Der neue Landdoktor 31 – Willkommen im wahren Leben!

Der neue Landdoktor –31–

Willkommen im wahren Leben!

Roman von Tessa Hofreiter

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER DIGITAL GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert, Oliver Melchert, Mario Melchert

Originalausgabe: © KELTER DIGITAL GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.kelterdigital.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-168-3

Weitere Titel im Angebot:

Weitere Titel im Angebot

»Papa, ich treffe mich mit Doro und ihrer Cousine am See!«, rief Emilia, während sie schon auf ihrem Fahrrad die Einfahrt zur Straße hinunterfuhr.

»Aber nicht zum Schwimmen, hoffe ich.«

»Ruderboot!« Das war das einzige, was Sebastian Seefeld noch verstand, bevor seine Tochter mit wehendem Haar in Richtung Dorf abbog.

In den letzten Tagen war es kühler geworden. Bald würde es Herbst werden. Auch an der kräftigen alten Ulme, die mit ihrem dichten Laub, den Eingang zur Praxis fast verdeckte, zeigten sich die die ersten gelben Blätter. Als er sich noch einmal umwandte und auf das Haus mit den hellgrünen Fensterläden schaute, sah er Traudel, die gute Seele der Familie. Sie trug eine Gartenschürze über ihrem Dirndl, und zwischen ihren grauen Löckchen leuchtete ein grüner Haarreifen hervor. Summend lief sie die Treppe durch den Steingarten hinauf und hinunter, kappte dort eine Blüte, zupfte von einer anderen Pflanze verwelkte Blätter ab.

Sebastian sah auf seine Armbanduhr, es wurde Zeit für ihn. Er musste in die Praxis. Die Nachmittagssprechstunde fing gleich an. Die ersten Patienten saßen sicher bereits im Wartezimmer. »Ist schon viel los, Gerti?«, fragte er seine Sprechstundenhilfe, als er gleich darauf die große Diele mit dem Empfangstresen betrat.

»Fast der gesamte Landfrauenverein hockt im Wartezimmer. Sie behaupten, sie hätten die Schlafkrankheit.«

»Die Schlafkrankheit?« Sebastian sah Gerti Fechner, die schon seit über dreißig Jahren in der Praxis Seefeld angestellt war, ungläubig an.

»Vielleicht proben sie auch nur zu viel für ihren Gesangsauftritt am Samstag.«

»Stimmt, das Oktoberfest mit dem traditionellen Landfrauensingen im Festzelt.«

»Es ist schon recht lang her, dass du zum Oktoberfest da warst.«

»Wirklich vermisst habe ich es nicht. Wenn ich nette Leute treffen will, gehe ich lieber zu Leonhard in den Biergarten.«

»Heuer musst du dich aber auf dem Oktoberfest blicken lassen. Das erwarten die Leute. Du gehörst jetzt zu den Honoratioren im Dorf.«

»Ich werde mich schon dort blicken lassen, keine Sorge. Würdest du mir sagen, warum die Landfrauen wirklich hier sind? Das mit der Schlafkrankheit war ja wohl nicht ernst gemeint.«

»Sie nennen es aber so. Wie gesagt, vielleicht übertreiben sie es mit den Proben. Sie treffen sich schon seit Tagen am Vormittag und am Nachmittag. Sogar Wanda Lind, die Musiklehrerin aus der Grundschule, haben sie für die Nachmittage engagiert. Wegen ihrer Kompetenz in Sachen Gesang. Aber die meisten Landfrauen sind halt so alt wie die Traudel und ich, das heißt, nicht mehr ganz taufrisch«, seufzte Gerti und spielte mit dem obersten Knopf ihres weißen Kittels.

»Du bist die Königin in unserer Praxis, und eine Königin braucht Lebenserfahrung. Sie darf gar nicht taufrisch sein, wie du es nennst. Sie sind alle aus dem gleichen Grund hier?« Sebastian warf einen Blick durch die geöffnete Tür des Wartezimmers. Dort gab es keinen freien Stuhl mehr.

»Alle kommen wegen abnormer Müdigkeit«, sagte Gerti.

