ich damals selten in Berührung.

Die meiste Zeit saß ich am Küchentisch und ging auf meinem Laptop die »Aushilfe gesucht«-Anzeigen durch, nur blinkte irgendwann immer ein Browser-Tab auf, lenkte mich ab und verleitete mich dazu, einem Link zu einem langen Zeitschriftenartikel, etwa über genmanipulierte Weintrauben, zu folgen. Einem zu langen, wie ich fand, weshalb ich ihn meiner Leseliste hinzufügte. Dann klickte ich einen anderen Link an, der zu einer Buchrezension führte. Diese Rezension übertrug ich ebenfalls in meine Leseliste und lud mir das erste Kapitel des Buchs herunter – des dritten aus einer Serie über Vampir-Cops. Anschließend verzog ich mich – die »Aushilfe gesucht«-Anzeigen waren vergessen – ins Wohnzimmer, wo ich mit dem Laptop auf dem Bauch den ganzen Tag las. Ich hatte eine Menge Zeit.

Ich war arbeitslos, eine Folge der großen Lebensmittelketten-Rezession, die Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts über Amerika hereingebrochen war und bankrotte Fastfood-Ketten und verrammelte Sushi-Imperien hinterlassen hatte.

Ich hatte meinen Job im Firmensitz von NewBagel verloren, das sich weder in New York noch an sonst einem für seine Tradition der Bagelherstellung bekannten Ort befand, sondern hier in San Francisco. Das Unternehmen war sehr klein und sehr neu, gegründet von zwei Ex-Googlern, die eine Software zur Entwicklung und Herstellung des idealen Bagels geschrieben hatten: außen glatt und knusprig, innen weich und nicht ganz durchgebacken, so rund wie ein perfekter Kreis. Es war mein erster Job nach der Kunstakademie, und ich fing als Designer an, entwickelte das Marketingmaterial, mit dem der leckere Kringel angepriesen und unter die Leute gebracht wurde: Speisekarten, Coupons, Diagramme, Werbeposter und einmal ein ganzes Photo-Booth-Video für eine Backwarenmesse.

Es gab eine Menge zu tun. Als Erstes bat mich einer der beiden Ex-Googler, mich an einem Neuentwurf des Firmenlogos zu versuchen. Das alte bestand aus einem blassbraunen Kreis, der große fröhliche Buchstaben in allen Regenbogenfarben umschloss und nach MS Paint aussah. Für die Umgestaltung nahm ich eine relativ neue Schrift mit kräftigen schwarzen Serifen, die, wie ich hoffte, ein bisschen an die Kästchen und Dolche des hebräischen Alphabets erinnerte. Es verlieh NewBagel etwas Seriosität und brachte mir einen Preis der Zweigstelle San Francisco vom American Institute of Graphic Arts ein. Als ich dann der anderen Ex-Googlerin gegenüber erwähnte, dass ich programmieren konnte (so lala), übertrug sie mir die Verantwortung für die Website. Also entwarf ich auch dafür ein neues Design und bekam dann einen kleinen Werbeetat, der mir erlaubte, Begriffe wie »Bagel«, »Frühstück« und »Topologie« zu verschlagworten. Ich war außerdem die Stimme von @NewBagel auf Twitter und konnte mit einer Mischung aus Informationshäppchen rund ums Frühstück und digitalen Coupons ein paar Hundert Interessenten anlocken.

Nichts davon könnte man als ruhmreiche neue Errungenschaft der menschlichen Evolution bezeichnen, aber ich habe etwas dabei gelernt. Es ging aufwärts mit mir. Doch dann ging es mit der Wirtschaft bergab, und wie sich herausstellte, bevorzugen die Leute in einer Rezession die guten alten blasigen und länglichen Bagels und interessieren sich nicht für die glatten, Ufo-mäßigen Bagels, nicht einmal für solche mit präzisionsgerebelten Salzkörnern.

Die erfolgsverwöhnten Ex-Googler hatten nicht vor, kampflos unterzugehen. Sie verpassten sich schnell ein neues Image, benannten sich um in Old Jerusalem Bagel Company und verzichteten komplett auf den Algorithmus, sodass die Bagels schwarz angekokelt und ungleichmäßig aussahen. Sie wiesen mich an, die Website altmodisch zu gestalten; eine Aufgabe, die mich seelisch belastete und mir null Preise vom American Institute of Graphic Arts einbrachte. Mein Marketingbudget schrumpfte und verschwand dann ganz. Es gab immer weniger zu tun. Ich lernte nichts und es ging weder aufwärts noch irgendwie weiter mit mir.

Schließlich warfen die Ex-Googler das Handtuch und zogen nach Costa Rica. Die Backöfen erkalteten und die Website erlosch. Für eine Abfindung war kein Geld da, aber ich durfte mein Firmen-MacBook und den Twitter-Account behalten.

