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Ute Schürings

Benelux
Porträt einer Region

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Ute Schürings

Benelux

Porträt einer Region

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, Januar 2017

eISBN 978-3-86284-369-5

Inhalt

Einleitung: Kurze Wege, große Unterschiede

Benelux: Interessengemeinschaft oder große Familie?

Eine typisch deutsche Sicht

Wegbereiter der Europäischen Union

Offene Grenzen: Ein Wirtschaftsfaktor

Wieviel Macht für Brüssel?

Luxemburg profiliert sich

Die Benelux-Union heute: Sicherheit, Logistik, Arbeitsmarkt

Eine moderne Patchwork-Familie

Historische Verbindungen in der Burgunderzeit

Nord und Süd gehen getrennte Wege

Das Vereinigte Königreich der Niederlande

Keine gemeinsame Identität

Der Blick aufeinander: Alte Vorurteile und neue Interessen

Die kulturellen Bruchlinien Europas

Niederlande: Alte Werte auf dem Prüfstand

Durch die Falltür ins Wohnzimmer: Ein erster Eindruck

Regionale Unterschiede, Wasser und Wirtschaft

Alltag und Gesellschaft: Normal sein als höchstes Ziel

Informeller Umgangston, nette Atmosphäre

Beschlussfassung im Arbeitsleben: Alle reden mit

Politische Kultur: Verhandlungen und Kompromisse

Staat, Provinz, Kommune: Pragmatismus auf allen politischen Ebenen

Zunehmender Rechtspopulismus

Migration, Toleranz und der Zwarte Piet

Seefahrt und Kolonien: Als die Republik eine Weltmacht war

Niederländische Literatur

Kunst, Architektur, Design, TV

Oranje boven – das Königshaus

Niederländische Spuren in Berlin

Deutschland ist toll: Wie die Niederländer von Kritikern zu Fans wurden

Wird jetzt alles gut?

Belgien: Ein geteiltes Land

Schiefes Bild in den Medien

Man fühlt sich nicht als Belgier

Dynamische Wirtschaft mit großer Vergangenheit

Hightech, Bier und große Bagger

Fleißige Weltbürger: Ausbildung und Schulsystem

Romanische Mentalität: Familie, Haus, Staat und Kirche

Genuss gehört zum Leben

Bildende Kunst, Film, Literatur, Musik

Eine völlig andere Geschäftskultur

Mehr als nur Flamen und Wallonen: Regionale Unterschiede

Was Sprache mit Politik zu tun hat: Die Vorgeschichte

Doppelter Föderalismus: Die Lösung?

Staatskrise 2010/11: Weitere Kompetenzen für die Regionen

Phänomen Brüssel: Eine Stadt, mehrere Lebenswelten

Flämische Nationalisten in der Regierung

Das Königshaus und die koloniale Vergangenheit

Blick auf Deutschland: Wirtschaftlich interessant, kulturell weit weg

Wie es weitergeht

Luxemburg: Für Europa ein Glücksfall

Das reichste Land der Welt oder die Wunder der Statistik

Schritt für Schritt in die Unabhängigkeit

Einender Faktor Sprache: Ein Dialekt macht Karriere

Luxemburgs Rolle in Europa: Vom Spielball zum Mediator

Wirtschaft: Sich immer wieder neu erfinden

Mehrsprachigkeit, Integration und Schulsystem

Xavier Kieffer – ein typisch luxemburgischer Held

Kunst und Kultur: Eine lebendige Szene

Man wollte die Fenster öffnen: Aktuelle Politik

Der Großherzog muss spuren

Großer Nachbar Deutschland

Lösungen für die Zukunft

Nachwort: Eigentlich ganz nett

Anhang

Danksagung

Literaturtipps

Basisdaten

Karte

Über die Autorin

Einleitung: Kurze Wege, große Unterschiede

Als ich Anfang der 1990er Jahre begann, Niederländisch zu studieren, wurde ich von den meisten meiner Freunde belächelt. Einige äußerten sogar blankes Unverständnis und fragten: »Wie, kann man das etwa studieren? Was willst du denn damit?« Ich stamme aus der Grenzregion, das machte es noch schlimmer. Je näher, desto uninteressanter, möchte man fast sagen. Die Niederlande waren kaum 20 Autominuten entfernt, aber bei uns zu Hause und im Freundeskreis sprach niemand auch nur ein einziges Wort Niederländisch.

Inzwischen hat sich das geändert, und das Interesse an den Benelux-Ländern wächst. Niederländisch ist heute als reguläres Unterrichtsfach in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen fest etabliert, vor allem in den Grenzgebieten. Die verschiedenen Studiengänge für Niederländisch sind gut belegt, an der Universität Münster gibt es ein großes Zentrum für Niederlande-Studien, an der Universität Paderborn ein Belgien-Zentrum.

Das Interesse kommt nicht von ungefähr. Die drei Länder sind schließlich nicht nur unmittelbare Nachbarn, sie sind auch wichtige Partner für Deutschland. Wirtschaftlich, weil sie zusammen eine der dynamischsten Regionen Europas bilden und es seit Jahrzehnten enge Handelsbeziehungen zu Deutschland gibt. Politisch, weil sie als Gründungsstaaten von EU und Nato alte Weggefährten sind – und das in Zeiten, in denen Europa mehr denn je nach Identität und Zusammenhalt sucht. Und ebenso kulturell: Hier zählen die drei Länder zur internationalen Avantgarde, ihre Künstler fungieren als Impulsgeber auch für Deutschland: etwa als Intendanten der Ruhrtriennale (Gerard Mortier und Johan Simons), als Chefdesigner bei BMW (Adrian van Hooydonk) oder als Museums- und Theaterdirektoren in Berlin (Paul Spies und ab Sommer 2017 Chris Dercon).

