Felber widmet sich in seinem aktuellen Buch einer möglichen Alternative zu WTO & Co und nennt sie »Ethischer Welthandel«. Der Gründer der Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung entzaubert in seinem neuen Buch die »Freihandelsreligion« und schlägt eine vollständige Alternative zu dieser wie zum anderen Extrem, dem Protektionismus, vor. Handel wird konsequent als Mittel betrachtet, das den eigentlichen Zielen der Politik dient. Weniger Hürden soll es für jene Staaten und Unternehmen geben, die einen Beitrag zu Menschenrechten, nachhaltiger Entwicklung, Verteilungsgerechtigkeit, kultureller Vielfalt oder sinnvollen Arbeitsplätzen leisten. Und Handelsbarrieren für jene, die Menschenrechte missachten, für Klimasünder und Ausbeuter.

 

Deuticke E-Book

Christian Felber

 

Ethischer Welthandel

 

Alternativen zu TTIP, WTO & Co

 

 

Deuticke

Inhalt

I. Einleitung

 

II. Entstehung und Kritik der Freihandelsreligion

 

III. Die inhaltliche Alternative: Ethischer Welthandel

1. Stellenwert des Handels.

1 a) Handel ist kein Ziel, sondern Mittel

1 b) Abstimmung globaler Handelsregeln auf die Ziele der Vereinten Nationen

1 c) Die UNO als Sitz des Wirtschaftsvölkerrechts

2. Für ein ethisches Handelssystems in der UNO

2 a) Schutz der Werte und Ziele der Völkergemeinschaft

2 b) Infant Industry Policy/Nichtreziprozität zwischen Ungleichen

2 c) Demokratischen Handlungsspielraum erhöhen

2 d) Ökonomische Subsidiarität, Autarkie, Regionalisierung, Subsistenz

3. Pragmatische Alternative: Gemeinwohl-Bilanz

 

IV. Die prozessuale Alternative: Souveräne Demokratie

1. Gretchenfrage Demokratie

2. Demokratische Genese des (Wirtschafts-)Völkerrechts

3. Ermutigende Beispiele

4. Fragen an den Handelskonvent

 

Dank

Anmerkungen

Literatur

I. Einleitung

Freihandel und Protektionismus sind gleich überschießend. Freihandel macht Handel zum Selbstzweck und Protektionismus die Protektion: zwei gleichermaßen sinnleere Positionen. Handel kann wertvoll sein und Protektion sinnvoll. Aber Handel ist genauso wenig ein Ziel an sich wie das Verschließen der Grenzen. Maximale internationale Arbeitsteilung ist genauso blind und verbohrt wie das Anstreben nationaler Autarkie. Niemand kann eine dieser Optionen wirklich wollen. Und doch sind derzeit alle entweder für Freihandel oder bezeichnen diejenigen, die es nicht sind, als »Protektionisten«. Die Ausgangslage für eine differenzierte Sachdebatte – und für das umsichtige Entwickeln von Alternativen – könnte besser sein.

Die Mainstream-Ökonomie wartet leider auch nicht mit Vielfalt zum Thema auf: »Ökonomen streiten die ganze Zeit, nur beim Freihandel scheinen sich alle einig zu sein«, meinte der Träger des Anerkennungspreises für die Wirtschaftswissenschaften (vulgo »Wirtschaftsnobelpreis«) Paul Samuelson.1 Kollege Paul Krugman schrieb 1987: »Wenn es so etwas wie ein Glaubensbekenntnis der Ökonomie gäbe, würde es mit Sicherheit die Sätze ›Ich verstehe das Prinzip der komparativen Kostenvorteile‹ und ›Ich unterstütze Freihandel‹ beinhalten.«2 Jagdish Bhagwati, der »prime warrior of free trade«, bekennt, dass er »nicht müde wird, seine Studenten zu lehren, dass die Aufgabe der unaufhörlichen Verteidigung unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse zugunsten von Freihandel (…) eine Pflicht ist«. Er habe zwar Verbündete in diesem Kampf, »aber das ist noch nicht die Armee (…), die ich befehlen kann und die wir benötigen«.3 Glaubenskrieger Bhagwati bedauert gleichzeitig »die Tatsache, dass die Theorie nur selten in der breiten Bevölkerung auf Glaubwürdigkeit gestoßen ist«.4

 

Nach TTIP und CETA: Von der Traufe in den Platzregen?

