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Leonardo Boff / Luigi Zoja
Die Wahrheit ist größer

topos taschenbücher, Band 1061
Eine Produktion der Verlagsgemeinschaft topos plus

Leonardo Boff / Luigi Zoja

Die Wahrheit ist größer

Der Weg eines unbequemen Theologen

Ins Deutsche übersetzt von Bruno Kern

topos taschenbücher

Verlagsgemeinschaft topos plus

Butzon & Bercker, Kevelaer

Don Bosco, München

Echter, Würzburg

Lahn-Verlag, Kevelaer

Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern

Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)

Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Tyrolia, Innsbruck

Eine Initiative der
Verlagsgruppe engagement

www.topos-taschenbuecher.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8367-1061-9

E-Book (PDF): ISBN 978-3-8367-5053-0

E-Pub: ISBN 987-3-8367-6053-9

2016 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer

Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen bei

der Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer

Originaltitel: Tra eresie e verità, Chiaralettere, Mailand 2014

© Leonardo Boff

© Luigi Zoja

Umschlagabbildung: © http://www.leonardoboff.com

Einband- und Reihengestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau

Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg

Inhalt

Zu Beginn

Ich komme aus der Jungsteinzeit

An der Peripherie der Kirche: Die Theologie der Befreiung

Die Verurteilung durch Ratzinger und Wojtyla

Option für die Erde: Die neue Herausforderung für die Theologie

C.G. Jung als Gesprächspartner: Ganzheitliche Befreiung

Die neue Kirche des Papstes Franziskus

Literatur

Zu Beginn

Luigi Zoja

Zu Beginn möchte ich gern in Erinnerung rufen, wie wir uns kennengelernt haben. Es war im Jahr 2010. Ich war gerade nach Rio de Janeiro gekommen, um einen Studientag zur Psychoanalyse von C.G. Jung zu eröffnen. Als ich mir das Programm des vorherigen Tages ansah, sah ich, dass ein gewisser „L. Boff“ mit seiner Rede die gesamte Veranstaltung eingeleitet hatte. Ich fragte, ob das eine zufällige Namensgleichheit sei, aber man bestätigte mir, dass es sich tatsächlich um den Theologen Leonardo Boff, einen der Gründungsväter der Theologie der Befreiung, handle.

Ich musste dann an meine eigene Vergangenheit denken, als wir vor dreißig Jahren als Jugendliche den Namen Leonardo Boff ständig im Mund führten. Meine brasilianischen Kollegen klärten mich darüber auf, dass Boff zwar aufgrund der vatikanischen Zensur in Italien in der öffentlichen Debatte an den Rand gedrängt wurde, dass er aber in Brasilien weiterhin einer der einflussreichsten Denker sei. Und das Feld seiner Interessensgebiete habe sich ebenso erweitert wie sein Aktionsradius. Während der Siebziger- und Achtzigerjahre haben sich die progressiven Kräfte in Lateinamerika im Wesentlichen auf soziale Fragen konzentriert. In sozialer Hinsicht war Südamerika, und insbesondere Brasilien, ein Negativbeispiel. Die Unterschiede zwischen Reich und Arm waren extrem groß und völlig inakzeptabel. Heute ist Brasilien eines der wenigen Länder, in denen sich die Einkommensunterschiede verringert haben, während man weltweit eine drastische Zunahme der sozialen Ungleichheit beobachten kann. Das habe ich in meinem Buch Utopie minimaliste aus psychologischer Perspektive zu analysieren versucht.

Ich komme auf den erwähnten Kongress über C.G. Jung in Rio de Janeiro zurück: Meine brasilianischen Kollegen erläuterten mir, dass Boff sich über das soziale Thema hinaus, das im Zentrum der Theologie der Befreiung steht, immer stärker mit Umweltfragen beschäftigt habe. Das ist für die politisch progressiven Kräfte entscheidend, vor allem in einem Land wie Brasilien, wo die zerstörerischsten und zugleich profitabelsten Geschäfte nicht im Bereich der Industrieproduktion, sondern mit der „Inwertsetzung“ der Wälder gemacht werden. Und schließlich stellen diese Wälder die größte Fläche unversehrter Natur auf dem ganzen Planeten dar.