Die mediale Wahrnehmung der Benelux-Staaten entspricht dem jedoch keineswegs. Man hört in der Regel nicht von Erfolgen, sondern von Problemen: Terror und Staatsversagen in Belgien, Populismus in den Niederlanden, Steuertricks in Luxemburg. Die Berichterstattung beschränkt sich oft auf skandalträchtige Schlaglichter, für eine ausgewogene Darstellung ist wenig Raum.

Das vorliegende Buch stellt deshalb Zusammenhänge her und fragt: Warum ist in den Niederlanden dieser Geert Wilders so erfolgreich? Was hat das alte niederländische Konsensdenken mit dem heutigen Rechtspopulismus zu tun? Um die Länder besser zu verstehen, wird immer auch die Binnenperspektive eingenommen: Glauben Belgier wirklich, ihr Staat würde bald auseinanderbrechen? Und: Was sagen die Luxemburger selbst eigentlich zum Thema Geld und Steuerhinterziehung? Ziel ist es, zu verstehen, wie die drei Länder ticken. Dabei geht es um aktuelle politische und gesellschaftliche Themen, um Kultur, Wirtschaft und Alltag. Zur Sprache kommen auch die Werte, mit denen man sich identifiziert. Worauf sind Niederländer, Belgier oder Luxemburger eigentlich stolz, wie blicken sie auf die eigene Geschichte? Woran erinnert man sich gern, was wird eher ausgeblendet? Und: Wie machen sich diese Werte in der heutigen Mentalität bemerkbar, wie geht man miteinander um – was gilt als höflich, was als unhöflich?

Bemerkenswert ist überdies die Dynamik zwischen den drei Ländern. In Deutschland werden die Benelux-Staaten oft als zusammengehörig wahrgenommen – die Einwohner selbst tun dies jedoch keineswegs. Sie grenzen sich eher voneinander ab, und der nähere Blick zeigt: Es gibt da tatsächlich große Unterschiede. Der nördliche Teil der Niederlande ist protestantisch geprägt, der südliche Teil sowie Belgien und Luxemburg katholisch. Auch politisch verlief die Entwicklung unterschiedlich: In den Niederlanden gab es sehr früh bereits eine bürgerliche Republik, in Belgien und Luxemburg hingegen Monarchien. Wie kam es zu dieser unterschiedlichen historischen Entwicklung, und welche Auswirkungen hatte sie? Wie blicken die drei Länder heute aufeinander, und wie sehen sie den großen Nachbarn Deutschland?

Gerade die Vielfalt auf engem Raum macht diese Region so reizvoll, und die Zusammenschau der Länder – geografisch geordnet von Nord nach Süd – ermöglicht den direkten Vergleich. Je tiefer man einsteigt, desto deutlicher wird, dass sich jenseits der Klischees von Tulpen, Käse, Pommes und Schwarzgeld eine schillernde, moderne Region entdecken lässt.

Ich selbst habe die Wahl meiner Studienfächer Niederländisch und Französisch nie bereut – und bin mit der Zeit vom Fan zur Dozentin geworden, die »ihre« Länder in interkulturellen Seminaren für Unternehmen und Behörden erklärt. Das Interesse der Teilnehmer ist groß, und nicht selten ist es nach einem Seminar sogar noch größer.

Berlin, im Dezember 2016

Benelux: Interessengemeinschaft oder große Familie?

Eine typisch deutsche Sicht

Deutsche vermuten westlich von Ems und Rhein oft einen, eingängig Benelux genannten, homogenen Kulturraum. Die Niederlande, Belgien und Luxemburg werden mit großer Selbstverständlichkeit als zusammengehörig gesehen, geografisch und kulturell: Man redet vom Wirtschaftsgebiet der Benelux-Staaten, kauft Benelux-Straßenkarten, sieht im Wetterbericht ein Hoch (oder, etwas häufiger, ein Tief) über dem Benelux-Gebiet, spricht von der niederländischen und flämischen Kunst als Einheit.

Die Selbstwahrnehmung in den Ländern ist hingegen eine ganz andere. Doede Sijtsma, in der niederländischen Provinz Gelderland zuständig für internationale Beziehungen, erläutert das so: »Wir Niederländer sehen uns selbst, glaube ich, nicht als Teil der Benelux. Zusammengehören? In keiner Weise. Emotionale Nähe? Null. Wir haben auch keine gemeinsame Geschichte, wir haben niemals längere Zeit zueinander gehört. Das sind alles nette Leute, klar, und praktisch für einen Kurzurlaub in der Nähe – aber viel mehr ist da nicht.« Friso Wielenga, Professor für niederländische Geschichte und Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien in Münster, bestätigt: »Benelux als Identitätsbegriff ist eine Illusion, es gab nie eine Benelux-Identität.«

Insbesondere in Nordrhein-Westfalen allerdings verweisen verschiedene Interviewpartner auf die sehr wohl gemeinsame Geschichte der Benelux-Länder und auf die engen wirtschaftlichen Verflechtungen der Staaten untereinander. Die drei Länder seien wie eine große Familie, die nicht zuletzt die Situation verbinde, umringt zu sein von großen Nachbarstaaten. Auch politisch und wirtschaftlich werden die drei Länder oft als zusammengehörige Partner gesehen, etwa in der Koalitionsvereinbarung NRWs für die Legislaturperiode 2012 bis 2017. Die Beziehungen zum Benelux-Raum werden hier als »herausragende Eckpfeiler der nordrhein-westfälischen Europapolitik« bezeichnet, es gibt sogar eine Benelux-Strategie.

