Über das Buch

»Krebs, das ist das richtige Anfangswort«, so beginnt Péter Esterházy das Tagebuch seines letzten Jahres. Er spricht in der von diesem Satz geschaffenen Stille, auf unverwechselbare Weise: Er spielt, forscht nach, spottet, betet und singt zuweilen geradezu – für den oder die, die sich dort drinnen eingenistet hat. Was ist, wenn sich der eigene Körper auf einmal gegen das Schreiben wendet? Wie hält der Schriftsteller, dessen Werk auf die Unentwirrbarkeit von Wirklichkeit und Dichtung aufbaut, seine Tage fest? Was passiert mit der »ontologischen Heiterkeit«, wenn die tödliche Krankheit zur täglichen Übung wird? Kann der Bauchspeicheldrüsenkrebs als Liebesgeschichte beschrieben werden? Keine einfache Geschichte.

Péter Esterházy

Bauchspeicheldrüsentagebuch

Aus dem Ungarischen von György Buda

Hanser Berlin

Sonntag, 24. Mai 2015

Krebs, das ist das richtige Anfangswort, wenngleich es nicht sofort fiel, gar nicht so bald, wobei ich nicht denke, die Ärzte hätten das Wort gemieden. Ich war es ja sogar, der heiter danach fragte. Ein wenig in der Art, wie ich es in Esti tat, dort hatte ich über Szebenis Krankheit phantasiert. Es künstlerisch gefasst. Ich will mir das jetzt nicht anschauen, erst später einmal, bin neugierig, wie ähnlich meine Reaktion jetzt ausfällt. Ende April zeigte sich ein leichter Schmerz, wie ich mich erinnere, unterhalb der rechten Rippen. Oder der linken? Ich beschäftigte mich nicht damit. Dann stellte man die Diagnose: Bauchspeicheldrüsenkrebs, mit Metastasen in der Leber. Aber es hatte schon im Herbst kurz stechende Schmerzen gegeben. Da achtete ich auf die Schmerzen, und ich machte mir auch Notizen. Ich schrieb sogar das Wort Bauchspeicheldrüse nieder, allerdings mehr oder minder zufällig, das heißt unschuldig. Ich habe immer Zettel zur Hand, um alles jederzeit notieren zu können, aber ich bin kein (richtiger) Tagebuchschreiber. Ein Tagebuchschreiber würde das Datum überprüfen, er würde den Tag mit allem Drumherum festhalten. Als ob mich nur das Unheil zum Tagebuchschreiber gemacht hätte. Wie es auch im Fall der Verbesserten Ausgabe geschehen war. Ich versuchte, versuche, das Unheil am Schlafittchen zu packen. Es unter das Joch der Sätze zu zwingen. Das Joch der Sätze – ja, das Unheil zeigt sich in diesen Bildern.

Ich will mir nichts ausmalen, werde mir aber Vorstellungen machen. Ich muss auch noch Devecseris Buch anschauen, Ahasfelmetszés előnyei [Über die Vorteile des Bauchaufschlitzens]. Gestern hatte ich danach gesucht, es aber nicht gefunden. Vielleicht Herrndorf, er hat auch so ein Sterbebuch. Und Brodkey. Harold Brodkey: Die Geschichte meines Todes. Nicht als würde ich sterben, oder als wäre mir das in Aussicht gestellt. Noch ist nichts in Aussicht gestellt.

Dienstag, 2. Juni 2015

Von Mittwoch bis Sonntag in Berlin. Ich wollte und ich hoffte, Notizen machen zu können, dieses Tagebuch fortlaufend zu schreiben, doch habe ich keine einzige Zeile geschrieben. Ich hing herum, es gab einen Abend bei Gauck im Schloss Bellevue, ein Kulturabend mit dem Thema Übersetzen. Ich absolvierte mit Mora ein Pas de deux, unter, nach den intelligenten Peitschenhieben des Dompteurs Denis Scheck.

Ich müsste mich an das Thema halten, mich an der Bauchspeicheldrüse festhalten. Die Situation nervt, sie erinnert mich an die Verbesserte, hier wie dort dieser ärgerliche Zwang zum Realismus. Dass nicht nur Dinge Legitimität besitzen, ja, dass nicht nur die genehmigt werden können, die wirklich (kursiv!) existieren, sondern dass ausschließlich diese von Interesse sind. Die Wirklichkeit als ästhetischer Maßstab – wer hat so etwas je gehört!

Ich habe eben Frau Dr. D. gesprochen, die, man könnte sagen, unerwartet meine Internistin geworden ist und die meine Blutverdünnungsgeschichte schon seit Jahren überwacht. Eine nette, gestrenge Frau. Ich wollte ihr berichten, was ich bisher erfahren hatte, doch sie war schon informiert, sie wusste alles, alles das, was ich bisher erfahren hatte. Nur wusste sie das Alles vielleicht anders, sie verstand es besser. Ich begriff diese Dinge ziemlich langsam. Begreife sie langsam.

Ich betrachte meine berühmte ontologische Heiterkeit (ein Ausdruck von Miklós Mészöly). Noch sehe ich sie nicht angegriffen. Nicht einmal in Bezug auf mich selbst. Ziemlich viel »noch« – ich bin ein vorsichtiger Draufgänger. Ich stehe am Anfang des Endes, könnte ich witzeln (blödeln, schrieb Ursula März, die ich sehr mag, über die Mantel-und-Degen-Version; das tat mir nicht wohl).

Ich versuche mich daran zu halten, diese Notizen im Gegensatz zu meiner Gewohnheit nicht umzuschreiben, nicht nachträglich zu redigieren, sondern so, halb ungekämmt stehenzulassen. Das hängt auch davon ab, wer sie in die Maschine schreibt. Werde ich das tun, dann schmiere ich sicher hinein, ich verfahre so, wie mit einem Text verfahren werden muss. Bis dorthin: Schreibe Gedicht, wie kommt.

