Die Liebe, das Verlangen, die Lüste − kaum etwas hat die Menschen, quer durch die Zeiten, mehr fasziniert als der Eros. Aber mit der angenehmen erotischen Erfahrung gehen seit jeher unangenehme Irritationen einher: Wie lassen sich die überbordenden Lüste mäßigen? Was ist das richtige Maß im Umgang mit den Lüsten? Denn die am erotischen Spiel Beteiligten laufen Gefahr, zu bloßen Sklaven der Lust zu werden. Oder sie werden um der Lust willen nur »benutzt«, verletzt, entwürdigt.

In der Antike kümmerte sich die Philosophie um solche Fragestellungen, die der modernen Philosophie keiner Beachtung mehr würdig zu sein scheinen − ohne daß man sagen könnte, die entsprechenden Erfahrungen seien modernen Menschen fremd. Wer Erotik und Asketik wieder zum Gegenstand einer bewußten Lebensführung machen will, kann sich inspirieren lassen von der antiken Philosophie, für die der richtige Umgang mit den Lüsten ganz selbstverständlich ein grundlegender Bestandteil der Lebenskunst war.

Wilhelm Schmid, einem breiten Publikum bekannt geworden durch sein Buch Philosophie der Lebenskunst (1998, stw 1385), skizziert die antike Landschaft des Denkens der Lüste, in deren Umfeld die Philosophie überhaupt erst »geboren« worden ist. Er folgt dabei Überlegungen des französischen Philosophen Michel Foucault (1926-1984) und interpretiert das wichtigste Werk der antiken Philosophie des Eros, Platons Symposion, neu. Denn hier wird ein Denken entfaltet, das große Bedeutung für die abendländische Kultur gewinnen sollte: Entgöttlichung des Eros und seine Anbindung an das Subjekt, das für ihn nun Verantwortung trägt; Umwendung der Macht der Lust in das Verlangen nach Wahrheit; Orientierung des Lebens an der Idee der Schönheit, die zum Leitstern für die philosophische Lebenskunst wird.

Wilhelm Schmid, geb. 1953, lebt in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden (2014), Vom Glück der Freundschaft (2014) und Dem Leben Sinn geben. Von der Lebenskunst im Umgang mit Anderen und der Welt (st 4570).

Wilhelm Schmid

Die Geburt der Philosophie
im Garten der Lüste

Michel Foucaults Archäologie
des platonischen Eros

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 4. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 3215.

© 1987 Athenäum Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Suhrkamp Taschenbuch Verlag

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Umschlagfoto: »Liebespaar«, Vasenmalerei auf einer Weinkanne, dem Schuwalow-Maler zugeschrieben, um 430 v. Chr. Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz / Antikensammlung, Staatliche Museen zu Berlin. Foto: Johannes Laurentius

Umschlaggestaltung: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-75063-6

www.suhrkamp.de

Inhalt

Vorwort

»Reise nach Griechenland«

Ars erotica und Scientia sexualis

Philosophie der Beziehung und Subjektphilosophie

L’usage des plaisirs: Archäologie einer »Ästhetik der Existenz«

Foucaults Theorie über den
»Gebrauch der Lüste« in der Antike

Die moralische Problematisierung der Lüste

Der Begriff der Lüste und die Frage nach ihrem Gebrauch Energeia, Enkrateia und Sophrosyne Freiheit, Wahrheit und Schönheit

Diätetische Moral und Kunst der Ökonomie

Diaita und Aphrodisia Risiken und Gefahren im Umgang mit den Lüsten Das Spiel der Liebe in der Institution der Ehe

Erotische Kunst und wahre Liebe

Die Problematisierung der Beziehung zum Knaben Das Objekt der Lüste und die Frage der Ehre Eros und Wahrheit

Das Exempel des Begriffs »tokos en kalō«
in Platons Symposion

Die sokratische Problematisierung des Eros

Der Übergang zur Frage nach dem Wesen des Eros Der Übergang zur Frage nach dem wahren Objekt des Eros Eros und Tokos

Die Entfaltung des Begriffs »tokos en kalō«

Der Begriff Tokos »Tokos en kalō« Tokos und der Nutzen des Eros

Absehung vom Leib und Aufstieg zur Schönheit

Übergang zur Konvergenz der Liebe und zum Gebrauch des vielfältig Schönen Übergang zur Wissensliebe; »Tokos en philosophia« Tokos und wahres Objekt des Eros

»Sōkratēs hybristēs«

Ars erotica und platonische Techne

Liebeskunst und Wahrheitsbezug:
Die Ars erotica der Philosophie

Die Aporie des Alkibiades

Anhang

Anmerkungen

Bibliographie

Vorwort

Dieses Buch erwuchs aus einem einjährigen Studienaufenthalt in Paris. In der Entwicklung der modernen französischen Philosophie, in Strukturalismus und Poststrukturalismus hatte ich seit längerem schon die eigene Erfahrung und Wahrnehmung, das eigene Denken wiedergefunden. In besonderem Maße galt mein Interesse jedoch Michel Foucault, der allein schon durch seine Verknüpfung von Philosophie und Historiographie mich immer anzuziehen vermochte. Das Feld der Geschichte war für ihn Quelle und Ort der philosophischen Reflexion, und wie sich zeigte, erwies sich diese Verknüpfung als fruchtbar für beide Seiten: Was die Philosophie an Stofflichkeit gewann, erbrachte der Historiographie einen beträchtlichen methodischen Zugewinn. Doch Foucaults Philosophieren transzendierte nicht nur die Grenzen zur Historie, sondern ebenso zur Poesie. Seine philosophischen Aussagen kamen in einer poetischen Schönheit zur Sprache, die die althergebrachte »Grenze« zwischen Philosophie und Poesie vergessen zu machen in der Lage war. Foucault erreichte, wie Gilles Deleuze sagte, »den Punkt, an dem die Philosophie zur Dichtung wird«.

