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Über dieses Buch:

Solange sie denken können, richten die Bewohner von Meadcombe, einem kleinen Dorf in England, ihre Wünsche an einen rätselhaften Megalith – genannt: der Peststein. Schon lange wurde keines dieser Anliegen mehr erfüllt, doch in einer Septembernacht geschieht das Ungeheuerliche: Sonia ist auf einen Schlag ihre Geldsorgen los und Marians lästige Schwiegermutter erliegt ihrem Leiden. Aber warum ist plötzlich die junge Melanie spurlos verschwunden? Die Bewohner ahnen: Der Peststein verbirgt ein düsteres Geheimnis. Und schon bald lässt er die Wünsche der Frauen zu Flüchen werden …

»Nichts für Leser mit hohem Blutdruck!« Woman’s Journal

Über die Autorin:

Gillian White stammt aus Liverpool und arbeitete mehrere Jahre als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Mit ihrem Mann und zwei Hunden lebt sie in Totnes, Devon. Vier ihrer Romane wurden vom britischen Fernsehen erfolgreich verfilmt.

Bei dotbooks veröffentlichte sie ihre Romane »Das Ginsterhaus«, »Denn du bist mein«, »Hexenwiege«, »Ein unheimlicher Gast«, »Das Familiengrab«, »Das Hotel bei den Klippen«, »Der Fluch der alten Dame«, »Du kannst uns nicht entkommen«, »Die Einsamkeit der Lüge« und »Der Nachmieter«.

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eBook-Neuausgabe Dezember 2016

Copyright © der englischen Originalausgabe 1990 by Gillian White

Die englische Originalausgabe erschien 1990 unter dem Titel »The Plague Stone« im Verlag Century, London.

Copyright © der deutschsprachigen Erstausgabe 2002 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von thinkstock/istock/AndrewJShearer

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mh)

ISBN 978-3-95824-872-4

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Gillian White

Der Peststein

Roman

Aus dem Englischen von Isabella Bruckmaier

dotbooks.

Ron, Lucy, Nat, Dan und Beck
in tiefer Zuneigung

Kapitel 1

Nicht dass ich abergläubisch wäre. Das könnte ich mir gar nicht leisten. Schließlich habe ich von Berufs wegen ständig mit Statuen, Masken und Totems zu tun … Relikten, denen die Magie vergangener Zeiten anhaftet, Zeiten, in denen der Aberglaube noch das tägliche Leben der Menschen bestimmte. Glaubte ich an diese nicht erklärbaren Dinge, müsste ich mir ernsthaft Sorgen um meinen Verstand machen.

Doch Aberglaube hin oder her, als ich meine Nachforschungen abgeschlossen hatte, begriff ich, warum die Leute von Meadcombe ohne Ausnahme verlangten, den Peststein zu entfernen. Er sollte verschwinden, sollte aus ihrem Gedächtnis und der Mitte ihres Dorfplatzes getilgt werden.

Sie glaubten tatsächlich, Wünschen allein reichte aus. Ohne Papierkrieg, ohne die Mühlen der Bürokratie! Man müsse einfach einen Bulldozer holen, brauche behelmte Männer, um den Megalithen auszugraben und auf den Lastwagen zu hieven … ihn irgendwo abzuladen, möglichst weit genug weg von Meadcombe und außerhalb des Blickfelds der Dorfbewohner.

Aber natürlich funktioniert das so nicht. Da müssen Formulare ausgefüllt und Nachforschungen angestellt werden. Man kann nicht in ein paar Minuten etwas auslöschen, das über Millionen von Jahren das Gesicht einer Gegend geprägt hat. Der Peststein ist wohldokumentiert, steht sogar auf einer Naturdenkmalliste. Er ist nationales Eigentum und ruht auf geschichtsträchtigem Grund und Boden.

Scharenweise pilgerten die Touristen wegen ihm nach Meadcombe. Von Flechten überzogen und voller Schrammen wie ein alter Wal gehörte er zu den Sehenswürdigkeiten, derentwegen die Menschen eine Reise auf sich nahmen, um sich dann, sobald man davor stand, verwundert zu fragen, ob sich der Aufwand gelohnt hatte. Ihn nur anzusehen, wurde ihm nicht gerecht. Anfassen musste man ihn. Dann spürte man ihn, so wie ihn Tausende von Fingern vor einem gespürt hatten, und man konnte versuchen, sich darauf einzulassen, wie alt er tatsächlich war. Was nicht gelingen kann. Unser Gehirn ist nämlich nicht in der Lage, diese Zeitlosigkeit zu ertragen. Es ist ein ebenso hoffnungsloses Unterfangen, wie sich auf die Heide zu stellen und die Arme auszubreiten, um die Zeit einzufangen. Dabei lag es nicht an der Größe des Steins, die beeindruckend genug war, es war seine Aura.

Bis zu dem Zeitpunkt, als diese Petition im Ministerium eintraf, hatte ich noch nie von Meadcombe gehört. Nach Beendigung meiner Nachforschungen kannte ich es gut – einige der Überlebenden hatte ich sogar persönlich kennen gelernt. Die Polizei stellte natürlich ihre eigenen Ermittlungen an und gewährte mir Einsicht in die Akten. Meine Berichte waren kurz und knapp, wobei ich mich auf die Fakten stützte. Dennoch gibt es mehr als die nackten Tatsachen, Überlegungen, die den Kern des Ganzen zwar eher treffen, die Behörden jedoch nicht interessieren. Die Natur des Menschen … die gegenseitige Überwachung, die so typisch ist für das englische Dorfleben, das Verhalten der Frauen, die gesellschaftlichen Zwänge und nicht zuletzt das Böse … das brachte bereits vor Hunderten von Jahren das teuflische Gebräu zum Brodeln.

Atmosphäre. Die Atmosphäre muss ich unbedingt erwähnen. Die monotonen Straßenzüge von Neubausiedlungen wären als Bühne für dieses Szenario sicher ungeeignet.

