Über das Buch

Nachdem er mit zwölf Jahren – unfreiwillig – von Warschau nach Wien übersiedelt, ist Walerian schon früh ganz auf sich allein gestellt. Seine schulische Karriere ist kurz und endet mit seinem Hinauswurf. Als ihn seine Mutter ebenfalls auf die Straße setzt, kostet er in seiner neuen Bleibe das Gefühl der Freiheit aus – und die Bekanntschaft mit Schimmelpilz. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch und dringt, wie ein Archäologe, in immer tiefere Schichten des Wiener Lebens vor. Dort stößt er auf wenig Sympathie für Menschen von jenseits der Grenze und lernt einiges über die Grenzen des guten Geschmacks und der Legalität. Irgendwann versteht er, dass »zuhause« überall sein kann – wenn es ihm gelingt, seinen eigenen Weg zu finden.

Radek Knapp

Der Mann, der Luft zum Frühstück aß

Erzählung

Deuticke

Mit freundlicher Unterstützung der Kulturabteilung der Stadt Wien.

ISBN 978-3-552-06344-0

Alle Rechte vorbehalten

© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2017

Umschlag: Anzinger und Rasp, München

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

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1

Niemand wusste so richtig, was im Kopf meiner Mutter vorging. Leute, die sie kannten, behaupteten, dass dort eine entzückende Leere herrschte, andere wiederum konnten geradezu den Donner hören, den der eingeschlossene Geist beim Nachdenken erzeugte. Tatsache war, dass sie manchmal zu erstaunlichen Kopfgeburten fähig war, deren volle Wucht als Erstes mich, ihren einzigen Sohn, traf.

Ihre erste Kopfgeburt war fast schon amüsant. Sie gab mir nicht den Namen Jan, wie es bereits ausgemacht war, sondern Walerian. So hieß das Beruhigungsmittel, das sie dazu brachte, meine Geburt zu verschlafen, und sie befand, dass ein derart gelungenes Präparat entsprechend verewigt werden müsste. Dass sie mich dadurch für mein ganzes Leben zu einer Lachnummer abstempelte, war nicht so wichtig wie die Tatsache, dass sie von da an in meiner Gegenwart eine Entspannung verspürte, die andere Mütter beim Anblick ihrer Brut niemals empfanden. Trotzdem machte sie davon nicht oft Gebrauch, und als ich ein Jahr alt war, verzichtete sie aus unerfindlichen Gründen völlig darauf. Sie tauchte eines Tages mit mir auf dem Arm im Haus meiner Großeltern auf und bat sie, über das Wochenende auf mich aufzupassen. Sie kam erst nach elf Jahren wieder zurück und fragte, als ob nichts geschehen wäre, wo ich gerade sei. Auf die ironische Frage meiner Großmutter, ob die Uhr ihrer Tochter für elf Jahre stehengeblieben war, gab sie eine Antwort, die in ihrer Ehrlichkeit schon wieder bewundernswert war: Sie sei nicht nur Mutter, sondern auch eine Frau, deren Schwangerschaft unglücklicherweise mit ihrer Jugend zusammengefallen war. Sie sei dieser genauso viel schuldig wie mir, wenn nicht mehr, denn die Jugend ginge schnell vorbei; ich hingegen würde noch da sein, wenn sie schon alt und runzlig wäre. Ganz abgesehen von der allgemeinen Verachtung, die ihr dieses Geständnis einbrachte, galt sie von da an als unberechenbar wie eine nordkoreanische Atombombe. Tief gekränkt von dem Vergleich mit einer Massenvernichtungswaffe, entwickelte sie die nächste Idee, die meinem Leben eine Richtung gab, die niemand und am wenigsten ich mir erträumt hätte.

Nach einer verdächtigen Ruheperiode, in der sie ihren mütterlichen Pflichten vorbildlich nachging, nahm sie mich eines Tages für eine kurze Autofahrt in die Stadt mit. Wir passierten das Zentrum, den Stadtrand und interessanterweise auch andere Städte, bis wir zehn Stunden später vor einem rot-weiß-roten Schranken in Drasenhofen hielten.

»Auf der anderen Seite liegt Österreich. Dort fangen wir ein neues Leben an«, verkündete meine Mutter und zeigte auf das Feld hinter dem Schranken, wo ein paar Krähen um eine leere Plastikflasche der Firma Coca-Cola stritten.

Als sie meinen verständnislosen Blick auffing, fügte sie hinzu: »Mach nicht so ein Gesicht. Ab jetzt wirst du viele Grenzen überschreiten. Sie werden aus dir das machen, was ich nie geschafft hätte. Einen Mann.«

Ob ich dadurch ein Mann wurde, müsste genauer erforscht werden, aber ganz gewiss wurde ich dadurch zum Experten von Grenzen und ihren Überschreitungen.