So war ich also, nach nicht einmal einem Jahr, wieder ohne Job. Bald wurde klar, dass nicht nur die Lebensmittelketten gelitten hatten. Die Menschen mussten in Motels und Zeltstädte ziehen. Die ganze Wirtschaft glich plötzlich einem einzigen »Reise nach Jerusalem«-Spiel, und ich wusste, dass ich mir einen Stuhl schnappen musste, irgendeinen, und zwar so schnell wie möglich.

Angesichts der Konkurrenz waren meine Aussichten ziemlich düster. Ich hatte Freunde, die wie ich Designer waren, aber sie hatten schon weltberühmte Websites oder raffinierte Touchscreen-Interfaces entworfen, nicht nur das Logo für eine neu gegründete Bagelbude. Ich hatte Freunde, die bei Apple arbeiteten. Mein bester Kumpel, Neel, besaß bereits sein eigenes Unternehmen. Noch ein Jahr bei NewBagel, und ich hätte gut dagestanden, aber so war zu wenig Zeit gewesen, um mir ein Portfolio zusammenzustellen oder auch nur auf irgendeinem Gebiet besonders gute Kenntnisse zu erwerben. Was ich vorzuweisen hatte, war eine Abschlussarbeit über schweizerische Typografie (1957–1983) und eine Website von drei Seiten.

Aber ich blieb mit den »Aushilfe gesucht«-Anzeigen am Ball. Meine Ansprüche sanken rasch. Zuerst war ich fest entschlossen, nur bei einer Firma zu arbeiten, deren Zielsetzung mich überzeugte. Dann fand ich, eine Stelle, bei der ich wenigstens etwas Nützliches lernen könnte, wäre auch in Ordnung. Danach legte ich nur noch Wert darauf, dass das betreffende Unternehmen keinem bösen Zweck diente. Jetzt war ich gerade dabei, meine ganz persönliche Definition von »böse« zu überdenken.

Was mich schließlich rettete, war Papier. Denn es zeigte sich, dass ich mich auf die Jobsuche konzentrieren konnte, solange ich mich vom Internet fernhielt; daher druckte ich mir jedes Mal einen dicken Stapel »Aushilfe gesucht«-Anzeigen aus, verstaute mein Handy in einer Schublade und ging spazieren. Die Anzeigen, die zu viel Berufserfahrung verlangten, zerknüllte ich und warf sie unterwegs in eine der verbeulten grünen Mülltonnen, und wenn ich irgendwann erschöpft in einen Bus stieg, der mich nach Hause bringen würde, steckten zwei oder drei Prospekte, denen ich nachgehen konnte, zusammengefaltet in meiner Gesäßtasche.

Diese Methode brachte mir tatsächlich einen Job ein, aber nicht so, wie ich erwartet hatte.

San Francisco ist ein guter Ort für Spaziergänge, wenn man kräftige Beine hat. Die Stadt ist ein winziges Quadrat, das von steilen Hügeln durchsetzt und auf drei Seiten von Wasser begrenzt ist; infolgedessen öffnen sich einem überall überraschende Ausblicke. Während man noch gedankenverloren mit einer Handvoll Prospekte vor sich hin schlendert, fällt plötzlich der Boden steil ab und man schaut direkt in die Bay hinunter, auf all die bunten, rosa und orange beleuchteten Gebäude entlang der Straße dorthin. Der Baustil von San Francisco hat sich eigentlich nirgendwo sonst im Land durchsetzen können, und selbst wenn man hier lebt und daran gewöhnt ist, ist der Anblick immer wieder befremdlich: die hohen schmalen Häuschen, die Fenster wie Augen und Zähne, die kitschigen Verzierungen. Und hinter allem erhebt sich drohend, sofern man in die richtige Richtung schaut, das rostige Gespenst der Golden Gate Bridge.

Ich war einem dieser merkwürdigen Anblicke über eine Reihe von steilen, stufigen Gehsteigen abwärts gefolgt und dann am Wasser entlang über einen sehr langen Umweg nach Hause gelaufen. Ich ging vorbei an den alten Landungsbrücken – mied aber die lärmende Fischsuppen-Szene am Fisherman’s Pier – und beobachtete, wie Fischrestaurants allmählich in Läden für Bootszubehör und dann in Social-Media-Start-ups übergingen. Als mir schließlich der Magen knurrte und seine Bereitschaft zum Mittagessen signalisierte, wandte ich mich stadteinwärts.

Wenn ich die Straßen von San Francisco entlanglief, hielt ich immer Ausschau nach AUSHILFE-GESUCHT-Schildern in den Läden – was man eigentlich nicht tut, stimmt’s? Wahrscheinlich sollten sie einem eher suspekt sein. Seriöse Arbeitgeber inserieren auf Craigslist.

Und tatsächlich machte »Buchhandlung Penumbra – durchgehend geöffnet« ganz und gar nicht den Eindruck eines seriösen Arbeitgebers:

AUSHILFE GESUCHT

Spätschicht

Spezielle Anforderungen

Gute Zusatzleistungen

Eins vorweg: Ich war mir ziemlich sicher, dass »Buchhandlung Penumbra – durchgehend geöffnet« ein Euphemismus für irgendetwas sein musste. Wir waren hier am Broadway, in einem euphemistischen Stadtviertel. Mein »Aushilfe gesucht«-Spaziergang hatte mich weit von zu Hause fort geführt; der Laden nebenan hieß Booty’s und auf dem Reklameschild wurden Neonbeine abwechselnd übereinandergeschlagen und gespreizt.