Ein Zeichen, nennen wir es ein Zeichen, wiewohl ich nicht darauf kam, es könnte ein Zeichen von irgendetwas sein, das erste Zeichen gab es vor einem Monat (das im Herbst hatte ich vergessen), am 2. Mai schrieb ich in mein Notizbuch: Bauch, gering erhöhte Temperatur, den ganzen Tag gelegen. (Das bezeichne ich nicht als Tagebuch. Das ist nur eine Erinnerungsnotiz. Das Tagebuch erinnert nicht, es vergegenwärtigt.) Das ganztägige Liegen im Bett hat mir gutgetan, ich erinnere mich. Als hätte ich die Schule geschwänzt und dazu nicht einmal meiner Mama etwas vorspielen müssen, die 37,2 auf 38 hochtreiben, ich konnte auch so im Bett bleiben. Um mir solche Dinge zu gestatten, bin ich schon seit gut fünfunddreißig Jahren meine eigene Mama geworden. In dieser Eigenschaft bin ich nicht besonders nachgiebig, aber ich kann mir gegenüber schon weich werden. Wie das meine richtige Mama auch konnte. »Doch gibt es neben den Ähnlichkeiten noch andere Unterschiede.«

Einem plötzlichen Entschluss folgend lief ich mit dem Heft aus meinem Zimmer, um das bisher Geschriebene vorzulesen. Das Verlangen, es zu zeigen, wie seit Jahrzehnten. Der Text ist ein Text ist ein Text, einerlei, ob es sich um ein persönliches Bekenntnis, um einen Bericht handelt, es existiert als Text und kann als Text zur Kenntnis genommen werden; so sinnierte ich: Das ist nicht ganz richtig, manchmal können hinter oder unter einer unbeholfenen (amateurhaften) oder einer nicht mehr kontrollierten (Todesnähe) Formulierung wichtige Botschaften stecken, über das Leben und über die Leben, über Endlichkeiten und Unendlichkeiten.

Mit einem Wort, ich hätte Gitti überrannt, wie gewohnt, sie möge sich das sofort anhören, sagen, wie es ist, dabei wollte ich nur hören, ob es gut ist. Nein, ich wollte hören, dass sie sagt, es ist gut. Sie war aber eingeschlafen, sie lag auf dem größeren Sofa, zugedeckt mit diesem roten, gestrickten Etwas, ich sah ihr Gesicht, es zeigte nicht die Leichtigkeit des Ruhens, sondern etwas Schweres. Vielleicht noch nicht mein Schweres, sondern nur … ich weiß es gar nicht, vielleicht, dass wir alt geworden sind, und da braucht man am Nachmittag ein Schläfchen. Wie es im Ungarischen scherzhaft heißt: Der Eifer hat sie übermannt. Ich schlich leise zurück.

Ich ging hinaus, in den Garten. Gitti hatte gestern wieder Streit mit dem Nachbarn. Ich will nicht ins Detail gehen, das hatte mich eigentlich nie interessiert, und jetzt interessierte es mich noch weniger. Ich hatte mich »in dieser Sache« nie besonders mannhaft verhalten. Sag schon.

Mittwoch, 3. Juni 2015

Vor der heutigen Konsultation (Unterhaltung) wollte ich unbedingt die Anfänge aufschreiben, doch die Zeit verrann gestern schon und heute Morgen wieder, wie das neuerdings immer der Fall ist. Ich war noch nicht auf mein Arbeitstempo eingestellt. Ich musste los, zur Onkologie in der Kékgolyó-Straße. Die Angst holte mich ein. Furcht, Aufregung. Wie wird es sein. Welche Entscheidungen muss ich treffen. Die gestern erwähnte ontologische Heiterkeit erscheint heute, abgesehen davon, dass sie spurlos verschwunden ist, aber auch sowas von irrelevant. Wenn sie also weg ist, ist sie weg, und wenn sie da ist, zählt es nicht. Und außerdem das Übliche: Ob ich mir Einfälle wie onkologische Heiterkeit nicht lieber versagen sollte.

Ich bin aufgeregt wie vor einer Prüfung. Wie vor einem Auftritt. Preisverleihung. Der Bauchspeicheldrüsenorden der Großen Onkologischen Verdienstmedaille. Bisher diente der Große Arschorden als gehobenes Medium des Scherzes. Halt. Ich muss gehen.

Ich bin angekommen. Mein Termin ist um 12, jetzt ist es 11 Uhr. Meine Nummer lautet 77. Ein Korridor. Jetzt kommt eine Frau um die fünfzig heraus. Sie spricht ins Leere, spricht zu allen oder zu ihrem Bekannten neben mir oder zum Unbekannten: Das ist doch unglaublich! Ich muss diese Scheiße noch ein Jahr lang nehmen! Ich habe gedacht, ich bin fertig, für Juli haben wir schon den Urlaub gebucht.

Ich schreibe, was ich höre. Muss ich jetzt alles notieren? Was ist das Alles? Das ist die erschreckende Frage des Tagebuchschreibers, auf die es keine Antwort gibt.

Vorhin hat einer der Arbeiter auf dem Hof seinem Freund etwas nachgerufen, der Freund wendete sich grinsend um: Ich höre Laute, sehe aber niemanden. Als ich nach einigen Schritten bei ihnen war, sagte auch ich grinsend: Ich höre Laute, sehe aber niemanden? Sie nicken, ja. Gutgelaunte Typen im Reich der Lustlosigkeit. Das ist gut, das kaufe ich, sage ich ihnen. Sie verstehen es nicht, scheinen es aber in Ordnung zu finden … also im Wesentlichen: mich.

Als wäre ich schuldig. Ich spüre diesen Druck auf dem Herzen und im Magen. Und dann würde hier mein Urteil gesprochen? Eine ziemlich platte Empfindung. Sie wird auch durch die Kafka-Interferenzen nicht besser. Einerlei, sei es, wie es sei. Ich sitze auf dem überfüllten Gang mit den anderen Verurteilten. Jetzt fällt mir noch das Fegefeuer ein, ich glaube, wegen des Wartens.

