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Siegfried Müller

Kultur in Deutschland

Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung

Verlag W. Kohlhammer

 

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Umschlagabbildung: 00806418 © Wolfgang Volz/laif Verhüllter Reichstag

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN: 978-3-17-031844-1

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-031845-8

epub:    ISBN 978-3-17-031846-5

mobi:    ISBN 978-3-17-031847-2

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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. Vorwort
  2. Einleitung
  3. Teil 1 Die Menschen
  4. Vergnügen und Zeitvertreib
  5. 1900–1918
  6. 1919–1933
  7. 1933–1945
  8. Westzonen und BRD: 1945–1989
  9. Ostzone und DDR: 1945–1989
  10. Deutschland nach 1990
  11. Literatur
  12. Sport
  13. 1900–1918
  14. 1919–1933
  15. 1933–1945
  16. Westzonen und BRD: 1945–1989
  17. Ostzone und DDR: 1945–1989
  18. Deutschland nach 1990
  19. Literatur
  20. Kleidung und Mode
  21. 1900–1918
  22. 1919–1933
  23. 1933–1945
  24. Westzonen und BRD: 1945–1990
  25. Ostzone und DDR: 1945–1989
  26. Deutschland nach 1990
  27. Literatur
  28. Teil 2 Gesellschaft
  29. Architektur und Bauen
  30. 1900–1933
  31. 1933–1945
  32. Westzonen und BRD: 1945–1989
  33. Ostzone und DDR: 1945–1989
  34. Deutschland nach 1990
  35. Literatur
  36. Schule und Bildung
  37. 1900–1918
  38. 1919–1933
  39. 1933–1945
  40. Westzonen und BRD: 1945–1989
  41. Ostzone und DDR: 1945–1989
  42. Deutschland nach 1990
  43. Literatur
  44. Religion und Kirche
  45. 1900–1918
  46. 1919–1933
  47. 1933–1945
  48. Westzonen und BRD: 1945–1989
  49. Ostzone und DDR: 1945–1989
  50. Literatur
  51. Teil 3 Medien
  52. Presse
  53. 1900–1933
  54. 1933–1945
  55. Westzonen und BRD: 1945–1989
  56. Ostzone und DDR: 1945–1989
  57. Deutschland nach 1990
  58. Literatur
  59. Rundfunk
  60. 1923–1933
  61. 1933–1945
  62. Westzonen und BRD: 1945–1989
  63. Ostzone und DDR: 1945–1989
  64. Deutschland nach 1990
  65. Literatur
  66. Film und Kino
  67. 1900–1918
  68. 1919–1933
  69. 1933–1945
  70. Westzonen und BRD: 1945–1989
  71. Ostzone und DDR: 1945–1989
  72. Deutschland nach 1990
  73. Literatur
  74. Teil 4 Die Schönen Künste
  75. Musik
  76. 1900–1933
  77. 1933–1945
  78. Westzonen und BRD: 1945–1989
  79. Ostzone und DDR: 1945–1989
  80. Deutschland nach 1990
  81. Literatur
  82. Literatur
  83. 1900–1918
  84. 1919–1933
  85. 1933–1945
  86. Westzonen und BRD: 1945–1989
  87. Ostzone und DDR: 1945–1989
  88. Deutschland nach 1990
  89. Literatur
  90. Malerei
  91. 1900–1918
  92. 1919–1933
  93. 1933–1945
  94. Westzonen und BRD: 1945–1989
  95. Ostzone und DDR: 1945–1989
  96. Literatur
  97. Design
  98. 1900–1918
  99. 1919–1933
  100. 1933–1945
  101. Westzonen und BRD: 1945–1990
  102. Ostzone und DDR: 1945–1989
  103. Deutschland nach 1990
  104. Literatur
  105. Drama und Theater
  106. 1900–1918
  107. 1919–1933
  108. 1933–1945
  109. Westzonen und BRD: 1945–1989
  110. Ostzone und DDR: 1945–1989
  111. Deutschland nach 1990
  112. Literatur
  113. Teil 5 Wissenschaften
  114. Geschichtswissenschaft
  115. 1900–1918
  116. 1919–1933
  117. 1933–1945
  118. Westzonen und BRD: 1945–1989
  119. Ostzone und DDR: 1945–1989
  120. Deutschland nach 1990
  121. Literatur
  122. Humanmedizin
  123. 1900–1918
  124. 1919–1933
  125. 1933–1945
  126. Westzonen und BRD: 1945–1989
  127. Ostzone und DDR: 1945–1989
  128. Deutschland nach 1990
  129. Literatur
  130. Physik
  131. 1900–1918
  132. 1919–1933
  133. 1933–1945
  134. Westzonen und BRD: 1945–1989
  135. Ostzone und DDR: 1945–1989
  136. Deutschland nach 1990
  137. Literatur
  138. Chemie
  139. 1900–1918
  140. 1919–1933
  141. 1933–1945
  142. Westzonen und BRD: 1945–1989
  143. Ostzone und DDR: 1945–1989
  144. Deutschland nach 1990
  145. Literatur
  146. Biologie
  147. 1900–1918
  148. 1919–1933
  149. 1933–1945
  150. Westzonen und BRD: 1945–1989
  151. Ostzone und DDR: 1945–1989
  152. Literatur
  153. Luft- und Raumfahrttechnik
  154. 1900–1918
  155. 1919–1933
  156. 1933–1945
  157. Westzonen und BRD: 1945–1989
  158. Ostzone und DDR: 1945–1989
  159. Deutschland nach 1990
  160. Literatur
  161. Automobiltechnik
  162. 1900–1918
  163. 1919–1933
  164. 1933–1945
  165. Westzonen und BRD: 1945–1989
  166. Ostzone und DDR: 1945–1989
  167. Deutschland nach 1990
  168. Literatur
  169. Eisenbahntechnik
  170. 1900–1918
  171. 1919–1933
  172. 1933–1945
  173. Westzonen und BRD: 1945–1989
  174. Ostzone und DDR: 1945–1989
  175. Deutschland nach 1990
  176. Literatur

 

Vorwort

 

 

Die Entstehung dieses Buches hat den Autor viele Jahre begleitet. Es nimmt den Leser mit auf eine Zeitreise durch die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts und greift dazu in 22 Kapiteln Erscheinungsformen des kulturgeschichtlichen Wertewandels auf. Auf diese Weise werden Entwicklungstendenzen, Lebensstile und Deutungsmuster sichtbar. Bei jedem Leser weckt dieses Jahrhundert unterschiedliche Erinnerungen. Viele haben einen großen Teil selbst erlebt; für die junge Generation ist das 20. Jahrhundert die Vorgeschichte ihrer Gegenwart. Sie leben mit den Folgen dieser Vergangenheit: mit den Lehren, die aus Nationalsozialismus und zwei Weltkriegen zu ziehen sind, der Trennung in zwei deutsche Staaten und der Wiedervereinigung, den Erfolgen in Wissenschaft und Wirtschaft, mit der Bildungspolitik und den Institutionen und Leistungen in der Kunst.