Boff hat zur Thematik der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit nicht nur die Ökologie hinzugenommen, sondern auch sein Engagement auf dem Gebiet der Anthropologie fortgesetzt. Die eingeborenen Völker Südamerikas, die Indigenas im Landesinneren, sind die am meisten Verzweifelten von allen. Sie sind Opfer im wahrsten Sinne des Wortes. Sie sind einer radikalen wirtschaftlichen Ausbeutung und einer physischen Vernichtung ausgeliefert, die einem allmählichen Genozid gleichkommt. Im Unterschied zu den Arbeitern, die zwar am Rand der Gesellschaft angesiedelt sind, aber immerhin noch in gewissem Maß in die Gesellschaft integriert sind, verlieren die Indigenas auch ihre Kultur und ihre Bräuche und versinken in Verzweiflung und Alkohol. Boff hat sich zu einem hervorragenden Kenner ihrer Mythen und Religionen entwickelt. Für das Verständnis dieses Gebietes ist der Begriff des „kollektiven Unbewussten“, den uns C.G. Jung überliefert hat, entscheidend. Boff selbst ist zu einem Experten dieses Gründervaters der Psychoanalyse geworden. Als die portugiesische Gesamtausgabe C.G. Jungs vorbereitet wurde, hat man ihn deshalb um seine Mitarbeit und die Durchsicht auf sachliche Richtigkeit gebeten. Als ich auf dem brasilianischen Kongress von all dem erfuhr, habe ich zusammen mit einigen brasilianischen Kollegen vorgeschlagen, dass man Boff zum Ehrenmitglied der Internationalen Gesellschaft für Analytische Psychologie (IAAP) mache. Diese Initiative hatte schließlich im August 2013 auf dem internationalen Kongress in Kopenhagen Erfolg. In eben diesem Monat fand auch das Gespräch statt, aus dem dieses Buch hervorging. In Kopenhagen empfingen die dort versammelten Psychoanalytiker Boff äußerst herzlich. Boff kommt das Verdienst zu, dass er in seiner originellen Rezeption der Psychoanalyse den Jung’schen Begriff des Archetyps mit der indigenen Auffassung von der Pacha Mama, der Muttergottheit oder der Mutter Erde, in Verbindung brachte, die einen Bestandteil der Vorstellungswelt vieler südamerikanischer Länder bildet und dort besonders wichtig ist, wo die autochthonen Völker stark vertreten sind, wie etwa in Bolivien oder Ecuador. In diesen beiden Ländern fand der Begriff sogar Eingang in die Verfassung und Gesetzgebung und hat den Anstoß für politische Programme gegeben, die den Respekt vor der Natur und den indigenen Traditionen zum Ziel haben (auch darauf habe ich in meinem bereits erwähnten Buch Utopie minimaliste hingewiesen).

Lieber Leonardo, könnte man behaupten, dass dir die psychologische Dimension im Lauf deines Lebens immer wichtiger wurde?

Leonardo Boff

Ich möchte zu Beginn gern an ein Ereignis erinnern, auf das ich sehr stolz bin. Im Jahr 1991 verlieh mir die Universität Turin die Ehrendoktorwürde für Politikwissenschaften. Norberto Bobbio hatte die Aufgabe, mir den Titel Doktor honoris causa zu verleihen, und ich erinnere mich, dass ich in meiner Rede anlässlich dieser Verleihung folgenden Satz formulierte: „Ich komme aus der Jungsteinzeit, ich habe alle Etappen der Menschheitsgeschichte durchlaufen, bis ich in der Moderne angekommen bin.“ Bobbio musste lachen. Dieser Satz bringt aber tatsächlich zum Ausdruck, welchen Weg ich seit meiner Kindheit zurückgelegt habe. Ich wuchs in einer Welt auf, in der die Vorzeit und die Moderne aufeinanderstießen und sich gegenseitig verunreinigten. Selbst heute leben viele Indigenas aus dem Amazonasgebiet wie vor zwanzigtausend Jahren. Sie wissen nicht einmal, dass es einen Staat namens Brasilien gibt. Und es ist interessant, sich klarzumachen, dass es unsere Zeitgenossen sind! Wir bilden den in technischer Hinsicht fortschrittlichsten Teil der Menschheit, sie hingegen den primitivsten. Sie stehen der Natur, der Mutter Erde, am nächsten.

Die Indigenas können uns viele Dinge beibringen: die Achtung vor der Umwelt, das Verhältnis der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Mensch und Natur, den Freiheitssinn. Wenn man sich bei ihnen aufhält, dann merkt man, dass das Paradies keineswegs verloren gegangen ist. Sie verhalten sich solidarisch, sie haben Respekt vor den Kindern und vor den Alten, sie begegnen der Natur und dem Leben in einer zutiefst religiösen Haltung. Das ist ein Empfinden, das der westlichen Kultur völlig fremd ist. In vielen „primitiven“ Kulturen ist es üblich, die Erde um Vergebung zu bitten, bevor man sie pflügt. Ich bin davon überzeugt, dass diese Art von Ritualen der direkte Ausdruck von Haltungen ist, die eng mit der Psychologie der Archetypen, der inneren Bedürfnisse zusammenhängen, die uns stets begleitet haben und die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts sowohl in den zwischenmenschlichen Beziehungen als auch zwischen dem Menschen und seiner Umgebung ermöglichen.