Darüber hinaus war es die Aktualität dieses Philosophierens, Aktualität im wirklichen Sinne des Wortes, die neuerliche Konvergenz von Theorie und Praxis, die politische Dimension, die mich fesseln konnte. Innerhalb der französischen Philosophie, und in besonderer Weise bei Foucault, fand jene Auseinandersetzung mit der Moderne statt, die man sich spätestens nach den Erfahrungen von 1968 und den Erfahrungen der Folgen wünschen mußte. Foucault hatte seine philosophische Aktivität entwickelt im Vorund Umfeld dieser Ereignisse, sein Denken traf in dieser Hinsicht zusammen mit der Erfahrung einer ganzen Generation. Programmatische Form gewann diese Problematisierung der Moderne in Foucaults Vorlesung von 1983 über Kants Schrift »Was ist Aufklärung?« von 1784. Die Aufnahme gerade dieses Ansatzes hierzulande erschien mir wenig überzeugend.

Es war mir versagt, Foucault selbst noch zu erleben. Er starb überraschend am 25. Juni 1984, und es blieb mir nurmehr, den Umkreis seines Wirkens kennenzulernen, nicht aber sein Wirken selbst. Es entging mir also, wie eine Hörerin seiner Vorlesungen es beschrieb (Katharina von Bülow: »L’art du dire vrai«), seine »quasisokratische Pädagogik« und seine »Haltung voller Strenge«, »unabtrennbar vom unbestimmbaren Charme jener Vorlesungen am Mittwochmorgen«. Als quasi-sokratisch erscheint hier selbst noch die Wirkung von Foucaults Vorlesungen: Man fühlt sich erinnert an die Lobrede des Alkibiades auf Sokrates in Platons Symposion, wenn die Rede ist von einer »Wollust der Selbstvergessenheit« und der »Katharsis des Zuhörers«. Foucaults Philosophieren hatte in vielfacher Hinsicht Anklänge an das sokratische Urbild – nicht zum wenigsten auch darin, daß er keine Scheu empfand, seine anfängliche Naivität gelegentlich zu gestehen, ja sich offen zu ihr zu bekennen. Das Erstaunen rückte wieder ins Blickfeld als der Anfang aller Philosophie.

Am Tag von Foucaults Tod erschien der zweite Band seiner acht Jahre zuvor in Angriff genommenen »Histoire de la sexualité«. »L’usage des plaisirs« war erarbeitet worden aus Texten der griechischen Antike, darunter den platonischen Dialogen, besonders aber Platons Symposion. Gerade mit Platons Symposion, diesem in seinem ganzen Reichtum so staunenswerten Monument griechischer Philosophie, hatte ich mich zufälligerweise zur selben Zeit eingehender befaßt und es selbst übersetzt, denn Übersetzen ist zweifellos die intensivste Form des Lesens. So ergaben sich die Voraussetzungen für die Thematik des hier vorgelegten Buches sozusagen von selbst.

Meine Absicht war es nun aber nicht, eine wie auch immer geartete Untersuchung von Foucaults Interpretation des platonischen Symposions leisten zu wollen, sondern diese Interpretation überhaupt erst vorzustellen und von dem so neugewonnenen Terrain aus den Blick vor allem auf die Sokratesrede in Platons Symposion zu richten und zu sehen, wieviel neues Licht darauf fällt. Nach einer einleitenden Skizze (»Reise nach Griechenland«) der früheren Arbeiten Foucaults in Hinblick auf seine Arbeiten über die Antike und seines Entwurfs einer »Ästhetik der Existenz«, gehört der zweite Teil des Buches einer Darstellung von Foucaults Theorie über den antiken »Gebrauch der Lüste«. Im dritten Teil geht es dann vor diesem Hintergrund darum, die Geburt der Philosophie im Garten der Lüste in den Blick zu nehmen. In der abschließenden Abhandlung (»Sokrates hybristes«) wird einzugehen sein auf die Wertung des sokratischen Eros aus der Perspektive des Alkibiades am Schluß von Platons Symposion. Was in Anlehnung an frühere archäologische Arbeiten Foucaults nun seine »Archäologie des platonischen Eros« genannt wird, beruht zum einen also auf einer verkürzten Darstellung der Theorie Foucaults über den Gebrauch der Lüste in der Antike, zum anderen auf einer Interpretation der Sokratesrede im Symposion, die sich die Ausarbeitung des Ansatzes, wie er sich in Foucaults »Gebrauch der Lüste« findet, zur Aufgabe gemacht hat.