Ich stieß die Glastür der Buchhandlung auf. Über mir erklang fröhlich eine Glocke, und ich trat zögernd ein. Mir war damals noch nicht klar, was für eine wichtige Schwelle ich gerade überschritten hatte.

Drinnen: Stellen Sie sich Form und Inhalt einer normalen Buchhandlung vor, bloß hochkant. Der Laden war geradezu absurd eng und schwindelerregend hoch, und die Regale reichten bis zur Decke – drei Stockwerke hoch Bücher, vielleicht sogar mehr. Ich reckte den Hals (warum wird man in Buchläden immer gezwungen, sich den Hals zu verrenken?), und die Regale verschwammen so übergangslos in den schummrigen Höhen, dass ich das Gefühl bekam, sie könnten endlos weitergehen.

Sie drückten sich eng aneinander, und ich meinte, am Rand eines Waldes zu stehen – keines freundlichen kalifornischen Waldes, sondern eines alten transsylvanischen Waldes, eines Waldes voller Wölfe und Hexen und bis an die Zähne bewaffneter Räuber, die dort in der Finsternis lauerten, wohin das Mondlicht nicht gelangte. An den Regalen waren Leitern befestigt, die sich von einer Seite zur anderen schieben ließen. Normalerweise haben solche Leitern einen gewissen Charme, aber so, wie sie hier in die düsteren Höhen ragten, wirkten sie unheilvoll. Sie raunten von Unfällen in der Dunkelheit.

Darum hielt ich mich lieber an die vordere Hälfte des Ladens, wo helles Mittagslicht hereinflutete und die Wölfe vermutlich in Schach hielt. Die Wände neben und über der Tür waren ebenfalls aus Glas, dicke quadratische Fensterscheiben, eingefasst von einem schwarzen eisernen Gitterwerk, und darüber spannte sich (rückwärts gelesen) ein Bogen aus großen goldenen Lettern:

Unterhalb, im Hohlraum des Bogens, saß ein Symbol – zwei Handflächen, die offen auf einem aufgeschlagenen Buch lagen.

Und wer war jetzt Penumbra?

»Hallihallo«, rief eine sanfte Stimme hinter den Stapeln. Eine Gestalt kam zum Vorschein – ein Mann, groß und dürr wie eine der Leitern, in einem hellgrauen Hemd mit Button-down-Kragen und einer blauen Strickjacke. Er wankte etwas und ließ eine lange Hand an den Regalbrettern entlanggleiten, um sich abzustützen. Als er aus dem Schatten trat, sah ich, dass sein Pullover zu seinen Augen passte, die blau waren und in einem Nest aus Falten versanken. Er war sehr alt.

Er nickte mir zu und winkte schwach. »Was hoffst du in diesen Regalen zu finden?«

Es war ein guter Spruch, und aus irgendeinem Grund wirkte er beruhigend auf mich. Ich fragte: »Spreche ich mit Mr. Penumbra?«

»Ich bin Penumbra« – er nickte –, »und ich bin der Hüter dieses Ortes.«

Bevor ich wusste, was ich sagte, war es schon raus: »Ich suche einen Job.«

Penumbra blinzelte einmal, nickte dann und taperte hinüber zu einem Schreibtisch neben der Tür. Es war ein wuchtiger Block aus dunklem, wirteligem Holz, eine solide Festung am Waldesrand. Wahrscheinlich könnte man sie im Fall eines Angriffs aus den Regalen tagelang verteidigen.

»Eine Anstellung.« Penumbra nickte wieder. Er glitt auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch und schaute mich über das massige Ding hinweg an. »Hast du je in einer Buchhandlung gearbeitet?«

»Naja«, sagte ich, »während meines Studiums habe ich in einem Fischrestaurant gekellnert, und der Besitzer verkaufte da sein Kochbuch.« Es hieß The Secret Cod und schilderte in aller Ausführlichkeit einunddreißig verschiedene Arten, wie man einen Kabeljau – na, Sie verstehen schon. »Das zählt wahrscheinlich nicht.«

»Nein, tut es nicht, aber einerlei«, sagte Penumbra. »Vorkenntnisse im Buchhandel werden dir hier kaum von Nutzen sein.«

Moment mal – vielleicht war ich ja doch in einem Erotik-Shop gelandet. Ich blickte mich nach allen Seiten um, konnte aber weder Mieder noch ähnliche Reizwäsche entdecken. Stattdessen lag auf einem niedrigen Tisch gleich neben mir ein Stapel mit angestaubten Dashiell Hammetts. Ein gutes Zeichen.