All das stand am Ursprung meines Interesses für die psychologische Dimension des Menschen. Jung hat intuitiv erfasst, dass unsere Art und Weise, den Planeten auszuplündern, letztlich in einer globalen Krise münden wird und dass ein Wandel nur auf der Grundlage einer neuen und tiefen Beziehung zu allem, was unser eigenes Ich umgibt, stattfinden kann. Die Achtung vor der Erde als einzigartigem Lebenssystem ist ein Archetyp, den es wiederzubeleben gilt und der zur Dimension des Heiligen gehört. Dies hat Jung sehr gut verstanden. Bei den Andenvölkern ist die Verehrung der Pacha Mama, der Göttin der Erde und der Fruchtbarkeit, die für uns all das bereithält, was zum Leben nötig ist, nach wie vor lebendig. Unsere Kultur hat den Menschen von der Natur getrennt und ihn dazu angetrieben, sie zu beherrschen, bis er schließlich den Sinn für das umfassende Ganze zerstört hat, der jede spirituelle Lebenseinstellung kennzeichnet. Die Religionen verehren die heiligen Schriften, die geweihte Hostie oder die Kultstätte und sind dennoch nicht in der Lage, sich dem Geheimnis der Welt und der Energie zu öffnen, die das ganze Universum am Leben hält. Diese spirituelle Leerstelle ist eines der größten Probleme der Moderne. Die Theologie behauptet, dass alle Aspekte der Schöpfung Symbole und Zeichen sind, die auf den Schöpfer selbst verweisen – Natursakramente. Doch das ist nur toter Buchstabe, denn die Menschheit lebt diese Dimension nicht. Wir haben uns den indigenen Völkern genähert, um sie auszulöschen, weil ihnen der Sinn für das Privateigentum fehlte. Es geht hier um eine Geschichte, die ich persönlich während der schrecklichen Jahre der lateinamerikanischen Diktaturen erlebt habe. Ich habe miterlebt, wie gewaltsam das brasilianische Regime gegen die Dominikanerbrüder Frei Betto, Pater Titus und Pater Ivo vorging und wie die Theologie der Befreiung von Teilen der römischen Kirche verdammt wurde.

All das erinnert mich an die Geschichte meiner eigenen Familie, die auf der Suche nach bebaubarem Land nach Brasilien auswanderte, und an die Zeit meiner eigenen Ausbildung, an die Jahre, die ich in München verbrachte, wo ich Lehrer wie Karl Rahner und Wolfhart Pannenberg hatte und wo ich so viel von Naturwissenschaftlern lernte, die offen für den Dialog waren, über eine unglaubliche humanistische Kultur verfügten und auch an der theologischen Fakultät Seminare durchführten. Ich erinnere mich besonders an den Physiker Werner Heisenberg. In München kam es auch zur ersten Begegnung mit Joseph Ratzinger, der die Veröffentlichung meiner Doktorarbeit leidenschaftlich unterstützte und später als Präfekt der Glaubenskongregation meine Schriften verurteilte und mir ein einjähriges „Bußschweigen“ auferlegte. Ein Abenteuer, das sich über die ganze zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts erstreckte. Aber der Reihe nach.

Ich komme aus der Jungsteinzeit

Luigi Zoja

Erzähle uns etwas von deiner Kindheit. Welche Sprache habt ihr zu Hause gesprochen? Was haben deine Eltern gemacht?

Leonardo Boff

Ich stamme aus einer Familie aus der Region Venetien, genauer gesagt aus einem Dorf namens Col dei Bof in der Gemeinde Seren del Grappa, die in der Provinz Belluno liegt. Ende des 19. Jahrhunderts waren meine Großeltern nach Brasilien ausgewandert und hatten sich im Süden des Landes niedergelassen. Wenig später, in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts, siedelten deren Kinder in den Bundesstaat Santa Catarina um, der ein wenig weiter im Norden liegt. Das war damals eine Wildnis, die nur von einer Handvoll Indigenas bewohnt war. Mein Vater übte das Amt des Lehrers, des Friedensrichters und des Leiters der Gemeinde aus. Er hatte sich mitten im Wald niedergelassen und sprach ausschließlich den venetianischen Dialekt. In der Umgebung gab es auch Siedlungen von Deutschen und Polen. Die Deutschen waren Lutheraner.