Das Buch bietet eine moderne Gesamtdarstellung der deutschen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, die die thematische Vielfalt der Lebenswelten im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im »Dritten Reich«, in der Bundesrepublik und der DDR überblicksartig umfasst und dabei innerhalb einzelner Kulturbereiche Wandel und Beharrung aufzeigt. Bisherige Überblicksdarstellungen zur Kulturgeschichte, die seit den 1980er und 1990er Jahren erschienen sind, beschäftigen sich mit Teilaspekten verschiedener Epochen, wobei sie Naturwissenschaften, Architektur, Mode und Malerei oft weitgehend ausblenden. Gleichwohl liegt eine Fülle von Detailstudien zu den einzelnen im Buch ausgebreiteten kulturgeschichtlichen Themenkomplexen vor, auf denen die vorliegende Arbeit ebenso fußt wie auf eigenen Vorarbeiten.

Jeder Autor hat beim Abschluss seines Werkes zu danken. Für die kritische Lektüre einer Reihe von Kapiteln danke ich Prof. em. Dr. Walter Jansen, Dr. phil. Marcus Kenzler, Dr. rer. nat. Horst Knöckel, Dr. rer. nat. et phil. habil. Annelore Rieke-Müller, Dr. phil. Michael Stöneberg und Prof. Dr. Melanie Unseld. Dem Kohlhammer Verlag danke ich für das Vertrauen und seinem Lektor Dr. Daniel Kuhn für die engagierte Zusammenarbeit.

Oldenburg, im Herbst 2016

 

Einleitung

 

 

Menschen geben sich Regeln für ihr Zusammenleben, die auf Wertorientierungen und Ideologien basieren. Aus der Bindung an die so geordnete Gesellschaft ergeben sich kulturelle Verhaltensweisen und Dinge, die als Teil des kulturellen Gedächtnisses in politische sowie wirtschaftliche Strukturen und Prozesse eingebettet sind. Diese kulturellen Muster zu erschließen, ist das Ziel der »Neuen Kulturgeschichte«, die seit den 1990er Jahren in der Geschichtswissenschaft zunehmend an Boden gewinnt. Sie ist nicht nur problemorientierter als die ältere Kulturgeschichtsschreibung aus der Zeit um 1900, sondern sie erschließt sich auch Themen, Quellengruppen und methodische Herangehensweisen im Rückgriff auf andere Fächer. Sie weitet also ihren Untersuchungsgegenstand aus und ist transdisziplinär ausgerichtet. Sie verbindet Fragestellungen der Geschichtswissenschaft mit solchen der Literaturwissenschaft, Kunst- und Technikgeschichte, Pädagogik, Religion, Medien- und Theaterwissenschaft, Medizin und Naturwissenschaften. Erst die Einbindung solcher Themen gibt einem Jahrhundert seine Konturen. Die vorliegende Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts bezieht sich dazu auf Überlegungen zu einer »Historischen Kulturwissenschaft«, wie sie um 1900 u. a. von Georg Simmel und Max Weber postuliert wurden. Dieser Ansatz beinhaltet zum einen strukturelle Zusammenhänge von Kultur und Gesellschaft. Zum anderen werden Menschen und deren Handlungsspielräume unter den jeweiligen gesellschaftspolitischen Bedingungen analysiert. Denn im Sinne Georg Simmels haben kulturelle Erscheinungsformen als »ein Element einer historisch-sozialen Struktur« zu gelten und als Zeugnis eines »inneren Tuns, welches das Erlebnis [eines] Subjekts« dokumentiert. Im Zentrum steht also nicht nur wie bei der »Historischen Sozialwissenschaft« eine Gesellschaftsgeschichte, die »Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft, Herrschaft und Kultur« untersucht (Hans-Ulrich Wehler).

Die vorliegende Darstellung greift dazu den »iconic« bzw. »pictorial turn« auf, also die Hinwendung zu einer Bildwissenschaft, wohl einer der vielversprechendsten Ansätze in der »Neuen Kulturgeschichte«. Repräsentationen von menschlichem Tun, vom Gemälde bis zum Designobjekt, werden nicht mehr nur als Illustration, sondern als Konstruktion von Vergangenem und damit als Quelle wahrgenommen. Sie sind demnach Formen der Kommunikation, mit denen der Einzelne Stellung nimmt zu seiner Umwelt. Bereits 1772 formulierte der Göttinger Historiker August Ludwig Schlözer dazu, Objekte könnten den Historiker als »Gedächtniszeichen« bei der Analyse von Begebenheiten sowie von Ursachen und Verläufen historischer Prozesse leiten. Sie markieren demnach zeitlich definierte Zustände eines Sachverhalts innerhalb eines geschichtlichen Prozesses, dessen Verlauf durch den Vergleich mit anderen Gedächtniszeichen deutlich wird – als »Realzusammenhang« im Sinne Schlözers. Die Zeichen führen den Historiker zu Ereignissen, Ursachen und Wirkungen, indem sie Vorstellungen und Bedeutungen sowie deren Wandel vor Augen stellen. Ihre Zusammenstellung ermöglicht darüber hinaus das Erkennen eines inhaltlichen Sachzusammenhangs – »Zeitzusammenhang« im Sinne Schlözers. Für ihn ist die Geschichte daher ein System von Zeichen, welches im jeweiligen Kontext zu interpretieren ist; eine Vorstellung, die 200 Jahre später der Ethnologe Clifford Geertz ähnlich formulierte.

Jedoch lässt sich von diesem System von Zeichen immer nur ein »Teil des Ganzen« erfassen, wie die Kulturwissenschaft um 1900 als Problem der Annäherung an Vergangenes insgesamt herausgearbeitet hat. Benutzungsspuren sind zwar Gedächtniszeichen von gelebter und vorgestellter Wirklichkeit. Mit der fortschreitenden Kultivierung der Dingwelt, so Georg Simmels These, wissen wir jedoch immer weniger von den Dingen der Vergangenheit und der Gegenwart. Die Folge sei, dass das Denken in Form von immer mehr Symbolen gespeichert sei, deren Sinn und Bedeutung man »nur ganz unvollständig kenne«. Daher gelte es, »den Dingen ihre Bedeutung und ihr Geheimniß abzulauschen« und individuelle Erinnerung in das offene überindividuelle Gedächtnis einzuordnen. An Versuchen, die Deutung der jeweiligen Erscheinungsformen unter der Voraussetzung ihrer Unendlichkeit zu leisten, hat es seit der Jahrhundertwende nicht gefehlt. Hier seien nur die Ansätze von Aby Warburg, Werner Sombart und Ernst Cassirer genannt. Für Cassirer drückt sich das »Geistige« in »Zeichen« und »Bildern« aus und wird durch Symbole vermittelt. Für ihn äußert sich die Deutung von Wirklichkeit am ehesten in Kunstwerken. Gleichwohl war für ihn wie für Georg Simmel Kultur alles, was der Mensch materiell und immateriell hervorbringt, von Ritualen über Bilder, Mythen und Religion bis zu Institutionen, Sprache und Technik. Solche Ansätze sind zweifellos für die moderne kulturhistorische Forschung anschlussfähig.