Kann sein, dass ich um 1 doch noch anklopfen muss, es haben nicht alle einen Termin. Jetzt müsste ich aufpassen, mich erinnern, was war und was ich wie vortragen sollte. Ich bin aufgeregt, befürchte, jetzt etwas zu verderben. Wie gern wäre ich ein Kind – fällt mir gerade rechtzeitig ein –, dem die weisen, alles wissenden Erwachsenen sagen, was es tun müsse, und es zugleich beruhigen, es werde schon gutgehen, es sei schon gut. Dabei ahne ich, es ist nicht gut und ich werde jetzt erfahren, wie ungut es ist. Das Ausmaß und die Beschaffenheit des Übels.

Bis dorthin unterhalte ich mich, wie sich kranke Pensionisten unterhalten. Seit 2009 Dickdarmkrebs, fünfundsiebzig Behandlungen, keine Infusionen mehr, Tabletten. So viel konnte ich in Erfahrung bringen. Aus ihnen herausholen.

Freitag, 5. Juni 2015

Der gestrige Tag ist ausgefallen, ich mag das nicht, ich würde den Ereignissen gern folgen, mit Worten, wenn auch nichts geschieht. (Klagen des armen kleinen Tagebuchschreibers.) Ich war eben im Margit-Spital, bei meiner lieben Ärztin D., ich signierte ihr ein Buch mit einem eher schwachen Widmungstext, nämlich »noch am Leben«. Möge sie es nicht missverstehen, es war nicht so gemeint, dass ich trotz ihrer Behandlung noch am Leben bin. Ich kann mit ihr gut über alles reden. Sie macht sich so schön Sorgen, wie eine Mutter. Es fällt mir schwer zu glauben, dass es um mich geht, sage ich ihr. Mir auch, sagt sie. Und, dass zum Beispiel die Bauchspeicheldrüsenenzyme noch im März ganz in Ordnung gewesen seien. Und überhaupt, keine Anzeichen. Mir geht es auch jetzt gut. Wenn ich es sehr darauf anlege, kann ich unter den rechten Rippen etwas spüren.

Ich muss aufhören, ich gehe zum Liszt-Ferenc-Platz, ich soll signieren. Das schreibe ich schon hier, im Büro der Buchhandlung der Schriftsteller. Kann es sein, dass ich das gar nicht tun sollte, über das Schreiben schreiben, sondern strikt nur über die Bauchspeicheldrüsenfee?

Dienstag, 9. Juni 2015

Es ist drei viertel 7 am Morgen. Ich sollte mich um viertel 8 hier einfinden, in der Kékgolyó-Straße. Ich bin früher eingetroffen, sitze auf einer Bank, unter sogenannten schattenspendenden Bäumen, wie in einem gemütlichen Hain. Vereinzelt kommen Leute. Mir gegenüber eine im weißen Mantel, eher Ärztin als Schwester, sie liest. Ich habe sie gegrüßt, sie hat den Gruß nicht erwidert. Ich weiß nicht, ob ich für einen ganzen Tag hier bleiben muss oder ob ich schon heute nach Hause kann. Schlussendlich weiß ich gar nichts.

Ich habe Angst. Oder ist das Furcht? Die Bauchspeicheldrüsenfee sagt mir, hier könne ich meine Heiterkeit einpacken. Dass die Kommunisten auch durch das Lachen besiegt wurden, durch das Auslachen, und dass das auch mit dem Krebs funktioniere, entgegne ich. Die Heiterkeit ist des Herrn, sagt sie. Und weiter, ich möge mein Leben radikal über-, durch- und neu denken. Das verstehe ich und auch wieder nicht. Ich mache mich auf, es ist sieben Uhr. Mein Magen ist schwer. Was kommt auf mich zu.

Nach einer unbeholfenen Suche fand ich schließlich das Schwesternpult. Ich stand schon mehrmals vor einem »Tor zum Gesetz«, doch zum Glück nicht ausdauernd. Hier wurde ich dann freundlich aufgenommen. Blutabnahme, ging glatt, leicht. Ich musste das Blut ins Labor hinüberbringen. Ich erkundigte mich bei sage und schreibe vier Personen, bis ich es endlich fand. Meine Intelligenz reichte gerade noch.

Ein Mann hielt mich an, er wollte mir die Hand schütteln. Tränen schossen ihm in die Augen, als er mir gute Gesundheit wünschte. Sie sagen es am richtigen Ort, antwortete ich mit der gewohnten imbezilen Heiterkeit.

Ich darf heiter sein, aber nur nebenbei. Wissend, dass es nicht zählt. Nur so heiter sein – wenn es geht. Siehe die späte, herzverkrampfende Fröhlichkeit um jeden Preis bei István Eörsi.

Zurück aus dem Laborgebäude. Die Putzfrau sieht mich an, wer sind Sie, ich kenne Sie. Ich bin versucht, affig zu reagieren, ja, das möchte ich auch wissen, wer ich sei. Übrigens ist das nicht wahr. Könnte jetzt gerade das vonnöten sein: die Selbsterkenntnis? Wieder kommt mir die Verbesserte in den Sinn: dass ich zu etwas gezwungen werde, in dem ich nicht gut bin. Wäre das die Bedingung einer ultimativen Erneuerung? Das ist grinsend auszusprechen, minimo calculo ironisch. Es ist so etwas wie »tief« sein.

Zurück zur Putzfrau. Ich sage meinen Namen, flüstere beinahe, bescheiden, wie ein hochmütiges Veilchen. Darauf sie: Was sind Sie doch für ein guter Schriftsteller! Das sagt sie so natürlich, so einfach, als lobte sie eine Erbsensuppe. Sie fragt, zu wem. Ich sage den Namen. Die ist gut, ein bisschen grob, aber die ist die Beste, ich bin fünfzehn Jahre hier und weiß, was ich weiß. (Sie ist jetzt eingetroffen, hat relativ freundlich gegrüßt. Trägt Bermudas, vielleicht deshalb. Ich vertraue ihr.)