Nach der Staatsgrenze folgte bereits die nächste Grenze: der Wechsel von der slawischen Sprache in die germanische. Deutsch zu lernen ist für einen Polen genauso schwer wie allgemeine Relativitätstheorie. Aber in Wien kam noch das Problem dazu, dass man dort gar nicht Deutsch sprach.

Ich weiß noch genau, wie ich mich kurz nach meiner Ankunft in ein Lebensmittelgeschäft verirrte und gleich an der Schwelle den mysteriösen Satz hörte: »Sprüh a Wolk’n!«

An dem Gesicht, das diesen Satz fallenließ, erkannte ich eines: Es war keine Aufforderung, eine Wolke mit einer Spraydose zu bearbeiten, sondern man empfahl mir, das Lokal recht flott wieder zu verlassen. Von da an staunte ich, wie viele Ausdrücke es in dieser traditionell gastfreundlichen Stadt gab, die zum Sich-Entfernen aufforderten, wie etwa »Mach ein Servus« oder das zuletzt wieder stark in Mode kommende, arabisch klingende »Hau dich über die Häuser«.

Doch ausgerechnet der Wiener Dialekt half mir, eine Grenze kennenzulernen, die meinen Horizont beträchtlich erweiterte. Als ich die deutsche Sprache bereits so weit kannte, dass ich kleine Jobs annehmen konnte, arbeitete ich in einer Wiener Druckerei. Meine Aufgabe bestand darin, Zeitungen zu bündeln. Ich steckte sie in eine Maschine, aus der ein Faden herausschoss. Wenn man nicht aufpasste, schnürte der Faden nicht nur das Zeitungsbündel zusammen, sondern auch die Hände, mit denen man es hielt. Dann musste man sich an einen Arbeitskollegen wenden, der einen kopfschüttelnd mit einem »Aj Jesus, Jesus« und einer Schere befreite. Auf diese Weise arbeitete ich bereits ein paar Wochen in Halle A und war jeden Tag aufs Neue verblüfft, dass man überhaupt Geld für so eine spannende Arbeit bekam.

Doch dann passierte das Unglück. Eines Tages sagte mein Chef, ich solle in Halle B gehen und ein »Schragl« holen. Auf die Frage, was ein »Schragl« ist, erntete ich den Blick eines Mannes, der noch nie eine blödere Frage gehört hat. »Ein Schragl ist ein Schragl«, erklärte er mir. Ich verließ zum ersten Mal meine traute Halle A und begab mich in Halle B, wo ich nach einem »Schragl« verlangte. Man gab mir eine Art Regal auf Rädern. Glücklich kehrte ich in Halle A zurück und übergab es meinem Chef. Der sah mich entgeistert an und sagte: »Was hast ma da gebracht? Das ist ein Holztischerl und kein Schragl.«

Ich schüttelte den Kopf: »Das ist ganz gewiss ein Schragl.«

Der Chef platzte heraus: »I arbeit schon zwanzig Joahr do, und du wirst mir net sagen, was a Schragl ist, kloar?«

Ich trottete zurück in Halle B und machte kurzen Prozess.

»Das ist ein Holztischerl«, ließ ich verlauten.

Darauf hörte ich einen Spruch, der mir bekannt vorkam: »I arbeit schon zwanzig Joahr do und weiß, was a Holztischerl ist. Des is a Schragl.«

»Aber nicht in Halle A«, gab ich zu bedenken. Ich wurde an diesem Vormittag mehrmals wie ein Pingpongball hin- und hergeschickt, bis ich das delikate linguistische Gleichgewicht zwischen Halle A und B derart durcheinandergebracht hatte, dass man es nur durch eine radikale Maßnahme wiederherstellen konnte: Ich wurde entlassen. Ich weiß bis heute nicht, was ein Schragl ist, aber dafür lernte ich etwas, was mir das Leben künftig erheblich erleichtern sollte. Wer in Halle A zur Welt gekommen und von der eigenen Mutter in Halle B entführt worden ist, für den wird alles zu einem überraschenden und unberechenbaren Abenteuer. Und der Einzige, auf den man sich dabei verlassen kann, ist man selbst.