In der vorliegenden Darstellung gelten vor diesem theoretischen Hintergrund Bauten (s. Bauen und Wohnen), künstlerische Darstellungen (s. Malerei), technische Geräte (s. Ingenieurwissenschaften), Gegenstände des täglichen Lebens (s. Design) sowie Kleidung (s. Mode) als Bilder und somit als Repräsentationen von Vorstellungen. Diese Artefakte umgaben einstmals die Menschen und standen in einem bestimmten Funktionszusammenhang zu ihrer Lebenswelt. Sie hatten für sie damit eine »Kulturbedeutung« (Max Weber), die zeitlich und sozial differenziert ist: So muss man z. B. einem 70-jährigen nicht die Kulturbedeutung einer Lambretta erklären, wohl aber einem 20-jährigen. Für den älteren Zeitgenossen ist sie das Symbol für gelebte Mobilität, für den jüngeren Betrachter wohl nur ein technisch überholtes Gerät. Die Artefakte zeigen also Aspekte des Lebens eines Individuums in einer Gruppe und zugleich in einem sozialpolitischen und kulturellen System, sind Gedächtniszeichen von gelebter und vorgestellter Wirklichkeit und können deshalb ähnlich wie Texte gelesen werden. Weil sie darüber hinaus überindividuelle Bedeutungen dokumentieren, können sie auch unter sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Perspektive untersucht werden. Als Museumshistoriker hat der Autor hierzu seit Jahren Ausstellungen über »Oldenburg – Kulturgeschichte einer historischen Landschaft«, »Kleider machen Politik«, »Von Zeppelin bis Airbus«, »100 Jahre – 100 Objekte«, »Party, Perlon, Petticoats«, »Mini, Mofa, Maobibel« und »Demo, Derrick, Discofieber« konzipiert.

Dingliche Erscheinungsformen als Quellen wurden ergänzt um viele autobiographische Äußerungen. Sie geben Auskunft über das tägliche Leben von Individuen und Gruppen, ihre »Wertideen« (Max Weber), ihre Gefühle und Leistungen, ihre Sorgen und Ängste, ihre Ambitionen und Erfolge. Die Menschen geben ihrer Zeit durch ihre Reflexionen und Auseinandersetzungen mit der sich wandelnden Gesellschaft ein Gesicht. Ihre Zeugnisse überliefern im Sinne Ernst Cassirers eine Wirklichkeit, die kulturell geformt und symbolisch gedeutet wird. Die bisherigen kulturgeschichtlichen Überblicke haben kaum Selbstzeugnisse von Zeitgenossen in nennenswertem Umfang herangezogen. In meiner Arbeit kommen sie ausführlich zu Wort. Zu diesem Zweck habe ich eine Fülle von Briefen, Lebenserinnerungen, Reden, Tagebücher und Zeitungsartikel ausgewertet.

Individuelle Lebensäußerungen, Dinge und Verhaltensweisen lassen Ereignisse und kulturelle Veränderungen aufscheinen, die das 20. Jahrhundert ebenso prägten wie die beiden Weltkriege und der Zivilisationsbruch des Holocaust. Dazu gehören beispielsweise individuelle technische Innovationen (Flugzeug, Zeppelin, Auto, Eisenbahn, Rakete), die die Erfahrung von Raum und Zeit für jeden nachhaltig veränderten; die Erfindungen und Entwicklungen in Biologie, Medizin, Physik und Chemie; Untertanengesinnung und Militarisierung der Gesellschaft im Kaiserreich, die u. a. den Matrosenanzug für Kinder propagiert; Lebensreform-, Gartenstadt- und Wandervogelbewegung, Freilichtmalerei und Heimatliteratur als Ausdruck von Kritik an der massiven Verstädterung mit ihren Mietskasernen und der Zerstörung der Natur im Zuge der Industrialisierung. In Kriegsbildern und Zeugnissen von Malern und Schriftstellern werden Hurrapatriotismus und Kriegserfahrungen thematisiert. Die Bauhausbewegung steht für Aufbruch und Auseinandersetzung mit der völkischen Ideologie in der Weimarer Republik. Sport, Tanz und Mode sind Zeichen eines neuen Körpergefühls der »neuen Frau« der 1920er Jahre. Der Autorennsport jener Jahre wurde geradezu zum Inbegriff des neuen Lebensrhythmus vieler Menschen. Das Wirtschaftswunder der 1950er Jahre ist Auslöser für die Verwirklichung der Italiensehnsucht und im nächsten Jahrzehnt für den Aufstieg der Massenmotorisierung. In den 1970er Jahren sehen wir die Weiterentwicklung des Körperkults durch Aerobic, Body Building in Fitnessstudios und Trimm-Dich-Bewegung. Der Wunsch nach der »Jeans« wird zum Symbol von Freiheit in der DDR. Auch Nacktbadekultur, Datscha und individueller Urlaub stehen dort für die Konstruktion einer Gegenwelt. Der bundesrepublikanische Film der 1950er Jahre arbeitete u. a. den Heimatverlust vieler Vertriebener nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Viele Zeitgenossen verbinden die Erinnerung an die 1960er Jahre mit der Protestkultur. Die Suche nach neuen Energiequellen (Atom, Plasma, Solar), Ich-Bewegung und der Verlust der Fortschrittseuphorie kennzeichnen die 1970er Jahre, Zukunftsängste und Friedenssehnsucht die 1980er.

Bisherige moderne kulturgeschichtliche Gesamtdarstellungen widmen sich in der Regel einzelnen Zeitabschnitten und Aspekten eines Jahrhunderts. Die vorliegende Darstellung greift in 22 Kapiteln Erscheinungsformen von Kultur im 20. Jahrhundert unter Einbeziehung der Kulturgeschichte der Bundesrepublik und der DDR auf. Dazu wurden nicht nur universitäre Forschungsergebnisse herangezogen, sondern auch solche von Museumswissenschaftlern. Zudem greift die vorliegende Untersuchung eine Reihe von Themen auf, die in neueren Überblicksdarstellungen kaum oder gar nicht berücksichtigt werden wie z. B. die Naturwissenschaften, Medizin, Ingenieurwissenschaften und die Malerei, obwohl auch sie Teil der Kultur sind.

Dem Buch liegt eine Gliederung nach großen politischen Zäsuren zugrunde. Zum einen lag diese wegen der Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg nahe. Zum anderen wirkt Politik massiv auf Kultur ein, und diese antwortet auf Politik, sei es affirmativ oder als Gegenentwurf. Politik schafft zwar nicht immer in allen Bereichen Zäsuren, jedoch oft gravierende. Massive Konsequenzen, von der Malerei bis zur Freizeitwelt, hatte die Gleichschaltung 1933. Sämtliche Bereiche der organisierten Kultur standen nun unter den ideologischen Vorgaben der Nationalsozialisten mit ihrer Blut- und Bodenideologie mit gravierenden Folgen für den einzelnen Künstler wie für die Praxis der Kulturausübung bis zu Vereinen, Sport und Freizeitgestaltung des Einzelnen. Das NS-Regime propagierte verbindliche Lebensentwürfe und Formen des Zusammenlebens für alle. Dennoch schaffte es das Regime im Detail nicht, eine »deutsche Physik«, eine ihm genehme einheitliche Mode, eine für alle geltende »deutsche Kirche« und ein alles beherrschendes »deutsches« Design zu schaffen. Der Bürger aß nicht von heute auf morgen mit einem neuen Essbesteck; die Damenwelt verzichtete nicht auf die Nachahmung des Pariser Chic. Gleichwohl hatte der Nationalsozialismus weite Teile der Kultur ideologisch und praktisch fest im Griff – gleiches galt für die DDR.

