Pasta nera
In Venedig hat das Stolpern begonnen.
Aber wo Daniel an diesem Abend war?
Wollten wir vielleicht in dem Café auf dem Campingplatz noch ein Glas Wein trinken? Oder fanden wir, dass es so doch ganz schön gewesen war? Genug getan, genug gesehen, genug besprochen.
Als ich meinen Sohn ein Jahr später danach frage, erzählt er, wir seien jeden Tag mit der Fähre von Fusina nach San Marco übergesetzt. Das weiß ich natürlich noch. »Der Platz stand unter Wasser«, sagt er. Das stimmt auch. Wir mussten über schmale Planken balancieren, um zum Kai zu gelangen.
Wie naiv wir waren. Drei Tage waren wir durch Venedig gelaufen und hatten immer wieder Stapel grober unbearbeiteter Gerüstbohlen herumliegen gesehen, ohne zu kapieren, wozu sie dienen sollten.
Was Daniel sonst noch weiß?
Dass es schwarze Pasta gab. Frische, in Tintenfischtinte getränkte Spaghetti. Und dass wir uns auf der letzten Caféterrasse unserer Reise in eine hitzige Diskussion über die Musik einer Fadosängerin verstrickten, die ich zwar erträglich fand, er aber nicht. Dieses Café – ich suche es über Google Earth – lag auf dem Campo Santo Stefano, einem lang gestreckten, gepflasterten Platz zwischen abblätternden Fassaden in allen möglichen Pastelltönen, ein paar Gehminuten westlich von San Marco. Wir tranken dort Weißwein.
Daniel sagt, dass er alles noch weiß.
»Erst eine Flasche. Dann noch eine.«
»Hast du die Fotos noch, die du dort geschossen hast«, frage ich, während mir – denn eine Erinnerung weckt die nächste, wie Akkorde auf einem Klavier – einfällt, wie Daniel zuvor an jenem Sonntag wie ein schlanker, kurz geschorener Gott vor mir herspazierte, über den breiten Kai mit Blick auf den Lido, und sich über das Katz-und-Maus-Spiel zwischen den Carabinieri und den Gruppen flinker afrikanischer Straßenhändler mit ihren Teppichen voller verdächtig billiger Ray-Ban-Brillen amüsierte.
»Ich glaub schon.«
»Such sie mal.«
»Bin schon dabei.«
Er stöbert kurz in seinem Smartphone. Das Display ist schon seit Langem kaputt, aber der Speicher funktioniert noch.
»Sorry«, sagt er dann. »Ich muss sie gelöscht haben. Hatte mehr als zweitausend Fotos. Musste ein bisschen aufräumen.«
Als Daniel felsenfest behauptet, dass er zumindest alles noch wisse, dass er die Route unserer Spaziergänge durch die Gässchen von Venedig, über Fischmärkte und Plätze, an Palästen und Museen entlang, über Brücken und Kais mühelos rekonstruieren könne, kommen mehr Erinnerungen zurück. Anscheinend habe ich weniger vergessen, als ich dachte.
Ein langes Wochenende im Oktober. Hin freitagmorgens ab Bremen; zurück montags. Aber flogen wir mit Ryan Air oder einem anderen Billigflieger? Von einem Flughafen in der Nähe von Venedig fuhren wir mit dem Stadtbus in Schlangenlinien durch die staubigen Straßen von Mestre, und dann über eine kilometerlange, palmengesäumte vierspurige Straße an Firmengeländen, heruntergekommenen Bürogebäuden, baufälligen Schuppen und Relikten der Chemieindustrie vorbei.
Wir nähern uns Fusina. Fallen Daniel die Straßenhuren an der Bushaltestelle auf, die üppigen dunkelhäutigen Frauen, rote Lackstiefel, die bis über die Knie reichen, bauchfreie Tops, Brüste als Handelsware? Er ist neunzehn. Ich stelle ihm keine Fragen.
Auf dem Campingplatz checken wir ein. Wir werfen unsere Taschen in die Campinghütte. Danach spazieren wir an einem Bauernhof mit einem halb eingestürzten Ziegeldach vorbei zur Hafenmole mit Blick über die Lagune. Wir nehmen die erste Fähre. Sie kreuzt die von Lichtmasten gesäumte Fahrrinne für Hochseeschiffe und folgt im Zickzack dem tonnenmarkierten Weg ins Zentrum von Venedig, wo wir am Kai aussteigen, die obligatorischen Fotos voneinander knipsen und loslaufen.
Will ich Daniel die Stadt zeigen? Oder habe ich schon beschlossen, dass er entscheiden soll, wohin wir gehen?
Ich brauche ihm nicht zu imponieren – er ist nicht so leicht zu beeindrucken. Ich belästige ihn nicht mit dem, was ich sehr wohl noch weiß. Dass ich vor dreißig Jahren auch durch diese Stadt gegangen bin. Kaum älter als er heute. Einen Kopf kleiner als er mit seinen 1,94, in einem himmelblauen T-Shirt und einer blassen Levis, die so schmutzig war, dass der Dreck von ihr abblätterte. Ein Lederriemchen um den Hals. Stoppelhaare, von Sonne und Salzwasser weiß gebleicht, genauso kurz geschoren wie Daniels heute.
