Die Kurfürstenklinik 24 – Eine Schwester spielt falsch

Die Kurfürstenklinik –24–

Eine Schwester spielt falsch

Der Chefarzt wird das Opfer einer üblen Intrige

Roman von Nina Kayser-Darius

»Hast du sie schon gesehen?« erkundigte sich der Assistenzarzt Dr. Bernd Schäfer mit aufgeregter Stimme bei Dr. Adrian Winter, dem jungen Chefarzt, der die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik in Berlin leitete. Die beiden Männer kannten einander seit langem, sie arbeiteten gern zusammen und trafen sich gelegentlich auch privat auf ein Bier oder ein Glas Wein.

»Von wem redest du?« erkundigte sich Adrian. »Hast du wieder mal dein Herz verloren, Bernd?«

Das geschah öfter, doch unglücklicherweise hatte Bernd Schäfer nie den gewünschten Erfolg bei den Frauen. Er aß leidenschaftlich gern, und das sah man ihm zu seinem großen Kummer auch an. Er machte ständig irgendeine Diät, quälte sich in einem Fitneßcenter, doch nichts brachte den gewünschten Erfolg. Er war und blieb zu dick. Das einzige, was ihm wirklich geholfen hätte, wäre der konsequente Verzicht auf fettes Essen gewesen, wie er sehr wohl wußte, doch das hatte er noch nie lange durchgehalten.

Seine Mißerfolge bei Frauen schob er auf sein zu hohes Gewicht, und es war auch Adrian bisher nicht gelungen, ihm das auszureden. Dabei war Bernd Schäfer trotz seiner reichlichen Pfunde keineswegs ein unattraktiver Mann. Er war nur zu schüchtern, um Frauen gegenüber selbstbewußt genug aufzutreten, und deshalb nahmen sie ihn nicht ernst.

»Von der neuen Schwester rede ich natürlich«, antwortete er nun auf Adrians Frage. »Also: Hast du sie schon gesehen oder nicht?«

»Nein. Aber ich habe dafür unseren neuen AiPler gesehen, Dr. Karsten Zimmer. Und der gefällt mir sehr gut, ich glaube, diesmal haben wir richtiges Glück gehabt. Er macht einen ruhigen und sehr kompetenten Eindruck.«

Die Ärzte im Praktikum, kurz AiPler genannt, waren junge Mediziner, die gerade ihren Abschluß gemacht hatten. Gelegentlich und leider immer nur für einen begrenzten Zeitraum verstärkten sie das Team der Notaufnahme, wei die Verwaltungsdirektion der Klinik keine Möglichkeit sah, diesem Bereich zusätzliche Stellen zu bewilligen.

Der Sparstift regierte überall, die Einrichtung einer neuen Stelle kam in der Regel einem Wunder gleich. Aber zumindest war im Augenblick nicht mehr die Rede davon, daß in der Kurfürsten-Klinik Stellen gestrichen werden sollten, und darüber herrschte allgemeine Erleichterung.

Es wurden also immer mal wieder junge Mediziner in die Notaufnahme geschickt, wo sie ein paar Monate Dienst taten. Und jetzt hatte man ihnen auch noch eine neue Schwester zugebilligt, die später auf einer der Stationen arbeiten würde, im Augenblick aber in der Notaufnahme aushelfen sollte, da dort seit Wochen Hochbetrieb herrschte.

»Wer interessiert sich schon für AiPler – jedenfalls für männliche?« knurrte Bernd. »Diese neue Schwester sieht aus wie ein Model, ich frage mich, warum sie bei dem Gesicht und der Figur Krankenschwester geworden ist.«

Adrian konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Gleich darauf sprach er laut aus, was er dachte: »Das ist typisch für dich, Bernd. Warum soll denn eine gut aussehende Frau nicht Krankenschwester werden? Glaubst du, alle träumen von der großen, weiten Welt und vom Scheinwerferlicht?«

»Das vielleicht nicht«, gab Bernd zu, aber der Beruf einer Krankenschwester ist hart, und diese harte Arbeit wird nicht besonders gut bezahlt.«

In diesem Punkt mußte Adrian ihm zustimmen, und so nickte er. »Wo hast du sie denn gesehen?«

»Na, hier, sie ist doch schon da!« Bernd senkte verschwörerisch die Stimme. »Sie hat Augen wie Sterne, Adrian – groß und blau! Und wunderschöne hellbraune Locken. Aber erst die Figur…« Er brach beleidigt ab, als Adrian in schallendes Gelächter ausbrach. »Was gibt’s denn da so blöd zu lachen?« fragte er giftig.