Die befragten Belgier reagieren allerdings ähnlich wie die Niederländer: »Zugehörigkeit? Nein, ein solches Gefühl besteht nicht«, stellt Alexander Homann fest, Leiter der Vertretung der belgischen Deutschsprachigen Gemeinschaft in Brüssel. »An den Nahtstellen, also nahe der Grenze, ist das ein wenig anders, aber sobald man diese Regionen verlässt, ist das Gefühl der Nähe weg. Benelux ist eine reine Interessengemeinschaft und aus dem Bewusstsein heraus entstanden, wenn wir uns nicht zusammentun, dann gehen wir unter«, so Homann weiter. »Die Zusammenarbeit in der Benelux-Union ist wichtig, aber es gibt keine ausgeprägten kulturellen Gemeinsamkeiten.«

Auch die befragten Luxemburger geben die Auskunft, man empfinde keine besondere Nähe zu Belgien und schon gar nicht zu den Niederlanden, zu denen es ja noch nicht einmal eine gemeinsame Grenze gibt. »Die Benelux-Verträge sind sicher ein sehr gelungenes Beispiel für europäische Zusammenarbeit«, konstatiert ein luxemburgischer Interviewpartner, »aber als große Familie sehen wir uns auf keinen Fall.« Andere hingegen verweisen darauf, dass von 1815 bis 1890 der niederländische König gleichzeitig auch Großherzog von Luxemburg war. Das sei in Luxemburg schon noch präsent. Von einem Zugehörigkeitsgefühl zu einer Region, die Benelux genannt wird, könne jedoch keine Rede sein.

Je nach Standpunkt zeigt sich also ein ganz unterschiedliches Bild, und man fragt sich, woran das liegt. Warum glauben Deutsche reflexhaft, dass die drei Länder zusammengehören? Und aus welchem Grund wird diese Zusammengehörigkeit aus der Binnenperspektive, vor allem in den Niederlanden, so konsequent abgestritten? Sehen wir genauer hin: Wie steht es mit der gemeinsamen oder vielleicht doch nicht so gemeinsamen Geschichte? Was verbindet die drei Länder, was trennt sie, und wie blicken sie aufeinander?

Wegbereiter der Europäischen Union

Unbestreitbar enge Verbindungen zwischen den drei Staaten bestehen seit Mitte des 20. Jahrhunderts auf dem Feld der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit. Bereits 1944, noch im Londoner Exil, schlossen sich die Regierungen Belgiens, der Niederlande (Nederland, daher das NE in Benelux) und Luxemburgs zu einer Zollunion zusammen, die 1948 auch weitgehend verwirklicht wurde. Zwischen Belgien und Luxemburg hatte bereits seit 1922 eine Währungsunion bestanden. Die drei Länder vereinbarten überdies, ihre politischen Interessen künftig gemeinsam zu vertreten, um im sich neu ordnenden Europa nach dem Krieg über einen größeren Einfluss zu verfügen. 1958 wurde der Vertrag für die Benelux-Wirtschaftsunion unterzeichnet. Zunächst für die Dauer von 50 Jahren beschloss man einen gegenseitigen freien Austausch von Waren, Arbeitskräften, Dienstleistungen und Kapital. Damit gab es praktisch keine Handelsbeschränkungen mehr zwischen den drei Staaten. 1969 folgte das Protokoll zur Beseitigung von Kontrollen und Formalitäten an den Binnengrenzen.

Keine Zölle, keine Handelsbeschränkungen, keine Kontrollen an den Grenzen – das war damals absolut bahnbrechend. Dass sich souveräne Nationalstaaten dazu entschlossen, freiwillig Zuständigkeiten und Macht abzugeben, stellte ein Novum in der europäischen Geschichte dar. Im Grunde ist dies nur vor dem historischen Hintergrund der zwei Weltkriege zu verstehen. Die staatliche Neutralität hatte die Benelux-Staaten nicht vor Krieg und deutscher Besatzung geschützt, und nun sah man sich mit der Realität einer neuen Weltordnung konfrontiert, in der Europa in Ost und West aufgeteilt war. Russland war zum Feind geworden, und Westdeutschland diente nunmehr als Puffer, der nicht schwach sein durfte. In der Nachkriegszeit hatte die Benelux-Zusammenarbeit, neben den wirtschaftlichen Vorteilen durch Handelserleichterungen, daher auch einen klaren außenpolitischen Nutzen: Auf dem internationalen Parkett konnte man gemeinsam stärker auftreten.

Dies galt sowohl beim Marshallplan, der den wirtschaftlichen Wiederaufbau Westeuropas mit US-amerikanischen Geldern zum Ziel hatte, als auch für die Westeuropäische Union, einen Vorläufer der Nato. Stärker und sicherer war man auch gegenüber Deutschland, dem als Wirtschaftspartner unentbehrlichen, aber eben aus der Erfahrung der Weltkriege auch unheimlichen Nachbarn. Neben der politischen Neuordnung Europas gab die wirtschaftliche Vernunft den Ausschlag, zu dritt nach einer engeren Zusammenarbeit mit Deutschland zu streben. Bereits im November 1947 wiesen Vertreter der Benelux-Länder darauf hin, wie wichtig es sei, die deutsche Wirtschaft wieder aufzubauen und die Handelsbeziehungen zu liberalisieren, allerdings bei gleichzeitiger Kontrolle und Einhegung Deutschlands.

Die Benelux-Wirtschaftsunion diente zudem der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und späteren Europäischen Union als Modell – denn hier wurde auf kleinerem Gebiet verwirklicht, was später als Unionsrecht für eine größere Zahl von Staaten übernommen wurde, etwa der Binnenmarkt oder die Abschaffung von Grenzkontrollen.