 

Damit hat er ziemlich recht: Während dieses Buch geschrieben wurde, standen die bislang ehrgeizigsten Freihandelsprojekte CETA und TTIP ebenso auf der Kippe wie das transpazifische TTP. In Europa unterschrieben 3,2 Millionen EU-BürgerInnen eine Petition gegen das transatlantische Handelsabkommen TTIP. In Deutschland gingen 300.000 BürgerInnen gegen TTIP und CETA auf die Straße. Anfang 2016 befürworteten 15 Prozent der Menschen in den USA und 17 Prozent in Deutschland TTIP.5 In Österreich sprachen sich im September 2016 in einer repräsentativen Umfrage vier Prozent für TTIP und sechs Prozent für CETA aus.6 Eine Woche später stimmte der österreichische Bundeskanzler im EU-Rat für CETA. Doch auch wenn Hunderttausende gegen »Freihandel« auf die Straße gehen, sie sind deswegen keine Protektionisten. Sie wollen eine andere Handelspolitik, alternative Spielregeln, jenseits der Extreme und Ideologien. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist: Auch wenn TTP, TTIP und CETA quasi besiegt sind, sind wir unverändert in der nur unwesentlich weniger schlechten Welthandelsorganisation WTO gefangen. Ebenso bestehen rund 3400 bilaterale Investitionsschutzabkommen weiter. Neben dem WTO-Tribunal, das sich auf Gesetze zum Schutz der Gesundheit oder Umwelt eingeschossen hat, gibt es Investitionsschiedsgerichte, welche Direktklagen von multinationalen Konzernen gegen Staaten entgegennehmen. Die Klage von Vattenfall gegen die Bundesrepublik Deutschland im Ausmaß von 5,6 Milliarden Euro wurde vor TTIP und CETA eingereicht, und die Klage von Fraport gegen die Philippinen, die der Konzern Ende 2016 gewann, geht auf ein bilaterales Abkommen zwischen Deutschland und den Philippinen zurück. Deutschland ist auch hier Weltmeister und hat 140 solcher Abkommen ratifiziert, die EU insgesamt 1400. Parallel zu CETA und TTIP verhandelt die EU mehr als zwei Dutzend weitere Freihandelsabkommen. Wir haben es also nur von der TTIP-Traufe in den Dauerplatzregen eines bestehenden vielschichtigen Freihandelsregimes geschafft.

Die Proteste gegen die Welthandelsorganisation WTO hatten schon früher begonnen. Sie waren 1999 in Seattle so heftig geworden, dass sie zum ergebnislosen Abbruch der Konferenz beitrugen. Dieselben, die gebetsmühlenhaft das Argument bemühen, dass Freihandel Demokratie bringe, verlegten die Folge-Konferenz nach Doha: eine Wüstendiktatur mit Demonstrationsverbot. Die angeschlagene WTO ist seither nicht genesen. Die »Doha-Entwicklungs-Runde« ist am Ende, der Glaube an den Freihandel schwindet weltweit. »Das multilaterale System löst sich allmählich auf«, schreibt Joseph Stiglitz.7 Donald Trump, der konservative Milliardär, der eigentlich Reserveoffizier in Bhagwatis Armee sein müsste, tönte: »Die Welthandelsorganisation ist ein Desaster.«8 Sigmar Gabriel kämpft für Freihandel, Donald Trump wettert dagegen, unter Beifall von Hillary Clinton, deren Mann den »Fehlschlag NAFTA«9 verantwortet – da ist die Meinungslandschaft in kurzer Zeit ziemlich durcheinandergeraten. Anders als die Interessenlage.