»Du wirst ja richtig lyrisch«, meinte Adrian und bemühte sich, seine Fassung zurückzugewinnen. »Tut mir leid, Bernd, ich wollte dich nicht auslachen.«

»Wenn du sie siehst, wirst du schon verstehen, was ich meine«, erwiderte Bernd beleidigt. Er wollte noch mehr sagen, aber plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und er flüsterte: »Da kommt sie!«

Adrian drehte sich um, um die neue Mitarbeiterin zu begrüßen. Er war froh, daß er durch Bernds Schwärmerei ein wenig vorbereitet war, denn sonst hätte ihm der Anblick der jungen Frau, die gleich darauf vor ihm stand und mit weicher Stimme sagte: »Guten Morgen, ich bin Schwester Nadja«, wohl doch den Atem verschlagen.

In der Tat hatte Bernd nicht übertrieben. Sie war wunderschön, und Adrian ahnte bereits, daß binnen kürzester Zeit die gesamte Klinik in Aufruhr sein würde. Sie würde allen – Patienten, Pflegern, Ärzten – den Kopf verdrehen.

»Guten Morgen, Schwester Nad­ja«, erwiderte er freundlich und drückte ihre Hand. »Ich bin Dr. Winter und leite die Notaufnahme, dies ist mein Kollege Dr. Schäfer, der in dieser Woche ebenfalls Dienst in der Notaufnahme hat. Wir freuen uns über die Verstärkung unseres Teams, denn wir sind hier unten chronisch überlastet.«

»Ja, das habe ich schon gehört«, erwiderte sie mit ihrer angenehmen Stimme. Zugleich lä­chelte sie ihn auf eine Weise an, die ihn verwirrte. Versuchte sie mit ihm zu flirten? Er reagierte be­­tont sachlich, um ihr von Anfang an deutlich zu machen, daß er an einem Flirt nicht interessiert war.

»Haben Sie Dr. Zimmer auch schon kennengelernt?« erkundigte er sich. »Er ist Arzt im Praktikum und wird ebenfalls für eine Zeit bei uns in der Notaufnahme arbeiten.«

Irrte er sich, oder hatte für einen winzigen Augenblick wirklich ein geringschätziges Lächeln um ihre Lippen gespielt? Es ging so schnell, daß er nicht sicher war. »Nein«, antwortete sie, »ich habe ihn noch nicht kennengelernt.« Ihre großen blauen Augen sahen ihn unverwandt an.

Er wandte sich an Bernd. »Sei so gut, Bernd, und mach mit Schwester Nadja einen kleinen Rundgang. Stell ihr die Kolleginnen und Kollegen vor und erkläre ihr das Nötigste. Alles andere wird sich bei der Arbeit ergeben.« Er streckte erneut seine Hand aus. »Auf gute Zusammenarbeit, Schwester Nadja.«

»Ja«, erwiderte sie leise, »das wünsche ich mir auch.« Nach einem letzten langen Blick wandte sie sich Bernd Schäfer zu, der sofort eifrig begann auf sie einzureden, während er anfing, ihr die verschiedenen Bereiche der Notaufnahme zu erklären.

Adrian sah den beiden mit gemischten Gefühlen nach. Schwester Nadja war eine schöne Frau, kein Zweifel, aber sein Instinkt riet ihm zu großer Vorsicht.

Er wurde in seinen Gedanken unterbrochen, als zwei Sanitäter einen schwerverletzten Jungen hereinbrachten. »Er hat etwas verschluckt und bekommt keine Luft mehr!« rief einer von ihnen schon von weitem.

Adrian wandte sich dem Kind zu, das bereits blau anlief, und hatte die attraktive neue Schwester im selben Augenblick vergessen.

*

Dr. Karsten Zimmer saß in der Caféteria der Kurfürsten-Klinik, trank einen Kaffee und freute sich. Noch immer konnte er es nicht glauben, daß er es wirklich geschafft hatte, für ein Jahr ausgerechnet hier einen Platz zu bekommen. Die Klinik hatte einen ausgezeichneten Ruf, aber das Beste daran war, daß der Verwaltungsdirektor sofort zugestimmt hatte, ihn in der Notaufnahme arbeiten zu lassen.

Karsten war ein Fan von Dr. Adrian Winter, aber natürlich hatte er das niemanden wissen lassen. Er verfolgte die Arbeit des engagierten Unfallchirurgen seit längerem, und so wußte er auch, daß Dr. Winter die Paracelsus-Medaille bekommen hatte für seine Verdienste um die Notfallmedizin. Er hatte hartnäckig darauf hingearbeitet, einen Platz als Arzt im Praktikum an eben dem Krankenhaus zu bekommen, an dem Dr. Winter arbeitete – und das hatte wirklich geklappt. Er war ein Glückspilz, ganz sicher!

Doch es gab noch etwas, das ihn an diesem Morgen beflügelte, und das war die Schwester, die ebenfalls neu an der Klinik war, Schwester Nadja. Auch sie würde zunächst in der Notaufnahme sein, genau wie er. Er war ihr noch nicht vorgestellt worden, aber er wußte bereits viel über sie, denn überall wurde über sie gesprochen. Noch nie zuvor hatte er eine so schöne Frau gesehen, und der Gedanke daran, daß er in der nächsten Zeit mit ihr zusammenarbeiten würde, machte ihn ganz schwindelig.