Ich war fünf Wochen auf einer griechischen Insel gewesen. Mit Axel.
Daniel weiß, wer Axel ist: ein Jugendfreund, den ich schon seit Jahren nicht mehr treffe. »Hörst du manchmal noch was von ihm?«, fragt Daniel hin und wieder mal. Anfangs habe ich versucht, ihm zu erklären, was passiert war. Daniel wurde dann immer stocksauer, seine Gesichtszüge erstarrten, sein Blick verfinsterte sich. Für Axel brachte er keinerlei Verständnis auf, er weigerte sich, es zu verstehen.
Vielleicht ist es schon Samstag, als wir uns entscheiden, einen Teller Pasta zu essen, im Schatten eines kleinen Bogengangs, irgendwo an einem Kanal, an dem ab und zu ein Bootshändler anlegt. So wie er dasitzt, gleicht Daniel – die Ähnlichkeit überfällt mich öfter – Axel wie ein Ei dem anderen. Nicht in seinen Gesichtszügen oder seinem Knochenbau, sondern in der Intonation seiner Stimme, der trägen Haltung seines schlaksigen Körpers, seinem Augenaufschlag, in der Art, wie er seinen Kopf schief hält, wenn er zuhört, der Bravour, der Großspurigkeit, dem Anflug überheblicher Ironie.
Aus dem Lokal kommt ein Kellner, der vor zwei Touristen an einem Tisch neben uns Teller mit Pasta abstellt. Schwarze Pasta. Daniel schnappt sich die Karte, sucht die Pasta nera darin und verkündet feierlich, dass er diese schwarze Pasta probieren wolle. Er, der Mann von Welt.
»Ich weiß nicht«, sage ich zögernd.
Die Tintenfischpasta erinnert mich an diese griechische Insel, an die grünblaue Bucht direkt hinter dem Fischerdorf, und an Axel – Axel, der immer alles noch wusste, Buchtitel, Zitate, Basketballergebnisse. Axel könnte mir heute noch sagen, was wir damals aßen und in welchem Straßencafé, wo wir Strandlatschen und Halfzware Tabak fanden, wie viel Cent die Drachme wert war, aus welcher Hafenstadt die vier dänischen Mädchen stammten, mit denen wir tagelang am Strand lagen, neben wem wir mittags unter den Pinien einnickten und mit wem wir abends faden, harzigen Retsina tranken. Axel könnte noch ihre Namen nennen, so wie er auch noch wüsste, wann der Bus in die Hauptstadt auf der anderen Seite der Insel fuhr. Axel wüsste noch, ob die schmutzigschwarze Tinte auf der Pasta mir damals wirklich so schlecht bekommen ist, wie ich mich zu erinnern glaube.
Daniel grinst. »Mach dich mal locker, Alter.«
Ich sage nichts. Er bestellt. »Weinchen dazu?«, fragt er.
»Wie spät ist es?«
»Schon fast Mittag.« Purer lebenssprühender Übermut. »Mach dich mal locker, Alter. Ich zahle.«
Am Sonntagnachmittag dann, dem dritten Tag, verbringen wir Stunden auf dem langen, schmalen, an einem Rand noch sonnigen Platz bei der Kirche San Stefano. Eigentlich sollten wir hineingehen, um uns in der Sakristei die Tintorettos anzuschauen, doch bisher sind wir an allen Museen vorbeigegangen. Die Schlangen zu lang, die Zeit zu kurz. Auch weiter ziellos herumzulaufen, eifrig und gehetzt, als ob wir irgendwo hin wollten, hat keinen Sinn. Wir einigen uns also darauf, in einem Café etwas zu trinken.
Wahrscheinlich erklärt mir Daniel, dass er doch noch einmal zu Harry’s Bar zurückmüsse, um mit einem Glas sündhaft teurem Whisky auf berühmte Schriftsteller anzustoßen. Daniel hat sich eingelesen. An diesem Sonntag waren wir bereits drei Mal immer wieder durch andere Gässchen um die Piazza San Marco herumgeschlendert, um einen Blick in Harry’s Bar zu werfen. Hemingway hatte hier ebenso an seinem Whisky genippt wie Chaplin, Hitchcock, Capote.
Auf dem Campo Santo Stefano zanken wir uns über Popmusik, Talentshows im Fernsehen und Fußballprofis, die in ihren alten Tagen in eine der schwächeren südeuropäischen Ligen ausgewichen sind. Ich finde das nicht so tragisch, aber Daniel hat das Talent zu verachten und ist im richtigen Alter, das ohne Wenn und Aber zu tun.
An mehr kann ich mich heute, ein Jahr danach, nicht erinnern.