 

»Fundamentalismus«10

 

Das Kuriose an der politischen Diskussion über Handel ist, dass sich nicht, wie vielerorts sonst, das goldene Maß, ein Kompromiss zwischen zwei Extrempositionen durchgesetzt hat, sondern eine der Extrempositionen: »Freihandel« ist am treffendsten damit zu definieren, dass Handel Selbstzweck ist. Und das ist bereits der Grundfehler. Denn das bedeutet, dass ein Mittel zum Zweck wird und die eigentlichen Ziele und Werte darunter leiden. Die Selbstzweckwerdung des Handels spiegelt im Kleinen die Selbstzweckwerdung des Kapitals im Großen wider: Im Kapitalismus ist das Kapital vom Mittel zum Zweck geworden. Alle anderen Ziele und Werte leiden darunter, am Ende das Gemeinwohl.

 

Absurdistan

 

Wie absurd die Position »je mehr Handel, desto besser« ist, zeigt sich spätestens, wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt. Die WTO jubelt, dass das Volumen des Welthandels seit 1870 von 5,5 Prozent der damaligen Wirtschaftsleistung auf 17,7 Prozent Mitte der 1990er Jahre und seither noch schneller auf 30 Prozent 2015 angewachsen sei.11 Der größte Jubel müsste dann logischerweise bei 100 Prozent stattfinden, wenn die internationale Arbeitsteilung und Spezialisierung so weit getrieben wird, dass alles, was weltweit produziert, exportiert und alles, was weltweit konsumiert, importiert wird. Das wäre der Zustand der vollständigen internationalen Arbeitsteilung und des freiestmöglichen Handels: eine neurotische Zwangsvorstellung. Wenn aber das Maximum nicht das Beste ist, dann muss das Nachdenken mit der Frage beginnen, warum 17,7 Prozent besser sein sollen als 5,5 Prozent. Und die In-Aussicht-Stellung, dass der transatlantische Handel durch TTIP um 80 Prozent12 und dank CETA um über 55 Prozent13 zunehmen könnte, wäre unter diesem Blickwinkel mehr ein Multi-Stress-Szenario für alle Betroffenen denn ein wünschenswertes Ziel.

 

Konzernmacht

 

Der Grund für die Selbstzweckwerdung des Handels könnte recht einfach darin liegen, dass mehr Handel schlicht mehr Geschäft für die Händler bedeutet. Und die maßgeblichen »Händler« sind heute transnationale Konzerne. Ein Drittel des Welthandels ist »Intrakonzernhandel«, ein weiteres Drittel Handel zwischen den Konzernen und das verbleibende Drittel Handel zwischen dem Rest der Akteure. Die Macht der Konzerne und ihrer Lobbys ist inzwischen so groß, dass im Völkerrecht tendenziell das Handelsrecht (inklusive dem Schutz von Investitionen und Patenten) über die Menschenrechte, Umwelt- und Klimaschutz, kulturelle Vielfalt oder Verteilungsziele gestellt wird und diese Rechte sogar außer Kraft zu setzen droht.

Freihandel wird zum allumfassenden Grundrecht von juristischen Personen – bei denen es einst fraglich war, ob sie überhaupt Rechte haben sollten. Und wie ein Grundrecht darf er auch nicht mehr eingeschränkt werden. Versuche der Regulierung, Steuerung, Dosierung oder Beschränkung von Handel werden zunehmend völkerrechtlich illegalisiert und kriminalisiert. Der lokalen, regionalen und nationalen Demokratie werden Handschellen angelegt, zum Beispiel durch:

– das Verbot der Bevorzugung lokaler Unternehmen im öffentlichen Einkauf und anderer regional-, arbeitsmarkt- und strukturpolitischer Maßnahmen;

– die Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen, mit Druck und sogar mit Zwang, wenn sie in Ausnahmelisten vergessen wurden;

– das Verbot, Anforderungen an Investoren zu stellen, vorgesehen zum Beispiel im 1998 gescheiterten Multilateralen Abkommen über Investitionen (MAI);

– Investitionsschutzabkommen, die Konzernen ausschließlich Rechte verleihen und Gaststaaten (Demokratien) ausschließlich Pflichten auferlegen;

– den strengeren Schutz von geistigem Eigentum als von Menschenrechten;

– direkte Klagerechte für Konzerne (ISDS) und die Einrichtung von Ad-hoc-Gerichten, welche diese Klagen entgegennehmen und verhandeln;

– neue suprastaatliche Institutionen, die verhindern sollen, dass neue Gesetze und Regulierungen den Handel stören; und diese entsprechend zurichten, bevor sie in die Parlamente kommen (»regulatorische Kooperation«);

– das Verbot, dass Gesetze zum Schutz der Gesundheit oder der Umwelt den Handel mehr einschränken »als nötig« – im Zweifelsfall entscheidet das WTO-Gericht.