»Erzähl mir«, sagte Penumbra, »von einem Buch, das du liebst.«

Die Antwort darauf war einfach. Konkurrenzlos. Ich sagte zu ihm: »Mr. Penumbra, es handelt sich nicht um ein einziges Buch, sondern um eine ganze Serie. Stilistisch ist sie nicht überragend und wahrscheinlich ist sie auch zu lang und das Ende ist grauenhaft, aber ich habe sie dreimal gelesen, und ich habe darüber meinen besten Freund kennengelernt, weil wir beide davon besessen waren, damals, als wir in die sechste Klasse gingen.« Ich holte Luft. »Ich liebe die Drachenlied-Chroniken

Penumbra hob eine Augenbraue und lächelte dann. »Das ist gut, sehr gut«, sagte er, und sein Lächeln wurde immer breiter und offenbarte dicht gedrängte weiße Zähne. Dann musterte er mich aus zusammengekniffenen Augen von oben bis unten. »Aber kannst du auch auf eine Leiter klettern?«

Und so kommt es, dass ich jetzt auf dieser Leiter hänge, oben im bodenlosen dritten Stock der Buchhandlung Penumbra. Das Buch, das er mir zu holen aufgetragen hat, heißt AL-ASMARI und steht etwa anderthalbmal so weit, wie mein Arm lang ist, zu meiner Linken. Ich muss eindeutig noch einmal nach unten und die Leiter ein Stück weiterschieben. Aber da steht Penumbra und ruft: »Streck dich, mein Junge! Streck dich!«

Und Mann, bin ich scharf auf diesen Job.

MANTELKNÖPFE

Das war alles vor einem Monat. Inzwischen bin ich Penumbras Verkäufer für die Nachtschicht und klettere die Leitern wie ein Äffchen rauf und runter. Dafür gibt es regelrecht eine Technik. Man schiebt die Leiter an die gewünschte Stelle und lässt die Rollen einrasten, dann geht man in die Hocke und springt gleich auf die dritte oder vierte Sprosse. Man zieht sich mit den Armen hoch, um den Schwung mitzunehmen, und schon hängt man anderthalb Meter in der Luft. Beim Klettern schaut man direkt geradeaus, nicht nach oben, nicht nach unten; man konzentriert sich auf einen Punkt etwa dreißig Zentimeter vor dem Gesicht und lässt die Wälzer in einem Wirbel aus bunten Buchrücken an sich vorbeirauschen. Dann zählt man stumm die Sprossen, und hat man endlich die richtige Ebene erreicht und greift nach dem gesuchten Buch … na, dann streckt man sich natürlich.

Beruflich betrachtet, ist das möglicherweise keine ganz so marktfähige Qualifikation wie Webdesign, aber es macht wahrscheinlich mehr Spaß, und im Moment nehme ich alles, was ich kriegen kann.

Ich wünschte nur, meine neuen Fähigkeiten kämen öfter zum Einsatz. Mr. Penumbras Laden operiert nicht aufgrund eines überwältigend großen Andrangs von Kunden rund um die Uhr. Tatsächlich gibt es kaum welche, und manchmal komme ich mir eher wie ein Nachtwächter vor als wie ein Verkäufer.

Penumbra verkauft gebrauchte Bücher, die aber durch die Bank in einem so ausgezeichneten Zustand sind, dass sie ebenso gut neu sein könnten. Er macht seine Neuerwebungen tagsüber – man kann sie nur dem Mann verkaufen, dessen Name auf dem Schaufenster steht –, und offenbar ist er kein einfacher Kunde. Die Bestsellerlisten scheinen ihn nicht groß zu kümmern. Sein Lagerbestand ist eklektisch; es gibt keinerlei Hinweise auf irgendwelche Standards oder Kriterien außer seinen eigenen Vorlieben, schätze ich mal. Jugendliche Zauberer oder Vampir-Cops wird man also hier vergeblich suchen. Was schade ist, denn es ist genau so ein Laden, in dem man sofort ein Buch über einen jugendlichen Zauberer kaufen will. Es ist ein Laden, in dem man ein jugendlicher Zauberer sein will.

Ich habe meinen Freunden von Penumbras Laden erzählt, und ein paar sind auch vorbeigekommen und haben die Regale in Augenschein genommen und mir beim Erklimmen der staubigen Höhen zugesehen. Normalerweise beschwatze ich sie, irgendwas zu kaufen: einen Roman von Steinbeck, Erzählungen von Borges, einen dicken Tolkien-Wälzer – für all diese Autoren hat Penumbra eindeutig ein Faible, weil er von jedem das Gesamtwerk führt. Wenn gar nichts geht, schicke ich meine Freunde wenigstens mit einer Postkarte nach Hause. Auf dem Schreibtisch vorn liegt ein ganzer Stapel. Darauf ist eine Außenansicht des Ladens abgebildet – eine zarte Federzeichnung, die so alt und uncool ist, dass sie schon wieder cool aussieht –, und Penumbra verkauft sie für einen Dollar das Stück.

Aber von einem Dollar alle paar Stunden kann man nicht mein Gehalt bezahlen. Es ist mir ein Rätsel, wovon mein Gehalt bezahlt wird. Ohnehin ist mir ein Rätsel, wie diese Buchhandlung überleben kann.

