Corentin ist 27 und arbeitet als Assistent seines Patenonkels. Mit ihren Kameras begleiten die beiden Hochzeitspaare an ihrem großen Tag. Aline, die Corentin vom Aufstehen bis zum Abend filmen soll, bittet Corentin, ihr an einen ruhigen Ort zu folgen. Sie will, als Überraschung für ihren Bräutigam, eine Liebeserklärung aufnehmen. Wie sehr Alines Worte Corentins Leben verändern werden, ahnt er zunächst noch nicht … Von nun an bringt er Freunde, Verwandte und mehr oder weniger originelle Protagonisten anderer ausgefallener Hochzeitsfeierlichkeiten dazu, vor der Kamera zu offenbaren, worum es im Leben geht – zuweilen klug, manchmal sehr lustig und natürlich auch romantisch.

 

Deuticke E-Book

 

Jean-Philippe Blondel

 

Die Liebeserklärung

 

Roman

 

 

Aus dem Französischen von Anne Braun

 

 

Deuticke

 

 

Die Originalausgabe erschien erstmals 2016 unter dem Titel Mariages de Saison im Verlag Buchet Chastel, Paris.

 

Dieses Buch erscheint mit Unterstützung des Publikationsförderprogramms des Institut français.

 

 

www.centrenationaldulivre.fr

 

ISBN 978-3-552-06343-3

© Libella, Paris, 2016

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe

© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, Wien 2017

Umschlag: Anzinger und Rasp, München

Foto: © eclipse_images/Getty Images

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

 

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

für C.L.

Sommer 2013

8. Juni

 

Der Wecker läutet: sechs Uhr dreißig. Corentin versucht, seinen Traum noch für ein paar Sekunden festzuhalten, es ging irgendwie um Wasser, um den Ozean oder um einen Fluss, aber zu spät, das Wasser hat sich zurückgezogen, und Corentin liegt gestrandet auf seinem Bett, schweißgebadet. Aurore, neben ihm, rührt sich nicht. Schon erstaunlich, dass jemand, der Aurore heißt, wie ein Stein schlafen kann. Wenn Aurore freihat, wird sie immer erst am späten Morgen wach. Corentin seufzt. Er hat absolut keine Lust auf den Tag, der vor ihm liegt. Draußen zwitschern bereits die ersten Vögel – so laut, dass man sich am liebsten ein Gewehr kaufen und auf die muntere Schar schießen würde.

Lautlos tapst Corentin aus dem Schlafzimmer. Er wirft einen Blick auf den Anzug, der an der Gardinenstange hängt. Samstag, der 8. Juni. Heute. Eine Hochzeit. Eine weitere. Sein Kopf will bereits alles vorwegnehmen – die Vorbereitungen, das Schminken und Frisieren, die Feier –, doch Corentin schüttelt diese Gedanken unwirsch ab, er will sich nicht jetzt schon damit belasten. Zuerst ein Kaffee. Eine ganze Kanne. Seine Eltern wollten ihm längst eine neue Kaffeemaschine schenken, eines dieser neumodischen Geräte, die zurzeit überall zu haben sind, mit Kapseln, die man für viel Geld im Internet kaufen kann und die »ausgezeichnete, cremige und schaumige Kaffees garantieren, pikant und aromatisch zugleich«, und deren neue Besitzer sich auf einmal verpflichtet fühlen, die Werbetrommel zu rühren und aller Welt zu verkünden, was für enorme Vorzüge die Maschinen haben, die den hohen Preis absolut rechtfertigen – doch Corentin hat dankend abgelehnt. Er hängt an seiner alten elektrischen Kaffeemaschine, deren aufgeweichte Filter manchmal urplötzlich zusammenklappen, sodass unten nur eine hellbraune, trübe Flüssigkeit heraustropft, und er hängt auch an der unmöglichen Kanne, deren Schnabel so blöd positioniert ist, dass man sich fast das Handgelenk verrenkt, wenn man das Gebräu in eine Tasse gießt. Eine ganze Kanne voll. Dazu zwei Scheiben Toast. Und Ruhe. So stellt sich Corentin ein perfektes Frühstück vor – wäre es nicht halb sieben an einem Samstagmorgen.