»Gut, fangen wir an.«

»Das wird ein harter Tag«, murmelte Gerti. »Frau Kornhuber, zum Herrn Doktor!«, rief sie ins Wartezimmer, als wenig später das grüne Lämpchen an ihrer Haussprechanlage aufleuchtete. Es war Sebastians Signal, dass sie den ersten Patienten aufrufen konnte.

»Frau Kornhuber? Sind wir jetzt per Sie oder was?«, fragte die stattliche Frau in dem violetten Dirndl, die gleich darauf aus dem Wartezimmer kam.

»Das war eine für die Öffentlichkeit bestimmte Ansprache, die muss förmlich sein, liebe Therese.«

»Fechnerin, manchmal bist du schon recht merkwürdig«, stellte Therese Kornhuber fest und strich sich über den festen Knoten, zu dem sie ihr graues Haar gebunden hatte.

»Ich bin nicht merkwürdig, ich kenne mich nur in den Umgangsformen aus. Nun schick dich, du bist nicht die einzige Patientin. Gut so«, murmelte Gerti zufrieden, als Therese mit weit ausholenden Schritten in Richtung Sprechzimmer marschierte. Ich bin die Königin, du weißt genau, was du sagen musst, damit eine Frau sich gut fühlt, dachte sie, als Sebastian die Tür für seine erste Patientin öffnete und ihr, seiner Königin, noch ein Lächeln schenkte.

»Frau Kornhuber, was kann ich für Sie tun?«, erkundigte sich Sebastian, nachdem er die erste Vorsitzende des Landfrauenvereins begrüßt hatte und sie auf dem Stuhl an seinem Schreibtisch Platz nahm.

»Herr Doktor, ich bin alleweil so müde. Ich könnte den ganzen Tag schlafen. Besonders schwer fällt mir das Wachbleiben am Nachmittag.«

»Wann genau am Nachmittag?«, fragte Sebastian und sah Therese direkt an.

»Mei, Doktor Seefeld.« Mit einem tiefen Seufzer sah Therese zur Seite. Sie ließ ihren Blick durch das helle Sprechzimmer mit seinen weißen Möbeln gleiten, so als hätte sie es nie zuvor gesehen. Auch die schöne alte Vitrine aus gemasertem honigfarbenem Holz, in der Sebastians Vater die alten Medizinbücher aufbewahrte, die er gesammelt hatte, schien sie zu interessieren.

»Frau Kornhuber, haben Sie gehört, was ich Sie gefragt habe?«, hakte Sebastian nach.

»Um fünf nach der Gesangsprobe«, sagte Therese und wandte sich ihm wieder zu.

»Die Gesangsprobe im Landfrauenverein?«

»Richtig, wir treffen uns um halb vier, proben und dann hocken wir noch ein bissel bei Kuchen und Tee zusammen.«

»Gerti hat gesagt, Sie sind alle wegen der gleichen Beschwerden hier.«

»Das klingt nach einem Virus, nicht wahr, Doktor Seefeld? Jedenfalls nach etwas Ansteckendem.«

»Das kann ich so nicht sagen. Haben Sie außer der Müdigkeit noch andere Beschwerden?«

»Nein, aber so eine Müdigkeit kann doch das Anzeichen einer schlimmen Krankheit sein.«

»Das halte ich in diesem Fall für sehr unwahrscheinlich. Das wäre ein unglaublicher Zufall, wenn Sie alle an der gleichen Krankheit litten. Sie waren vor zwei Monaten zur Blutuntersuchung hier. Da war alles in Ordnung«, sagte Sebastian, nachdem er auf Thereses Krankenakte geschaut hatte, die auf dem Monitor seines Computers zu sehen war.

»Vielleicht ist es ein Virus, der uns alle befallen hat.«

»Leidet denn in Ihrer Familie oder in denen der anderen Landfrauen auch jemand an dieser Müdigkeit?«

»Nein, bisher nicht.«

»Dann ist es sicher kein Virus.«

»Was ist es dann?«

»Ich weiß es nicht, Frau Kornhuber. Aber wir werden es herausfinden. Gerti wird Ihnen gleich Blut abnehmen.«

»Abhören, Blutdruck messen, Bauch abtasten?«, fragte Therese.