Krankheit als Metapher, Sontag, das lese ich hier auf dem Gang. Wie kristallklar! Ich will das später exzerpieren. Schade, dass wir uns nicht näher kennengelernt haben. Zugegeben, es gab keine gemeinsame Sprache.

Mittwoch, 10. Juni 2015

Ich habe hier geschlafen, gut, in einem Zweibettzimmer. Gestern Biopsie. Die Frau Doktor. So ein liebes Gesicht wird an keiner Universität gelehrt. Ich habe etwas zum Verzögern der Darmbewegung bekommen, weil sie zu stark ist. Meine Gedärme tanzen. Ich plane die Route, sagt sie. Die Route der Nadel. Sie gibt kein Schmerzmittel, weil das allein schon so schmerzlich wäre wie das, wogegen es gegeben wird.

Wie die Nadel durch die Bauchwand geht, da gibt es Schöneres. Überhaupt, das gilt für das Ganze. Es ist nicht sehr schlimm, aber es ist schlimm. Zwanzig Minuten. Dann schieben sie mich hierher zurück. Ich soll ruhen, lautet die Anweisung. Seit vier Uhr Sturm, Regen, Dunkelheit – kleine Golgatha-Paraphrase.

Was ich jetzt schreibe, langweilt mich ein wenig, was nicht gut ist. Gestern habe ich Sontag gelesen, Stellen unterstrichen. Ich werde es dann exzerpieren. Vielleicht nicht hier hinein, sondern in das schwarze Moleskine-Heft.

Beim Nachbarn ist die Biopsie nicht gelungen, sie muss in 2, 3 Wochen wiederholt werden. Ist halt so, sagt er resigniert. Wir unterhielten uns über das Angeln (er hatte schon ein 30-Kilo-Wasauchimmer gefangen) und über Autos. Er hatte einen Moskwitsch, der ihm fast sofort auseinandergefallen war (er erzählte detailliert, was alles, Kolben, Motordingsbums), und danach war alles voll in Ordnung.

Er ist gut sechsmal operiert worden, hat jetzt einen Ausgang zur Seite. Er streichelt das Säckchen ständig. Wenn es warm ist, löst sich dort irgendetwas ab, was, das habe ich nicht genau verstanden, vielleicht die Klebestellen. Jetzt zieht er sich an, weil er gehen darf, ein gutgebauter Typ, ein Jahr jünger als ich. Durch seine Unterhose ist die Windel zu sehen, zu ahnen, würde ich sagen.

Er erzählt, wie oft er schon Chemo bekommen hat, seine Venen sind schon ganz verbrannt. Dort wird nichts mehr gegeben und genommen, bemerkt er wie ein übermütiges Kind, das jemandem einen tollen Streich gespielt hat, wem, also das wird nicht angegeben.

Gestern hatte es gewaltig geblitzt, ich hatte keine metaphysischen Vorstellungen, wobei ich dem Nachbarn sagte, er scheint zornig zu sein. Er antwortete nicht (der Nachbar).

Möglicherweise muss ich eine andere Perspektive wählen, ich bleibe wieder kleben beim Schreiben. Es stört mich ziemlich, dass die »Güte« dieses Textes von den Lebensaussichten seines Autors abhängig ist. Was ist das wieder für ein Satz. Dann also neu: Dieser Text ist dann zugkräftig, wenn ich an meiner Fee sterbe. Wenn ich schon weit weg bin, teurer Leser, während du das liest. Welch unfairer Vorteil, so arbeiten zu können. Und mein Tod wandelt sich so zu einer koketten Idee.

Und wo, zum beschissenen Henker, bleibt wieder die Tragödie? Na, sie wird schon irgendwie hereinsickern. Auch das ist wie so vieles beim Schreiben, man kann nicht wollen.

Am Morgen haben sie mir Blut abgenommen, ich muss das Ergebnis abwarten. Hierzu (zu diesem Satz) fällt mir ein: Ich muss mich trauen, monoton, langweilig zu sein. Ob die aufeinandergeschobenen Lagen von Langeweile etwas anderes ergeben? Etwas Fatales? Das unaufhaltsame Ende, das sich aus diesen kleinen, unbedeutenden Stücken zusammenfügen würde, Blutabnahme, die Peristaltik verlangsamende Medikamente, Krankenhausgeruch, Warterei, Gereiztheit, Müdigkeit, Lustlosigkeit, Schrille und Venen?

Ich sitze nur hier und warte auf den Befund. Weder lesen noch schreiben noch nichts. Na, das müsste vermieden werden. Mit einem Wolfshunger sich zu Tisch –

Sonntag, 14. Juni 2015

Schon wieder sind Tage ohne Notizen verstrichen. Dass ich nicht mit dem Brief an die Kinder fertig geworden bin, ist ärgerlich. Bevor, jetzt kommt …

Mittwoch, 17. Juni 2015

Tage sind verstrichen, usw.

Heute Morgen kam ich in die Kékgolyó-Straße, um die Chemo zu beginnen. Ich schreibe das ungern so. Richtig heißt es Chemotherapie. Sonst klingt es verniedlichend.

Ich warte auf den Cocktail, darauf, dass wir anfangen. Vorher war ich bei der Frau Doktor. Ein Albtraum, sage ich und meine damit die Menschenmenge auf dem Gang, was sie beinahe beleidigt. Wieso, mussten Sie vielleicht lange warten? Nein, ich klage nicht. Aber Sie sagten doch, ein Albtraum. Wie eine Lehrerin, die sagt, ich drücke mich unklar aus. Aber ich mag sie. Sie gibt mir das Gefühl, dass sie etwas davon versteht, dass sie mich, wenn auch nicht unbedingt persönlich, aber doch heilen wird. So in der Art.

Davor hatte mich jemand angesprochen, er war Automechaniker bei den Kovács. Ja Scheiße, mir haben sie einen künstlichen Ausgang verpasst, Scheiße, und was hast du? Bauchspeicheldrüse? Auweh, Scheiße, das ist aber beschissen. Darüber mussten wir laut lachen. Die viele Scheiße tat mir wohl. Als redeten wir von der Lebenskraft. Ich musste mich weiter weg stellen, hörte noch, wie er erzählte, wer ich sei, ja, ja, der Bruder vom Marci. Dann sagte er noch mit einem Stilbruch, eine total normale Familie.