Fehlt noch die Lokalzeitung. Corentin ist ein eifriger Leser dieser Zeitung, und er geht kurz nach unten, um sich im Tabakladen an der Ecke ein Exemplar zu kaufen, während die Kaffeemaschine derweil den zu erwartenden Nektar ausspuckt. Seine Freunde machen sich allesamt über ihn lustig – kein Mensch in seinem Alter lese dieses Provinz-Käseblatt, in dem fast nur Todesanzeigen und Dinge wie Erstkommunionfeiern und Schulfeste, Besuche des Weihnachtsmannes in Altersheimen und die Verteilung des Dreikönigskuchens bei Sportvereinen aufgezählt werden. Das mag ja in Ordnung sein für alte Leute und für Kommunalpolitiker, die hoffen, möglichst auf jeder Seite abgebildet zu sein. Doch Corentin mit seinen siebenundzwanzig Jahren müsste am frühen Morgen wahrlich anderes zu tun haben – zum Beispiel seinen Status bei Facebook aktualisieren und eventuell ein paar SMS verschicken. Corentin entgegnet dann nur, es sei eine Art Berufskrankheit. Er hält Ausschau nach Berichten über Hochzeiten und offizielle Veranstaltungen und amüsiert sich über die Schwarzweißfotos, die aus der Schublade seiner Großeltern stammen könnten. Vor allem aber recherchiert er. In welchem Dorf hat das Ereignis stattgefunden? Welchen Beruf haben die Brautleute? Und vor allem: Wer war der Fotograf?

Corentin ist Hochzeitsfilmer. Ein Saisonjob, der im Mai träge anläuft und mit den ersten Herbststürmen im September endet. Das bedeutet fünf intensive Monate ohne freie Wochenenden, was ihm, zusammen mit seinem Halbtagsjob als Aufsichtsperson an einem Collège, ein einigermaßen passables Auskommen sichert – wenigstens solange er nicht vorhat, im Urlaub in die Vereinigten Staaten zu fliegen oder sich ein teures, neues Auto zu leisten. Hochzeitsfilmer. Wann immer er es erwähnt, runzeln seine Gesprächspartner irritiert die Stirn und fragen sich, was sie sich darunter vorstellen sollen. Normalerweise räuspert sich Corentin dann und murmelt, es sei dasselbe wie ein Hochzeitsfotograf, nur eben im 21. Jahrhundert. »Ich filme die ganze Hochzeit, von Anfang bis Ende.« Er fühlt sich oft verpflichtet zu ergänzen, dass es nur eine zeitweilige Beschäftigung sei, bis er etwas Besseres finde – doch mit jedem weiteren Jahr glaubt er selbst immer weniger daran. Er hat sein Studienfach Geschichte während des Masterstudiums an den Nagel gehängt, er sah sich nicht als Lehrer, und genauso wenig reizte ihn der Gedanke, im Kulturbereich zu arbeiten. Da hatte sein Patenonkel Yvan jemanden gesucht, der mit einer Kamera umzugehen wusste und ihm zur Hand gehen konnte. Corentin fragte, was er von ihm halten würde. Weil Yvan so überrascht war, hatte Corentin ihm die Filme gezeigt, die er während seiner Zeit im Gymnasium gemacht hatte – Kurzfilmchen, die zwar eher uninteressant waren, aber bewiesen, dass er etwas vom Filmen versteht. Yvan zuckte mit den Schultern – na ja, warum eigentlich nicht? Man könnte es ja mal versuchen.

Jetzt bilden sie ein Duo, der Patenonkel und sein Patensohn. Fünfundzwanzig Jahre Altersunterschied. Fast keine gemeinsamen Interessen – Corentin neigt eher zu intimistischen Romanen, Yvan zu Abenteuererzählungen; Corentin liebt das asiatische und kontemplative Kino, Yvan ist ein absoluter Fan amerikanischer Serien; Corentin findet, dass Ökologie Vorrang haben müsste vor wirtschaftlichen Interessen, Yvan antwortet, er müsse Tomaten auf den Augen haben – und doch kommen sie bestens miteinander klar, sehr zum Erstaunen von Corentins Vater, der immer schon Yvans bester Freund war. Eine Beziehung festigt sich durch Gewohnheiten, die sich einschleifen, wenn man zu zweit arbeitet – der Körper des anderen wird einem zunehmend vertrauter, sein Geruch, der Platz, den er einnimmt (Yvan, der in jungen Jahren ein begeisterter Tennisspieler war, hat ziemlich nachgelassen, ehrlich gesagt), man weiß, wie der andere tickt und was er denkt, welche Assoziationen er mit welchen Begriffen verbindet, welche Witze er macht oder welche Witze er nicht mag. Sie werden oft für Vater und Sohn gehalten. Dann widerspricht Yvan zwar immer vehement, doch man spürt, dass es ihm im Grunde schmeichelt. Yvan hat keine Kinder. Ein kompliziertes Liebesleben – eine jahrelange Beziehung mit einer verheirateten Frau, die niemals ihre Kinder verlassen wird, und die hin und wieder durch eine mehr oder weniger lange Affäre mit anderen Frauen unterbrochen wird, die sich mehr Aufmerksamkeit erhofft und sich gewünscht hätten, er wäre wenigstens samstags und sonntags da, was soll dieser Beruf, der einem die Woche über so viel Freizeit lässt, einen am Wochenende aber komplett in Beschlag nimmt? Keine ist geblieben, doch Yvan hat auch nicht versucht, sie zu halten. Manchmal warnt er Corentin: »Wenn man den ganzen Sommer über eine Hochzeit nach der anderen ertragen muss, ist einem irgendwann schlecht von so viel Törtchen, Champagner und Räucherlachs. Und dann all die Sticheleien, Vorwürfe und Feindseligkeiten, die man hinter der Kamera mitkriegt, das geht einem gewaltig auf die Nerven, auf jeden Fall nimmt es einem jede Lust, auf der anderen Seite des Objektivs zu sein, und das hat zur Folge, dass man, nun ja, in seinem Leben auf der Stelle tritt. Aber untersteh dich, meinem Beispiel zu folgen, Corentin! An einem gewissen Punkt musst du mit dem Job bei mir aufhören, du suchst dir eine richtige Arbeit, Vollzeit, oder aber du spezialisierst dich auf Hochzeitsvideos, doch dann musst du ein richtiges Unternehmen aufziehen, keinen kleinen Betrieb wie wir, und weißt du was? Du vergibst die Aufträge an Subunternehmer, überlässt die eigentliche Arbeit den anderen und drehst derweil Däumchen. Du vergrößerst den Laden, nennst dich Corentin Mariages und kümmerst dich nur um Akquise und Marketing, das ist alles. Versprich mir, Corentin, dass du nicht im Morast stecken bleibst, ja?«