Die zweite politische Zäsur, die massiv in den kulturellen Alltag eingriff, war mit dem Zusammenbruch des »Dritten Reiches« verbunden. Sie ermöglicht, für die Zeit von 1945 bis 1990 einen kulturellen Vergleich der Bundesrepublik mit der DDR anzustellen und Ähnlichkeiten und Unterschiede zu erkennen. Nach 1945 trennten sich die Wege von Ost- und Westdeutschland nicht nur politisch, sondern in vielen Bereichen auch kulturell. In den Westzonen entstand unter Aufsicht der Briten, Amerikaner und Franzosen im Rahmen ihres »Reeducation-Programms« eine demokratische Gesellschaft mit freier Kultur, in der Ostzone und späteren DDR dagegen eine Gesellschaft, die unter ständiger Aufsicht der Sowjets von der marxistisch-leninistischen Ideologie durchdrungen war. Dies hatte vielfältige Konsequenzen für die dortige Kultur. Der Westen knüpfte in vielen Bereichen an jene von Weimar an, sei es durch Fortsetzung von Bauhaus-Traditionen in Architektur und Design, sei es in der Musik, um nur einige Beispiele zu nennen. Bedingt durch Adenauers Politik der Westbindung amerikanisierte sich die Kultur in den 1950er und 1960er Jahren zusehends. In der DDR stand sie dagegen im Zeichen des »Aufbaus des Sozialismus«. Sofern kulturelle Strömungen aus der Weimarer Republik überhaupt aufgenommen wurden, waren sie in der Regel nicht von Dauer, weil sie dem Weltbild des DDR-Regimes widersprachen. Erst 1976 bekannte sich das Regime anlässlich des 50. Geburtstages offiziell zum Bauhaus in Dessau. Für die DDR-Führung hatten die industriellen Baumethoden des Bauhauses im Plattenbau der DDR ihre Fortsetzung gefunden.

Ähnlich wie im Nationalsozialismus gelang auch in der DDR die Abschottung nicht vollständig: Westliches Fernsehen, westliche Trendsportarten, Mode und Musik stießen auf große Resonanz, vor der das Regime schließlich kapitulierte. Dagegen war es mit dem freien Informationsfluss in den Wissenschaften vorbei. Während die Bundesrepublik den Rückstand aus der NS-Zeit aufholen konnte und nobelpreiswürdige Forschungsergebnisse hervorbrachte, war dies in der DDR nicht der Fall. Vielen Wissenschaftlern wurde ihre Abgeschlossenheit vom wissenschaftlichen Diskurs dann nach der Wiedervereinigung zum Verhängnis: Sie wurden entlassen.

Die breitgefächerten Möglichkeiten der »Neuen Kulturgeschichte« finden gleichwohl Grenzen, da der Historiker wie gesagt immer nur einen »Teil des Ganzen« erfassen kann. Der hermeneutische Zirkel besagt sogar, dass man folglich auch nicht weiß, wie groß die Teile des Ganzen sind. Historische Erkenntnis ist immer Konstruktion von Vergangenem nach dem Maß unserer Erfahrung. Daher bleibt auch meine Themenauswahl subjektiv. Auf jeden Fall lohnt es sich, der Vielschichtigkeit kultureller Erscheinungsformen im 20. Jahrhundert nachzuspüren.

Literatur

 

A.L. Schlözer, Vorstellung der Universal-Historie, 2 Teile, Göttingen 1772–1773, 2. Auflg. 1775; Werner Sombart, Kunstgewerbe und Kultur, Berlin 1908; Peter L. Berger, Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 1969; Clifford Geertz, The interpretation of cultures, New York 1973; Max Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Johannes Winckelmann (Hg.), Max Weber. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1973, 4. Auflg., S. 146–214; Carlo Ginzburg, Kunst und soziales Gedächtnis. Die Warburg-Tradition, in: ders., Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, München 1988; Georg Simmel, Persönliche und sachliche Kultur, in: Heinz-Jürgen Dahme, David P. Frisby (Hg.), Georg Simmel. Aufsätze und Abhandlungen 1894 bis 1900, Frankfurt/M. 1992, S. 560–582; Michael Diers, Mnemosyne oder das Gedächtnis der Bilder. Über Aby Warburg, in: Otto Gerhard Oexle (Hg.), Memoria als Kultur (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 121), Göttingen 1995, S. 79–94; Rudolf Vierhaus, Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kulturgeschichtsschreibung, in: Hartmut Lehmann (Hg.), Wege zu einer neuen Kulturgeschichte (Göttinger Gespräch zur Geschichtswissenschaft; Bd. 1), Göttingen 1995, S. 6–28; Ernst Wolfgang Orth, Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie: Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (Studien und Materialien zum Neukantianismus; Bd. 8), Würzburg 1996; Georg Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1905/1907), in: Otthein Rammstedt (Hg.), Gesamtausgabe Georg Simmel, Bd. 9, Frankfurt/M. 1997; Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg (Hg.), Oldenburg – Kulturgeschichte einer historischen Landschaft, Oldenburg 1998; Otto Gerhard Oexle, Auf dem Wege zu einer Historischen Kulturwissenschaft, in: Christoph König, Eberhard Lämmert (Hg.), Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, Frankfurt/M. 1999, S. 105–123; Georg Simmel, Rembrandtstudien, in: Klaus Latzel (Hg.), Georg Simmel. Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918, Bd. II, Frankfurt/M. 2000, S. 16–52; Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg (Hg.), Kleider machen Politik. Zur Repräsentation von Nationalstaat und Politik durch Kleidung in Europa vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Oldenburg 2002; Birgit Recki, Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 6), Berlin 2004; Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium 1982–1990, München 2006; Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg (Hg.), Von Zeppelin bis Airbus. Luftfahrt in Nordwestdeutschland im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2007; dass. (Hg.), Party, Perlon, Petticoats. Kultur der fünfziger Jahre in Westdeutschland, Oldenburg 2008; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, München 2009; Axel Schildt, Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik 1945 bis zur Gegenwart, München 2009; Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg (Hg.), 100 Jahre – 100 Objekte. Das 20. Jahrhundert in der deutschen Kulturgeschichte, Bielefeld, Leipzig 2009; Jan Kusber, Mechthild Dreyer, Jörg Rogge, Andreas Hüig (Hg.), Historische Kulturwissenschaften. Positionen, Praktiken und Perspektiven, Bielefeld 2010, Otto Gerhard Oexle, Historische Kulturwissenschaft heute, in: Andrea von Hülsen-Esch, Bernhard Jussen, Frank Rexroth (Hg.), Die Wirklichkeit und das Wissen. Mittelalterforschung – Historische Kulturwissenschaft – Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, Göttingen 2001, S. 33–58 (Erstabdruck: Rebekka Habermas, Rebekka von Mallinckrodt (Hg.), Interkultureller Transfer und nationaler Eigensinn: Europäische und anglo-amerikanische Positionen in den Kulturwissenschaften, Göttingen 2004, S. 25–52, überarbeitet und ergänzt 2008); Siegfried Müller (Hg.), Mini, Mofa, Maobibel. Die sechziger Jahre in der Bundesrepublik, Bielefeld 2013; ders., Michael Reinbold (Hg.), Demo, Derrick, Discofieber. Die siebziger Jahre in der Bundesrepublik, Petersberg 2015.