»Das gehört dazu«, sagte Sebastian und legte das Stethoskop um seinen Hals.

Er hatte nicht die geringste Ahnung, was es mit dieser Müdigkeit auf sich haben könnte. Therese Kornhuber wirkte auf ihn kerngesund, und er konnte auch erst einmal nichts feststellen, was auf eine Krankheit hindeutete.

Auch die anderen Landfrauen, die nacheinander in sein Sprechzimmer kamen, wiesen keine Anzeichen einer Krankheit auf. Alle klagten nur über diese merkwürdige Müdigkeit. Er schickte sie alle zu Gerti, damit sie ihnen Blut abnahm. Gerade als Elvira Draxler, die zweite Vorsitzende des Landfrauenvereins, eine hagere Frau im grauen Dirndl, das Sprechzimmer verlassen hatte, rief Emilia auf seinem Handy an.

»Hallo, Spatz, ist etwas passiert?«, fragte er erschrocken, weil sie ihn während der Sprechstunde sonst nie anrief.

»Kein Notfall, Papa. Ich habe nur eine kurze Frage. Wer die Blutgruppe 0 hat, der kann doch jedem anderen Blut spenden. Egal, welche Blutgruppe derjenige hat, richtig?«

»Im Prinzip ja, wobei jemand mit der Blutgruppe 0 negativ die noch idealere Variante des Universalspenders ist. Warum willst du das wissen? Ist doch etwas passiert?«

»Es ist alles in Ordnung, wir haben uns nur gerade über seltene Blutgruppen unterhalten, und ich wollte dein Fachwissen nutzen. Bis heute Abend, Papa«, sagte Emilia und beendete das Gespräch.

Mein Fachwissen, aha, dachte Sebastian lächelnd und wollte schon den nächsten Patienten hereinbitten, als er noch einmal über die ›Schlafkrankheit‹ der Landfrauen nachdachte. Traudel war doch auch bei den Landfrauen. Warum klagte sie nicht über diese Symptome? Ich werde heute Abend ihr Fachwissen über die Landfrauen nutzen, dachte er, vielleicht konnte sie ihm einen nützlichen Hinweis geben.

*

»0 positiv, noch besser 0 negativ«, sagte Emilia und stieg in das Ruderboot, das Doro gemietet hatte.

»Dann schreibe ich 0 negativ«, erklärte Henriette, Doros Cousine, die am Vormittag in Bergmoosbach eingetroffen war.

»Du erzählst diesem Baldur nur Dinge über dich, die nicht stimmen?« Emilia schaute auf das Telefon, mit dem Henriette ständig irgendwelche Nachrichten an jemanden schrieb, der sich Baldur nannte.

»Balder oder Baldur, so nannten die Germanen den Gott des Lichtes. Strahlend schön und blond haben sie ihn sich vorgestellt. Denkst du, jemand, der sich so nennt, erzählt mir die Wahrheit über sich?«, entgegnete Henriette.

»Was genau erzählt er dir denn?«, fragte Emilia.

»Okay, ihr beiden, rudern wir auf den See hinaus, dann könnt ihr mich alles fragen.«

»Ich bin schon sehr gespannt auf deine Antworten, Cousinchen«, sagte Doro, die in der Mitte des Bootes saß und die Ruder in die Hand nahm.

»Das Krasseste daran ist, sich mit jemandem zu treffen, über den man absolut nichts weiß.« Emilia lehnte sich zurück, legte die Arme auf die Bootkante und reckte ihr Gesicht in die Sonne.

»Emi hat recht, das ist echt krass. Aber noch abgefahrener finde ich es, dass du den Typen ausgerechnet nach Bergmoosbach bestellt hast. Wie kann jemand, der in der Stadt wohnt, auf so eine Idee kommen?«, wunderte sich Doro.

»Weil Baldur annehmen wird, ich wohne hier. Wenn er mir nicht gefällt, dann fahre ich einfach wieder nach Hause, und er wird mich nie finden. Aber das wichtigste Argument, das für Bergmoosbach sprach, ist die Tatsache, dass hier jemand ist, mit dem ich über die Geschichte reden kann.«

»Du meinst mich?«, fragte Doro.