Ein englisches Dorf also … und kein Anzeichen des aufziehenden Sturms. Kein Windhauch, nichts. In früheren Zeiten saßen die alten Frauen in Nächten wie diesen, wenn der Herbst dem Winter Platz machte, am Herdfeuer und erzählten ihren Enkelkindern Geschichten.

Es ist Nacht, und das Dorf Meadcombe liegt unter dem lavendelfarbenen Wolltuch der umliegenden Hügel begraben. Es lugt unter seiner Bettdecke hervor wie ein in tiefem Schlummer liegendes weißes Einhorn, das sich um eine Kirchturmspitze schmiegt. Weiß gekalkte Mauern, glänzend lackierte Tore und – tagsüber – strahlend weiße Wäsche an den Wäschespinnen.

Der Peststein hatte schon immer gestört, hatte nie richtig auf den Dorfplatz gepasst. Meadcombe war ein solch normales Dorf, und dieser Stein so düster, ja unheimlich, wie er aus pockennarbigen, steinernen Augen hinunterstarrte auf seinen spindeldürren Bruder, das Kriegerdenkmal, als wäre dieses von Menschenhand errichtete Bauwerk vulgär, als reiche ein Windhauch, um es umzustoßen. Denn der Peststein ist viel, viel älter und verdankt sein Dasein nicht einer bloßen Laune des Menschen. Er wurde bei der Geburt der Erde geformt, aus ihrem brodelnden Leib hinausgeschleudert und Millionen Jahre später von einer sich langsam vorwärts schiebenden eiszeitlichen Gletscherzunge in seine gegenwärtige Position gebohrt. Und niemand weiß, wie viele Millionen Jahre er hier noch bleiben wird.

Am 19. September erreichen den Peststein nach Einbruch der Dunkelheit gleichzeitig drei Wünsche. Einer kommt von der anderen Seite der Straße, aus einem Cottageschlafzimmer, von dem aus man den Dorfplatz überblicken kann. Aus einem Cottage, an dem die Rosen die Köpfe leblos vom Spalier hängen lassen, deren Blütenblätter so gefleckt und trocken sind wie die Wangen der schlafenden Greisin im Obergeschoss.

Der zweite Wunsch kommt von dem Mädchen, das neben dem Stein sitzt und ohne irgendwelche religiösen Skrupel eine Zigarette am breiten Granitsockel ausdrückt. Und der dritte Wunsch weht zusammen mit dem Duft angebratener Zwiebeln durch die geöffneten Sprossenfenster des Dorfpubs herüber.

Jeder Wunsch ist auf seine Weise böse, auch wenn die Wünschenden anderer Meinung sein mögen. Jeder Wunsch richtet sich in der Form eines Gebets an Gott, doch der Peststein steht im Wege, lenkt die Worte ab vom Kirchturm, ihrem eigentlichen Ziel.

Der erste Wunsch kommt von Marian Law, und sie betet, ihre Schwiegermutter möge heute Nacht sterben … oder wenn schon nicht heute Nacht, dann wenigstens möglichst bald.

Den zweiten äußert Melanie Tandy – sie wünscht sich, endlich der Enge des Dorfes zu entrinnen und nichts mehr mit ihrer Familie und der Schule zu tun zu haben müssen.

Sonia Hanaford schließlich, die Dritte, die sich etwas wünscht, möchte, dass Paul und ihr die Erniedrigung eines Bankrotts erspart bleiben. Ich sprach mit Marian Laws Freunden.

Nicht dass sie gläubig war oder je gläubig gewesen wäre, aber ihre Angewohnheit, Wünsche als Gebet zu äußern, war ein Ritual aus der Zeit, als sie an ihrem Pult in der einklassigen Dorfschule lernte. Müde blickt sie aus dem Fenster, ihre Augen suchen nach dem Kirchturm, doch der Peststein versperrt ihr die Sicht.

»Lieber Gott, ich halte es nicht mehr aus«, klagt sie, nachdem sie Constance die orthopädischen Schuhe ausgezogen und ihre breiten, weißen Füße unter die Bettdecke geschoben hatte. »Die Last ist zu schwer. Lass sie sterben, lieber Gott. Es wäre eine Erlösung, eine Gnade für sie! Hilf mir, hilf mir, lass mich nicht im Stich.«

Wie lange, fragt sie sich, kann sie noch so weitermachen? Mit schweren Schritten geht sie die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, wo die Stille sie empfängt, die Einsamkeit.

Wenigstens hast du die Kinder, hatte man sie vor sieben Monaten und drei Tagen, nach Rogers Tod, zu trösten versucht. Ja, die Kinder bleiben ihr, aber wann sind die schon einmal zu Hause.

Im Krankenhaus sprach ich mit Janey Tandy, ein hoffnungsloses Unterfangen. Ich redete mit ihren Bekannten … zumindest mit denen, die sich dazu bereit erklärten.

Mit ihrem Freiheitswunsch wäre Melanie bei ihrer Mutter auf offene Ohren gestoßen. Wenn Melanie nach Hause in das kleine Reihenhaus der Tandys kommt, eines von sechs Landarbeitercottages, im übernächsten wohnen die Laws, bekommt sie beinahe Erstickungsanfälle.

»Jesus im Himmel, hilf mir, dass ich von hier wegkomm«, murmelt sie. Ihr gerade geschnittener Pony erinnert an eine russische Puppe. Schon immer hatte sie das Leben hier als eine Lüge empfunden. Doch was für eine Wahl hatte man schon als Kind? Mit den Menschen verbindet sie nichts. Obwohl sie hier geboren wurde, gehört sie nicht dazu, so wie ihr Vater dazugehört. So wie der Stein keine Wahl hatte … er war Teil des Dorfes und doch wieder nicht. Für einen kurzen Augenblick flammt ein Zündholz auf und wirft ihren Schatten über den Stein. Der Schatten gleitet schmal, zart wie eine Spinnwebe darüber und schrumpft, als die Flamme erlischt.