»Reise nach Griechenland«

Ars erotica und Scientia sexualis

Bereits 1969 hatte Foucault angekündigt, eine Geschichte der Sexualität schreiben zu wollen. In seinem Buch »Archäologie des Wissens«, das zu diesem Zeitpunkt erschien und in welchem er es unternahm, nach einer Serie historiographischer Arbeiten das angewandte Instrumentarium theoretisch zuzuspitzen und auf den Begriff zu bringen, nannte er als mögliche Nutzanwendung seiner neuentwickelten archäologischen Methode »eine archäologische Beschreibung der ›Sexualität‹«.1 Ein Jahr später, als er am 2. Dezember 1970 die Inauguralvorlesung am Collège de France hielt (er hatte sich in einer Kandidatur um den Lehrstuhl für Geschichte der Denksysteme gegen Paul Ricœur durchgesetzt),2 sprach er von einer möglichen Arbeit über den »Diskurs der Sexualität«.3 Während er zu diesem Zeitpunkt noch vor allem eine Untersuchung der Verbote, die diesen Diskurs treffen, leisten wollte, bekannte er nach Veröffentlichung seines Buches »Überwachen und Strafen« 1975, daß er diese Konzeption nun »sehr gern über Bord werfen würde«,4 und schockierte sein Publikum mit der Veröffentlichung des ersten Bandes einer »Histoire de la sexualité « unter dem Titel »Der Wille zum Wissen« (La volonté de savoir).

Hatte die politisch-kulturelle Bewegung der sechziger Jahre im Rahmen ihres Programms einer Umkehrung der Werte vor allem die sexuelle Befreiung gegen die vermeintliche Repression der bürgerlichen Gesellschaft gewandt, so ging Foucault nun dazu über, nach einer Phase der bloßen Setzung von Gegenwerten die Frage nach den Werten differenzierter zu betrachten. Vehikel war ihm dabei die Untersuchung der Sexualmoral und sexuellen Praktiken der modernen abendländischen Zivilisation; sie erbrachte die Erschütterung der in der Maibewegung lange mit Überzeugung gehüteten »Repressionshypothese«, wie Foucault sie nun nannte.5 War man lange davon ausgegangen, daß die Sexualität in den modernen bürgerlichen Gesellschaften unterdrückt worden sei und befreit werden müsse, so ging Foucault einen Schritt weiter zurück: »Lange Zeit haben gewisse Leute sich vorgestellt, daß die Strenge der sexuellen Codes in der Form, in der wir sie kannten, unerläßlich sei für die ›kapitalistisch‹ genannten Gesellschaften. Aber die Aufhebung der Codes und der Zerfall der Verbote vollzogen sich zweifellos leichter, als man geglaubt hatte (was recht gut anzuzeigen scheint, daß ihre Daseinsberechtigung nicht die war, an die man glaubte), und das Problem einer Ethik als Form, die man seinem Verhalten und seinem Leben gibt, hat sich von neuem gestellt.«6

Keineswegs leugnet Foucault dabei das Phänomen einer Repression der Sexualität, er kommt aber zu dem Schluß, daß zu ihrer Technik selbst noch jener »Wille zum Wissen« gehört, der nicht vor dem Tabu halt gemacht, vielmehr »eifrigst« sich bemüht hat, eine Wissenschaft der Sexualität, eine Scientia sexualis zu konstituieren.7 Im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines Buches »Der Wille zum Wissen« stellt Foucault klar, daß es ihm nicht darum gegangen sei, eine »Geschichte der sexuellen Verhaltensweisen in den abendländischen Gesellschaften« zu schreiben, sondern die Frage zu behandeln, »wie sind diese Verhaltensweisen zu Wissensobjekten geworden? Auf welchen Wegen und aus welchen Gründen hat sich der Erkenntnisbereich organisiert, den man mit dem relativ neuen Wort ›Sexualität‹ umschreibt? Es handelt sich hier um das Werden eines Wissens, das wir an seiner Wurzel fassen möchten.«8

Unter das Programm einer Repression fällt für Foucault die Forderung, »alles zu sagen« über die Dinge der Sexualität. Er beobachtet geradezu eine »diskursive Gärung« in diesem Bereich, die sich seit dem 18. Jahrhundert beschleunigt hat.9 Die Quellen, auf die er sich stützt, sind einerseits Katechismen für Beichtväter und Beichtende, andererseits »skandalöse« Literatur wie die Werke de Sades, schließlich wissenschaftlich-analytische Texte sowie Texte verwaltungstechnischer bzw. juristischer Natur (Polizeiverordnungen, Gerichtsprotokolle). Die Anreizung zum Sagen, die hier zum Ausdruck kommt bzw. sich niederschlägt, sowie die neue »Jagd auf die peripheren Sexualitäten«10, die hier dokumentiert ist, legt Zeugnis ab von jener diskursiven Gärung, in der sich die moderne Wissenschaft der Sexualität konstituiert hat.