Die Benelux-Wirtschaftsunion brachte aber nicht nur durch ihre »Labor-Funktion« den europäischen Einigungsprozess in entscheidender Weise voran. Vor allem waren es Politiker aus den Benelux-Staaten, die in dieser frühen Phase die Neuordnung und Integration Westeuropas maßgeblich mitprägten. So 1951 bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) mit den Gründerstaaten Belgien, Niederlande, Luxemburg, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich und Italien. Die EGKS, auch Montanunion genannt, gab allen Mitgliedsstaaten Zugang zu Kohle und Stahl, ohne Zoll zahlen zu müssen und zu gleichen Bedingungen. Ziel war nicht nur die gegenseitige Kontrolle der für Kriegsrüstung essentiellen Industriezweige, sondern auch die Erhöhung des Wirtschaftswachstums durch Handelsliberalisierung. Diese Zusammenlegung vor allem der bundesdeutschen und der französischen Kohle- und Stahlproduktion basierte auf dem Schuman-Plan, benannt nach dem damaligen französischen Außenminister (und gebürtigem Luxemburger) Robert Schuman.

Die Mitgliedsstaaten der EGKS mussten Kompetenzen an eine unabhängige Instanz abgeben, die sogenannte Hohe Behörde, die im Bereich der Kohle- und Stahlproduktion gemeinsame Regelungen für alle Mitgliedsstaaten treffen konnte. Die EGKS war damit die erste europäische supranationale Organisation, das heißt, die Hohe Behörde unterlag nicht den Weisungen der Mitgliedsstaaten.

Und es blieb nicht bei der EGKS. 1955, auf der Konferenz von Messina, akzeptierten die Mitgliedsstaaten der EGKS einen gemeinsamen Plan der Außenminister Belgiens, Luxemburgs und der Niederlande für eine engere europäische Zusammenarbeit. Die Messina-Verhandlungen führten schließlich im März 1957 zur Unterzeichnung der Römischen Verträge, der Vereinbarung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zwischen Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg.

Diese Verträge, 1958 in Kraft getreten, gelten als Fundament der heutigen EU. Vorbereitet und angeschoben wurde das Ganze maßgeblich von den drei Benelux-Ländern, denn auch die Römischen Verträge basieren im Wesentlichen auf Vorschlägen, die die damaligen Außenminister der drei Länder erarbeitet hatten. Die in der Benelux-Wirtschaftsunion vereinten Staaten hatten sich mithin zu einem wichtigen politischen Akteur entwickelt, und die drei Außenminister Wim Beyen (NL), Paul-Henri Spaak (BE) und Joseph Bech (LUX) werden heute als Gründerväter der Europäischen Union bezeichnet.

Vorteile brachte der europäische Einigungsprozess für die Wirtschaft, etwa durch die Abschaffung der Zölle, aber auch für die Bürger, die im Alltag spürbare Erleichterungen erfuhren, etwa durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Vor allem aber ging es um die Gewährleistung von Frieden und Sicherheit in Europa, durch wirtschaftliche Prosperität und durch Mechanismen für politischen Dialog und Konfliktlösung. All dies erscheint heute mehr oder weniger selbstverständlich, damals war es das jedoch keineswegs. Und die Grundlage für diesen Frieden waren, neben der Nato, eben die Römischen Verträge – als sich fünf Staaten nur zwölf Jahre nach Kriegsende mit Deutschland auf eine solch enge Form der wirtschaftlichen Zusammenarbeit einigen konnten. Dadurch, dass die Benelux-Staaten ihr politisches Geschick für die Neugestaltung Europas einsetzten, hatten sie maßgeblichen Anteil am Erfolg dieser Vision.

Die Frage, warum trotz der Römischen Verträge an der Benelux-Wirtschaftsunion festgehalten wurde, beantwortete der luxemburgische Außenminister Bech 1958 damit, dass die Zusammenarbeit der drei Mitgliedsstaaten bereits viel weiter entwickelt gewesen sei als die der neu gegründeten EWG, etwa auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Integration. Er verwies auf den bis auf wenige Ausnahmen gemeinsamen Binnenmarkt der Benelux-Staaten und die konkreten Pläne für eine Harmonisierung der Sozial-, Handels- und Agrarpolitik. Daher hätte, so Bech, die Auflösung der Benelux-Wirtschaftsunion die Aufgabe einer jahrelangen guten Zusammenarbeit bedeutet. Zudem war es ja noch keineswegs ausgemacht, ob die Kooperation der Sechsergemeinschaft ebenso gut verlaufen würde wie die der Benelux-Länder.

Dass die Benelux-Verhandlungen sich bis 1958 hinzogen, lag in erster Linie an der unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Ausrichtung: Für die Niederlande als Handelsnation war der Freihandel von großer Bedeutung, Belgien hingegen verfügte über eine bedeutende Industrie (Kohle und Stahl) und agierte eher protektionistisch.

Offene Grenzen: Ein Wirtschaftsfaktor

Das gemeinsame politische Auftreten war stets ebenso wichtig wie die wirtschaftliche Seite der Benelux-Zusammenarbeit. Ein politischer Meilenstein, an dem die Benelux-Länder maßgeblich beteiligt waren, war 1985 das erste Abkommen von Schengen (übrigens ein kleiner Ort in Luxemburg), das die Personenkontrollen innerhalb der zunächst beteiligten Länder – Benelux-Staaten, Frankreich, Deutschland – abschaffte und eine freie Ein- und Ausreise ermöglichte. Im Laufe der Jahre wurde dieses Abkommen Schritt für Schritt ausgeweitet und gilt inzwischen für weite Teile des EU-Gebiets. 1985 war dies allerdings eine Sensation.