Ich bemerkte, dass die Leute im Dorf ganz begierig darauf waren, über die Hanafords zu reden.

Niemand außer Sonias Mann Paul vielleicht wünschte sich so sehr ein finanzielles Wunder wie Sonia Hanaford, denn das ganze Dorf und ganz besonders ihre Freunde hätten sich diebisch darüber gefreut, den Niedergang der arroganten Bewohner des Herrenhauses mit ansehen zu können … Wie gern hätten sie von dem Drama erfahren, das sich anbahnte, schließlich glaubten sie, im Gegensatz zu ihnen sei Sonia auf Rosen gebettet. Sie erweckte nie den Eindruck, als ginge es ihr schlecht, erzählte nie von irgendwelchen Schwierigkeiten. Und es ist nicht einfach mit einer solchen Freundin. Nein, Sonia war nie wirklich eine von ihnen gewesen. Verglichen mit ihnen, die jeden Pfennig umdrehen mussten und nachts wegen ihrer Geldsorgen kein Auge zutaten, führte Sonia ein sorgloses, leichtes Leben. Das dachten die Leute jedenfalls. Und Sonia und Paul Hanaford sind typische Neureiche, auch wenn Paul in Meadcombe geboren wurde. Sie sind Yuppies und wissen – anders als die alteingesessenen Bloggs, die seit Generationen ihre Besitzungen hier bewirtschaften – nicht, wie man reich ist und sich richtig benimmt.

»Stan, wir bitten dich doch nur um ein Darlehen«, fleht Sonia Hanaford ihn an, ein Teller mit Hühnchen à la Kiew vor sich. Dabei bemüht sie sich, nicht den üblichen verächtlichen Gesichtsausdruck aufzusetzen.

Stanley Hanaford starrt sie über seinen Teller mit gedünstetem Sellerie hinweg an. Wie sie das Wort nur gesagt hatte, hatte ihm ganz und gar nicht gefallen. Als ihr Schwiegervater hätte der Gebrauchtwagenhändler Stanley Hanaford mit der schweren goldenen Armbanduhr an seinem von dichtem grauem Haar bedeckten Handgelenk ihr natürlich helfen können, doch genauso gut konnte er seelenruhig zusehen, wie sie mit seinem Sohn unterging. Einfach weil er Sonia nicht ausstehen konnte. Sonia hingegen bedauert es nun natürlich, nicht netter zu ihm gewesen zu sein, wünscht sich, sie hätte ihn samt seiner Frau mit dem schütteren, wasserstoffblonden Haar häufiger in ihr elegantes Haus eingeladen, sie höflicher behandelt und nicht mit solch unverhohlenem Abscheu.

Doch selbst jetzt, wo so viele Sorgen und so viel Druck auf ihren Paisleyschultern lasten, ist es ihr peinlich, hier im Weary Ploughman mit ihm gesehen zu werden. Mit diesem sechzigjährigen Kerl, der immer ein Cowboy sein wollte, wie seine Kleidung, besonders die Jeansjacke und die Cowboystiefel mit den hohen Absätzen, verrieten … Lieber Gott, bitte lass Paul nicht Pleite gehen. Bitte mach, dass ich nicht für alle Zeit in der Schuld von Stan stehe!

»Hunderttausend, Stan«, erklärt sie, und die Schweinsäuglein des Gebrauchtwagenhändlers werden unter Sonias frostigem Blick noch blutunterlaufener.

Sie befürchtet, dass Pauls jüngster Plan dasselbe Ende nimmt wie all die anderen.

Meadcombe. Ich sah mir die Gegend an. Beschäftigte mich mit der Geschichte des Ortes. Es hätte zur Stadt aufsteigen können, wenn nicht die Eisenbahnlinie daran vorbeigebaut worden wäre. Die umliegenden Hügel waren zu hoch.

In prähistorischen Zeiten wurde der Stein allein durch seine Größe für die vorbeikommenden Jäger ein Wegzeichen. Schon bald kreuzten sich an der Stelle zwei Pfade. An dieser Kreuzung wurden ein, zwei Hütten errichtet, eine Siedlung entstand.

Jahrhunderte vergingen. Damals konnte ein Eichkätzchen das ganze Land durchqueren, indem es von einem Baum zum anderen hüpfte. Während der Glorious Revolution steckten Lord Henry Greys Jakobiten-Freunde Geheimnachrichten in die Ritzen des Steins … Frühmorgens kam ein kleiner Junge namens Nog, um sie herauszufingern. Er trug Lorbeerblätter im Haar, die ihm Glück bringen sollten. Eines Tages wurde er von den Soldaten des Königs beobachtet und verfolgt. Der reißende Fluss wusch ihm die Blätter aus dem Haar, und er wurde gefangen genommen. Nog wurde bei lebendigem Leib in einem Kessel gekocht … so heißt es in der Überlieferung …

»Ist schon merkwürdig«, sinniert Marian Law, während sie es sich in ihrem Sessel neben dem Holzofen bequem macht, der, durch dicke Steinmauern getrennt, keine zehn Meter vom Peststein entfernt steht. Ihre Füße in den warmen Socken ruhen auf dem handgewebten Teppich in Herbstfarben, auf dem die Ascheflocken wie Laub aussehen. Ihr bleibt noch eine halbe Stunde Stille, bevor die Kinder von ihrem Abend im Pub zurückkommen. Sie weiß nicht, ob sie sich auf ihre Heimkehr freuen soll oder nicht. »Ist schon merkwürdig, wie das Leben manchmal ausbricht, wie ein Vulkan, mit seinen Lavaströmen die Landschaft vollkommen verändert und die Welt unter Staub begräbt. Um sich dann wieder eine Weile zu beruhigen, bis man sich an die neue Welt gewöhnt hat und der nächste Ausbruch folgt.«