Der modernen Scientia sexualis stellt Foucault die Ars erotica alter Gesellschaften des Fernen Ostens gegenüber, allen voran China.11 Er will weg von der Erotik de Sades, die »zu einer Disziplinargesellschaft gehört«.12 In der Kunst der Erotik werde Wissen und Wahrheit »aus der Lust selber gezogen, als Erfahrung gesammelt, auf ihre Qualität hin analysiert und in ihren Ausstrahlungen im Körper und in der Seele verfolgt, und dieses kunstvolle Wissen wird unter dem Siegel des Geheimnisses in der Initiation durch einen Meister an jene übertragen, die sich seiner würdig erwiesen haben und die es nun wieder in ihre Lust einströmen lassen, um sie intensiver, stärker, vollkommener zu machen«.13 Das Wissen, das der Erfahrung entnommen wird, wird zurückgewendet auf die Praktik, auf den Umgang mit den Lüsten; die Lust wird gesehen nicht unter dem Kriterium des Erlaubten und Verbotenen, und auch nicht unter Bezug auf ein Nützlichkeitskriterium, sondern im Hinblick auf die ihr innewohnenden Qualitäten und Intensitäten, deren verfeinerte Wahrnehmung und Anwendung. »Auf diese Weise konstituiert sich ein Wissen, das geheim bleiben muß, nicht weil sein Gegenstand irgendeiner Schändlichkeit verdächtig wäre, sondern weil es mit größter Behutsamkeit aufbewahrt werden muß, verlöre es doch, wie die Überlieferung lehrt, bei leichtfertiger Ausbreitung seine Wirksamkeit und Tugendkraft.«14

Der »Kunst der Initiationen«, charakteristisch für eine Ars erotica, ist das Verfahren der Scientia sexualis »streng entgegengesetzt«.15 Deren Zweck ist nicht praktische Unterweisung und Wahrung des Geheimnisses, sondern das Aussagen der Wahrheit, das Alles-Sagen, die Praktik des Geständnisses. In ganz zugespitztem Sinne meint diese Wahrheit die Offenbarung des Verborgenen (a-lēthē), den Blick hinter den Schleier. Der Macht der Lust tritt das Verlangen nach Wahrheit entgegen. Der Wahrung des Geheimnisses steht das Geständnis der Wahrheit gegenüber. »Im Abendland ist der Mensch ein Geständnistier geworden.«16

Frappierend ist jedoch weniger die Praktik, die das Geständnis der Wahrheit zu erzwingen versteht, vielmehr erscheint, was ursprünglich äußerer Zwang war, mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen, ja, es wird als ein Akt der Freiheit betrachtet, alles zu sagen und die Wahrheit zu sagen, gemäß einer traditionellen Verknüpfung von Wahrheit und Freiheit. An die Stelle einer Ars erotica ist geradezu eine Art von »Erotik der Wahrheit« getreten17 – die Lust an der Analyse tritt auf als neue Wollust im Ensemble der Lüste, ist aber gegen diese gewendet. Beichte und Psychoanalyse18 erscheinen hier in dasselbe Programm verstrickt: Der Wahrheit nämlich auf die Spur zu kommen, sie zu formulieren, zu therapieren und zu normalisieren. Auf Seiten des Subjekts korrespondiert diesem Ansinnen geradezu ein Verlangen danach, die Wahrheit zu sagen, und die »Wollust, sich interpretiert zu fühlen«.19 Gegen die Alleinherrschaft des Sexus und das Ansinnen, in ihm die Wahrheit aufzufinden und auszusagen, geht es Foucault darum, »andere Formen von Lüsten, Beziehungen, Zusammenleben, Bindungen, Lieben, Intensitäten« zu finden und herzustellen,20 neue Ansätze zu einer Art von Ars erotica. Dem entspricht die Abkehr davon, »ad infinitum das immergleiche Anti-Repressionslied« zu singen, dem doch niemand mehr zuhört.21

Foucaults Untersuchung über den Willen zum Wissen ist weniger ausgewiesene Untersuchung als vielmehr deren Ankündigung, ein, wie er selbst sagte, »Programm-Buch«.22 Das weitere Programm sah noch zum Zeitpunkt des Erscheinens der deutschen Übersetzung 1977 wie folgt aus: Band 2 »Die Geständnisse des Fleisches«, Band 3 »Der Kinderkreuzzug«, Band 4 »Bevölkerung und Rassen«, Band 5 »Die Frau, die Mutter und die Hysterische«, Band 6 »Die Perversen«.23 Das Erstaunen war groß, als Foucault nach einer Pause von acht Jahren ganz anders und neu ansetzte. Nicht nur erschien die Fortsetzung der »Geschichte der Sexualität« wesentlich später, als Foucault selbst vorgesehen hatte, sondern, wie er in einem einleitenden Abschnitt »Modifizierungen« bekannte, unter einer »ganz anderen Form«.24

Vom ursprünglichen Plan war nicht viel übriggeblieben. Die neue Form des Projekts, das Foucault nun präsentierte, sah nurmehr vier Bände vor.