Gestern habe ich Daisy mit meiner Krankheit überschüttet. Sie nahm es gelassen auf. Dass sie schon das letzte Mal gesehen habe, dass etwas nicht in Ordnung sei. Kati H., die ich gestern auch besucht hatte, bei der ich mich aber ausschwieg, sagte, wie gut ich jetzt aussehen würde, bei der Buchwoche aber hätte ich wie gerädert ausgesehen, sie habe schon gedacht, mir fehle etwas. Aber, ich bitte dich, meine Liebe.

Ich habe auch Szüts’ Verdacht zerstreut. Er zeigte mir wunderschöne Bilder und gab mir auch das Buch mit den Bildern, auf das, in das ich schreiben sollte. »Es wird einmal«-Texte.

Und am Sonntag habe ich mit dem Ganzen, mit meinem Ganzen die jungen Hunde überschüttet (wie viel des Schüttens!).

Erinnerungen anhalten, es beginnt. Sie fanden erst beim zweiten Mal eine Vene, jetzt rinnt der Saft schon in mich. Der entsprechende nummerierte Satz aus der Harmonia Cælestis kann hier eingefügt werden. »Kommt nur, libuskáim, meine Gänslein«, vertilgt den – Türken. Auf dieser ersten Flasche steht NaCl. Natriumchlorid. Möglich, dass es nur gegen den Brechreiz wirkt. Auf den anderen, den wartenden, steht schon mein Name, sie sind personalisiert. Den Antworten der Schwester entnehme ich, dass dies die »heftigen« Cocktails sind. Und werden mir die Haare ausfallen? Oh, das wird Ihre geringste Sorge sein.

Irinotecan Kabi 330 mg (16,5 ml)

Oxaliplatin Teva 150 mg (30 ml)

Leucovorin 880 mg (80 ml)

5-Fluorouracil Accord 800 mg (16 ml)

Ja, die sind gegen den Brechreiz und schützen den Magen. Die schweren Truppen, täuschen wir uns nicht, meine Truppen, kommen erst danach. Die ich oben aufgelistet habe.

14.23 Uhr: Jetzt geht’s los. Hydrochlorid-Trihydrat hat sich im Mittelfeld den Dings erobert und schwungvoll – na ja, lassen wir das, das dient nicht dem Heil der Nation, von den hehren Zinnen des Stils und der Gedanken ganz zu schweigen. Und trotzdem spüre ich eine aufgeregte Fröhlichkeit, wie seinerzeit vor einem Fußballspiel.

Und die Nierenschale habe ich zurückgewiesen, ich würde sie vielleicht nicht brauchen. Es hieß, man könne mir etwas verabreichen, wenn mir Rotz und Tränen allzu sehr flössen, doch das würde Schmerzen verursachen. Weshalb ich da noch immer fußballerisch locker bin, weiß ich nicht.

Noch am Vormittag hatte eine blasse Dame hereingeschaut, sie sei die seelsorgerische Mitarbeiterin des Krankenhauses, ob ich irgendwelche Beschwerden hätte. Nein, sagte ich freundlich. Ob sie mir irgendwie helfen könne. Danke, nein. Sie streichelte meinen Fuß durch die Decke. Es fiel mir schwer zu entscheiden, war das christliche Routine oder das, was es darstellte: eine rührende freundliche Geste. Die Tür stand noch offen, als ich ihr nachrief, doch, Sie können helfen! Sie hörte mich nicht, zog die Tür zu, so sanft, wie meiner Erfahrung nach niemand im Krankenhaus. Ich sprach zur geschlossenen Tür: Sie können helfen, meine Teure. Beten Sie für mich. Ich sagte der Tür weiter: Das Verb »beten« folgt im Ungarischen einer besonderen Konjugation! Himmelarsch!

Es tröpfelt. Zugegeben, man ist einigermaßen gespannt. Ich will mich bei diesem Kabi nicht anbiedern, doch möchte ich ihn wissen lassen, wir stehen auf derselben Seite. Vielleicht bin ich wegen der schwarzen Turnhose, ein Geschenk von Marci, so fußballerisch keck. »Dies jedoch sollte nicht zum Leichtsinn verführen.« Eine halbe Stunde ist verstrichen, und das Übel ist noch nicht erschienen. Komm, Übel, auch du wirst gebraucht.

Schade, dass die seelsorgerische Mitarbeiterin das nicht gehört hat, jetzt würde sie gerade für mich beten. Wobei es ihr auch selbst einfallen könnte. Die Tür hat es jedenfalls gehört, vielleicht betet sie.

Also der Sonntag – ich schreibe ihn auf, bevor das Übel kommt, wenngleich ich mich lieber hingefläzt hätte, mit dem Wochenblatt »ÉS«. Gerade las ich die kleine geniale Glosse von Megyesi, ich hoffe, er ist das mit dem Pseudonym Guszti Drótos. Ich fragte ihn am Samstag bei der großen Geburtstags-Gardenparty hinterhältig über die Chemotherapie usw. aus. Ihm hat das alles nichts genutzt. Wir tratschten vor dem herrlichen Gulasch und nach den glücklich ausgewählten Grammeln über den Tod. Mein Genre ist gut, ich schreibe den Artikel am Mittwoch, er erscheint am Donnerstag, am Freitag kann ich beruhigt sterben. Weißt du, ich wäre nicht gern Romancier. Geh scheißen, sage ich mit einem meiner schönsten Lächeln.

Eigentlich stört es mich, dass alle Pläne sich jetzt auflösen. Oder zumindest ungewiss werden. Allerdings spüre ich das im Augenblick nicht, nur die unerwartete gute Anspannung, was nun wohl kommt, was die Tropfen in mir, in uns machen würden. Mit Bauchspeichelchen. Du Liebe, du Miststück.