Die Kinder waren so ein Ausbruch gewesen. Neue Wege mussten gefunden werden … sie führten in die Schulen, zu Notaufnahmen, Spielgruppen und unzähligen Geburtstagspartys, Fischstäbchen, Turnschuhe, Windeln, Lego, Pantomime, Feuerwerk … Rogers Tod war auch so ein Ausbruch gewesen … der eine Menge Staub aufgewirbelt hatte, so viel stand fest. Und dieser Staub hatte sich noch immer nicht gelegt. Auch die neuen Wege mussten erst noch gebahnt, in tiefen Furchen durch ihre verletzte Seele gezogen werden. Lange, einsame Wege. Allein zum Einkäufen zu Tesco und die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer. Doch bei diesem Ausbruch war ein Klumpen Lava zu der Gestalt von Rogers Mutter erstarrt. Constance, die heimtückischerweise den Tod ihres Sohnes abgewartet zu haben schien, um auf eine so bösartige Weise senil zu werden …

»Es ist merkwürdig«, hadert Marian im Schein einer Stehlampe mit ihrem Schicksal. »Es ist merkwürdig, und es ist ungerecht.« Sie vermisst ihn so sehr, dass es ihr wehtut. Es tut ihr weh, weil sie sich über seine Mutter nicht bei ihm beschweren kann. Weil die unförmige, dicke Constance mit ihrem dichten Damenbart und ihrer Inkontinenz sein einziges Vermächtnis zu sein scheint. Und sie kann sich nicht einmal mehr daran erinnern, wie Roger aussah. Das Einzige, das ihr klar vor Augen steht, wenn sie sich sein Bild ins Gedächtnis zu rufen versucht, ist die Art und Weise, wie sein übergroßer Adamsapfel auf- und abhüpfte, wenn er lachte … was sie immer gestört hatte. Und es gibt zur Zeit nicht gerade viel zu lachen, nicht wahr, Roger? Kannst du MICH HÖREN, HAB ICH GESAGT, WO BIST DU?

Melanie Tandy hält es für das Beste, jetzt nach Hause zu gehen. Nicht etwa, weil sich sonst ihre Mutter Sorgen macht. So rücksichtsvoll zu denken ist Melanie Tandy völlig fremd. Sie will nach Hause, weil sie zu frieren beginnt und von einer Tasse Kaffee und einem Schinkenbrötchen träumt. Wie immer, abends ist in Meadcombe nichts los. Zornig schiebt sie eine Zigarettenkippe durch den Schlitz des in die efeubedeckte Wand eingelassenen roten Briefkastens.

Irgendwo bellt ein Hofhund. In der Ferne hört man einen Zug durch die dunkle Nacht rauschen. Doch ganz Meadcombe scheint zu schlafen. Nicht einmal aus dem Weary Ploughman, dem gemütlichen Herz der kleinen Gemeinde, dringt ein Laut.

Ja, man braucht sich nur den Weary Ploughman anzusehen, denkt Melanie, mit seinen Kaminböcken, den Spinnweben in den Ecken und den verlogenen Spezialitäten wie Bier vom Fass und Bohneneintopf. Damit sich die satten Schmerbäuche wie Bauern fühlen konnten.

Am liebsten würde Melanie ihre Wut hinausbrüllen. Es gibt Menschen auf der Welt, die hungern, verdammt noch mal, aber die Einwohner von Meadcombe marschieren jeden Sonntag in Schale geworfen in die Kirche, während zu Hause der Braten in der Röhre schmort. Es gibt Menschen ohne ein Dach über dem Kopf, aber die Leute von Meadcombe waschen in aller Ruhe ihre Autos und studieren Versandhauskataloge. Die Welt droht unterzugehen, doch die Hausbesitzer von Meadcombe sprühen Fichtennadelspray in ihre Häuser und zerstören alles, was nur einen Anflug von Atmosphäre hat.

Alle tun so, als würden sie einander mögen. In Wirklichkeit mögen sie nur sich selbst. Und gutes Theater, o ja, Theater lieben sie. Um keinen Preis will sie so sein wie diese Spießer. Glaubt, sich durch ihren olivenfarbenen Teint von ihnen abzuheben. Am liebsten wäre sie dunkelhäutig. Und schon gar nicht will sie erwachsen werden und einen Hängebusen bekommen und Schamhaare, die wie bei ihrer Mutter aus dem Badeanzug hervorlugen. Der an Eisen erinnernde Blutgeruch, den sie jeden Monat ausströmt, ist schlimm genug. Ihr Körper lässt sie im Stich, ihre Mutter lässt sie im Stich, ihr Vater lässt sie im Stich. Und in einem Dorf wie Meadcombe zu leben, macht die Sache nicht leichter.

»Oh give me land lots of landdon’t fence we in …« Das Lied, das Stan in der Musikbox ausgewählt hat, wird unglaublich leise gespielt. Es lohnt sich daher kaum, Geld in die Box einzuwerfen. Sicherlich kommt als nächstes My Way. Eines seiner Lieblingslieder.

Jetzt da sie weiß, dass sie keinen Pfennig aus ihm herauskriegen kann, entspannt Sonia sich und braucht aus ihrer Langeweile kein Hehl mehr zu machen. Mit ihrer Verachtung für Stan verschwendet sie nur wertvolle Energie, aber das ist ihr egal, denn sie ist dabei, sich zu betrinken. Es macht sie krank, ihren Kindern sagen zu müssen, dass sie ihre geliebte Schule verlassen und wie die anderen Dorfkinder die normale Schule besuchen müssen. Es hat keinen Zweck, Stan zu erklären, wie schrecklich das ist. Er würde es sowieso nie verstehen.

Sein Gesicht sieht aus wie eine Verbrechervisage aus dem Fahndungsfotokasten der Polizei. Noch dazu der nach unten hängende mexikanische Schnurrbart, wie man ihn von den Mr. Potato-Head-Packungen kennt. Kleine Augen und ein Fischmund. Und silbergraue Cowboyhaare.