Eine Kundin habe ich jetzt schon zweimal gesehen, eine Frau, von der ich mir ziemlich sicher bin, dass sie nebenan bei Booty’s arbeitet. Ich bin mir darum ziemlich sicher, weil sie beide Male waschbärmäßige Schatten aus Mascara um die Augen hatte und nach Rauch roch. Sie hat ein strahlendes Lächeln und matt-dunkelblondes Haar. Ihr Alter lässt sich schwer schätzen – sie könnte eine verlebte Dreiundzwanzigjähre oder eine umwerfende Einunddreißigjährige sein –, und ich weiß auch nicht, wie sie heißt, aber ich weiß, dass sie Biografien mag.

Bei ihrem ersten Besuch hat sie sich in den Regalen im vorderen Bereich umgesehen, hat sie schleppend umrundet, hat sich ab und an geistesabwesend gerekelt und ist dann zu mir an den Schreibtisch neben der Tür gekommen. »Haben Sie die über Steve Jobs?«, fragte sie. Sie trug eine bauschige North-Face-Jacke über einem rosa Tanktop und Jeans, und ihr Tonfall war ein wenig dialektgefärbt.

Ich runzelte die Stirn und sagte: »Wahrscheinlich nicht. Aber schauen wir mal nach.« Penumbra hat eine Datenbank, die auf einem altersschwachen beigefarbenem MacPlus läuft. Ich hämmerte den Namen des Verfassers in die Tastatur und der Mac plingte leise – Treffer. Sie hatte Glück.

Wie bückten uns und durchsuchten die BIOGRAFIE-Abteilung, und da war es: ein einziges Exemplar, das glänzte wie neu. Vielleicht war es einmal als Weihnachtsgeschenk für einen Vater gedacht, der Hightech-Manager war und eigentlich keine Bücher las. Oder Tech-Dad hatte es lieber auf seinem Kindle lesen wollen. Auf jeden Fall hatte es jemand hier verkauft, und es hatte Penumbras Ansprüchen genügt. Ein Wunder.

»Er sah wahnsinnig gut aus«, sagte North Face und betrachtete das Buch, das sie auf Armeslänge vor sich hielt. Steve Jobs schaute uns aus dem weißen Cover entgegen, die Hand am Kinn, auf der Nase eine runde Brille, die ein bisschen der von Penumbra ähnelte.

Eine Woche später kam sie zur Tür hereingehüpft, grinsend und lautlos in die Hände klatschend – was sie eher wie eine Dreiundzwanzigjähre als wie eine Einunddreißigjährige aussehen ließ –, und sagte: »Oh, es war einfach großartig! Aber wissen Sie was« – hier wurde sie ernst –, »er hat noch eins geschrieben, über Einstein.« Sie zeigte mir ihr Handy, das eine Amazon-Produktseite mit Walter Isaacsons Biografie über Albert Einstein zeigte. »Ich hab’s im Internet gefunden, aber ich dachte, ich kauf’s lieber hier?«

So viel ist klar: Es war unglaublich. Der Traum eines jeden Buchhändlers. Eine Stripperin, die sich dem Lauf der Geschichte entgegenstellte und Stopp! schrie – aber als wir unsere Köpfe hoffnungsvoll über den Computer neigten, mussten wir feststellen, dass Penumbras BIOGRAFIE-Abteilung über kein Exemplar von Einstein: His Life and Universe verfügte. Es gab fünf verschiedene Bücher über Richard Feynman, aber rein gar nichts über Einstein. Also sprach Penumbra.

»Echt?«, sagte North Face und machte einen Schmollmund. »Mist. Naja, dann kauf ich’s im Internet, schätze ich. Danke.« Sie ging wieder in die Nacht hinaus und ist seither nicht zurückgekehrt.

Ich will mal ganz ehrlich sein. Wenn ich eine an meinen Erfahrungen beim Bücherkauf gemessene Rangliste nach den Kriterien Bequemlichkeit, Zugänglichkeit und Zufriedenheit aufstellen müsste, würde sie folgendermaßen aussehen:

  1. Die perfekte unabhängige Buchhandlung, wie z. B. das Pygmalion in Berkely.
  2. Ein großer, heller Barnes & Noble. Ich weiß, es ist eine Kette, aber seien wir ehrlich – in diesen Läden fühlt man sich wohl. Besonders in denen mit den großen Sofas.
  3. Der Gang mit den Büchern bei Walmart (gleich neben der Blumenerde).
  4. Die Bordbibliothek der U. S. S. West Virginia, eines Atom-U-Boots tief unter der Wasseroberfläche des Pazifiks.
  5. Buchhandlung Penumbra – durchgehend geöffnet.