Jede Gruppe, die sich auf den Weg machte, um eine Siedlung zu gründen, hatte einen Lehrer, einen Priester und alle anderen Personen dabei, die für das Funktionieren einer kleinen Dorfgemeinschaft nötig waren. Mein Vater war 1911 geboren. Er war bei den Jesuiten zur Schule gegangen und konnte einigermaßen Latein und Altgriechisch. Er war inspiriert von dem, was später die „Pädagogik der Unterdrückten“ genannt werden sollte, wie sie der brasilianische Denker Paulo Freire in seiner Arbeit mit den Armen und Analphabeten entwickelt hat. In der Schule brachte mein Vater den Kindern nicht nur lesen, schreiben und rechnen bei, sondern auch alles, was den Dorfbewohnern nützlich sein konnte, wenn es darum ging, ein Haus zu bauen, einen Brunnen zu graben, einen catavento in Betrieb zu nehmen. Das ist eine kleine Windmühle zur Stromerzeugung mit vielen Flügeln, auch unter der Bezeichnung „amerikanische Mühle“ bekannt.

Luigi Zola

Wie kam es zur Entscheidung, eine Siedlung zu errichten? Ging die Initiative von der politischen Ebene aus oder war es die spontane Entscheidung einer Gruppe von Menschen, die Land brauchten?

Leonardo Boff

Jede Familie hatte zwischen zehn und zwanzig Kinder, und es gab nicht genug Land für sie alle. Das zwang sie dazu, fortzuziehen. Unsere Großeltern waren nach Lateinamerika ausgewandert, weil es in Italien zu wenig Land gab. Und in Brasilien kam es zum gleichen Problem.

Heutzutage ist der Bundesstaat Santa Catarina, in dem ich geboren wurde, sehr reich und hoch entwickelt, doch in den Dreißigerjahren gab es da nichts als Wald. Der Wandel vollzog sich sehr rasch und tiefgehend, so wie in Brasilien insgesamt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Brasilien etwa 50 Millionen Einwohner; heute sind es bereits 194 Millionen.1

Im Süden gab es eine andere Flora als im Amazonasgebiet. Sie bestand vor allem aus sehr alten Pinien. Die Waldgebiete waren wirtschaftlicher, denn man konnte sie viel leichter abholzen. Ein Teil des Waldes ist zerstört worden, wird aber heute wieder aufgeforstet. Die Winter sind kalt und es schneit, doch im Sommer ist die Temperatur angenehm. Außer den Kindern der Siedler (Italiener, Polen, Deutsche) gehörten zur Bevölkerung noch die indigenen Familien. Sie lebten von Mais, von der Jagd und vom Fischfang. Sie hatten wenige Kinder, denn viele starben an Krankheiten oder Unterernährung.

Die Männer unseres kleinen Kaffs gingen zur Jagd, und im Sommer wurde der Tisch mit Wein, Radiccio und polenta e osei2, typisch venetianischen Gerichten, gedeckt. Jede Familie hatte einen kleinen Weinberg, um den Wein für den eigenen Gebrauch zu produzieren. Zu Hause vermischten wir ihn mit Wasser und sagten voller Ehrfurcht: „Wie es der Herr getan hat.“ Es wurde auch Grappa oder Schnaps gebrannt, mit dem man den Kaffee verfeinerte oder den man als Apperitiv trank. Auch heute noch brennt jede Familie ihren eigenen graspa, wie man in Brasilien sagt. Als ich das erste Mal nach Feltre und Seren del Grappa reiste, um das Land meiner Vorfahren kennenzulernen, fühlte ich mich wie zu Hause: dieselben Blumen, dasselbe Essen, dieselben Getränke, dieselbe Art zu sprechen. Wir waren erst in der zweiten Generation Brasilianer.

Das kleine Dorf, an dessen Gründung mein Vater beteiligt war, ist heute eine bedeutende Stadt mit fast 80.000 Einwohnern. Sie heißt Concórdia. Hier ist auch der Firmensitz von Sadia, einer der größten Lebensmittelfirmen Brasiliens, die Fleisch und andere Nahrungsmittel in die ganze Welt exportiert. Ich wurde im Jahr 1938 geboren. In der Schule erteilte mein Vater den Unterricht in Portugiesisch, doch zu Hause sprach er seinen venetianischen Dialekt. Den bestimmenden kulturellen Einfluss übten die Deutschen aus, die ausschließlich Deutsch sprachen und nicht mit uns verkehrten. In der Schule sah ich die deutschen Mädchen, blond und hübsch, aber ich glaubte, sie würden allesamt in die Hölle kommen, weil sie Protestanten sind. Was für eine Sünde! Es gab auch einige Indigenas, die überlebt hatten. Sie verbreiteten einen Gestank von Ruß und Schmutz, aber mein Vater zwang uns, uns neben sie zu setzen, um zu zeigen, dass wir ihre Familien unterstützten, die Opfer von Ausgrenzung und Diskriminierung waren.