Der wird nicht alt wie wir anderen, schießt es ihr durch den Kopf, weil ihm alles und jeder scheißegal ist.

»Einen Kaffee?«

»Ja, danke gern.«

Ihr eigenes Haar ist dicht und braun und gelockt. Und die Bräune von ihrem Griechenlandurlaub ist noch nicht verflogen … sie hatten die Kinder nicht mitgenommen, sondern sie bei Freunden gelassen. Die Urlaubsbräune passt gut zu ihrem goldenen Armreif und dem grünen Lidschatten. Auch Stanley Hanaford trägt einen Armreif … einen riesigen Ring, der einen sofort an die Nasenlöcher eines Bullen denken lässt. Sie kann den Blick nicht davon lösen, während sie erklärt: »Du meinst also nicht …« Den Löffel lässig zwischen den langen Fingern, hackt sie auf das Essen ein.

»Halte nichts davon, hab nie was davon gehalten«, erklärt Stanley mit seinem ordinär klingenden Provinzakzent. »Meine Kinder mussten immer auf ihren eigenen Füßen stehen, sich selbst durchschlagen …«

»Und Beryl, sieht sie das genauso?«

»Das hat nichts mit Beryl zu tun. Solche Entscheidungen überlässt sie mir. Nein, wie man sich bettet, so liegt man – das gilt auch für Paul.« Aus seinem Mund hört sich das an, als sei alles ihre Schuld. Wie er dieses Gespräch genießt! Wie er es genießt, dass Sonia sich vor ihm erniedrigt!

Sie merkt, wie sie in Rage gerät und weiß, dass man ihr das ansieht. Angeekelt sieht sie ihm zu, wie er die Worte mit seinen dicken Lippen formt, wie sich dabei Schaum in seinen Mundwinkeln bildet.

»Das bedeutet, dass wir das Herrenhaus verkaufen müssen.« Diesen Satz auszusprechen, ist ihr am schwersten gefallen, doch aus irgendeinem Grund berührt es sie nicht mehr. Sie fühlt sich erschöpft und ausgelaugt. Im Grunde hatten sie nicht wirklich geglaubt, dass Stan ihnen helfen würde, aber Paul meinte, einen Versuch sei es wert. »Es hat keinen Zweck, länger darüber zu reden. Ich will dieses Thema nicht die ganze Nacht durchkauen.«

Sonia Hanaford sieht die kleine Melanie Tandy, ganz in Schwarz gekleidet, wie sie vom Stein weg über den Platz geht. Die Zeit, als Sonia fröhlich durch die Gegend sprang und dabei ihre kleine karierte Tasche über dem Kopf schwenkte, scheint in weiter Ferne zu liegen. Im Haus der Laws geht das Licht in diesem Moment aus. Sie muss dabei an Augen denken, die vor Müdigkeit zufallen. Es ist spät. Sie hat getan, was sie konnte. Es ist Zeit, nach Hause zu gehen und Paul die schlechten Nachrichten zu überbringen – außer … Sie hat noch eine Karte im Ärmel stecken, und Sonia Hanaford ist zu allem entschlossen.

Cholera. 1783. Und die Leute von Meadcombe hätten Hunger leiden müssen, hätten ihnen nicht die Bauern geholfen und nachts Essen zum Peststein gebracht. Die verzweifelten und dankbaren Dorfbewohner legten ihr Geld in Essigpfützen in die Kuhlen am Stein.

Seit dieser Zeit wurden dem Stein geheimnisvolle Kräfte zugeschrieben. Es galt als Unheil bringend, im Gegenuhrzeigersinn um ihn herumzulaufen, und als Glück bringend, ihn in einer Vollmondnacht drei Mal rückwärts zu umrunden. Frauen und junge Mädchen raunten ihm ihre Träume zu.

Von Zauberkräften war die Rede. Wenn nachts die Todeshexe kam und ein Kind forderte, musste man sich nur mit dem Rücken zum Peststein stellen und den Namen seines Kindes rufen, dann war alles wieder gut. Vor zehn Jahren noch, so erzählt man sich, spielte sich hier eine kleine Tragödie ab. Eine junge Mutter, eine von den Telfords, die inzwischen aus Meadcombe weggezogen ist, stand in der Dunkelheit auf dem Platz. Ihre Verzweiflung war so groß, dass sie diese Überlieferung auf die Probe stellen wollte. Mit dem Rücken zum Stein rief sie, verrückt vor Angst um ihren Sohn, dessen Namen: »Sascha, Sascha …« Dennoch war er kurze Zeit später an Leukämie gestorben. Leute, die sie in jener Nacht gehört hatten, erzählten, ihnen hätten vor Entsetzen die Haare zu Berge gestanden.

Die Menschen begannen, Verse zu reimen:

Liegt weißer Schnee am Weihnachtstag

den Stein dreimal mit Lorbeer schlag.

Liegt das Haupt des Steins im Sonnenschein

Wird im Januar unter Euch ein Toter sein …

und so weiter.

Merkwürdige Dinge spielten sich im Umkreis des Steins ab – Rituale, Gesänge, Beschwörungen. Und in Meadcombe geschahen schreckliche Dinge: Die Witwe Garner ertrank in Dolans See … Dann die Sache mit Mutter Kiery …

Bei Bittgängen schlug man einen weiten Bogen um den Stein und, obwohl die Menschen dabei die Augen gen Himmel richteten, stellten sie ihn genau dadurch in den Mittelpunkt der Prozession. Der Stein war für sie ein Symbol des Bösen, was ihn nur noch bedeutender machte. Ware er kein Stein, sondern ein Mensch gewesen, hätte er wahrscheinlich angefangen, diese Geschichten über sich selbst zu glauben – vielleicht wäre es ihm sogar gelungen, sie Wirklichkeit werden zu lassen. Und dennoch – am frühen Morgen des 20. Septembers ist Constance Law tot, Melanie Tandy wird vermisst und Sonia Hanaford hält einen Scheck über eine Viertelmillion Pfund zwischen den Fingern ihrer sorgfältig manikürten rechten Hand.