»Klar meine ich dich.«

»Ich gehöre jetzt auch zu den Eingeweihten«, meldete sich Emilia zu Wort.

»Was völlig in Ordnung ist«, sagte Henriette. »Meinen Freundinnen zu Hauses habe ich nichts von dieser Geschichte erzählt. Die würden vermutlich denken, ich habe sie nicht mehr alle.«

»Keine Sorge, das denke ich auch«, entgegnete Doro kichernd.

»Viel Spaß, die Damen!«, rief ein Mann, der mit seinem Telefon in der Hand aus dem Blockhaus kam, in dem das Büro des Bootsverleihs untergebracht war.

»Danke!«, rief Henriette, die nur kurz aufschaute, den gut aussehenden jungen Mann mit dem Dreitagebart aber nicht wirklich wahrnahm.

»Sie ist nicht von hier, so viel kann ich Ihnen verraten.«

»Bitte?« Der Mann mit dem Telefon fuhr herum, als Achim Baumeister, der Eigentümer des Bootsverleihs, aus dem Fenster des Blockhauses schaute.

Achim war eine sportliche Erscheinung mit wilden blonden Locken und kaum älter als der Mann am Ufer. ­Genau wie er schaute er dem Boot nach, das gerade vom Steg abgelegt hatte.

»Dunkelblondes langes Haar, grünbraune Augen, weiße Jeans, gelber Pullover. Sagt Ihnen das etwas?«

»Die Augenfarbe kann ich auf die Entfernung nicht erkennen.«

»Sie war gerade bei mir im Büro.« Achim schaute auf Henriette, die vorn im Boot saß und auf ihrem Handy herumtippte.

Emilia in ihrem leuchtend blauen T-Shirt saß hinten und Doro steuerte das Boot über den See. Ihr kurzes weißblondes Haar erschien in der Sonne beinahe durchsichtig.

»Ich denke, sie wird noch ein paar Tage hierbleiben«, sagte Achim.

»Sie interessieren sich für sie?«

»Keine Sorge, ich komme Ihnen nicht in die Quere. Ich fange grundsätzlich nichts mit Touristinnen an.«

»Ich mache mir keine Sorgen.«

»Ihr Blick sagte gerade aber etwas anderes.«

»Mein Blick hat sich nur kurzzeitig verirrt. Aber wie kommen Sie darauf, dass sie länger hierbleibt?«

»Wenn Sie nicht an ihr interessiert sind, dann kann Ihnen das doch egal sein. Sollten Sie doch interessiert sein, werden Sie es sicher herausfinden. Es sei denn, Ihr Telefon nimmt Sie auch weiterhin derart stark in Anspruch«, stellte Achim schmunzelnd fest.

»Es ist umgekehrt, ich nehme das Telefon in Anspruch.«

»Sie dürfen auch gern eines meiner Boote in Anspruch nehmen«, sagte Achim, als der junge Mann auf den Steg schaute, an dem noch drei Ruderboote befestigt waren.

»Deshalb bin ich hier«, entgegnete der junge Mann lächelnd. Er tippte noch schnell etwas in sein Telefon und steckte es dann in die Brusttasche seines Hemdes.

*

»Okay, dann erzähle mal, wie das mit deinem Baldur anfing«, forderte Doro ihre Cousine auf, als sie ungefähr in der Mitte des Sees waren und sie die Ruder feststellte.

»Die Landschaft ist wirklich traumhaft.« Henriette war es auf einmal auch vor ihrer jüngeren Cousine unangenehm, mit der ganzen Wahrheit herauszurücken.

Sie schaute auf das Wasser, das in der Nachmittagssonne in verschiedenen Farbschattierungen schimmerte. In der Mitte hellblau, am Ufer mit seinem weißen Sand aber mehr ins Türkis überging. Der See war von samtgrünen Wiesen eingebettet, die sich bis zum Fuße der Allgäuer Alpen mit ihren Tannenwäldern und vereisten Gipfeln ausbreiteten. Henriette fühlte sich plötzlich wie in eine märchenhafte Welt versetzt. Also genau die richtige Kulisse für diese Art von Geständnis, dachte sie und fasste endlich den Mut, den beiden Mädchen mehr von Baldur zu erzählen.