Yvan redet gern und viel. Er kann ganze Monologe halten, minutenlang, während er nebenbei die Kamera einstellt, zoomt oder Linsen säubert. Corentin, der eher wortkarg ist, stört das nicht. Er mag dieses Hintergrundgeräusch, das ihn an den Fernseher im Wohnzimmer seiner Eltern erinnert. Yvan war einer der Trauzeugen bei der Hochzeit von Corentins Eltern, und er war auch schon Zeuge gewesen, als Corentins Vater – Pascal – seine zukünftige Frau – Pascale – in einer Disko auf dem Land kennengelernt und sich sofort in sie verliebt hatte, vor ungefähr dreißig Jahren. Zu einer Zeit, die Corentins Eltern gern als »gut« und »alt« bezeichnen, während Yvan nicht aufhört, über die achtziger Jahre zu schimpfen, die violettblauen Klamotten, die einstudierten Posen der postmodernen jungen Leute, und diese Musik, mein Gott, diese Musik, die einem Lust gemacht hat, mit einem Baseballschläger in den nächstbesten Plattenladen zu rennen, um alles kurz und klein zu schlagen. »Das muss man sich mal überlegen«, fährt Yvan gern fort, »heute kommt dieser ganze Vintage-Quatsch wieder groß raus, schön verkitscht, und alle träumen davon, zu jener Zeit zwanzig gewesen zu sein, weil es das Goldene Zeitalter war! Echt, ich würde diese Leute liebend gern in die Ära von Reagan und Thatcher zurückschicken, in die Zeit, als AIDS aufkam, Tschernobyl und die ersten Trader, du würdest staunen, wie schnell sie da den Schwanz einziehen würden. Die achtziger Jahre waren genauso scheiße wie die jetzt, Punkt, Schluss, aus!«

Corentin lächelt, während er seine dritte Tasse Kaffee trinkt. Er mag Yvan sehr. Mehr als seinen Vater übrigens – und vermutlich sogar noch mehr als seine Mutter. Eines steht jedenfalls fest: Er verbringt sehr viel mehr Zeit mit ihm als mit seinen Eltern. Mit seinen Eltern, die sich ebenfalls Sorgen machen, die Stirn runzeln und sich fragen, wann ihr Sohn endlich eine »richtige« Arbeit finden wird, etwas Solides, damit er eine Familie gründen, Kinder bekommen und ein Häuschen kaufen kann, denn man ist schließlich auf der Welt, um die Traditionen seiner Vorfahren fortzuführen, nicht wahr? Corentin hält sich bedeckt. Er hat noch immer keine genaue Vorstellung davon, was er beruflich gern machen würde. Bis vor einigen Jahren hatte er auf diese Frage immer geantwortet: »Regisseur. Oder Cutter. Toningenieur. Irgendwas mit Kino oder Theater«, aber sich an einer entsprechenden Hochschule anzumelden hat er bisher nicht geschafft. Er sagte sich, es sei besser, zuerst einmal praktische Erfahrungen zu sammeln. Dabei wusste er ganz genau, dass er sich etwas vormachte.