 

Zwang statt Freiheit

 

Offene Grenzen für Waren und Dienstleistungen sind ein Kernelement des Washington Consensus, besser bekannt als »Neoliberalismus«. Ich verwende lieber »Pseudoliberalismus«, weil er mehr von der Freiheit spricht, als sie zu erfüllen: Es geht ihm einseitig um Wirtschaftsfreiheiten für juristische Personen (transnationale Konzerne). Und einseitig um den Schutz des Privateigentums auf Kosten aller anderen Freiheiten, Eigentumsformen und der kulturellen Vielfalt.

Der Washington Consensus startete in den 1980er Jahren rund um Weltbank, Währungsfonds und das US-Finanzministerium; politisch mit Ronald Reagan (Reaganomics) und Margaret Thatcher (Thatcherism) und ideologisch mit der österreichischen Schule der Nationalökonomie (Friedrich von Hayek, Chefberater von Margaret Thatcher) und den von ihr inspirierten Chicago Boys rund um Milton Friedman (Chefökonom von Ronald Reagan).

Der New-York-Times-Kolumnist Thomas Friedman, ein Befürworter des Washington Consensus, hat für die Kombination aus Freihandel, Standortwettbewerb und Austeritätspolitik den Begriff »Goldene Zwangsjacke« geprägt. Das ist verblüffend ehrlich: Es geht um Zwang, nicht um Freiheit. »Um in die Goldene Zwangsjacke zu passen, muss ein Land die folgenden goldenen Regeln entweder anwenden oder sich ihnen sichtlich annähern: den privaten Sektor zum primären Motor des Wirtschaftswachstums machen, die Inflation niedrig halten, die staatliche Bürokratie verringern, den Staatshaushalt so ausgeglichen wie möglich halten oder sogar im Überschuss, Importzölle eliminieren, Beschränkungen für ausländische Investitionen aufheben …«14

Friedman benennt als Schneiderin der Goldenen Zwangsjacke Margaret Thatcher, die ehemalige britische Premierministerin, »die als eine der großen Revolutionärinnen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen wird«. Gleich wie die Eiserne Lady bezeichnet auch er die Zwangsjackenpolitik nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus als alternativlos: »Der freie Markt ist die einzige Ideologie, die übrig geblieben ist.«15 Diesen Gedanken hat Francis Fukuyama als »Ende der Geschichte« verbreitet. Die Goldene Zwangsjacke sei zwar »nicht immer schön oder nett oder bequem – aber sie ist da, und es ist das einzige Kleidungsstück im Regal in dieser historischen Saison«. Das Versprechen, dass die Zwangsjacke »umso mehr Gold produziert, je enger man sie anzieht«,16 mag vielleicht für König Midas – die mythische Figur, die auf eigenen Wunsch alles zu Gold machte, was sie berührte, und dabei beinahe verhungerte – attraktiv klingen, doch für freiheitsliebende Menschen – und auch für Demokratien – bleibt auch ein goldener Käfig ein Gefängnis und eine Zwangsjacke eine Horrorvorstellung.

 

Zweck des Handels

 

Dieses Buch versucht konsequent den Zweck des Handels in den Blick zu nehmen. Der Zweck ist die umfassende Umsetzung der Menschenrechte, nachhaltige Entwicklung – die Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsziele der UNO –, ein gutes Leben für alle oder eben das Gemeinwohl. Handel soll den Menschenrechten und den Grundwerten eines demokratischen Gemeinwesens dienen, dann ist er am richtigen Platz, dann erfüllt er seine Aufgabe und hat seine Berechtigung. In diesem Buch werde ich das Freihandelsparadigma argumentativ entkleiden – und ein anderes Paradigma vorschlagen: das Paradigma des ethischen Handels. Bei den Recherchen zum Thema fielen mir zwei Dinge auf: Zum einen gibt es eine überraschende Fülle an Alternativansätzen. Doch diese werden öffentlich kaum diskutiert und von der Freihandelsfangemeinde ignoriert. »Freihandel« ist offenbar hegemonial geworden: Menschen haben Angst, eine abweichende Position zu vertreten. Die folgende Übersicht zeigt, wie dogmatisch und orthodox die handelspolitische Diskussion geführt wird und wie vielfältig der Schatz der Alternativen ist.