Als ich zu schreiben beginne, kommen doch wieder Bruchstücke zurück, verrückterweise in chronologischer Reihenfolge, als ob ich das Ganze früher schon einmal festgehalten hätte, wie eine halb erdachte Erzählung, ein Logbuch vergessener Augenblicke. Die Prostituierten, die Pasta nera, Harry’s Bar, Tintoretto. Von anderen Fragmenten – wie sehr Daniel manchmal Axel gleicht – wage ich nicht mehr mit Gewissheit zu behaupten, dass ich sie, zu dieser Zeit und dort in Venedig, richtig verorte; sie könnten sich aus dem Zusammenhang gelöst haben. Mein stockendes Gedächtnis hat sie wahrscheinlich auf andere Weise wieder zusammengefügt, als wären sie Steine eines Mäuerchens auf einer sonnenversengten Insel, das mit der Zeit zerbröckelt und in anderer Zusammensetzung wieder aufgebaut wird.
Nach der ersten Flasche Wein, einem Chardonnay vermutlich, trocken, weiß und kühl, haben wir uns eine zweite bringen lassen, bestätigt Daniel mit einem kleinen Lächeln, auch weil er weiß, wie es an diesem Sonntag weiterging. »Dass ich noch alles weiß und du fast nichts, ist nicht so erstaunlich«, sagt er. »An meine ersten acht oder neun Jahre erinnere ich mich auch nicht. Ich habe nicht viel mehr als zehn Jahre Erinnerungen. Deine Festplatte ist viel voller.« Du bist ein alter Mann, meint er.
»Weißt du noch, an welchem Tag wir auf diesem Platz in der Sonne saßen und gepichelt haben?«
»Das war am dritten Tag«, sagt er. »Am Sonntag also.«
»Und das Datum?«
»Keine Ahnung. Oktober.«
»Zehnter Oktober. Ich habe es nachgesehen.«
Er kapiert, worauf ich hinauswill. Zehn-zehn-zehn. Ein Datum, dass man sich merken muss.
∞
Das Stolpern begann in Venedig. Soweit ich es nachverfolgen kann, soweit ich mich erinnern kann, hat mir meine Motorik an diesem Sonntag zum ersten Mal ein Bein gestellt. Es gab noch andere Symptome, vor allem mein brackiges Gedächtnis, das eigenartige Phänomen, dass mir manchmal ein Romantitel nicht einfallen wollte oder – viel beschämender – der Name eines Kollegen, mit dem ich schon Jahre zusammenarbeitete. Ich entschuldigte mich dann mit der Bemerkung, dass er mir gleich, in fünf Minuten, nein wirklich, es lag mir auf der Zunge, doch wieder einfallen würde.
Dass ich immer weniger Gerüche wahrnahm, hätte ein weiteres Signal sein können.
Ich glaube, Daniel hat an diesem letzten Nachmittag noch nach einem Parfüm gesucht. Als Souvenir. Vage erinnere ich mich, dass er schließlich eine überteuerte venezianische Karnevalsmaske für seine Mutter gekauft hat. Es kann auch sein, dass wir sie erst an jenem Montagmorgen entdeckt haben, zu einem angemesseneren Preis in einem etwas weniger überlaufenen Gässchen, als wir, auf unserem Weg zum Flughafen, zum letzten Mal von San Marco zum Bahnhof gingen.
Sonntagabends sind wir mit der Fähre nach Fusina zurückgekehrt. Vielleicht färbte sich der Himmel hinter dem Campingplatz purpurrot. Wir müssen an Deck gestanden haben. In Pullovern. Wahrscheinlich habe ich wieder nach der Tonnenmarkierung geschaut und an die Untiefen in der Bucht und das Versinken Venedigs gedacht. Ich glaube, an der tiefen Fahrrinne mussten wir kurz auf ein vorbeifahrendes Containerschiff warten.
»Trinken wir noch was?«
Wir sind in unserer Campinghütte. Über der Tür brennt eine nackte Glühbirne. Auf den zwei schäbigen Betten liegt unser Gepäck: ein paar T-Shirts, eine Regenjacke, die wir nicht gebraucht haben. Daniels schwarze Slim-Fit-Jeans.
»Erst mal pinkeln.«
»Dann sehe ich dich gleich im Café, Alter.«
Daniel biegt nach links ab, ich geh nach rechts, zum zentralen Toilettentrakt, hundert Meter entfernt. Meine Blase ist voll. Der Campingplatz ist wie ausgestorben, es geht auf den Herbst zu und für Zeltcamper ist es nachts schon zu kühl; wir haben nur wenige Touristen mit einem Schlafplatz in einer der Campinghütten gesehen. Im Halbdunkel beschließe ich, ein Stück des Wegs abzukürzen.
Ich zwänge mich durch eine Hecke aus dornigem Gestrüpp, sehe nicht, wohin ich gehe, und stolpere, als ich in einen Graben trete. Mein linker Knöchel knickt um. Mühsam komme ich hoch, desorientiert und fluchend vor Schmerz – wo war dieses verdammte Pissoir noch mal? – und beginne zu humpeln, hinkend, schwankend, wie ein Mann, der zu viel getrunken hat.
Als ich etwas später – wie viel später? – an die dünne Aluminiumtür klopfe, öffnet Daniel.
»Ich bin zurückgegangen. Wo bist du denn abgeblieben?«
»Gefallen. In eine Rinne.«
»Alles noch heil, Alter?«
»Mein Knöchel. Und glaubst du, dass ich in deine schwarze Hose reinpasse?«