 

Teil 1   Die Menschen

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Im 20. Jahrhundert konnten die Menschen immer mehr Urlaub für die unterschiedlichsten Vergnügungen nutzten. Zum einen waren dies Vergnügungen, die sich durch das ganze Jahrhundert zogen, wie z. B. private Feste und die Urlaubsreise an die See oder ins Gebirge, zum anderen Freizeitvergnügungen, die erst ab einer bestimmten Zeit ausgeübt wurden. Hierzu gehören ab den 1970er Jahren die bundesrepublikanischen Straßen- und Kulturfeste und Trendsportarten wie das Windsurfen. Anders als in der Bundesrepublik gab es in der DDR keine Reisefreiheit. Zudem war das Freizeitverhalten vom Staat organisiert.

 

Vergnügen und Zeitvertreib

 

1900–1918

Die Vergnügungskultur war im Kaiserreich vielfältig. Sie reichte von den traditionellen kirchlichen Festen wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten bis zu privaten Feiern und öffentlichen Vergnügungen, die vor allem in den Großstädten ihr Publikum fanden. Während sich in Kleinstädten und auf dem Land die außerfamiliäre Freizeitgestaltung hauptsächlich auf den Besuch von Gaststätten und Kinos sowie die Mitgliedschaft in Vereinen beschränkte, etablierte sich in den Großstädten um die Jahrhundertwende eine Vergnügungskultur, deren Spektrum vom Tanzpalast über Kabaretts bis zum Vergnügungspark reichte. Tempo, Dynamik, Vielfalt, Reizüberflutung – das war der Rhythmus der Großstadt und in besonderem Maße der Berlins.

Berlin

Sedantag (2.9.) und Kaisers Geburtstag (27.1.) waren die wichtigsten Nationalfeiertage, die mit Festlichkeiten und Umzügen begangen wurden wie auch Denkmalsfeste wie z. B. am 18. Oktober 1913 die Einweihung des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig. 1913 wurde auch das 25-jährige Regierungsjubiläum des Kaisers in Stadt und Land gefeiert. »Die Reichshauptstadt bot den Anblick eines riesenhaften Volksfestes«, wie seine Tochter, Viktoria Luise, in ihren Lebenserinnerungen schreibt. Arbeiter hatten ihre eigenen Formen der Geselligkeit, wobei es zahlreiche Parallelen zur bürgerlichen Festkultur gab. Sie stärkten ihr Zusammengehörigkeitsgefühl anlässlich der jährlichen Feier am 1. Mai sowie auf ihren Gewerkschafts- und Arbeitervereinsfesten. Viele engagierten sich in Schützenvereinen, Turn-, Sport- und Gesangsvereinen, Lese- und Theatergruppen, Obst- und Kleintierzuchtvereinen sowie in Geschichts- und Arbeiterbildungsvereinen. Höhepunkt waren immer die Stiftungsfeste mit Umzügen, Reden, Musik, Tanz und reichlich Alkohol. Hier konnten sie von der Monotonie des harten Industriealltags Abwechslung finden. Denn Fabrikarbeit hieß um 1900, 61 Wochenstunden zu arbeiten; um 1913 waren es immer noch 55,5 Stunden. Darüber hinaus gab es eine berufsständische Arbeiterfestkultur. Hierzu gehörte z. B. das »Bergfest«, das die Bergleute zu Ehren der Heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute, feierten. Auch für das Bürgertum fand ein großer Teil des geselligen Beisammenseins in Vereinen statt. Allein in Dortmund gab es 1908 über 400 Vereine, darunter Gesangs-, Turn-, Fecht- und Radfahrvereine sowie Schützengesellschaften.

Berlin war das Mekka der Vergnügungen. Hier entstand eine regelrechte Vergnügungsindustrie, die für jeden Geschmack etwas bot. George Grosz zufolge war die Zeit vor 1914 in Berlin »eine Zeit, in der man Feste feierte.« Es gab viele Bälle:

»einen Ball deutscher Illustratoren, einen Heinrich-Zille-Ball, eine Admiralspalast-Redoute, Künstlerbälle, Theaterbälle und unzählige Privatveranstaltungen. Immer wieder suchte man nach neuen und originellen Einfällen für Feste.«

Die literarische Intelligenz der Reichshauptstadt traf sich in Cafés, so z. B. im Café des Westens am Kurfürstendamm Ecke Joachimstaler Straße, wegen seiner exzentrischen Gäste auch Café Größenwahn genannt. Es war zusammen mit Romanischem Café gegenüber der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und dem Café Kranzler das Zentrum des literarischen Berlin. Dort trafen sich Schriftsteller, Maler und Kunstkritiker wie Otto Dix, Edmund Edel, George Grosz, Leo von König, Oskar Kokoschka, Willy Jaeckel und Lesser Ury, außerdem Else Lasker-Schüler und ihr Ehemann, der Kunstkritiker Herwarth Walden, dazu Leonhard Frank, Erich Mühsam und René Schickele. Liebhaber des Kabaretts gingen ab 1901 in Berlin in das Überbrettl oder in Max Reinhardts Schall und Rauch. In München gab es von 1901 bis 1903/04 Die Elf Scharfrichter, das Schriftsteller wie Heinrich Lautensack und Frank Wedekind prägten.

Zum großstädtischen Leben gehörten auch Theater, Opern, Operetten und Konzerte. Sehr beliebt war zudem das neue Medium des Kinos, außerdem der Zirkus, Völkerschauen und der Zoo. Man ging in Varietés und Tanzcafés und zu Sportveranstaltungen wie z. B. Fußballspielen, Pferderennen, Polo, Turnen, Boxen und Radrennen, wo Angehörige mehrerer sozialer Schichten aufeinandertrafen.

Wer in Berlin um die Jahrhundertwende tanzen wollte, ging u. a. in das Alte Ballhaus in der Joachimstraße oder in den Palais de Danse in der Behrenstraße, um hier zu den Klängen eines Walzers oder einer Polka zu tanzen. Ab 1907 verbreitete sich der Tango in Europa. 1912 fand im Berliner Admiralspalast die erste deutsche Tango-Meisterschaft statt. Beliebt waren auch Maskenbälle. Im Berliner Wintergarten, einem bekannten Varieté im Central-Hotel, konnte man im April 1900 abends Ringkämpfen zusehen, deren »Ehrenschutzherr« der Bildhauer Reinhold Begas war, wie der Theaterkritiker Alfred Kerr berichtet:

»Die sechzehn muskulösesten Männer der Welt traten an die Rampe, in Tricots und Badehosen, eigens bestrahlt von elektrischen Sonnen. Alle Damen beugten sich nach vorn. An diesen prominenten Erscheinungen fesselte mancherlei den Blick.«

Zu den Massenveranstaltungen gehörte ab 1910 der auf der Hasenheide entstandene 10 Hektar große Lunapark, der als größter Vergnügungspark Europas galt. Eine der Attraktionen war die elektrische Gebirgsbahn, die mit 36 km/h vor einer 6000 qm großen Leinwand mit Landschaftsszenerien 10 Minuten unterwegs war. Wer wollte, bestieg die Zicksacktreppe, was allerdings schwierig war, da sie ständig wackelte. »Seitlich von ihr« erinnert sich der Schriftsteller Fedor von Zobeltitz

»ist eine Windmaschine aufgestellt, die den Herren die Hüte vom Kopfe und den Damen die Röcke über die Knie bläst; besondere Finessen des Vergnügens, die wiederum ein vielstimmiges Qui[e]tschen und Kreischen auslösen.«

1912 eröffnete auch Dortmund seinen Lunapark, dessen Attraktionen sich an denen des Berliner Parks orientierten. Beliebt war u. a. die Wasserrutschbahn, auf der Boote aus 12 m Höhe in ein Wasserbassin sausten. Der 1914 in Hamburg eröffnete Vergnügungspark wartete sogar mit einem 33 m hohen Turm auf, von dem aus die Boote starteten.