Also nahm ich mir vor, das Schiff wieder auf Kurs zu bringen. Nein, ich verstehe nichts vom Management einer Buchhandlung. Nein, ich habe nicht mein Ohr am Puls der Stripklub-Klientel nach Feierabend. Nein, ich habe noch nie irgendwelche Schiffe auf Kurs gebracht, außer einmal, damals, als ich den Fechtklub der Rhode Island School of Design vor dem Bankrott bewahrte, indem ich einen vierundzwanzig Stunden langen Errol-Flynn-Filmmarathon organisierte, falls das zählt. Aber ich weiß genau, welche Dinge Penumbra offensichtlich falsch macht – nämlich Dinge, die er gar nicht macht.

Zum Beispiel Marketing.

Ich habe einen Plan. Zuerst werde ich mich mit ein paar kleinen Erfolgen bewähren, dann um ein Budget bitten, mit dem ich Anzeigen drucken kann, ein paar Poster ins Schaufenster hängen, vielleicht sogar mit einem Werbebanner in der Bushaltestelle draußen, nur ein paar Schritte weiter, groß herauskommen: WARTEN SIE AUF DEN BUS? KOMMEN SIE REIN UND WARTEN SIE BEI UNS! Auf meinem Laptop lasse ich die Seite mit dem Busfahrplan geöffnet, damit ich den Kunden Bescheid sagen kann, dass der nächste in fünf Minuten kommt. Das wird genial.

Aber ich muss klein anfangen, und weil keine Kunden kommen, um mich abzulenken, stürze ich mich in die Arbeit. Als Erstes wähle ich mich über den nicht gesicherten Wi-Fi-Anschluss nebenan, der bootynet heißt, ins Netz ein. Dann nehme ich mir nacheinander die Seiten mit Empfehlungen in der Nachbarschaft vor und schreibe glühende Besprechungen über dieses verborgene Kleinod. Ich schicke freundliche E-Mails mit zwinkernden Emoticons an Blogs aus dem Viertel. Ich gründe eine Facebook-Gruppe mit nur einem Mitglied. Ich melde mich bei Googles mega-umstrittenem Kleinanzeigen-Programm an – dasselbe, das wir bei NewBagel verwendet haben –, mit dem man seine Zielgruppe geradezu abartig präzise einkreisen kann. Ich verwende Merkmale aus dem umfangreichen Formular von Google:

Ich kann nur zehn Dollar dafür ausgeben, also muss ich spezifisch sein.

Das betrifft alles die Nachfrage. Aber ich muss mich auch ums Angebot kümmern, und Penumbras Angebot ist, gelinde gesagt, willkürlich – was aber nur ein Teil der Wahrheit ist. Buchhandlung Penumbra vereint, wie ich jetzt weiß, eigentlich zwei Läden in einem.

Es gibt die mehr oder weniger normale Buchhandlung im vorderen Bereich, eingepfercht in den engen Raum links und rechts neben dem Schreibtisch. Dort stehen niedrige Regale, die als Abteilungen für GESCHICHTE und BIOGRAFIE und LYRIK ausgegeben werden. Darin findet man Aristoteles’ Nikomachische Ethik und Trevanians Shibumi. Diese mehr oder weniger normale Buchhandlung ist unsortiert und frustrierend, aber wenigstens mit Büchern bestückt, die man in einer Bibliothek oder im Internet finden könnte.

Die andere Buchhandlung versteckt sich im rückwärtigen Teil des Ladens, die Ware stapelt sich auf hohen, mit Leitern bestückten Regalen, und sie beherbergt Werke, die, soweit Google weiß, nicht existieren. Glauben Sie mir, ich habe gesucht. Viele von ihnen machen einen altertümlichen Eindruck – rissiges Leder, Titel in Goldprägung –, andere wiederum sind neu gebunden, mit bunten, makellosen Umschlägen. Also sind nicht alle steinalt. Sie sind nur alle … einzigartig.

Diese Abteilung nenne ich die »Ladenhüter«.

Als ich anfing, hier zu arbeiten, hielt ich sie alle bloß für Produkte aus Kleinverlagen. Titel obskurer Amish-Verlage, die sich für die Digitalisierung nicht erwärmen können. Oder ich dachte, es seien sämtlich Publikationen im Selbstverlag – eine ganze Sammlung aus handgebundenen Unikaten, die es nie in die Library of Congress oder sonst wohin geschafft haben. Vielleicht war Penumbras Laden ja so eine Art Waisenhaus.

Aber nach einem Monat meiner Tätigkeit als Buchhändler habe ich allmählich den Eindruck, dass es ein bisschen komplizierter ist. Zu dem zweiten Laden gehört nämlich auch ein zweiter Kundenstamm – eine kleine Gemeinschaft von Leuten, die den Laden umkreisen wie unbekannte Monde. Sie sind kein bisschen wie North Face. Sie sind älter. Sie tauchen mit algorithmischer Regelmäßigkeit auf. Sie stöbern nie. Sie kommen in hellwachem, vollkommen nüchternem Zustand herein und beben vor Ungeduld. Zum Beispiel:

Das Glöckchen über der Tür bimmelt, und noch bevor es wieder verstummt, ruft ein atemloser Mr. Tyndall: »Kingslake! Ich brauche Kingslake!« Dann nimmt er die Hände vom Kopf (ist er wirklich die Straße heruntergerannt und hat dabei die ganze Zeit die Hände an den Kopf gehalten?) und krallt sie in meine Schreibtischkante. Dann wiederholt er in einem Ton, als habe er mir schon einmal mitgeteilt, dass mein Hemd brennt, und unter maßlosem Erstaunen, dass ich nicht umgehend etwas unternehme:

»Kingslake! Schnell!«

Die Datenbank auf dem MacPlus umfasst die regulären Bücher und die Ladenhüter gleichermaßen. Letztere sind nicht nach Titel oder Thema sortiert (haben sie überhaupt ein Thema?), darum ist die Unterstützung des Computers entscheidend. Jetzt gebe ich K-i-n-g-s-l-a-k-e ein und der Mac kurbelt langsam – Tyndall tritt von einem Bein aufs andere –, plingt und zeigt seine kryptische Antwort an. Nicht BIOGRAFIE oder GESCHICHTE oder SCIENCE-FICTION UND FANTASY, sondern: 3–13. Das sind die Ladenhüter, Gang 3, Regal 13, das sich in nur etwa dreieinhalb Metern Höhe befindet.

»Oh, Gott sei Dank, danke, ja, Gott sei Dank«, sagt Tyndall dann ekstatisch. »Hier ist mein Buch« – er zieht irgendwo ein großes Buch hervor, möglicherweise aus seiner Hose; es ist das Exemplar, das er zurückgibt und gegen KINGSLAKE eintauscht –, »und hier ist meine Karte.« Er schiebt eine steife laminierte Karte über den Tresen, die dasselbe Symbol trägt, das auch die Schaufenster ziert. Sie trägt einen kryptischen Code, der kräftig in das dicke Papier gestanzt ist und den ich eingebe. Tyndall ist, wie immer, der mit der Glückszahl 6WNJHY. Ich vertippe mich zweimal.

Nachdem ich auf der Leiter wieder meine Affennummer abgezogen habe, wickle ich KINGSLAKE in braunes Papier. Dann versuche ich mich in Small Talk: »Wie läuft’s denn so diese Nacht, Mr. Tyndall?«

»Oh, sehr gut, jetzt viel besser«, sagt er, erleichtert ausatmend, und nimmt mit zittrigen Händen das Päckchen entgegen. »Es geht voran, langsam, aber sicher! Festina lente, vielen Dank, vielen Dank!« Dann klingelt das Glöckchen ein weiteres Mal, als er eilig auf die Straße hinausläuft. Es ist ungefähr drei Uhr morgens.

Ist es ein Buchklub? Wie wird man Mitglied? Zahlt hier jemand irgendwann auch mal Beitrag?

So etwas frage ich mich, wenn ich allein hier sitze, nachdem Tyndall oder Lapin oder Fedorov gegangen sind. Tyndall ist wahrscheinlich der Schrägste, aber sie sind alle ziemlich schräg: alle ergrauend, besessen, anscheinend aus einer anderen Zeit oder einer anderen Welt importiert. Sie haben keine iPhones. Weder politisches Zeitgeschehen noch Popkultur kommen zur Sprache, noch sonst irgendwas, wenn man’s recht bedenkt, mit Ausnahme der Bücher. Ich halte sie definitiv für einen Klub, obgleich ich keinerlei Anhaltspunkte dafür habe, dass sie sich kennen. Jeder kommt allein und verliert kein Wort über irgendein Thema außer über das Objekt seiner momentanen verzweifelten Leidenschaft.

Ich weiß nicht, was in diesen Büchern steht – und es gehört zu meinem Job, es nicht zu wissen. Nach dem Leitertest damals an dem Tag, als ich eingestellt wurde, stand Penumbra hinter dem großen Schreibtisch, betrachtete mich aus klaren blauen Augen und sagte:

»An diese Arbeit sind drei, jeweils streng zu befolgende, Anforderungen geknüpft. Überleg es dir gut, bevor du sie akzeptierst. Die Angestellten dieser Buchhandlung haben sich seit fast einem Jahrhundert an diese Regeln gehalten, und ich werde nicht zulassen, dass sie jetzt gebrochen werden. Erstens: Du musst immer von Punkt 22 Uhr bis Punkt sechs Uhr hier sein. Du darfst dich nicht verspäten. Du darfst nicht früher gehen. Zweitens: Du darfst die Bücher in den Regalen nicht durchblättern, lesen oder in sonst einer Weise inspizieren. Du darfst sie den Mitgliedern holen. Mehr nicht.«

Ich weiß, was Sie jetzt denken: Dutzende Nächte allein dort, und nie in einen der Bände gelinst? Richtig. Wer weiß, ob nicht Penumbra irgendwo eine Kamera hat. Wenn ich einen Blick riskiere und er es erfährt, bin ich gefeuert. Meine Freunde da draußen gehen massenhaft vor die Hunde; ganze Industriezweige, ganze Teile unseres Landes machen dicht. Ich habe keine Lust, in einem Zelt zu wohnen. Ich brauche diesen Job.