Als es 2015/16 wegen der Flüchtlingswellen zwischenzeitlich wieder Grenzkontrollen gab, wurde vielen Bürgern noch einmal bewusst, um welche großen Errungenschaften es sich hier handelt. Der Wiener Historiker Philipp Ther erklärt: »Millionen Arbeitnehmer pendeln in die Nachbarstaaten, nutzen die Einkaufsmöglichkeiten oder fahren aus dem Berchtesgadener Winkel abends nach Salzburg ins Theater. Mit Schengen ist Europa von unten zusammengewachsen.«

Inzwischen ist das Schengener Abkommen zum echten Wirtschaftsfaktor geworden. Für Luxemburg etwa würde die erneute Einführung von Grenzkontrollen eine Katastrophe bedeuten. Jeden Tag reisen hier etwa 170 000 Pendler zum Arbeiten ein. Als nach den Anschlägen von Paris im November 2015 kurzzeitig die Grenzen streng kontrolliert wurden, waren die Staus rund um Luxemburg so enorm, dass die Menschen nicht mehr an ihren Arbeitsplatz gelangten.

Auch die deutsche Wirtschaft schlug Alarm, denn die Industrie ist inzwischen auf Lieferungen ausgelegt, die genau im passenden Moment ankommen und weiterverwendet werden. Das spart enorme Summen an Lagerkosten. Deutschland transportiert jährlich Waren im Wert von 1200 Milliarden Euro in andere Staaten, und die Hälfte aller Vorprodukte wird importiert. Eine Rückkehr zu den Zuständen vor Schengen würde unübersehbare wirtschaftliche Einbußen nach sich ziehen.

Aber zurück zu den Benelux-Ländern und den Anfängen der Zusammenarbeit nach dem Krieg. Nicht immer und nicht in allen Bereichen verlief die Kooperation zwischen den Ländern einig und harmonisch. Zudem befanden sich die drei Staaten nach 1945 in einer völlig unterschiedlichen Ausgangsposition: In der Kolonie Niederländisch-Ostindien, dem heutigen Indonesien, kam es zu einem Volksaufstand gegen die niederländische Obrigkeit. Daraus entwickelte sich ein vierjähriger Unabhängigkeitskrieg, fast die gesamten niederländischen Streitkräfte wurden dorthin verlegt. Das waren immerhin rund 220 000 niederländische Soldaten – zum Teil Berufssoldaten, zum Teil aber auch Männer, die eingezogen worden waren und nun auf dem Arbeitsmarkt fehlten. 1949 wurde Indonesien unabhängig, und die Niederlande verloren eine wichtige Quelle von Rohstoffen und Einkünften. Belgien hingegen führte keinen neuen Krieg, außerdem hatte es im Zweiten Weltkrieg weniger Zerstörungen erlitten als die Niederlande und konnte sich weiterhin auf seine Industrie verlassen.

Auch in der Außenpolitik gab es unterschiedliche Interessen: Die Niederlande waren viel stärker transatlantisch orientiert als die beiden anderen Benelux-Länder. »Was gut ist für die Nato und das amerikanische Engagement in Europa, das ist auch gut für die Niederlande«, so lautete die damalige niederländische Sicht, während Belgien und Luxemburg sich stark an Frankreich orientierten. Dabei spielte auch die Sprache eine Rolle: Die Verwaltungssprache Belgiens war zu dieser Zeit überwiegend Französisch, das galt auch für Luxemburg.

Ein weiteres Wort zur Sprache: Sowohl in den Niederlanden als auch in Flandern, dem nördlichen Teil Belgiens, wird Niederländisch gesprochen. Es handelt sich um die gleiche Sprache, nur die Aussprache ist anders, und es gibt eine Reihe von Dialektwörtern. In etwa lässt sich dies mit den Unterschieden der deutschen Sprache in Deutschland und Österreich vergleichen.

Wieviel Macht für Brüssel?

In Bezug auf die europäische Zusammenarbeit konnten die Benelux-Länder allerdings nicht nur stimulieren und anschieben, sondern auch Entwicklungen bremsen, die nicht ihren Vorstellungen einer weitgehend gleichberechtigten europäischen Integration entsprachen. Das zeigte sich Anfang der 1960er Jahre, als der niederländische Außenminister Joseph Luns zunächst alleine, dann gemeinsam mit seinem belgischen Kollegen Spaak die Verwirklichung deutsch-französischer Pläne für eine Europäische Politische Union stoppte. Damit verhinderten sie, dass der supranationale Charakter der EWG in eine intergouvernementale Richtung umgelenkt wurde und dass die europäische Zusammenarbeit einen anti-atlantischen Einschlag bekam.

Hier wird ein grundsätzliches Problem deutlich, das nicht nur die politischen Pioniere von damals umtrieb, sondern auch die heutigen Diskussionen der Europapolitik prägt – nämlich das Ringen um Zuständigkeiten und Entscheidungsbefugnisse. Bleiben diese Befugnisse bei den Einzelstaaten, müssen deren Regierungen sich untereinander, also intergouvernemental, einigen. Werden sie hingegen einer überstaatlichen, also supranationalen Institution wie der Hohen Behörde oder der Europäischen Kommission anvertraut, verlieren die Regierungen der Einzelstaaten an Einfluss.