Der ursprünglich zweite Band sollte nun den Abschluß bilden; seine Publikation aus dem Nachlaß steht noch aus, das Manuskript war von Foucault noch abgeschlossen worden.25 Anstelle der übrigen Titel erschienen 1984 gleichzeitig »L’usage des plaisirs« und »Le souci de soi«, so daß die gesamte Reihe sich wie folgt darstellt:

Band 1: Der Wille zum Wissen (La volonté de savoir)

Band 2: Der Gebrauch der Lüste (L’usage des plaisirs)

Band 3: Die Sorge um sich (Le souci de soi)

Band 4: Die Geständnisse des Fleisches (Les aveux de la chair)

Bei der Angabe der Gründe für diesen Umsturz des ursprünglichen Plans gab Foucault sich charakteristisch eigenwillig. Erklärtermaßen war es immer sein Bestreben gewesen, dem Denken den Charakter eines Ereignisses zu erhalten, d. h. es offenzuhalten für Korrekturen, gewandelte Erwartungen, neue Hypothesen und überraschende Veränderungen. »Eine Arbeit«, erklärte er in einem Gespräch anläßlich der anstehenden Neuerscheinungen, »die nicht zugleich ein Versuch ist, das zu verändern, was man denkt, und selbst das, was man ist, ist nicht sehr amüsant. Ich hatte damit begonnen, zwei Bücher zu schreiben nach meinem ursprünglichen Plan, habe mich aber sehr schnell gelangweilt.«26

War es ursprünglich seine Absicht gewesen, das Problem des Verhältnisses von Sexualität und Wahrheit »vom christlichen Problem des Fleisches angefangen« abzuhandeln,27 so gingen die neuen Arbeiten noch hinter das Christentum zurück und wandten sich dem Feld der griechischrömischen Antike zu. Vor allem »L’usage des plaisirs« machte tiefen Eindruck in der schlichten Schönheit seiner Sprache, in seiner gelösten Heiterkeit, und es war sehr bald die Rede von Michel Foucaults »Reise nach Griechenland«.28 »Der Gebrauch der Lüste« wurde erarbeitet aus philosophischen und medizinischen Texten des vierten vorchristlichen Jahrhunderts, d. h. des klassischen Griechenlands, »Die Sorge um sich« beruhte auf griechisch-römischen Texten der ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderte, »Die Geständnisse des Fleisches« gingen hervor aus Texten der Kirchenväter des dritten und vierten Jahrhunderts.

»Die Reise nach Griechenland« erlaubte Foucault die Aufdeckung und Aufarbeitung einer prächristlichen Problematisierung des Umgangs mit den Lüsten. Um die Formierung, Entwicklung und Erfahrung der modernen »Sexualität«29 zu verstehen, war in historischer genealogischer Arbeit nicht nur ihr Vorläufer, die christliche Doktrin des »Fleisches« zu beschreiben, sondern auch die antike Form eines »Gebrauchs der Lüste« und der »Sorge um sich«. Baudrillard hatte sich eher eine »Genealogie der sexuellen Vernunft« gewünscht, entsprechend der Genealogie der Moral, wie Nietzsche sie entworfen hat, denn wie es eine Geburt des Moralischen gebe, so gebe es auch eine Geburt des Sexuellen: »Immer mehr verschwindet der Zauber der Verführung, und zwar jeglicher Art, die ja ein sehr ritualisierter Prozeß ist, zugunsten eines naturalisierten sexuellen Imperativs«.30

Von der Neuorientierung war eine wesentlich erweiterte historische Basis des Projekts einer »Geschichte der Sexualität« zu erwarten. Sie ging aber weniger der Frage des Übergangs von einer antiken Ars erotica zur Scientia sexualis nach, als vielmehr der Frage einer Konstituierung von Werten, die nicht erst aus der Auseinandersetzung mit Repression und Verbot hervorgingen. Darüber hinaus versprach Foucault sich neue systematische Erkenntnis über das Verhältnis von »Sexualität und Wahrheit« und Macht und Lust, um deretwillen er das gesamte Projekt überhaupt in Angriff genommen hatte.31

Philosophie der Beziehung und Subjektphilosophie

»Das Wesentliche der Arbeit ist für mich eine neue Ausarbeitung der Theorie der Macht, und ich bin nicht sicher, daß allein die Lust, über die Sexualität zu schreiben, mich genügend motiviert hätte, um diese Folge von (wenigstens) sechs Bänden zu beginnen«, erklärte Foucault 1977 nach Erscheinen des ersten Bandes der »Histoire de la sexualité«.32

Doch unter Macht versteht Foucault nicht »die« Macht. »Ich gebrauche das Wort Macht kaum, und wenn ich es zuweilen tue, dann bloß, um den Ausdruck abzukürzen, den ich immer verwende: die Machtbeziehungen.«33 Die Macht, das sind die Machtbeziehungen, die zu unterscheiden sind von Herrschaftszuständen; Macht ist die »Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen« (multiplicité des rapports de force), ist im Unterschied zu starren Herrschaftszuständen ein »Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kraftverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt«.34 Macht ist nicht zu verstehen als von einem einzigen Mittelpunkt ausgehend, sie besteht nicht in einer »Sonne der Souveränität, von der abgeleitete oder niedere Formen ausstrahlen; sondern in dem bebenden Sockel der Kraftverhältnisse, die durch ihre Ungleichheit unablässig Machtzustände erzeugen, die immer lokal und instabil sind. Allgegenwart der Macht: nicht weil sie das Privileg hat, unter ihrer unerschütterlichen Einheit alles zu versammeln, sondern weil sie sich in jedem Augenblick und an jedem Punkt – oder vielmehr in jeder Beziehung zwischen Punkt und Punkt – erzeugt.«35