Auch Flugwettbewerbe hatten ein großes Publikum: Konstrukteure begannen, ihre Flugzeuge auf Flugschauen im In- und Ausland persönlich vorzuführen, um Käufer zu gewinnen. Aus den sensationellen Vorführungen entwickelten sich Flugwettbewerbe, die die Unterstützung der Industrie fanden. Der Treffpunkt der deutschen Flugpioniere war der neue Berliner Flugplatz in Johannisthal, wo kurz nach der Eröffnung vom 26. September bis zum 3. Oktober 1909 die erste Große Berliner Flugwoche als internationaler Flugwettbewerb stattfand. Schon zuvor, von Juli bis Oktober 1909, veranstaltete man in Frankfurt am Main die erste Internationale Luftfahrt-Ausstellung (ILA). Flugartisten wie der Franzose Pégoud führten dort ihre Künste vor Tausenden von Zuschauern vor. Begeisterte Flieger schlossen sich in Luftsportvereinen zusammen. Daneben gab es auch Luftschifffahrtsvereine, deren Mitglieder Ballonfahrten unternahmen. Erst seit Ende der 1890er Jahre waren auch Frauen als Passagiere geduldet. Ab dem Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts durften auch sie die Lizenz zum Führen eines Ballons erwerben. Beliebt waren auch Fahrten mit dem Zeppelin. Hermann Hesse schreibt 1910 über eine Fahrt mit dem Zeppelin über die Alpen:

»und wir Passagiere saßen stolz und kühl in unsrer Kabine […]. Aber plötzlich stieg das Schiff empor […]. Die Menschenmenge wurde klein und komisch, die Stadt Friedrichshafen wurde erstaunlich übersichtlich und niedlich, auch die riesige Ballonhalle sank zu einem belanglosen Fleck zusammen. Dafür aber ging uns das Reich der Lüfte auf, und die Welt wurde erstaunlich groß und weit.«

Massenvergnügungen

Zu den jahreszeitlichen schichtenübergreifenden Massenvergnügungen gehörten Karneval, Fastnacht und Jahrmärkte. Carl Zuckmayer berichtet in seinen Lebenserinnerungen von der Mainzer »Meß«, der im Frühling und Herbst stattfand

»mit all seinen lockenden Buden, mit ›Ahua dem Fischweib‹, ›Lionel dem Löwenmenschen‹, ›Wallenda’s Wolfszirkus‹, ›Schichtl’s Zaubertheater‹, dem Kölner Hännesje, den Ringkämpfern und den tätowierten Schönheiten des Orients, mit dem Gewimmer der alten Drehorgel, dem Geschepper der mechanischen Karussellmusik, dem Geschrei der Ausrufer, Luftballons, Schiffschaukeln und abendlichem Fackelschwelen auf dem Halleplatz.«

Zu den im Herbst stattfindenden Volksfesten mit überlokaler Bedeutung gehören das Münchner Oktoberfest, der Bremer Freimarkt und das Cannstatter Volksfest in Stuttgart.

Mitunter reichte dem Großstädter als Vergnügung schon ein Stadtbummel oder ein Picknick im Grünen. Der Schriftsteller Max Herrmann-Neiße schreibt seiner späteren Ehefrau Leni Gebek aus Berlin am 22. Juni 1914:

»Endlich Treptow. Der Haupt-Tummelort für Berlin. Unter schönen alten Bäumen riesige Rasenflächen, wo Tausende von Familien lagen, auf mitgebrachten Tüchern, alles ganz ungeniert. Vater in Hemdsärmeln, mit Zigarre und Zeitung, manchmal fliegen Bälle an den Kopf, denn sorglos wird zwischen all den daliegenden Ball gespielt, Liebespaare umarmen sich, Eltern schwenken den Sprößling vergnügt in dem aufgespannten Tuch hin und hier, wir wandelten mitten durch dieses Feldlager, endlich sah ich so das richtige Berlin.«

Die städtische Jugend um 1900 freilich wollte aus Unbehagen an Industrialisierung, Urbanisierung und erstarrten Konventionen zu einem neuen Lebensstil aufbrechen, in dem dem Naturerlebnis besondere Bedeutung zukam. Viele waren als Wandervogel oder Pfadfinder organisiert – der 1911 gegründete Deutsche Pfadfinderbund hatte 1913 etwa 100 000 Mitglieder, darunter 10 000 Mädchen und junge Frauen. Noch vor dem Pfadfinderbund war 1909 das Jugendherbergswerk entstanden, das günstige Unterkunftsmöglichkeiten auf Wanderungen bereitstellte.

Im Winter frönten alle Bevölkerungsschichten dem Schlittschuhlaufen auf Seen und Teichen sowie auf künstlich angelegten Eisflächen. Hermann Hesse berichtet in seiner Erzählung Der Kavalier auf dem Eise von 1901:

»Halbe Tage trieb ich mich mit meinen Kameraden auf dem Eise herum, mit heißen Wangen und blauen Händen, das Herz voll der starken, rhythmischen Bewegung des Schlittschuhlaufs energisch geschwellt, voll von der wunderbaren gedankenlosen Genußkraft der Knabenzeit. Wir übten Wettlauf, Weitsprung, Hochsprung, Fliehen und Haschen, und diejenigen von uns, die noch die altmodischen beinernen Schlittschuhe mit Bindfaden an den Stiefeln befestigt trugen, waren nicht die schlechtesten Läufer.«

Reisen

Die »Gartenlaube« schrieb 1903, dass die Fischer auf dem Dammschen See bei Stettin jeden Winter ein Eiskarussell errichteten:

»Ein Loch wird in das Eis geschlagen und ein kurzer, dicker Pfahl hineingesteckt, den ein auf dem Eise ruhender Holzkranz am Einsinken hindert. Dem oberen Ende des Pfahles wird ein drehbarer Holzkopf aufgesetzt, durch den zahlreiche lange Querbalken gezogen sind. An den äußeren Enden diese Balken sind Stuhlschlitten mit ihren Lehnen befestigt, und auf diesen nehmen die Personen – meist Damen und Kinder – nach Erlegung eines kleinen Betrages Platz. Der Unternehmer und seine Leute setzen nun durch schieben [sic!] an den Querbalken das Karussell in Bewegung.«

Ein winterliches Vergnügen für den Adel auf dem Land waren Schlittenfahrten. Alexander Fürst zu Dohna-Schlobitten berichtet in seinen Lebenserinnerungen von einem »Hauptvergnügen im Winter«, den »ausgedehnten Schlittenfahrten« in Ostpreußen.