 

Aktuelles Paradigma

Autor/Autorin

Vorschlag/Idee

Adam Smith

Absolute Vorteile

David Ricardo

Komparative Vorteile

Heckscher-Ohlin-Theorem

Faktorproportionen-Modell mit Konvergenz-Annahme

Paul Samuelson

»Brauchen keine neue Theorie für den internationalen Handel«17

Jagdish Baghwati

Armee für Freihandelsidee

GATT

Meistbegünstigung + Inländerbehandlung

WTO

»Nichtdiskriminierung«

Thomas Friedman

Die Welt ist flach – Goldene Zwangsjacke

Francis Fukuyama

Ende der Geschichte

CETA

»Regulatorische Kooperation«

TTIP

»Goldstandard für den Welthandel«

BITs und ICSID

Klagerechte für Konzerne (ISDS)

 

Zölle als Mittel

 

Vielleicht nicht das wichtigste, aber auch kein prinzipiell zu verschmähendes Mittel der Handelspolitik sind Zölle, die heute unverändert eine Rolle spielen. Die von der EU im Durchschnitt erhobenen Zölle betragen zwar nur 1,3 Prozent, doch die 2014 daraus erzielten Einnahmen von 21,9 Milliarden Euro (minus 25 Prozent, die an die Mitgliedsstaaten gingen) trugen stolze 12,4 Prozent zum Gesamthaushalt der Europäischen Union bei – das war sogar eine Steigerung gegenüber 2013, wo es nur elf Prozent waren.18 In Deutschland arbeiten 35.000 Menschen für den Zoll. In Russland gibt es 55.000 und in den USA und in China je 60.000 Zöllner.19 Im Durchschnitt belegen die Industrieländer heute ihre Importe mit fünf Prozent Zoll.20 In den nichtindustrialisierten Ländern fiel der durchschnittliche Zoll von 25 Prozent Ende der 1980er Jahre auf elf Prozent 2005.21

 

Alternatives Paradigma

Autor/Autorin

Vorschlag/Idee

Friedrich List

Erziehungszölle

John Maynard Keynes

Clearing Union

Prebisch-Singer-These

Ungleicher Tausch und Importsubstitution

Vandana Shiva

Freihandel ist der Protektionismus der Mächtigen

Ha-Joon Chang

Eigenständige Technologie- und Industriepolitik

Helena Norberg-Hodge

Localisation

George Monbiot

Organisation für fairen Handel

UNCTAD

Handel als Mittel für nachhaltige Entwicklung

Dani Rodrik

Trilemma der Globalisierung

Corporate Europe Observatory und NGOs

Alternative Trade Mandate

Manfred Nowak, Julia Kozma, Martin Scheinin

World Court for Human Rights

Gemeinwohl-Ökonomie

Ethischer Welthandel

 

In den meisten Weltregionen machen Zölle immer noch ein Viertel der Steuereinnahmen aus, in Südostasien sind es 33 Prozent, in Süd- und Ostafrika 35 und in West- und Zentralafrika 42 Prozent.22 In Mexiko haben sich die Zolleinnahmen nach dem NAFTA-Beitritt annähernd halbiert.23 Das Wirtschaftswachstum pro Kopf ging in Mexiko in den ersten zehn Jahren nach NAFTA auf 1,8 Prozent zurück. Zwischen 1948 und 1973 lag es bei 3,2 Prozent.24 Zölle sind ganz sicher kein Selbstzweck (im Sinne von: je höher die Zölle, desto besser). Sie sind aber auch nicht das Gegenteil von Freihandel (das wäre ein generelles, alle Warengruppen betreffendes Ein- und Ausfuhrverbot). Zölle sind ein wirksamer Hebel, um verschiedene Politikziele feinzusteuern. Auf einem Mittelweg zwischen Freihandel und Abschottung werden Zölle auch in Zukunft eine Rolle spielen – als Mittel der ethischen Handelspolitik und als nicht zu vernachlässigende Ressourcen im Staatshaushalt.