Ein solches Ringen um Kompetenzen ist auch in der heutigen Politik zu beobachten: Wenn etwa der Spiegel am 14. März 2015 mit einem Titel wie »Angela de Gaulle« aufmacht, geht es genau darum, dass Deutschland in den letzten Jahren einen Schwenk hin zu einer eher intergouvernementalen Politik vollzogen hat: »Merkel hat mit der Europapolitik Kohls gebrochen, für sie ist Europa keine Frage von Krieg und Frieden, sondern von Euro und Cent. Merkel hat die Eurokrise dazu genutzt, die Macht der Kommission zu beschneiden und sie zurückzutragen in die Hauptstädte der Nationalstaaten. So gesehen ist sie ein de Gaulle des 21. Jahrhunderts.« Der Verweis auf de Gaulle soll daran erinnern, dass auch Charles de Gaulle (Staatspräsident Frankreichs 1959–1969) kein großer Anhänger der europäischen Integration war.

In diesem Streit zwischen intergouvernementaler und supranationaler Ausrichtung sind gerade die Niederländer traditionell stark supranational ausgerichtet. In den 1970er Jahren wandten sie sich einmal sogar explizit gegen das Zustandekommen des Europäischen Rates, der regelmäßigen Zusammenkünfte der Staats- und Regierungschefs. Belgien operierte viel pragmatischer und plädierte 1975 zum Entsetzen der Niederländer sogar für eine wichtige Rolle dieses Gremiums.

Hier wird deutlich, dass die drei Benelux-Länder sich auch in Bezug auf die EWG und spätere EG nicht immer einig waren. Die Niederlande hatten die Tendenz zum Alleingang und beharrten oft auf ihrer jeweiligen Position. Belgien warf den Niederlanden daher wiederholt vor, zu lange und zu prinzipiell an Standpunkten festzuhalten, während die Niederlande ihrerseits die zu rasche Nachgiebigkeit Belgiens beklagten. All dies macht deutlich, wie groß die damalige Leistung der Benelux-Politiker war, ihre eigenen internen Differenzen zu überbrücken und die der anderen zu moderieren.

Auch aus Sicht der großen Länder wie Deutschland oder Frankreich war die gleichberechtigte europäische Zusammenarbeit in Form eines »Europas der Sechs« zunächst mehr als ungewohnt. Der ehemalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher gab 2015 im Magazin der Süddeutschen Zeitung darüber Auskunft, wie neu und fremd diese Zusammenarbeit aus seiner Sicht war: »Als in den Fünfzigerjahren das Europa der Sechs gegründet wurde, war ein Zwergstaat wie Luxemburg gleichberechtigt mit Deutschland. Und es funktionierte.« Das mag vielleicht etwas gönnerhaft klingen, belegt aber, dass man damals keine Angst hatte, politisches Neuland zu betreten. Und es zeigt das deutsche Bestreben, sich zurückzunehmen, sich einbinden zu lassen und die eigene Größe nicht zu sehr auszuspielen.

Luxemburg profiliert sich

Interessant ist im europäischen Zusammenhang die Rolle Luxemburgs. Traditionell gilt das Land als Vermittler zwischen den Großen, vor allem zwischen Deutschland und Frankreich. Zum einen sieht man sich als kulturelle Schnittstelle (jeder Luxemburger spricht neben der Muttersprache Luxemburgisch auch Deutsch und Französisch), denn man versteht hier, und zwar nicht nur sprachlich, beide Lebenswelten. Zum anderen handelt Luxemburg aus der Erfahrung heraus, dass seine territoriale Unversehrtheit nur durch ein friedliches Miteinander der Großen gewahrt bleiben kann. Nicht zufällig ist der erste Plan für eine Montanunion in Luxemburg entstanden, und zwar bereits 1920, unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg.

Der luxemburgische Historiker Yves Carl bemerkt, dass die Benelux-Union dem Großherzogtum Luxemburg nach dem Zweiten Weltkrieg die einmalige Gelegenheit bot, sich als souveräner und eigenständiger Staat zu profilieren, denn sie habe die Gleichberechtigung mit den unmittelbaren Partnern gesichert: Erst durch den Benelux-Vertrag erhielt Luxemburg eine gleichberechtigte Stimme in der seit 1922 bestehenden Währungsunion mit Belgien und emanzipierte sich von dem bedeutend größeren Partnerland.

Generell bedeutete die Benelux-Zusammenarbeit für Luxemburg größere Unabhängigkeit und einen größeren Einfluss. Das kleine Land, in der Geschichte oft Spielball der Großmächte, mauserte sich zum Vermittler zwischen ebendiesen. Carl betont zudem, dass das Großherzogtum zum ersten Mal in der Geschichte einem Vertrag ohne politischen Zwang beigetreten war und somit die Rolle des passiven Zuschauers auf der internationalen Bühne verlassen habe. Von dieser Bedeutung des Benelux-Vertrages weiß allerdings in Luxemburg selbst kaum jemand.

Dies gilt im Übrigen auch für die beiden anderen Benelux-Staaten: Die Errungenschaften der Benelux-Wirtschaftsunion, vor allem ihre Funktion als Motor der europäischen Einigung, sind vielen Bürgern der drei Mitgliedsländer heute nicht mehr präsent.

In Bezug auf die Ausgangsfrage nach der unterschiedlichen Innen- und Außenperspektive lässt sich feststellen: Das gemeinsame politische Auftreten der drei Länder führte dazu, dass man sie von außen als Einheit wahrnahm, denn von den internen Differenzen war wenig bekannt. Es wird ihnen mehr Gemeinsamkeit zugesprochen, als sie in Wirklichkeit besitzen. Friso Wielenga, Historiker und Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien in Münster, spricht von einem Benelux-Mythos: »Diese Wahrnehmung erklärt sich zum Teil durch die Erfolge der Vergangenheit, zum Teil aus der empfindlichen Reaktion der Kleinen in den Nachkriegsjahrzehnten, wenn die Großen die Neigung zeigten, europäische Angelegenheiten unter sich zu regeln.«

Die Benelux-Union heute: Sicherheit, Logistik, Arbeitsmarkt

Machte die EU denn nicht die Benelux-Wirtschaftsunion überflüssig? Eine schwierige Frage, die sich vielleicht am besten mit einem vorsichtigen »Nicht ganz« beantworten lässt. Denn die Benelux-Wirtschaftsunion hat sich weiterentwickelt.