Der Sonntag also. Beim Mittagstisch. Ich versuchte es, nicht dramatisch, aber ernsthaft. Ihr Hunde, ich spreche nicht von meinem Tod, sondern davon, dass ich krank bin. Und es wird dies und das geschehen, das ist der Fahrplan für die kommenden drei Monate, zweiwöchentlich Chemotherapie, und so weiter. Von Zeit zu Zeit springt jemand auf und geht hinaus, um zu weinen. Jeder ist diszipliniert, aber sie sind sehr süß. Sie sind erschüttert, und ich spüre, dass sie mich lieben. Das bringt mich an den Rand des Schluchzens – allerdings nicht weiter.

Eine gute halbe Stunde ist vorbei, doch ist nur ein Drittel heruntergetropft, dabei müsste Gift Nr. 1 die Strecke binnen einer Stunde laufen. Fleiß und Ausdauer, es wird gehen. Wenn das Talent schon fehlt.

Ich sagte, sie sollen sich noch heute den Song Mercedes Benz anhören, mit besonderem Augenmerk auf das Lachen am Ende. Mitics, der Älteste, der sich am meisten bedeckt hielt, fragte, sollen wir dann das auch beim Begräbnis spielen? Ja nun, wenn du das schaffst … Gitti schüttelt den Kopf, also bitte …

Ich rufe Zsozsó in Berlin an. Lieber Papa, sagt sie so, dass jeder Vater erbeben würde. Wenn du willst, kommen wir, wenn wir stören, gehen wir – überhaupt sagt jede und jeder, dass sie alles.

Die Ärztin guckte herein, ich prahlte, mir gehe es noch nicht schlecht, sie sagte mit einem kleinen Wolfslächeln, es sei noch zu früh, morgen dann. Ich mag sie. Sie sieht (jetzt) aus wie eine Tennisspielerin, die zwischen zwei Trainingsmatches zu mir hereinguckt. – Sie hat wohl auch das Medizinstudium so absolviert, in den Trainingspausen, weil sie so klug ist. Wie mag sie aber als Tennisspielerin sein?

Jetzt tritt dieser Oxa auf. Der personalisierte Zettel meint, zwei Stunden.

Ohne vorsätzlich positive thinking betreiben zu wollen, ist mir in diesem Augenblick völlig klar, dass ich genesen werde. Ich werde geheilt, also. Ohne den mindesten Zweifel. Nicht deshalb, weil ich weiß (ich weiß es wirklich), dass man so darüber denken müsse, sondern weil ich es fühle. Diese schwarze Turnhose à la Marci tut mir gut.

Ich erwache aus meinem Schlummer mit dem unstillbaren Verlangen, irgendwo im Text das Wort Muschi unterzubringen. Hiermit wäre diese Aufgabe, voilà, erledigt. Die Version, wie sie sich fortschreibt.

Dieses Fräulein Bauchspeicheldrüse müsste mal ganz toll gefickt werden, dann würde es Ruhe geben. Oder es wollte noch mehr. Ergo müsste es ganz schlecht gefickt werden. Eine erbärmliche Logik, würde ich sagen.

Abends, um 23.15 Uhr. Ein Husten lässt mir die Augen lichterloh brennen. Dann das langsame Auskühlen der Glut. Fürchterlich, weil ich daran keine physischen Erfahrungen, Erinnerungen knüpfen kann.

Jetzt, um Mitternacht, kann ich es genauer beschreiben, ich huste wegen des Speichels (man sagte mir, ich würde eventuell speicheln; weil die Augen tränen und meine Nase laufen würde), dann bekam ich alles gleichsam in die falsche Kehle, und dann stach dieses Augenbrennen, das jetzt weniger heiß war, eher schmerzhaft durchdringend, hinein und verstarb langsam, wie eine auslaufende Welle. Ich wiederhole: Fürchterlich.

Oh, schwarze Turnhose, hilf! Und sie hilft auch – einstweilen.

Mein Magen knurrt. Liebes kleines Tagebuch, geh schlafen.

Das Fräulein sagt (beleidigt) zur Turnhose: Sie sind wirklich – sieze mich nicht – du bist wirklich ein Fußballer der Klasse II., Fußball-Unterverband Budapest. Schmeichle mir nicht.

Donnerstag, 18. Juni 2015

7 Uhr morgens. Die Maschine hatte mich um 3.50 Uhr geweckt. Wir sollten sie vielleicht hassen, was meinst du? Da fällt mir ein, ich habe einen Ständer, bist du das, mein Liebling, oder ist es nur die gewöhnliche unverbindliche Morgenlatte? Lassen Sie nur, Gnä’ Frau, das ist nur die Harnsteife, kein Ausdruck meiner Verehrung für Sie.

Frau Doktor. Tadelloser Stil. Ein kleines Lächeln, aber um keinen Deut mehr. Ich meine, sie ist Engländerin. Wenn man das weiß, wundert man sich einerseits über ihre Ungarischkenntnisse, andererseits hegt man ihr gegenüber großes Vertrauen. Doch habe ich vergessen, sie über zukünftige strenge Einschränkungen bei Essen und Trinken zu befragen.

Und über die Kinderaktion vom Sonntag. Dass ich sie übergieße, überschütte, wie ich diese Wendung liebgewonnen habe! Meine Kinder sind ideal auf Bauchspeicheldrüsenkrebs eingestellt. Allerdings bewähren sie sich auch bei voller Gesundheit. Sie sind gut gelungen.

Eines besser als das andere – wie man so im Spaß sagt. Doch ist der Spaß ein Idiot, oder aber er kann kein Ungarisch. Oder, nicht wahr, bin ich es, der immer hinter die Sprache blickt, sie wortwörtlich nimmt, und wo es nur geht, alles miss-, um- und durcheinanderdeutet. Nichts können wählen, kommen Sprache, schlagen mir ins Genick.

Und jetzt das Leben. Auch das könnte ich organisch mit Fußnoten versehen. – Ein rechtschaffener Mensch aber spricht nicht so. Stopp.