 

Qualitative statt quantitative Freiheit

 

Ein Hemmnis gegen eine erkenntnisorientierte Diskussion in den letzten Jahrzehnten war auch die Praxis, dass die neoliberale Ideologie Sonderinteressen einfach mit dem Wörtchen »frei« verknüpft hat und diese allein dadurch von vielen Menschen unterstützt wurden: Wer ist schon gegen »Freihandel«, »freie Marktwirtschaft«, »freien Kapitalverkehr« oder »free enterprise«? Doch Freiheiten liegen miteinander im Dauerkonflikt, genauso wie es die Interessen tun. Und die Freiheit des einen ist nicht automatisch die Freiheit des anderen – weshalb wir uns dem Freihandel und der freien Marktwirtschaft gerade aus einer Freiheitsperspektive sehr vorsichtig annähern müssen. Es bedarf sauberer Definitionen und am Ende einer demokratischen Entscheidung, welcher Freiheit wir Vorrang vor welcher anderen geben wollen.

Der Direktor des Weltethos-Instituts Claus Dierksmeier hat 2016 ein Werk vorgelegt, das uns hilft, Freiheiten qualitativ gegeneinander abzuwägen, anstatt dem quantitativen Kurzschluss aufzusitzen, dass jedes Mehr jeder Freiheit immer besser sei.25 Für die Diskussion der Für und Wider des Freihandels ist dieses Instrumentarium äußerst hilfreich. Manche Abwägungen sind klar und einfach, zum Beispiel: Ist die Wirtschaftsfreiheit des Sklavenhalters höher einzustufen als die Menschenwürde und das Recht der betroffenen Menschen auf Freiheit, einen legalen Arbeitsvertrag, ein menschenwürdiges Einkommen und humane Arbeitsbedingungen?

In zahllosen anderen Zielkonflikten liegt es nicht sofort auf der Hand, es gilt aber ebenso differenziert qualitativ abzuwägen, anstatt einfach Freihandel zu propagieren – mit der Unterstellung, dass dadurch alles für alle besser würde. Zum Beispiel:

Ist uns die zusätzliche Freiheit, neben solarer Energie, Wind-, Biomasse- und hydraulischer Energie auch noch Atomenergie wählen zu können, mehr wert als die Freiheit, ohne Angst vor Verstrahlung und einem GAU zu leben?

Zählt die Freiheit der Bayer-Eigentümer, Monsanto kaufen zu dürfen, mehr als die Freiheit von Zulieferern, KonsumentInnen und PolitikerInnen und der Gesellschaft, nicht von einem noch mächtigeren Großkonzern abhängig zu sein?

Ist die Freiheit Deutschlands, einen Rekord-Leistungsbilanz-Überschuss zu erzielen, höher einzustufen als die Freiheit, sich in einem multilateralen Handelssystem zu wissen, in dem alle teilnehmenden Staaten tendenziell ausgeglichene Leistungsbilanzen aufweisen?

Ist die Freiheit, Produkte und Dienstleistungen mit hohem ökologischen Fußabdruck zu konsumieren, höher einzustufen als die gleichen Lebensrechte und -chancen zukünftiger Generationen?

Ist die Investitionsfreiheit wichtiger als die Freiheit, ausländische Investitionen demokratisch zu regulieren?

Wenn nein, warum ist das alles dann legal und im Einklang mit den WTO-Spielregeln? Wieso haben so wenige Ökonomen ein Problem damit, dass Freihandel ohne Rücksicht auf Menschenrechte, Arbeitsbedingungen, Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung durchgesetzt wird?

Die EU-Kommission schreibt in ihrer aktuellen handelspolitischen Strategie ganz pauschal und undifferenziert: »Europa darf nicht in Protektionismus verfallen. Protektionismus erhöht die Preise für Unternehmen und Verbraucher und verringert die Auswahl.«26 Punkt und Ende der Durchsage. Das ist zu einfach. Wie konnte Freihandel zur »Religion unserer Zeit«27 werden?