Am 8. Juni 2004 etwa wurde ein weiterer Vertrag zwischen den drei Ländern unterzeichnet, der Maßnahmen gegen die grenzüberschreitende Kriminalität umfasst, die weiter gehen als die Zusammenarbeit innerhalb der EU. Polizisten aus den Benelux-Ländern können seither ohne vorherige Zustimmung der anderen Länder deren Staatsgebiet im Dienst betreten. Weitere Inhalte des Vertrags sind unter anderem die Intensivierung des Informationsaustauschs, sowohl über zentrale Behörden als auch über gemeinsame Polizeizentren, die automatisierte Einsichtnahme in die Register der Kraftfahrzeugzulassungen und außerdem das Organisieren gemischter Streifen oder gemischter Kontrollen, das heißt, zusammengesetzt aus Beamten verschiedener Länder, und zwar mit tatsächlichen Einsatzbefugnissen.

Im Jahr 2008 wurde eine unbefristete Neufassung des 2010 auslaufenden Benelux-Vertrags unterschrieben, der unter anderem eine engere Kooperation mit anderen Staaten und Regionen zulässt (etwa Nordrhein-Westfalen im Osten, Champagne-Ardenne im Süden und Französisch-Flandern im Westen). Außerdem wurde der Name von Benelux-Wirtschaftsunion, deren Funktion tatsächlich weitgehend von der EU übernommen wurde, zu Benelux-Union verkürzt.

Der neue Name signalisiert bereits, dass die Union ihren Arbeitsbereich nun umfassender definiert. Denn diese neue Benelux-Union, die mit einem kleineren Sekretariat zudem auch effizienter operieren will, hat vereinbart, auf folgenden Gebieten enger zusammenzuarbeiten: Justiz/Innenpolitik, nachhaltige Entwicklung, (Binnen-)Markt. Diese drei Leitthemen wurden in einem gemeinsamen Arbeitsprogramm mit vierjähriger Laufzeit festgeschrieben und vom Benelux-Generalsekretariat in Brüssel mit jährlichen Arbeitsplänen weiter differenziert.

Auch aktuell hat die Benelux-Union einige Erfolge vorzuweisen. 2014 etwa unterzeichneten die Außenminister der drei Länder ein Abkommen, das den grenzüberschreitenden Transport von 45-Fuß-Containern über die Straße zulässt. Dabei handelt es sich um übergroße Container mit einer Länge von 13,71 Metern (Standard ist 40 Fuß oder 12,19 Meter), die sehr oft für den Schiffstransport verwendet werden. Zuvor durften Spediteure solche Container nicht einfach so über die Straße transportieren, etwa zwischen den großen Häfen Rotterdam und Antwerpen oder zwischen einem belgischen Hafen und einem niederländischen Verteilerzentrum, sondern nur unter Einhaltung von besonderen Bedingungen. Daher ist die Neuerung für Logistik-Unternehmen ein großer Schritt nach vorn.

Dieses Beispiel kann als kleiner Beleg gelten für das Fortbestehen der traditionellen Vorreiterrolle der Benelux-Union innerhalb der EU. Grundlage für diese Vorreiterrolle ist eine Klausel, die bereits im EWG-Vertrag enthalten war und dann auch in den EU-Vertrag von 2007 übernommen wurde (Art. 350 AEUV, Vertrag über die Arbeitsweise der EU). Diese Klausel räumt den Benelux-Ländern die Möglichkeit ein, bei der wechselseitigen Zusammenarbeit weiter als die Europäische Union zu gehen und sogar Maßnahmen zu beschließen, die gegen europäisches Recht verstoßen. Im vorliegenden Fall der übergroßen Container war die Entscheidung zwar umstritten, denn viele Umweltschützer wehrten sich gegen die »Monster-Trucks«. Für die Benelux-Länder ist der entsprechende Artikel jedoch von großer Bedeutung, weil er ihnen erlaubt, auf kleiner Ebene neue Regelungen auszuprobieren.

Jan van Laarhoven, bis Ende 2016 Generalsekretär der Benelux-Union, betonte immer wieder, dass die konkrete Arbeit der Benelux-Union getrennt sei von der politischen Zusammenarbeit der drei Staaten, etwa bei der Abstimmung europäischer Positionen. Der Benelux-Union gehe es um Lösungen, die Bürgern und Unternehmen zugutekämen: »Wir lösen die praktischen Probleme, die durch Grenzen geschaffen werden.«

Ein Beispiel für Erleichterungen im Alltag des einzelnen Bürgers ist etwa ein im Mai 2015 unterzeichneter Vertrag, der die automatische gegenseitige Anerkennung von Hochschulabschlüssen regelt. Man braucht sein Diplom nun nicht mehr aufwendig prüfen zu lassen, was manchmal mit langen Wartezeiten und auch Kosten verbunden war, sondern es wird direkt und problemlos anerkannt. Das spart Geld, Zeit und Verwaltungsaufwand und erhöht dadurch die Berufschancen und die Mobilität der Arbeitnehmer. Für den grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt ist dies ein großes Plus.