Kapitel 2

Um begreifen zu können, was sich in diesem schicksalsträchtigen Winter in Meadcombe ereignete, muss man sich zunächst eingehender mit Melanie Tandy beschäftigen … dem Mädchen, das mit hasserfülltem Herz nachts über den Dorfplatz schleicht. Was nicht schwer nachzuvollziehen ist. Es gibt Tausende, denen es geht wie ihr. Dieser schwarzgekleideten Gestalt, die so gerne wieder ein kleines Mädchen wäre, sich jedoch über die Unmöglichkeit dessen im Klaren ist. Sie war einmal glücklich. Das vergisst sie gerne. Sie wurde geliebt. Auch das vergisst sie.

Und erwachsen zu werden, wenn man nicht erwachsen werden will, kann einem entsetzliche Angst einflößen.

Ihr Atem ging stoßweise. Exakt zweiunddreißig Schritte, dann war Melanie Tandy zu Hause, und jeder Schritt machte sie wütender, fast schnaubte sie.

Es MUSSTE JEMAND BESTRAFT WERDEN. UND DIESER JEMAND war ihre Mutter.

Als Melanie die Tür öffnete, stand Janey in ihrer Kittelschürze an der Spüle. Sie sagte kein Wort. Das war auch nicht nötig. Die Anklage stand ihr ins Gesicht geschrieben, in dem gesenkten Blick und der geräuschvollen Art, wie sie das saubere Geschirr auf das Abtropfbrett stellte. Es war zwanzig nach zehn, und sie war noch immer nicht mit der Hausarbeit fertig und hatte jetzt jemanden, dem sie dafür die Schuld geben konnte.

Melanie brachte die Kälte mit in die hellerleuchtete Küche. Sie ging geradewegs zum Wasserkocher und schaltete ihn ein. Dann holte sie sich eine frischgewaschene Tasse, die noch nass war, und gab einen Teelöffel Nescafé hinein. Er wurde tiefschwarz. Dazu drei gehäufte Teelöffel Zucker. Sie wusste, dass sie Janey damit auf die Nerven ging. Die Blicke von Mutter und Tochter trafen sich nur noch selten. Sie hatten Angst voreinander. Beide wünschten sich einen Zusammenstoß und scheuten gleichzeitig davor zurück, fürchteten, sie könnten Dinge sagen, die sie unwiederbringlich trennen würden. Und keine war sich sicher, ob sie damit zurechtkäme.

Schließlich schien die Mutter das Schweigen nicht mehr ertragen zu können: »Du bist also wieder da.«

Melanie ignorierte die Gesprächsaufforderung und rührte stattdessen wild in ihrer Tasse, sodass der Kaffee überschwappte. Die Zeit schien stehen zu bleiben, als vier Augen auf das Geklekse starrten, das sie da angerichtet hatte. Janeys sanfte, kuhbraune Augen und die kleinen, harten, Coca-Cola-farbenen Augen Melanies.

Die Geräusche des Fernsehers aus dem Zimmer nebenan blieben weiterhin gedämpft. Ein Mann hustete, und Melanie wischte die Pfütze mit ihrem Pulliärmel weg. »In Ordnung?« Eine offene Herausforderung. Manchmal erschrak Melanie selbst über ihr provokantes Verhalten.

»Pass doch besser auf …«

»Meine Schuld! Meine Schuld! Mea culpa … mea culpa.« Ihr Schädel dröhnte, drohte zu platzen, wie so oft in letzter Zeit, wenn sie mit ihrer Mutter zusammen war.

»Sei kein solches Dummerchen, Melanie. Jetzt muss ich den Pulli schon wieder waschen.«

»Der ist okay. Das passt schon.«

»Melanie, du kannst doch morgen nicht mit Kaffeedecken am Ärmel in die Schule gehen.«

»Es ist doch nichts passiert, Mum. Lass das, ja. Du musst nicht jedes Mal überreagieren.«

»Vielleicht mag Dad eine Tasse Tee, wenn das Wasser schon heiß ist.«

»Dann soll er sich eine holen.«

»Er sieht sich was im Fernsehen an.«

»Und ich trinke gerade meinen Kaffee.« Melanie beobachtete achselzuckend, wie sich Janeys Gesicht verhärtete. In ihren Augen hatte ihre Mutter etwas von einer Ratte, die in der Falle sitzt. Ihre Nase war schmal und rot, wie die einer Ratte aus einem Cartoon, ihr wirres Haar rattenbraun mit grauen Strähnen. Melanie war das egal. Ihre Mutter mit ihrem selbstverschuldeten Elend langweilte sie zu Tode. Sie hatte nicht vor, vor ihm zu kriechen wie ihre Mutter. Ein fauler Sack war er.

Melanie saß in der Küche über ihrer Tasse Kaffee und wiegte sich, um sich etwas zu trösten. Wenn sie so ekelhaft zu Janey war – was sie sein musste –, fühlte sie tief in ihrem Inneren einen harten Knoten. Als sammle sich dort etwas an, das raus musste. Aber sie konnte nicht anders. Sie musste sich so verhalten.

Und Janey sah sich suchend in der blitzenden Küche nach etwas um, was sie noch tun könnte. Solange sie sich nur nicht an den Tisch zu ihrer griesgrämig dreinschauenden Tochter oder nebenan im Wohnzimmer im Halbdunkel neben ihren schweigenden Mann setzen und so tun musste, als sähe sie sich das Billardspiel an. O ja, Janey Tandy verstand, warum Melanie so gerne rausging und sich allein auf den Dorfplatz setzte.