Und außerdem versöhnt die dritte Regel mit der zweiten:

»Du musst alle Transaktionen präzise protokollieren. Die Uhrzeit. Die äußere Erscheinung des Kunden. Seinen Gemütszustand. Wie er nach einem Buch fragt. Wie er es entgegennimmt. Ob er verletzt aussieht. Ob er einen Rosmarinzweig am Hut trägt. Und so weiter.«

Ich schätze, unter normalen Umständen würde einem diese Jobbeschreibung ziemlich gruselig vorkommen. Unter den gegebenen Umständen – mitten in der Nacht Bücher an schrullige Gelehrte verleihen – kommt sie einem vollkommen normal vor. Anstatt also auf die verbotenen Regale zu stieren, verbringe ich meine Zeit damit, über die Kunden zu schreiben.

In meiner ersten Nacht hat mir Penumbra unten im Schreibtisch ein kleines Regal gezeigt, in dem aneinandergereiht ein Satz übergroßer ledergebundener Folianten steht, die bis auf ihre leuchtenden römischen Ziffern auf den Buchrücken alle identisch sind. »Unsere Logbücher«, hat er gesagt und seine Finger über die Reihe gleiten lassen, »die fast ein ganzes Jahrhundert zurückgehen.« Er hat sich den äußersten rechten Band herausgegriffen und ihn mit einem dumpfen Rums auf den Schreibtisch gewuchtet. »Von nun an wirst du mithelfen, sie weiterzuführen.« Der Einband des Logbuchs trug das tief eingeprägte Wort NARRATIO und ein Symbol – das Symbol aus dem Schaufenster. Zwei Hände, geöffnet wie ein Buch.

»Schlag es auf«, hat Penumbra gesagt.

Die Seiten im Inneren waren breit und grau und von Hand mit dunklen Buchstaben vollgeschrieben. Es gab auch Skizzen: Miniaturporträts von Männern mit Bärten, dichte geometrische Kritzeleien. Penumbra hat die Seiten hochgestemmt und die von einem Lesezeichen markierte Stelle etwa in der Mitte gefunden, wo die Schrift endete. »Du notierst die Namen, die Uhrzeit und die Titel«, hat er gesagt und auf die Seite getippt, »aber auch, wie gesagt, das Verhalten und die äußere Erscheinung. Wir führen über jedes Mitglied Buch und über jeden Kunden, der vielleicht einmal Mitglied wird, damit wir ihre Arbeit verfolgen können.« Dann hielt er inne und fügte hinzu: »Manche von ihnen arbeiten wirklich sehr schwer.«

»Was tun sie?«

»Mein Junge!«, sagte er und sah mich erstaunt an, als könne nichts offensichtlicher sein: »Sie lesen.«

Darum tue ich mein Bestes, um auf den Seiten des Buchs mit dem Titel NARRATIO, Nummer IX, ein klares, akkurates Protokoll dessen zu erstellen, was sich während meiner Schicht ereignet, und nur gelegentlich bringe ich einen kleinen literarischen Schnörkel an. Ich schätze, man könnte sagen, dass Regel Nummer zwei nicht ganz unumstößlich ist. Denn eins von den merkwürdigen Büchern bei Penumbra darf ich anfassen. Es ist das, das ich schreibe.

Wenn ich Penumbra morgens sehe und wir Besuch von einem Kunden hatten, will er wissen, wie es war. Ich lese ihm dann etwas aus dem Logbuch vor, und er schenkt meinen Betrachtungen ein freundliches Nicken. Aber dann hakt er nach: »Eine beachtliche Charakterisierung Mr. Tyndalls«, sagt er. »Aber entsinnst du dich auch, ob seine Mantelknöpfe aus Perlmutt waren? Oder aus Horn? Vielleicht aus irgendeinem Metall? Kupfer?«

Ja, okay: Es wirkt tatsächlich seltsam, dass Penumbra dieses Dossier führt. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, welchem Zweck das Ganze dienen soll, weder einen guten noch einen bösen. Aber wenn Menschen ein gewisses Alter erreicht haben, hört man irgendwie auf, sie zu fragen, warum sie bestimmte Dinge tun. Es könnte gefährlich sein. Was wäre, wenn man sagt, Mr. Penumbra, warum wollen Sie wissen, wie die Mantelknöpfe von Mr. Tyndall beschaffen sind? Und er dann vielleicht verstummt und sich am Kinn kratzt und eine peinliche Pause folgt – und uns beiden klar wird, dass er sich nicht erinnern kann?

Oder was, wenn er mich auf der Stelle rausschmeißt?

Penumbra behält seine Meinung für sich, und die Botschaft lautet eindeutig: Mach deinen Job, stell keine Fragen. Mein Freund Aaron ist letzte Woche entlassen worden und zieht jetzt wieder bei seinen Eltern in Sacramento ein. Bei dieser wirtschaftlichen Großwetterlage ziehe ich es vor, Penumbras Grenzen nicht auszuloten. Ich brauche diesen Stuhl.

Mr. Tyndalls Mantelknöpfe waren aus Jade.