Dr. R., sagt Dr. R. bei der Visite. E., sage ich, als hätte es keine Verstaatlichung gegeben. Meine Verehrung.

Sie machen mich glücklich, säuselt Bauchspeichelchen. So bleiben, telegraphiere ich zurück. Bauchspeichelchen klingt vielleicht besser als das Fräulein. Nein, doch nicht. Bauchi. Bauchspei. Hm. Dazu brauche ich dann auch Sie, Teuerste. Wir werden uns anstellig zeigen. Und sind Sie glücklich? Die will wohl auch alles haben, spricht in mir der fußballerische Weiberheld, der ich niemals geworden bin. Kratzbürsten müssen Sie wirklich nicht, ich bin ganz Samt und Seide. – Kosmisches Sahnehäubchen.

(Ich habe von Malacka einen Bleistift mit Geparden, wie aber Malacka sagt, mit Giraffen, bekommen. Weil meiner schon stumpf geworden war und ich keinen Spitzer habe, ich habe ihn zu Hause vergessen.)

Sagen Sie, Sweetheart, sind Sie das, die mir die Gesichtsmuskeln beinahe verkrampft, wenn ich in einen Apfel beiße? Dabei achte ich bereits auf die Bissgröße. Danach muss ich die Kinnlade hin und her bewegen. Ich hoffe, Sie fühlen sich geehrt vom Unterpfand meiner Liebe, dass ich hinter allem nur Sie sehe … Du kleine Ursache und Wirkung! Also ist diese onkologische Abteilung wirklich keine euklidische Welt.

Du hast meine Hand aus deinem Höschen vertrieben, ja wie sieht denn das aus? Ich kann nur das eine bei Ihnen nicht vertragen, dass Sie mich gleich duzen, wenn Sie in die Nähe meines Höschens kommen. Hierher geraten. Fallen. Schauen wir erst einmal, wenn ich ohne Höschen da stehe, wie es von einer richtigen Bauchspeicheldame erwartet werden kann, was dann kommt, mein Lieber. Sie hat sie vertrieben.

Das Bauchgrimmen als subtilste, zugleich einzige Metaphysik. Hatte vielleicht als Kind das letzte Mal ein derartiges Grimmen. Malacka hat mir einen Kaffee organisiert. Kaffee + Bauchgrimmen, vielleicht ist das der Weg zur aktuellen Glückseligkeit. Oder wie es aus meiner lieben Mutter an einem der letzten Krankenhaustage, vor fünfunddreißig Jahren, fast auf den Tag genau hervorbrach: Ich muss scheißen.

Irgendwie ist es gerade das Scheißen (oder dieses Wort?), das die Ernsthaftigkeit der Lage beleuchtet. Hoffnungslos, aber nicht ernst – nein, verkehrt: ernst, aber nicht hoffnungslos. Beziehungsweise nach den großen Tragikern: ernst und hoffnungslos. Dass darin die menschliche Größe bestünde. In mir gibt es mehr Licht, wenn das auch ein wenig lächerlich ist. Oder passé. Oder unzeitgemäß. Natürlich ist das imbezile Dauergrinsen auch zeitgemäß. Womit ich nicht sagen will, dass auch die Ernsthaftigkeit notwendigerweise imbezil sein müsste. Es gibt schöne Ernsthaftigkeiten und authentische Hoffnungslosigkeiten.

Nur das »Ich muss nicht scheißen« ist ernsthafter als das »Ich muss scheißen«. Damit will ich dich jetzt aber nicht belasten, mein kleines Tagebuch.

Kanüle, Kanüle, sag mir, wer ist der Schönste im ganzen Land?

Meine liebe Fee oder mein Bauchspeichelchen oder wie du auch immer heißen magst, kannst du mir wohl von innen einen blasen? – Dieser Satz beschwört mir im Sinne Freuds, in seinem trivialisierten Sinn, meine Mutter herauf, als sie uns rief und die Namen verwechselte, oder als zeigten diese Sexausbrüche die Vitalität des Körpers. Nicht zeigten, vielmehr damit prahlten. Oder existiert sie eben nur so.

Diese Sache sollte beschrieben werden, wie sie aussieht. Sie soll jung sein, so viel an (neueren) Gemeinplätzen kann verkraftet werden. Das ist an sich schon mal gut. Hörst du, Bauchspeichelchen? Du bist – mir – gut.

Wenn du dein Leben als das deine fühlst, das heißt Schicksal, dann hast du ein Schicksal, feixt Bauchspeichelchen. Darum haben wir einander getroffen, verstehst du, Süßer? Ich verstehe es, es stimmt auch, doch fürchte ich, es stimmt nur für die Leser. Jetzt würde ich nicht mit den zehntausend Leben Ottliks kommen. Ich komme aber sehr wohl mit dem einen Körper. Und vergiss nicht, dass auch du ein Leser bist.

Jeder ist so übergescheit. Also, Bauchspeichelchen möge eine tolle Frau sein. Ja, aber doch nicht so. Ziemlich groß gewachsen, über 170, mit Stilettos heißt das schon etwas. Wie aber faltet sie sich in mich hinein? Wieder ein unüberblickbares geometrisches Problem.

Inzwischen habe ich ganz vergessen, das ist ein Fehler, dass das gesegnete Gift ständig in mich hineintropft. Bei der oralen Linie verbleibend, in diesem Fall sauge also ich sie aus. Mir ist kalt, besser gesagt, es fröstelt mich. Bist du das? Doch zurück zum Blasen: Kommt das Gift in einer Art light dose herüber? Zu viel des Blasens.

Um 2 Uhr wacht der Körper auf, mit ihm auch ich. Wir gehen auf die kleine Seite und kommen zurück, zum Notieren.

Freitag, 19. Juni 2015

Es ist sechs Uhr dreißig, eine schöne, milde Nacht. Und du tröpfelst langsam in mich hinein, wie die Hoffnung. Es ist viel, wenn es auch wahr ist. Wie oft höre ich in mir (mit der Stimme meines Vaters) dieses »Viel«. Darauf folgt gewöhnlich die ironische Reflexion. Ich glaube, ihr Fehlen würde die Auflagezahl erhöhen. Rindvieh. Öchslein, mein Süßer, kalmiert mein Fräulein, als verbesserte sie mich.