Manchmal liebte Janey Melanie noch immer. Zum Beispiel, als ihr Blick auf die schmalen, kindlichen Schultern ihrer Tochter fiel. Sie waren so zerbrechlich, so verletzlich. Ihr war unsäglich traurig zu Mute. Als Melanie geboren wurde, schrieb jemand unter die vorgedruckte Zeile »Wunderbar … eine Tochter!«, sie würde jetzt stets eine Freundin an ihrer Seite haben. Sie hatte vergessen, wer ihr die Karte geschickt hatte, aber diesen Satz sah sie noch vor sich. Die Schrift war krakelig, wie die Handschrift eines alten Menschen, eine Großtante oder eine alte Freundin der Familie. Und Janey dachte, dass das mit Töchtern und Müttern früher vielleicht so gewesen sein mochte. Heute war es anders.

Janey versuchte sich zusammenzureißen. Sie sehnte sich nach Harmonie. »Daniel ist heute schon wieder von seiner Lehrerin nach Hause geschickt worden. Er muss sich irgendeinen Virus eingefangen haben. Morgens scheint es ihm immer gut zu gehen, aber zur Pause, erzählt er, wird ihm immer ganz heiß …«

Ihre Tochter beachtete sie nicht, blätterte in einer Illustrierten und leckte langsam den Rand ihrer Tasse ab. Das entrüstete Gesicht ihrer Mutter genoss sie in vollen Zügen.

Um dann zu Janeys Überraschung zu erklären: »Er verarscht dich, Mum.«

»Du glaubst doch nicht …«

Melanie begann zu summen. Ihre Mutter, die ihr einst so viel bedeutet hatte, war inzwischen nur noch eine Belastung für sie. Melanie fragte sich, warum Janey ihr je wichtig war, fand, dass sie sich selbst als Frau und auch sie, ihre Tochter Melanie, verraten hatte … Eine Erziehung zur Unterwürfigkeit. Der große Verrat. Während der Herr, in sein Billardspiel vertieft, vor dem Fernseher im Wohnzimmer saß und sich nach seiner Tasse Tee sehnte, die er selbst zu machen sich kategorisch weigerte. Und von den Jungs wurde nie verlangt, bei der Hausarbeit zu helfen. Als hätte sie, weil sie männlich waren, die Krankheit ihres Vaters geerbt, als hätte er sie an sie weitergegeben und auch sie geschwächt. Nein. Melanie hatte keineswegs vor, sich mit Janey zu solidarisieren, jetzt nicht mehr, da sie nicht mehr auf ihren Schoß klettern und den Kopf in ihrer Schürze verstecken oder die hartgewordenen Teigflocken von ihren Fingern pflücken konnte.

Sie gab sich Mühe, feindselig dreinzublicken und sie zog ihre Ärmel unter der Jacke hervor, die auszuziehen sie sich weigerte. Bis sie ihre schwarzen, fingerlosen Handschuhe bedeckten, zog sie sie und rieb an der Tischkante. Wenn sie nach oben schlafen ging, würde Dad aus dem Wohnzimmer kommen und Mum würde mit ihm über sie tuscheln. Früher hatte sie sich öfter bis zum Treppenabsatz geschlichen, um zu lauschen. In letzter Zeit war ihr das gleichgültig geworden. Sie konnte sich ohnehin denken, was sie redeten. Dad schien die Flüsterei nicht lange auszuhalten. Er vergaß es einfach und wurde laut, bevor ihn Mum durch ein Runzeln der Stirn wieder daran erinnerte. Melanie hatte nie ganz genau verstanden, worum es ging … konnte nur ab und zu ein Wort aufschnappen, wenn Dad nicht aufpasste – »Geduld«, »Phase«, »Mir ist klar, für dich ist es schwerer.« Sie machten sich Sorgen, hofften, es handle sich um eine Phase. Für Janey, vermutete Melanie, war es nur eine weitere herrliche Bestrafung.

Auf ihrem Weg nach oben wollte Melanie sich wieder einen Fünf-Pfund-Schein aus Davids Brieftasche schnappen und ihn mit klopfendem Herzen und einem Schuldgefühl, das schon beinahe etwas Sexuelles hatte, ihrer Sammlung hinzufügen.

»Hast du keine Hausaufgaben auf?«

Ein kurzes, geringschätziges Auflachen. »Hab ich gestern gemacht.«

In dem sich anschließenden Schweigen fragt Janey sich, wann das gestern gewesen sein konnte. »Bist du dir sicher?«

»Na ja, ich lüge nicht, wenn du das meinst.«

Janey versuchte lediglich, ihre Tochter irgendwie aus dem einzigen Raum zu vertreiben, in dem sie selbst sich sicher fühlte. Was Melanie genau wusste und weshalb sie sich erst recht weigerte, die Küche zu verlassen. Janey würde sich doch zu ihrer Tochter an den Tisch setzen müssen, außer sie taute den Kühlschrank noch mal ab. Da sie müde war, setzte sie sich.

So saßen sie eine Weile in angespanntem Schweigen. In ihrer dumpfen Wut entging Melanie nicht, wie ihre bloße Anwesenheit ihre Mutter dazu brachte, mit dem Muster der Tischdecke zu spielen. Janeys Verwirrung spiegelte ihre eigene Verwirrung wider. Der Unterschied war, dass Melanie sich damit innerlich auseinander setzte, sie war eine Meisterin darin, ihre Gefühle zu verbergen. Bitte mach, dass sie nicht wieder mit den Jungs anfängt. Dass sie nicht wieder versucht, mir eine dieser schwachsinnigen Horrorgeschichten zu erzählen.

»Das ist eine hübsche Jacke, die Nana dir geschickt hat. Der Reißverschluss würde hochgezogen besser aussehen.« Janey konnte einfach nicht anders, als ihre Tochter immer wieder zu kritisieren.

»Ich zieh ihn hoch, wann ich will. Mir gefällt’s so.«

Normalerweise kamen Janey und Melanie besser miteinander aus, wenn ihr Vater dabei war. Es war einfacher, weil man, sobald er im Raum war, unmöglich an etwas anderes als ihn denken konnte.