»In unvergesslich schöner Erinnerung ist mir das völlig lautlose Gleiten durch die in der Sonne glitzernde, schneebedeckte Landschaft Ostpreußens, begleitet nur von dem leisen, rhythmischen Klingeln der Glöckchen am Kopfzeug der Pferde.«

Um das Skilaufen zu fördern, zeigte man 1906 in Konstanz Fotos von »Skisportaufnahmen«. Die Bilder sollten das Interesse wecken; bereits ein Jahr später gründete sich die »freie Vereinigung Konstanzer Skiläufer« mit dem Ziel, »den Skisport am hiesigen Platz zu heben.« Bereits 1891 hatte ein Franzose die erste Abfahrt am Feldberg unternommen; 1908 nahm dort der erste Skilift seinen Betrieb auf. Vermutlich steht die Wiege des mitteleuropäischen Skilaufens im Hochschwarzwald.

Zur Freizeitkultur gehört auch die Urlaubsreise. Wer verreiste, schuf sich für kurze Zeit eine Gegenwelt zum Berufsalltag. Hermann Hesse schrieb 1904:

»Der reisende Städter […] reist, weil es Sommers in der Stadt zu heiß wird. Er reist, weil er im Wechsel der Luft, im Anblick anderer Umgebungen und Menschen ein Ausruhen von ermüdender Arbeit zu finden hofft. Er reist in die Berge, weil eine dunkle Sehnsucht nach Natur, nach Erde und Gewächs ihn mit unverstandenem Verlangen quält; er reist nach Rom, weil es zur Bildung gehört. Hauptsächlich aber reist er, weil alle seine Vettern und Nachbarn auch reisen, weil man nachher davon reden und damit grosstun kann, weil das Mode ist und weil man sich nachher zu Hause wieder so schön behaglich fühlt.«

Carl Zuckmayer berichtet, wie er als Junge mit seinen Eltern im Sommer in die Schweiz, nach Südtirol, an die Nordsee und nach Holland reiste, »dort waren die Eltern verwandelte Menschen, vom Alltag gelöst, der Vater ebenso glücklich, für ein paar Wochen von der Fabrik und dem Geschäft befreit zu sein.«

Allerdings erhielten etwa 90 % der Arbeiter keinen Urlaub, während Beamte seit 1871 einen Anspruch darauf hatten. So war es das begüterte Bürgertum, das wie der Hochadel zur Kur nach Bad Ems, Marienbad, Karlsbad und Baden-Baden fuhr oder die Seebäder an Nord- und Ostsee besuchte. Um 1913 reisten etwa 1 Million Menschen jährlich an die Strände von Nord- und Ostsee. Die Besucherzahl auf Norderney stieg von 11 000 im Jahre 1885 auf 47 000 im Jahre 1911, in Westerland/Sylt von 10 000 (1895) auf 30 000 (1913) und in Borkum von 13 951 (1901) auf 26 450 (1911). Die Seebäder boten nicht nur Strand und Wasser. Sylt lockte 1906 auch mit der Jagd auf Seehunde. Im Ostseebad Heiligendamm konnte man auf Tontauben schießen oder die in der Nähe gelegene Doberaner Pferderennbahn besuchen. Das Ostseebad Warnemünde hatte 1900 fast 15 000 Badegäste, 1910 bereits über 20 000. Erich Kästner beschreibt diesen Zulauf am Beispiel seiner Sommerferien 1914 in Warnemünde:

»Man war den Städten entflohen und hockte jetzt […] noch viel enger nebeneinander als in Hamburg, Dresden und Berlin. Man quetschte sich auf einem Eckchen Strand laut und schwitzend zusammen wie in einem Viehwagen […]. Während der Ferien lagen die Mietskasernen am Ozean […]. Sie schmorten zu Tausenden in der Sonne, als sei die Herde schon geschlachtet und läge in einer riesigen Bratpfanne. Manchmal drehten sie sich um. Wie freiwillige Koteletts. Es roch, zwei Kilometer lang, nach Menschenbraten.«

Bei der Berliner Oberschicht standen die Kaiserbäder Heringsdorf, Ahlbeck und Bansin auf Usedom in hohem Ansehen, da es auch den Kaiser und seine Familie dort hinzog. Darüber hinaus reiste die kaiserliche Familie oft nach Korfu und nach Rominten in Ostpreußen, wo der Kaiser u. a. der Jagd und dem Tontaubenschießen frönte.

Die Alpen waren als Erholungsraum am Anfang des 20. Jahrhunderts für die betuchte Gesellschaft eine feste Größe. Man wanderte in der Schweiz, wo der Tourismus schon vor dem Ersten Weltkrieg der zweitgrößte Arbeitgeber war. Bis 1914 konzentrierte sich der Alpentourismus weitgehend auf die Schweiz. Dort hatte man die für den Tourismus wichtigen Regionen mithilfe der Eisenbahn schon in den 1880er Jahren erschlossen. Die Deutschen stellten von den 1890er Jahren bis 1914 ein Viertel aller Besucher. Außerdem wanderte man in Tirol, in Oberbayern und in Mittelgebirgen wie der Sächsischen Schweiz. In den österreichischen und bayerischen Alpen sorgten Wander- und Gebirgsvereine für die touristische Erschließung. 1873 hatte sich der 1869 gegründete Deutsche Alpenverein mit dem österreichischen zum deutsch-österreichischen Alpenverein zusammengeschlossen. 1908 zählte der Verein schon mehr als 82 000 Mitglieder, darunter auch – anders als im Schweizer Alpenklub – auch Frauen. Eine wichtige Aufgabe war die Errichtung von Schutzhütten. Ihre Zahl stieg zwischen 1870 und 1914 von zehn auf 800. Auch bayerische Ferienorte erhielten nun viel Zulauf. So konnte z. B. Reichenhall seine Besucherzahl von 5000 (1871) auf 15 000 (1913) verdreifachen. Hunderte von Zeitungen und Fremdenblätter wie Dillinger’s Reise- und Fremdenzeitung oder die Zeitung Gartenlaube berichteten um die Jahrhundertwende umfassend über die Alpen. Die Reiseromane taten ein Übriges, die Alpensehnsucht zu befördern. Ausgerüstet mit Reiseführern wie dem »Kinzel« oder dem »Baedeker« ging es dann in die Berge, wie die Lehrerin Fine Heydkamp 1911 in ihrer Reisebeschreibung festhält:

»Und willst du an der Welt dich freun’n/ Am besten wird’s von oben sein./ Frisch auf, den Fuß gehoben!/ Laß Tintenfaß und Bücher ruhn/ Und klimm in den Nagelschuhn/ Nach oben!«

Auch erste Kreuzfahrten lockten diejenigen, die über die notwendigen finanziellen Mittel verfügten. Anfang 1901 lief die Prinzessin Victoria Luise von Hamburg nach New York aus. Von dort ging es auf einer mehrwöchigen Kreuzfahrt durch die westindische Inselwelt. Im Sommer folgte u. a. Norwegen, im Herbst das Mittelmeer, einmal jährlich der Orient. Bereits 1903 konnte die HAPAG infolge wachsender Beliebtheit solcher Kreuzfahrten ein zweites Schiff bei Blohm & Voss bestellen. Die Meteor brach am 2. Juni 1904 zu ihrer ersten Nordlandfahrt auf. Das Vorbild Kaiser Wilhelms II., der ab 1899 jeden Sommer mit seiner Jacht Hohenzollern in die norwegischen Fjorde reiste, gab Skandinavienreisen – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Germanenbegeisterung im Reich – Auftrieb. Am 18. Juli 1914 fand die vorerst letzte Kreuzfahrt nach Norwegen statt, die bereits Anfang August in Odde in Norwegen endete.