Karsten Zimmer hatte nicht allzu viel Erfahrung mit Frauen. Seine Eltern hatten ihm das Studium nur mit Mühe ermöglichen können – es war daher selbstverständlich gewesen, daß er nicht bummelte, sondern sich im Gegenteil beeilte, um es so schnell wie möglich abzuschließen. Da war nicht viel Zeit geblieben für Freundinnen und andere Vergnügungen. Aber jetzt verdiente er sein eigenes Geld. Er

war neunundzwanzig Jahre alt, und die ganze Welt stand ihm offen!

Sicher, er mußte noch immer viel lernen, aber das wollte er ja auch. Er liebte seine Arbeit, und er würde dem verehrten Dr. Winter nacheifern. Außerdem würde er versuchen, Schwester Nadja für sich einzunehmen. Er trank seinen Kaffee aus, bezahlte und eilte zurück in die Notaufnahme, wo er sofort auf seinen neuen Chef traf.

»Da sind Sie ja, Herr Zimmer«, sagte Adrian Winter freundlich. »Sie können mir gleich einmal helfen. Haben Sie Schwester Nadja schon kennengelernt?«

»Noch nicht«, antwortete Karsten. Er hoffte, daß seine Stimme normal klang und daß ihm nicht wieder das Blut ins Gesicht schoß, wie es ihm häufig in den unpassendsten Augenblicken passierte.

»Schwester Nadja?« rief Adrian, und gleich darauf trat sie aus einer der Behandlungskabinen.

»Ja?« fragte sie lächelnd.

»Dies ist Dr. Zimmer, der ebenfalls neu bei uns ist. Ich hoffe, Sie werden gut miteinander auskommen. Also noch einmal: Auf gute Zusammenarbeit!«

»Danke«, murmelte Karsten, während er Schwester Nadjas Hand nahm.

Sie schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln, dann richtete sie ihre großen Augen wieder auf Adrian Winter.

Karsten verspürte einen Stich in der Herzgegend. Sie hatte ihn kaum angesehen, statt dessen himmelte sie den Notaufnahmechef an. Es geht ihr wie mir, dachte er niedergeschlagen. Sie ist ein Fan von Dr. Winter!

*

Ellen Berger, Adrian Winters Zwillingsschwester, und Thomas Laufenberg, der Verwaltungsdirektor der Kurfürsten-Klinik, saßen an diesem Abend in Esthers Wohnzimmer und wälzten Prospekte.

Ihre Liebe war noch sehr jung, und sie gingen behutsam mit ihr um. Thomas war bereits über vierzig, er hatte nicht mehr daran geglaubt, eine Frau zu finden, mit der er glücklich sein könnte – und Esther hatte eine Ehe mit einem Amerikaner hinter sich, über deren Scheitern sie lange Zeit nur schwer hinweggekommen war.

»Drei Wochen Urlaub«, sagte Esther verträumt, »ich kann es noch gar nicht glauben, Tom. Wir beide, ganz allein – und keine Arbeit weit und breit.«

Er lachte. »Ja, diese Aussicht hat etwas Paradiesisches, das muß ich zugeben. Seit ich an der Kurfürsten-Klinik arbeite, habe ich keinen Tag Urlaub gemacht, kannst du dir das vorstellen?«

»Nein, und ich will es auch nicht. Das ist unvernünftig und ungesund«, sagte sie und gab ihm einen Kuß.

Er zog sie an sich. »Du bist Kinderärztin«, sagte er neckend. »Kannst du überhaupt beurteilen, was für einen erwachsenen Mann ungesund ist?«

»Werd’ bloß nicht frech!« Sie schmiegte sich an ihn und seufzte: »Also, wohin fahren wir nun? Ans Meer oder in die Berge?«

»Ans Meer«, sagte er. Er gähnte verhalten. »Ich bin schon wieder müde, das ist doch nicht zu fassen. Kaum reden wir über Urlaub, da fange ich schon an mich zu entspannen – dabei muß ich noch sehr viel erledigen, bis ich meinen Schreibtisch für drei Wochen räume.«

Er dachte an Hans-Jürgen Lohsteig, seinen Stellvertreter, und eine steile Falte erschien auf seiner Stirn. Doch dann fiel ihm etwas anderes ein, und die Falte verschwand wieder. »Ich habe übrigens deinem Bruder einen Arzt im Praktikum und eine Krankenschwester zugebilligt, weil die Notaufnahme wirklich chronisch überlastet ist. Das ist zwar keine Dauerlösung, aber in den nächsten Monaten dürfte es eine deutliche Entlastung sein.«

»Wie geht ihr eigentlich jetzt miteinander um?« erkundigte sie sich neugierig. »Ich meine, die dicksten Freunde seid ihr ja nicht gerade, oder?«