Ausübung von Macht meint aber nicht nur ein Verhältnis, das sie schafft, sondern die Veränderung, die sie bewirkt. Sie ist nicht nur die Handlung, die auf eine Handlung folgt, sondern sie strukturiert das Feld möglicher Handlungen vor.36 Zu anderen Arten von Beziehungen, zu ökonomischen Prozessen, Erkenntnisrelationen oder auch sexuellen Beziehungen verhalten die Machtbeziehungen sich nicht als etwas Äußerliches, sondern sind ihnen immanent. Gerade die Sexualität steht den Machtbeziehungen nicht fremd gegenüber. »Vielmehr erscheint sie als ein besonders dichter Durchgangspunkt für die Machtbeziehungen.«37 Dies gilt für das Verhältnis des Individuums zu sich selbst, wie auch für die Beziehung zum Anderen und zum anderen Geschlecht sowie für die Beziehungen in einer Gesellschaft insgesamt, denn: »Eine Gesellschaft ohne Machtbeziehungen kann nur eine Abstraktion sein.«38 Foucault, von manchen als Soziologe verdächtigt, mußte sich von anderen aufgrund seiner Machttheorie, in der Macht »diffus verteilt ist«, statt althergebrachten ideologischen Dualismen zu gehorchen, den Vorwurf des »heimlichen Idealismus« gefallen lassen, und man meinte, sich um seine »Rückführung in die sozialhistorische Realität« bemühen zu müssen.39 Foucault hoffte, der Alternative zu entkommen, die auf der einen Seite die Macht nur als repressive Herrschaft, auf der anderen Seite als Trugbild versteht.

Die Machtbeziehung, die das Individuum selbst durchzieht, und das Auftauchen einer Beziehung zur Wahrheit bilden einen wesentlichen Teil der Arbeit Foucaults über die Antike. Die Frage, der Foucault hier nachgeht, ist, wie es dazu kam, daß das Ich sich als Subjekt seiner Sexualität erkennt, d. h. als moralisches Subjekt seines sexuellen Verhaltens.40 Er habe, erklärte er 1984 in einem sehr interessanten Gespräch, immer schon »herauszufinden versucht, wie das menschliche Subjekt in die Spiele der Wahrheit eingetreten ist«, Spiele der Wahrheit, die die Form einer Wissenschaft annahmen.41

Die Konstituierung des Subjekts zog sein Interesse in besonderer Weise auf sich. Bereits in »Der Wille zum Wissen« hatte Foucault sich abgekehrt von der modernen Idee des souveränen Subjekts und es zu einer Illusion erklärt. Er rekapitulierte statt dessen die Etymologie des Subjektbegriffes, wie sie im französischen Begriff des Subjekts latent präsent und nach wie vor gebräuchlich ist. Die Subjektivierung der Menschen ist demnach zu verstehen als ihre »Unterwerfung« (assujettisment), es ist ihre »Konstituierung als Untertanen/Subjekte«,42 Untertanen eines Zwanges zum Sagen der Wahrheit und im besonderen des Sagens der Wahrheit über die Dinge der Sexualität. Das gesamte Projekt einer Geschichte der Sexualität kann also gelesen werden als Arbeit über die Geschichte der Subjektivierung des Menschen. Foucault will erklärtermaßen »zu einer Geschichtsanalyse gelangen, die die Konstitution des Subjekts im geschichtlichen Zusammenhang zu klären vermag«.43 Er will die Umstände ans Licht bringen, die zur Konstituierung des Selbst als Subjekt geführt haben. Der emphatische Begriff des modernen Subjekts verliert dabei seinen Glanz, oder anders gesehen, seinen zwanghaften Charakter. Dahinter steht eine besondere Erfahrung, nämlich: »Die Erfahrung der Erotik bei Bataille und die Erfahrung der Sprache bei Blanchot, verstanden als Erfahrungen der Auflösung, des Verschwindens, der Verleugnung des Subjekts«.44

Sein Ausgangspunkt sei, erklärte Foucault anläßlich des Erscheinens seiner Arbeiten über die Antike, ein Problem, das sich in der Gegenwart stellt, und er versuche, dazu die Genealogie zu bilden.45 Das Problem, das sich stellte, war die moderne »Wissenschaft vom Sex«, deren Verflochtenheit mit dem Phänomen der Macht, dem Sagen der Wahrheit und der Subjektivierung des Menschen. Foucaults Absicht war es also, »eine Genealogie dieser ›Wissenschaft vom Sex‹ zu machen«, er wollte »all die Mechanismen verfolgen, die einen Wahrheitsdiskurs über den Sex eingeführt und ein gemischtes Regime von Lust und Macht um ihn errichtet haben«.46