Wie könnte ich dem Effekt »Seht nur, wie ehrlich!« des folgenden Satzes entrinnen? – Und jetzt gehe ich scheißen. Vielleicht mit Weglassen des Scheißens? Zum Beispiel: Endlich rührt sich mein Magen, vielleicht kann ich den Tag mit erfolgreichem Stoffwechsel beginnen. Aber ja. Oder: Mein einziges Ziel, das jetzt mein Leben erfüllt, ist ein schwankender Gang zur Toilette. Helft mir, himmlische Winde. Aber jetzt muss ich tatsächlich gehen, auf den Flügeln irdischer Winde, vulgo, ich habe mein Bett zusammengefurzt. – Wie man sieht, ist nicht nur über Sex zu schreiben schwer. Überhaupt, worüber wäre es leicht? Frei nach Danilo Kiš: Schreibe, und hab dich nicht so.

Der Blutdruck beträgt 144/80/61. In Ordnung, sagt die Schwester. Sie fragt nach meinem Namen, ich sage ihn, sie fragt zurück, ja, genau so, sage ich.

11.20 Uhr, der Tropf ist leer. Fertig fürs Erste. »Irgendwie habe ich jetzt die Lust am Ganzen verloren.«

Samstag, der 20. Juni 2015

Nachmittag, halb 6. Ich sitze im Garten, wie bei Tschechow, es fehlt nur noch der weiße Leinenanzug. Natürlich kann sich auch hinter weißen Leinenanzügen die … Bauchspeicheldrüse verbergen, ein schönes Wort, wenn man es mit Gefühl, gut rhythmisiert ausspricht.

In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Körper, so verändert sich die Sentenz. Meine Vene ist entzündet. Ich creme sie mit Ringelblumensalbe ein und lege Kompressen darauf. Ich wartete auf die Übelkeit, aber sie kam nicht, doch das, was war, denn etwas war ja da, das nannte ich Übelkeit. Mit einem Wort, ich beobachte mich misstrauisch, sicher, dass es mir gutgeht? Deswegen geht es mir also nicht ganz gut. Ich sonne mich jetzt wie ein sorgloser Pensionist.

Die Adern und der Handrücken sind gespannt. Dort ist auch die Haut irgendwie zerknittert, wie »ein nicht passender Handschuh«. Ich habe das oder so etwas Ähnliches über die Hand meiner Mutter geschrieben.

Gestern wie heute auch am Nachmittag tief geschlafen, beinahe je zwei Stunden. Ist das jetzt eine neue Müdigkeit? Bisher habe ich mich doch auch gern am Nachmittag, nach der Arbeit, hingelegt. Nur habe ich gestern und heute nicht gearbeitet. Wieder dorthin zurückkommen. Ich lese ein wenig im L’Étranger.

Davor noch: Interessant, wie sich die Menschen in meiner neuen Situation (wie schön ich das sage, junger Kavalier – habe ich diesen Satz nicht schon einmal so niedergeschrieben?) bemühen. Anteilnahme, Liebe, Höflichkeit – und gänzlich berechtigtes Selbstmitleid. Dass ich der Hauptdarsteller meines Lebens sein soll, das sehe ich nicht immer (siehe Kleine Ungarische Pornographie – schrecklich, nahezu überall stolpere ich über schon geschriebene, mehr noch, über von mir schon geschriebene Sätze), doch bei dieser Geschichte bin ich das sicherlich. Das heißt, für mich ist es, hihi, in einem gewissen Sinn tatsächlich leichter. Jeder andere dümpelt nur in meinem Kielwasser dahin. Ich dümple allerdings auch, ich weiß nicht, wer und wo ich bin und was eigentlich gespielt wird. Das gewohnte partielle Wissen.

Das sollte also nicht vergessen werden. Großzügig mit der Trauergemeinde umgehen. – Darum war auch der Kerl im Spital so erfrischend, der Automechaniker, mit seiner Scheiße, das ist aber beschissen. Er hatte natürlich auch eine Hauptrolle, mit seinem künstlichen Ausgang.

Ich kann nichts dafür, würde ich den Trauernden den berühmten Satz von Camus sagen. Worauf sie mit einem anderen antworten könnten: Man ist immer ein wenig schuld. Jeder hat nur eine Mutter, das, zum Beispiel, weiß ich bereits. Dass jeder nur ein Leben haben soll, das weiß ich selbst jetzt noch nicht. Oder ich begreife zumindest das Gewicht des Satzes nicht. Oder wenn wir das einmal lassen wollen, bleiben wir nur dabei: Krebs = Körper, und bleiben wir nur dabei? Und noch ein wenig über Gott. – Also das klingt so gesagt blasiert. »Aber warum?« – »Ich weiß es nicht.«

Wie die Schwarzenbergsche Urgroßmutter in Hort oder den Onkel Józsi in Hódmezővásárhely mit dem Gehirnschlag, so schiebe ich mich selbst dahin, hin zum Sonnenschein bei Sonnenuntergang. Die Schatten wachsen. Sag, bitte, was ist heute geschehen? Die Schatten sind gewachsen. In einem Roman würde ich mir aber gestatten, mit persönlicher Authentizität zu berichten, dass meine kleinere Tochter bei jedem Sonnenuntergang in Weinen ausbrach. Die Sonne stirbt, schluchzte sie. Weine nicht, morgen lebt sie wieder. Sie sah mich an, nicht mit Verachtung, eher mit Geringschätzung. Wie dumm du doch bist, armer Vater, sagte sie traurig. Heute ist heute, und nur heute ist heute. Sie war acht, vorne fehlte ihr ein Zahn. Das machte alle ihre Sätze ernsthaft und wahrhaftig.

»Vorübergehend hatte ich den lächerlichen Eindruck, sie säßen da über mich zu Gericht.«