Trotz dieser Erfolge, wie hier im Bereich Logistik und Arbeitsmarkt, wurde die Mitgliedschaft in der Benelux-Wirtschaftsunion in den Niederlanden allerdings immer wieder kritisch diskutiert, zuletzt 2013. Man fragte sich, was die Kooperation dem Land noch bringe und ob der Nutzen größer sei als die Kosten, etwa für das »teure« Generalsekretariat der Benelux-Union in Brüssel mit seinen rund 50 Mitarbeitern. Das niederländische Außenministerium gab eine große Studie in Auftrag, die Kosten und Nutzen der Benelux-Zusammenarbeit ausloten sollte, vor allem für die unmittelbar zurückliegende Zeit der Jahre 2010 bis 2012.

Die Studie lieferte ein differenziertes Bild, sie zeigte Erfolge und Defizite auf. Schließlich entschied man sich jedoch dafür, an der gerade erneuerten Mitgliedschaft festzuhalten. Dies ist in erster Linie auf den damaligen niederländischen Außenministers Frans Timmermans zurückzuführen, der die Zusammenarbeit innerhalb der Benelux-Union als ausgesprochen nützlich ansah – etwa die Abstimmung in den Bereichen Verkehr und Transport, Innenpolitik, Arbeitsmarkt und Justiz. Außer Zweifel steht auch, dass der Zusammenschluss der drei Länder und die Bezeichnung Benelux inzwischen eine gut eingeführte Marke sind. Und solch ein bekanntes Label einfach abzuschaffen, das tun die marketingerfahrenen Niederländer nicht so schnell – auch wenn es im Land viele Stimmen gibt, die Sparmaßnahmen unterstützen und fordern, das »wuchernde« Europa und die Benelux-Union sollten energisch zurückgeschnitten werden.

Die luxemburgischen Parlamentarier braucht niemand vom Nutzen der Benelux-Union zu überzeugen. Ihnen ist klar, dass die Abstimmungen im kleinen Kreis, auch neben der Zusammenarbeit in der EU, sehr hilfreich sind und dass die Benelux-Länder dank ihres Verbunds auch weiterhin eine Vorreiterrolle in Europa spielen können. In Belgien sind die Ansichten – wie in so vielem – geteilt, aber im Grunde stellt kaum jemand die Kooperation grundsätzlich in Frage. Gerade die Belgier haben ihren Vorsitz in der Benelux-Union 2015 sehr aktiv wahrgenommen, auch das Treffen der Ministerpräsidenten wurde als Erfolg gewertet. Seit mehreren Jahren haben alle drei Staaten zudem eine liberal geführte Regierung.

Eine moderne Patchwork-Familie

Ein weiterer interessanter Punkt des erneuerten Vertrags ist die Ausdehnung der Zusammenarbeit über die Grenzen hinaus, etwa mit dem deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen. NRW zeigt hier seit Jahrzehnten großes Interesse und pflegt die Kontakte mit den Nachbarn – obwohl Luxemburg natürlich gar nicht an NRW grenzt. Das Interesse Nordrhein-Westfalens an einer engeren Zusammenarbeit mit den Benelux-Staaten ist sogar einer der Gründe dafür, dass der 2008 unterzeichnete neue Benelux-Vertrag eine »Öffnungsklausel« für die Zusammenarbeit der Benelux-Union mit angrenzenden Staatengruppen, Staaten, Gliedstaaten und Regionen enthält.

NRW hat nicht nur einen Benelux-Verbindungsreferenten, der im Generalsekretariat der Benelux-Union in Brüssel arbeitet, sondern die Staatskanzlei Düsseldorf verfügt seit 2014 auch über ein eigenes Benelux-Referat, das die Zusammenarbeit des Bundeslandes mit den Mitgliedsstaaten der Benelux-Union koordiniert. Referatsleiterin Uta Loeckx erklärt: »Die Zusammenarbeit mit dem Benelux-Raum hat in den letzten Jahren, insbesondere nach der Verabschiedung der Benelux-Strategie der Landesregierung, spürbar an Intensität zugenommen. Mehr und mehr kommt es hierbei zu einer Verschiebung von der reinen bilateralen Zusammenarbeit mit nur einem Benelux-Land hin zu einer tri- bzw. multilateralen Kooperation mit zwei oder mehreren Benelux-Partnern, wie etwa Niederlande und Flandern.«

Das Interesse ist wechselseitig. Bereits 2013 betonte der damalige niederländische Außenminister Frans Timmermans das Interesse der Benelux-Staaten an einer engeren Zusammenarbeit mit NRW: »Wir müssen hin zu einem gemeinsamen Arbeitsmarkt in Nordrhein-Westfalen und der Benelux-Region. Auf der einen Seite der Grenze gibt es Stellenangebote, auf der anderen Seite Arbeitsuchende. Manchmal scheint es noch Hindernisse zu geben, auf der anderen Seite der Grenze zu arbeiten. Daran müssen wir etwas ändern.« Auch für die Zukunft gibt es also ehrgeizige Pläne.

Trotz dieser Erfolge ist die interne Benelux-Zusammenarbeit jedoch auch in der Gegenwart nicht immer einfach. Wiederholt gab es Konflikte in Bezug auf die Europäische Union, vor allem zwischen den Niederlanden und Belgien. So kämpften die Niederlande beim EU-Gipfel 2000 in Nizza dafür, im Europäischen Rat ein größeres Gewicht zu erhalten als die Belgier. Und das gelang ihnen auch, zum großen Ärger der Nachbarn. Im Europäischen Rat haben nunmehr die Niederländer 13 Stimmen, die Belgier zwölf und Luxemburg vier (Deutschland und Frankreich jeweils 29). Kein Zufall ist dabei, dass die Summe der Benelux-Stimmen 29 ergibt, die Länder also zu dritt so schwer wiegen wie jedes der größten Länder.