Hinter dem Begriff der Genealogie verbirgt sich nicht das Verständnis von Geschichte im herkömmlichen Sinne. Die Konzeption der Genealogie ist vielmehr durchzogen von einer Auseinandersetzung mit der »Ideengeschichte«, worunter Foucault die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts versteht und als deren Charakteristikum er die Geschichtsphilosophie nennt; dieser steht er mit einer Reserviertheit gegenüber, die an Jacob Burckhardt erinnert.47 Nicht unter der Perspektive einer Geschichtsphilosophie betreibt Foucault die Historiographie, sondern als »philosophische Übung«, wie er in der Einleitung zum »Gebrauch der Lüste« anmerkt.48 Die Theorie seiner Geschichtsschreibung, der »archäologischen Beschreibung«, entfaltete er in der »Archäologie des Wissens«, und zwar aufgrund und anhand von Beobachtungen, Erfahrungen und Vorgehensweisen vorhergehender »archäologischer« Arbeiten (1961 »Histoire de la folie« als eine Archäologie der Vernunft, 1963 »Naissance de la clinique« als eine Archäologie des medizinischen Blicks, 1966 »Les mots et les choses« als eine Archäologie der Humanwissenschaften). Der theoretische Gewinn, auf den es ihm bei dieser methodologischen und epistemologischen Reflexion ankam, ging also hervor aus positivistischer historiographischer Arbeit – jenem »poetischen Positivismus«, von dem Gilles Deleuze sprach.49 Foucault zeigte sich umgetrieben von der Frage nach dem Wesentlichen der Geschichte, unzufrieden mit den bisherigen Resultaten – »die Historiker versuchen bereits geraume Zeit vergeblich, Strukturen zu finden, zu beschreiben und zu analysieren, ohne jemals sich haben fragen zu müssen, ob sie nicht die lebendige, zerbrechliche, zitternde ›Geschichte‹ sich entgehen ließen.«50

Anders als die herkömmliche Geschichte, die Geschichte der konstruierten Kontinuitäten, geht die archäologische Beschreibung aus von der Diskontinuität der Ereignisse selbst und versucht ihr ganzes Beziehungsfeld zur Darstellung zu bringen. Die erkenntnistheoretische und methodische Umkehrung, die diesem Verfahren zugrunde liegt, diese ganze neue »Philosophie des Ereignisses« veranlaßte Paul Veyne, davon zu sprechen, Foucault revolutioniere die Geschichtsschreibung.51 Worin aber bestehen die Ereignisse, von denen hier die Rede ist?

Die Ereignisse sind die Aussagen. Aussagen bestehen nicht nur in Wort und Text, Rede und Schrift, sondern auch in Technik und Praktik, in hergestellten Objekten, Kunstwerken und Institutionen; hörbare Äußerung also, als auch Zeichnung, Fabrikation, Schrift, Geste. Foucault untersucht die Figuren der Aussagen im Aussagefeld, ihre spezifischen Regelmäßigkeiten, »das System ihres Funktionierens«.52 Es geht ihm um die Freilegung des weißen Raumes zwischen den Zeichen, die Freilegung des Feldes von Beziehungen, das eine »diskursive Formation«, kurz: einen Diskurs jeweils charakterisiert. Jede neu auftauchende Aussage geht hervor aus der momentanen diskursiven Formation, eingebettet in die Beziehungen zu allen vorherigen Aussagen, und sie formiert den Diskurs zugleich neu durch ihr Auftreten. »Jede Aussage umfaßt ein Feld von vorhergehenden Elementen, im Verhältnis zu denen sie ihren Platz findet, die sie aber neu organisieren und neu verteilen kann, gemäß neuen Verhältnissen.«53

Die Philosophie des Ereignisses ist eine »Philosophie der Relation« (Paul Veyne),54 der wechselseitigen Abhängigkeit, der reziproken Machtverhältnisse. Der Diskurs, den die Archäologie beschreibt, wird formiert durch das Gesetz der Aussagen: Foucaults Form einer Theorie des kommunikativen Handelns.55 Grammatik dieses Diskurses ist die diskursive Praktik, sie formiert die zugrundeliegende Struktur, die vorbegriffliche Instanz, den »Rest der Geschichte«, jenen verborgenen, unsichtbaren Teil des Eisbergs, von dem Paul Veyne in anschaulicher Weise (und in Anlehnung an Freud) spricht. Das sprechende Subjekt ist hier gewissermaßen nur die Spitze des Eisbergs; die Revolution besteht in der Abwendung von der zentralen Rolle des Subjekts und der Wahrnehmung der zugrundeliegenden Grammatik, Wahrnehmung einer Welt, in der alles von allem abhängt und die »Relation an erster Stelle steht«.56 An die Stelle der Subjektphilosophie tritt die Philosophie der Beziehung, eine diskursive Quantentheorie, eine Umkehrung der kopernikanischen Wendung und Abkehr vom »transzendentalen Narzißmus«,57 die Paul Veyne zufolge selbst als »kopernikanische Wende« zu werten ist.58 Foucaults Form einer Theorie des kommunikativen Handelns kennt nicht die Rolle des souveränen Subjekts; die diskursive Praktik gilt ihm nicht als »Manifestation eines denkenden, erkennenden und es aussprechenden Subjekts«.59 Das Auftauchen der Aussagen ist bestimmt von der ihnen immanenten und sich mit jeder Aussage modifizierenden Grammatik; ein »wie von selbst«, ohne Bewußtsein oder Vernunft, »ohne Bezug auf ein Cogito«.60 Die einzelnen Diskurse und die sie sprechenden Subjekte sind Teile in einem Gewebe, das sie »nicht beherrschen, dessen Ganzes sie nicht wahrnehmen und dessen Ausmaß sie schlecht ermessen«.61 Der Autor gilt nicht als das souveräne Subjekt, das seinen Diskurs beherrscht, vielmehr beherrscht der Diskurs seinen Autor. Foucault führt damit die Abkehr vom sokratischen Logosverständnis herbei, wie es in Platons Dialog Theätet formuliert ist und wonach »wir, die wir uns zu dieser Schar halten, nicht Knechte unserer Reden sind, sondern die Reden gleichsam unsere Dienstleute, welche es erwarten müssen, abgefertigt zu werden, wie es uns gefällt«.62 Ohne sich dessen bewußt zu sein, scheint Foucault mit seiner staunenswerten Konzeption der diskursiven Formation zurückgekehrt zu sein zum Logosverständnis Heraklits – eine »Reise nach Griechenland« von noch ganz anderer Art und Dimension.