Nun kam er mit Fernsehaugen in die Küche geschlurft. Voller Verachtung sah Melanie zu, wie sich Angstfalten auf der Stirn ihrer Mutter bildeten. Sie hatte dieses typisch besorgte Lächeln aufgesetzt, das besagte: »Uns geht’s gut, aber was ist mit dir, du Ärmster?«

David trug eine Strickjacke aus dem Sonderangebot wie ein Symbol des Versagens. Hätte nicht seine Frau, sondern er sie dort entdeckt, hätte er sich erbittert nach vorne gekämpft, um sie zu kaufen, denn auch wenn er schon ganz unten im Leben angelangt war, schien er zwanghaft immer noch eins draufsetzen zu müssen.

Anders als Melanie, war David äußerst anhänglich und kämpfte mit psychischen Problemen. Tausende von Pfund gab er für Therapeuten und Berater aus, um gegen seine »Melancholie« anzugehen, wie er es nannte. Und Melanie, so jung sie war, kannte den Grund für seine Traurigkeit: In ihm lebte eine Art Parasit, der das Glück langsam auffraß.

»Wenn es Daddy besser geht«, lautete der in ihrer Kindheit am meisten strapazierte Satz. »Nicht jetzt, vielleicht wenn es Daddy besser geht.« »Warum muss ich denn ruhig sein?« »Doch nur, bis es Daddy besser geht.« Melanie war wütend, dass sie so lange darauf hereingefallen war. Sie war wütend auf Janey, weil sie diese Lüge erfunden und sie alle damit infiziert hatte. Sie wollte kein Mitleid für ihren Vater empfinden … das hatte doch nichts mit Liebe zu tun. Janey engagierte sich so leidenschaftlich für die Krankheit ihres Ehemannes, dass Melanie sie verdächtigte, es irgendwie zu genießen. Doch Melanie selbst empfand nur Wut und hatte das Gefühl, betrogen worden zu sein. David Tandy war und blieb immer der Gleiche. Besser oder schlechter spielte keine Rolle. Er war so wie er war, basta.

»Hallo Schnüffel«, sagte er mit niedergeschlagenem Gesichtsausdruck.

»Hallo Dad«, sagte Melanie mit vorgetäuschter Heiterkeit. Sie hatte nicht vor, ihm eine Tasse Tee zu kochen. Niemals!

»Weg gewesen?«

»Nur auf dem Dorfplatz.« Sie merkte nicht, wie sie mit den Fingern an der Tischdecke herumspielte. Sie schauten aus den ausgefransten Löchern ihrer fingerlosen Handschuhe heraus, die sie nie auszog, nicht einmal im Sommer.

»War was los draußen?«

»Ist in Meadcombe jemals was los?«

Mit schweren Schritten ging David hinüber zum Wasserkessel, hob ihn hoch und schüttelte ihn. Als er feststellte, dass der Kessel wie erwartet leer war, seufzte er tief. Aus solchen Kleinigkeiten nährte sich sein Pessimismus, und er konnte gar nicht anders, als alles persönlich zu nehmen.

Ihren dunklen Teint hatte Melanie von ihm geerbt, auch wenn niemand in der Familie so südländisch aussah wie sie. Sie fand, dass ihr Vater, gemessen an seiner seelischen Verfassung, viel zu attraktiv war. Mit zweiundvierzig war sein Haar schon fast grau, aber von schwarzen Strähnen durchzogen. Es war dicht und drahtig wie das Haar eines Orientalen, und er ließ es bis über den Nacken wachsen.

»Ich geh nach oben.« Ihr blieb nichts anderes übrig, denn der Drang, ihm zu helfen, war einfach zu übermächtig. Dagegen half nur Flucht.

»Was ist mit deiner Tasse?«

Die stand herausfordernd auf dem blank geputzten Küchentisch.

»Räum ich morgen früh weg.«

»Du weißt ganz genau, dass deine Mutter sie wegräumt, wenn sie zurückkommt.« Er hatte ihr den Rücken zugewandt, konnte sie nicht einmal ansehen. Einen Augenblick lang verachtete sie ihn. Er setzte hinzu: »Und sie hat ohnehin genug um die Ohren.«

»Ja«, antwortete Melanie und fuhr sich durch ihr Haar.

»Dann spül sie, sei so lieb.«

Obwohl er geistesabwesend redete, war ihm die Angelegenheit wichtig, denn er hatte aufgehört, sich zu bewegen. Er war über die Spüle gebückt stehen geblieben und lauschte. Wartete, wie sie reagieren würde.

Sie könnte ihm gehorchen und die Tasse spülen, ihren Vater aus dem Weg schubsen und am Schluss wütend in ihr Schlafzimmer hinauflaufen. Nicht ohne dabei jede Menge Türen zuzuknallen und finstere Blicke über die Schulter zu werfen, wie sie es bisher immer getan hatte. Oder sie konnte cool bleiben und sich einfach weigern, diese Tasse anzufassen. Bei der Vorstellung, auf Konfrontationskurs zu gehen, wurde ihr mulmig zu Mute.

So schaffte ihr Vater es, dass seine Klassen das taten, was er wollte. Er erregte ihr Mitleid, indem er mit erschöpftem Gesichtsausdruck vor ihnen stand und sich unbeholfen zeigte. Jede seiner Bewegungen wurde von einem kleinen Seufzer begleitet. Das war seine Methode, die Zuneigung seiner Mitmenschen zu gewinnen, eine andere kannte er nicht. Er konnte nicht witzig oder mitreißend sein. Aber Davids Methode war unweigerlich erfolgreich.

Melanie zumindest hatte ihn durchschaut. Sie hatte nicht vor, dieses Spiel auch nur eine Minute länger mitzumachen. Lieber wollte sie sterben, als diese Tasse zu spülen.

»Ich gehe jetzt ins Bett, Dad«, entgegnete sie ruhig. »Und die Tasse spüle ich morgen früh. Sag Mum einfach, sie soll sie stehen lassen.«