Luigi Zoja

War das eine öffentliche oder eine private Schule?

Leonardo Boff

Es war eine von der Gemeinde selbst organisierte Dienstleistung, die die Anerkennung der lokalen Behörde genoss. Der Lehrer wurde mit Wassermelonen, Mais, Reis und anderem Getreide bezahlt. Den Zehnten bekam der Lehrer, nicht der Gemeindepriester. Deshalb gab es bei uns zu Hause reichlich Nahrungsmittel, Schweinefleisch, Hühnerfleisch und sogar Wild, da viele auf die Jagd gingen. Es war eine Art jungsteinzeitliche Gesellschaft. Es gab keine städtische Kultur, nur unmittelbare Beziehungen, und diese Gesellschaft wurde aus dem Nichts geschaffen. Mein Vater zum Beispiel hatte ein wenig Medizin studiert und stellte ein Antibiotikum auf der Basis von Penicillin her. In der Gemeinde hatten wir keine Ärzte. Man rief meinen Vater zu jeder Tages- und Nachtzeit, er versuchte die Krankheitssymptome zu deuten und verabreichte die Medikamente. Auf diese Weise heilte er viele Leute.

Mein Vater hatte einen italienischen Namen: Mansuetto, mit doppeltem t. Das bedeutet „sanft“, und er war tatsächlich ein sehr ruhiger Mann. Meine Mutter war Analphabetin, sie konnte nicht lesen und wollte es auch nie lernen. Sie arbeitete auf dem Feld und im Haushalt. Sie hatte elf Kinder: sechs Mädchen und fünf Jungs. Unsere Familie war die kleinste in der Gegend. Einer meiner Onkel hatte 21 Kinder und ein anderer 19. Für die Feldarbeit brauchte man viele Arbeitskräfte.

Luigi Zoja

War dieses an Früchten der Natur und Tieren für die Jagd so reiche Land mit Flüssen voller Fische noch nicht bewohnt, bevor die Siedler kamen?

Leonardo Boff

Doch, vom Volk der Kaingang, ein Volk, das ein großes Gebiet in Südbrasilien bewohnte und heute fast ganz ausgelöscht ist. Die Siedler vertraten den Standpunkt, man müsse „das Gelände säubern“, denn die Indigenas hatten keinen Begriff vom Privateigentum. Wenn sie irgendwo eine Hacke sahen, dann nahmen sie sie einfach mit. An den Wochenenden zogen Polen, Italiener und Deutsche aus, um Jagd auf sie zu machen. Sie töteten sie und begruben sie an Ort und Stelle. Einer meiner entfernten Verwandten erzählte mir, dass er mit seiner Flinte eine Indianerin erschossen hatte, die in einer Baumkrone Zuflucht gesucht hatte. Das sind wirklich tragische Geschichten. In der ganzen Gegend gab es nur sehr wenige Indigenas, die überleben konnten. Die Stadt Blumenau in Santa Catarina verdankt ihren Namen einem Arzt, der Anführer der Siedler gewesen war. Um die Ankunft der Siedler vorzubereiten, machte er sich daran, die „Gegend zu säubern“, und machte Jagd auf alle Indios.

Luigi Zoja

Der Ausdruck, den du benutzt hast, erinnert an das deutsche Wort Flurbereinigung, das ursprünglich die Vorbereitung des Bodens für die Aussaat meint, indem man das Unkraut jätet und die Reste der letzten Ernte beseitigt. Auch die Programme der Nazis zur ethnischen Säuberung hatten die Auffassung zur Grundlage, dass diese Menschen eine Art Unkraut sind.

Leonardo Boff

Genau. Etwas, das man unterdrücken muss.

Luigi Zoja

So wurden also die Indigenas von den aus Europa stammenden Siedlern fast vollständig ausgerottet, die Jagd auf sie machten, als wären sie wilde Tiere. Wurde denn keiner der Siedler wegen Mordes angeklagt?

Leonardo Boff

Überhaupt nicht. Man fasste das als ein Werk der Nächstenliebe auf und betrachtete das nicht als Verbrechen.

Luigi Zoja

Möglicherweise erhielten sie sogar eine Belohnung dafür.

Leonardo Boff