Die archäologische Beschreibung ist nichts anderes als eine Beschreibung des Auftauchens der Aussagen, eine »Archäologie« im spielerischen Sinne: Spiel mit dem Wort vom Anfang (archē), Spiel, da der Genealoge nicht an Anfang und Ursprung glaubt, sondern an Herkunft und Entstehung; auch das Auftauchen ist ein Entstehen.63 Die Vorstellung geologischer Sondierung schwingt jedoch durchaus mit, wenn Foucault gerade im Hinblick auf das Projekt einer Geschichte der Sexualität davon spricht, »in einem vielschichtigen Boden einige Probebohrungen vorzunehmen«.64 Es handelt sich beim Verfahren der Archäologie um das Auffinden einer diskursiven Formation, um Untersuchungen und Beschreibungen der Beziehungen und der Unterschiede, die diese Formation charakterisieren, ein Aufriß der Schichten der Geschichte, letzten Endes der Versuch, »eine ganz andere Geschichte dessen zu schreiben, was die Menschen gesagt haben«.65

Die archäologische Beschreibung betrachtet die Aussagen nicht als Dokumente, d. h. als Zeichen für etwas anderes, das es zu interpretieren gilt, sondern als Monumente, als Ereignisse, als Momente einer diskursiven Formation, die in ihrer Eigenheit zu beschreiben sind.66 Diese Beschreibung ist eine Beschreibung der Landschaft, die sich dem archäologischen Blick darbietet, eine Darstellung ganz und gar geographischer Natur, insbesondere aber Wahrnehmung der Landschaft unterhalb der Spitze des Eisbergs, Landschaft, die zwar verborgen, dennoch aber Landschaft ist. Die geographische Metapher der »Landschaft« ist in der Tat auffällig häufig in Foucaults Arbeiten, sie koinzidiert mit dem Terminus des »Feldes«, das zudem physikalischer Natur sein kann. Bildhaft auch der Begriff des »Stammbaums«: Die archäologische Beschreibung ist die Erstellung eines Stammbaums der Aussagen bzw. des Diskurses in all seinen Verästelungen und Wurzelgeflechten.67 Schließlich: das »Tableau«, mit dessen Hilfe Foucault die Landschaft, das Feld, den Stammbaum zur Darstellung bringt, als wäre er Maler. Nicht von ungefähr nannte Paul Veyne das Verfahren der archäologischen Beschreibung eine »picturale Methode«, und er erinnerte dabei an Cézanne und dessen Landschaften von Aix-en-Provence.68 Wie der Maler wahrt der Archäologe die Distanz zum Objekt: Seine Lust ist eine Lust des Blicks, nicht eine Lust an der Analyse.69 »L’usage des plaisirs« hat nicht zuletzt hierin seine »archäologische Dimension«.70 Nicht nur im geduldigen Abtragen der Ablagerungen des Geschehenen, sondern im lustvollen Blick auf die Landschaft, die sich da auftut. Was Foucault zeichnet, ist das Bild einer antiken »Ästhetik der Existenz«, das Bild einer Subjektivierung des Menschen, die nicht geprägt ist von kodifizierter Unterwerfung, sondern seiner ethischen Selbstkonstituierung. – »En passant schüttelt Foucault den ganzen terminologischen Ballast ab, den der Foucaultismus in aller Welt wiederkäut«.71

L’usage des plaisirs: Archäologie einer »Ästhetik der Existenz«72

Die Genealogie zu machen zur Erfahrung der »Sexualität«, dies ist die Absicht von Foucaults Arbeiten über die Antike. Genealogie jedoch nicht im Sinne einer Geschichte der Abfolge verschiedener Konzeptionen des sexuellen Verlangens, der Wollust, der »Libido«, sondern im Sinne einer Geschichte von Problematisierungen, die zur Sprache gekommen sind und Aufschluß geben können über die Frage, wie die Erfahrung einer Sexualität zustande kommen konnte, die das Subjekt zum Souverän über die Macht seines Verlangens machte.

7374 – vielleicht ein Versuch zum Verständnis seiner eigenen Situation, in die er als »Denker des Außen« hineingeraten sein konnte und die zu dem Bedürfnis geführt haben konnte, »sich von sich selber zu lösen«.