Ein besonderes, aber teures Vergnügen war die Reise mit dem Zeppelin-Luftschiff. Graf Ferdinand von Zeppelin nahm 1909 mit der Deutschen Luftschiffahrts AG (DELAG) den Reiseverkehr auf. Zwischen 1909 und 1914 führte die DELAG mit ihren sieben Luftschiffen über 1500 Fahrten mit mehr als 16 000 Passagieren durch. Sie glichen der Fahrt mit einem Ozeandampfer, erlaubte aber den Blick aus der Vogelperspektive auf die Welt da unten. Ein nicht alltägliches Ereignis bestaunten die Berliner im Mai 1909, als ein Zeppelin in Tegel landete. Der Kaiser sei, so seine Tochter Viktoria Luise, auf dem Weg zum Flughafen »völlig aus dem Häuschen« gewesen. »Er rief den Leuten, denen wir begegneten, immer wieder ganz aufgeregt zu: ›Der Zeppelin kommt! Nach Tegel! Nach Tegel‹.«

1919–1933

Der Erste Weltkrieg war 1918 vorbei; ein kriegsmüdes, geschlagenes Volk versuchte ihn zu vergessen, trotz politischer und wirtschaftlicher Wirren.

»Unter Maschinengewehrfeuer und Einbrüchen werden Feste gefeiert und getanzt« schreibt der Maler Ernst Ludwig Kirchner an Helene Spengler am 20. Januar 1919. Vor allem nach dem Höhepunkt der Inflation 1923 entwickelte sich eine Gier nach Leben, eine Vergnügungssucht. George Grosz erinnerte sich später: »je höher die Preise stiegen, umso höher stieg die Lebenslust. Heißa, war das Leben schön! Überall erschallten neue Tänze; der französische Champagner floß in Strömen.«

Berlin war das Zentrum dieser »Goldenen 1920er Jahre«, die sich in ihrer Intensität von der Zeit davor unterschieden. Hier wie auch in anderen Großstädten konnte man in der Anonymität untertauchen und musste sich nicht wegen seiner Vorlieben vor seinen Nachbarn verstecken. Hier konnte jeder seine Sexualität ausleben. »Das gesellschaftliche Leben in Berlin«, so Salka Viertel, sei 1925 »immer internationaler, interessanter, zügelloser« geworden. »Es gab Nachtlokale für Homosexuelle beiderlei Geschlechts, männliche und weibliche Prostitution für jeden Geschmack, Rauschgifthandel und Rauschgiftsucht.«

Den britischen Schriftsteller W. H. Auden zog es 1928/29 wegen der Schwulenszene nach Berlin: »Berlin ist der Traum eines jeden Schwulen. Es gibt hier 170 von der Polizei überwachte Männerbordelle.« »Nacktes Frauenfleisch«, so der Komponist Friedrich Hollaender in seinen Erinnerungen,»kitzelt die Augen […] im Supermarkt der Erotik […], wo rote Schaftstiefelchen ein ganzes Arsenal von Erniedrigungen versprachen.« Auf dem Berliner Kurfürstendamm promenierten nach Stefan Zweig

»geschminkte Jungen mit künstlichen Taillen und nicht nur Professionelle; jeder Gymnasiast wollte sich etwas verdienen, und in den verdunkelten Bars sah man Staatssekretäre und hohe Finanzleute ohne Scham betrunkene Matrosen zärtlich hofieren. Selbst das Rom des Sueton hat keine solche Orgien gekannt wie die Berliner Transvestitenbälle, wo Hunderte von Männern in Frauenkleidern und Frauen in Männerkleidung unter den wohlwollenden Blicken der Polizei tanzten.«

Für die Schriftstellerin Vicki Baum schien die Stadt

»so herrlich lebendig, so geladen mit einer seltsamen Elektrizität. Bars – ich hatte, bevor ich nach Berlin kam, noch keine gesehen […]. Kostümfeste in Privatwohnungen, mit Reizkostümen, die viel Fleisch sehen ließen, und wildem Treiben […]. Für uns […] war es genau die Freiheit, die wir wollten und brauchten.«

Der Schriftsteller Carl Zuckmayer berichtet, dass man für private Tanzgesellschaften Serviererinnen engagierte, die lediglich ein Feigenblatt-Höschen trugen. »Sie waren nicht«, so Zuckmayer, »nur zum Anschauen und Aufreizen da, sondern auch zum Anfassen, das war mitbezahlt.«

Hier gab es 49 Theater, drei Opernhäuser, drei Varietés, mehrere Dutzend Kabaretts, hunderte Kaffeehäuser. Wer Clowns wie Grock und Rivel sehen wollte, ging in die Scala, das wohl bedeutendste Varieté Berlins. Der Wintergarten lockte z. B. im September 1924 mit dressierten Seelöwen, Gauklern aus China und einer »Kollektion englischer Tanz-Girls«, wie Carl von Ossietzky in der Berliner Volkszeitung schreibt. Im September 1925 waren u. a. Trapezkünstler, Zauberkünstler und »Little Pipifax«, der »Clown mit Kautschukknochen«, zu bestaunen.

Das intellektuelle Berlin

In den Cafés trafen sich Schriftsteller und ihre Kritiker, Maler, Schauspieler und ihre Regisseure, Tänzer und Halbweltdamen. Ein Treffpunkt für Journalisten, Dichter, Schriftsteller, Theaterleute, Maler und Komponisten war weiterhin das Romanische Café.

In der Künstlerkneipe von Aenne Maenz in der Augsburger Straße vergnügten sich u. a. Alfred Flechtheim, Else Lasker-Schüler, Ernst Lubitsch, Joachim Ringelnatz und Conrad Veidt. »Dort«, so Salmony, »saß man nach Theaterschluß bis zum frühen Morgen – trinkend, diskutierend, fachsimpelnd, stichelnd .«

Die Berliner Gesellschaft traf sich seit 1924 zum täglichen öffentlichen Tanztee im Adlon oder im Hotel Eden, wo Spitzenorchester auftraten. Reiche Damen suchten vor allem das Eden auf, wo Eintänzer wie Billy Wilder mit ihnen täglich von 15.30 Uhr bis 19.00 Uhr und von 21.30 Uhr bis 1 Uhr Charleston, Slowfox oder Tango tanzten. Wie sich Wilder erinnert, war es »nicht leicht, schwergewichtige Damen herumzuschwenken, die das Rhythmusgefühl eines Nilpferds haben.« In anderen Lokalen tummelten sich die kleinen Leute, sei es in »Clärchens Witwenball« in der Hasenheide oder im »Walterchen der Seelentröster«.

Veranstaltungen aller Art, vom Theater über Fußballspiele, Boxkämpfe, Pferderennen, Radrennen und Kinos bis zu den Varietés und Revuen zogen in Berlin wie zuvor Menschen aus unterschiedlichen Schichten magisch an. Vor allem der Film und der Rundfunk etablierten sich nach dem Krieg als einflussreiche Massenmedien. Der Verleger Samuel Fischer beklagte 1926,

»daß das Buch augenblicklich zu den entbehrlichsten Gegenständen des täglichen Lebens gehört. Man treibt Sport, man tanzt, man verbringt die Abendstunden am Radioapparat, im Kino […]. Der verlorene Krieg und die amerikanische Welle haben unsere Lebensauffassung umgeformt, unseren Geschmack verändert.«

Sportveranstaltungen