2

Kurz nach meiner Ankunft in Wien tauchte für meine Mutter ein gewichtiges Problem auf. In welche Schule sollte sie ihren Sohn, von dem sie nicht allzu viel wusste, schicken? Von ihren seltenen Besuchen bei meinen Großeltern wusste sie lediglich, dass ich zu jenen Halbwüchsigen gehörte, die von der Schule nur dann Gebrauch machten, wenn es draußen stark regnete. Dabei wollte ich anfangs ein guter Schüler sein. Als Kind hatte ich sogar vor, durch die Schule so klug zu werden, dass alle Leute zu mir kommen würden, um mich um Rat zu fragen. Im Gegenzug würden sie dafür Hühner, Pasteten, Süßigkeiten und all die anderen Dinge dalassen, die man zum Leben brauchte. So würde ich problemlos über die Runden kommen, was, wie ich an den Erwachsenen sah, gar nicht so selbstverständlich war. Leider fand ich bald heraus, dass einem die wirklich interessanten Dinge nicht in der Schule beigebracht werden, sondern auf dem Weg dorthin. Wo hätte ich sonst gelernt, wie viel Bier ein Ziegelarbeiter in aller Früh schon austrinken und wie lange er anschließend in der Position eines Fragezeichens schlafen kann? Beim Eiskaufen wiederum beobachtete ich, wie der Ladenbesitzer Herr Piotr seiner jungen Verkäuferin Mariola unter den Rock griff und darauf jedes Mal von ihr eine Schaumschnitte geklebt bekam. Als dann herauskam, dass sein Laden den größten Verbrauch von Schaumschnitten in der Gegend hatte, kannte nur ich den wahren Grund. Ganz zu schweigen davon, dass Herr Piotr diese Schaumschnitten aus eigener Tasche beglich und fast bankrottgegangen wäre, wenn Mariola nicht rechtzeitig gekündigt hätte.

Durch die Entführung nach Wien wurde die natürliche Kette meiner Edukation irreparabel geschädigt. Ich spürte, dass ich nach dem, was mir widerfahren war, nie richtig warm mit der Schule werden würde. Als hätte das jener Beamte im österreichischen Unterrichtsministerium, den meine Mutter um Rat fragte, geahnt, empfahl er ihr, mich in die Hauptschule in der Märzstraße zu stecken. Er bedachte mich dabei mit einem melancholischen Blick und tätschelte mir den Kopf: »Dort kann er nicht viel Schaden anrichten, egal, wie viel Mühe er sich gibt.«

Die Schule in der Märzstraße stellte sich als ein Segen heraus. Sie lag im vierzehnten Wiener Bezirk, der damals ausschließlich von Leuten bewohnt war, die sich von früh bis spät im Wiener Dialekt übten und deren Hauptbeschäftigung darin bestand, ihre Mofas auf der Straße zu reparieren. Meine Befürchtungen, dass ein derartig einfach gestricktes Umfeld mit einem Ausländer hart umgehen könnte, bewahrheiteten sich nicht. Im Gegenteil. Man zeigte sich mir gegenüber sehr feinfühlig und behandelte mich mit jener rührenden Zuvorkommenheit, zu der nur der einfache Mann fähig ist. Fairerweise muss man auch anmerken, dass der Satz »Ich komme aus Polen« damals noch nicht dieselbe Panik auslöste wie ein paar Jahre später, als polnische Autodiebe Deutschland derart intensiv heimzusuchen begannen, dass Stuttgart seinen Mercedes auf die Liste der vom Aussterben bedrohten Arten setzte. Im Gegenteil. Meine Gegenwart löste wohlwollende Neugier aus, und ich ging als exotisches, bedauernswertes Wesen durch, das aus einem geheimnisvollen Slawenland kam, das hinter dem Eisernen Vorhang ein nebulöses Dasein fristete.

Wegen meiner dürftigen Deutschkenntnisse steckte man mich vorsorglich in den sogenannten B-Zug, was sich als großer Glücksfall erwies. Der B-Zug bestand nämlich vorwiegend aus Schülern, an denen mehrere Sonderschulen brennend interessiert waren. Ihre Neigung, alles in Zeitlupe zu machen, kam mir sehr entgegen. Wenn mir ein Mitschüler etwas mitteilen wollte, sprach er so langsam, dass mir genug Zeit blieb, jedes einzelne Wort im Wörterbuch nachzuschlagen. Unsere Tage verbrachten wir vorwiegend damit, unsere zehn Finger zu zählen und die Wolken hinter dem Fenster auf ihre strukturellen Eigenheiten zu untersuchen. Die Lehrer bedachten uns mit gütigem, melancholischem Blick, in dem nur von Zeit zu Zeit der wütende Wunsch aufflammte, uns allesamt durchfallen zu lassen. Am Ende bekamen wir in jedem Fach ein »Befriedigend« und bauten kontinuierlich unsere Studien des bewölkten Himmels aus. Anfangs machte ich mir Sorgen wegen meiner gegen null tendierenden Deutschkenntnisse. Ich beherrschte nur zwei Sätze auf Deutsch, die ich noch in Polen aus alten Kriegsfilmen aufgeschnappt hatte. Der erste Satz lautete, »Wo ist Sturmbahnführer Stettke«, und der zweite, »Mein Gewehr hat eine Ladehemmung«. Mit diesen beiden Sätzen kam ich aber im B-Zug das erste Jahr problemlos über die Runden. Ich verbuchte sogar unerwartete Erfolge, indem ich sie originell miteinander kombinierte. Allein der Satz »Mein Vater ist Sturmbahnführer Stettke« sorgte bei meinem Deutschlehrer für derartige Verwirrung, dass ich von da an auf jede Schularbeit ein »Gut« bekam. Im zweiten Jahr lernte ich jedoch, wie schmerzhaft die Unkenntnis der deutschen Sprache sein konnte.