Neonazi
Autobiografischer Roman
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Diese ist in Kooperation mit der AussteigerhilfeRechts und dem
Nordverband Ausstieg Rechts entstanden und wird herausgegeben von
Reinhard Koch und Stefan Saß.
Aus Datenschutzgründen wurden Namen sowie teilweise auch
Ereignisse im nachfolgenden Text von der Redaktion geändert.
1. Auflage 2017
© 2017 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Einbandgestaltung: Geviert, Grafik & Typografie, Andrea Hollerieth,
unter Verwendung eines Motivs von © mia takahara/Plainpicture,
© Zoteva/Shutterstock und © MPFphotography/Shutterstock
ISBN 978-3-401-80661-7
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Der Typ ist am Hauptbahnhof in meine S-Bahn gestiegen und hat sich ausgerechnet neben mich gesetzt – und das, obwohl der Zug fast leer ist. Aus seinen Kopfhörern wummert ein Rhythmus, den ich sofort erkenne. Den dazugehörigen Text könnte ich sogar im Schlaf mitsingen, so oft habe ich ihn gehört. Es geht um Kameradschaft und Zusammenhalt. Der Sänger röhrt, man solle sich gut überlegen, auf welche Seite man sich schlägt … Rechtsrock. Nichts Verbotenes. Aber eine Band, die bevorzugt von Skinheads oder Neonazis gehört wird.
Unwillkürlich rücke ich ein Stück Richtung Fenster. Abstand schaffen. Allerdings dröhnt die Musik so laut, dass vermutlich sogar noch die Leute am Ende des Waggons etwas davon haben. Ganz automatisch fange ich bei der nächsten Strophe an, im Geiste mitzusingen – über Juden, Linke und Verräter. Ein Lied, das sich anfühlt wie eine Krankheit, die sich für alle Zeiten in mein Hirn gefressen hat. Mir wird übel. Mein altes Braunhemd konnte ich in der Altkleidertonne entsorgen. Diese Erinnerungen, diese Texte aber bleiben und erinnern mich an das dunkelste Kapitel meines Lebens, an eine Zeit, an die ich am liebsten nie wieder erinnert werden wollte.
Dazu mischt sich die Angst, erkannt zu werden. Schließlich möchte ich keine Stahlkappe ins Gesicht bekommen. Manche meiner alten Kameraden schlagen zu, bis sich ihr Opfer am Boden nicht mehr rührt …
Vorsichtig drehe ich meinen Kopf in die Richtung meines Sitznachbarn. Zuerst fallen mir seine schwarzen Doc-Martens-Stiefel mit Stahlkappen ins Auge. Arbeiterschuhe, die häufig von Skinheads und Rechten getragen werden. Sie gucken unter einer olivgrünen Tarnhose hervor. Unauffällig tastet sich mein Blick weiter hoch: zu der schwarzen Armeejacke, auf der ein schwarz-weißer Aufnäher prangt: »Thor mit uns«.
Nervös räuspere ich mich. Mein Herz hämmert inzwischen schneller als das Schlagzeug-Solo, das gerade einsetzt. Möglichst unauffällig versuche ich, einen Blick auf das Gesicht meines Sitznachbarn zu erhaschen, der sich mit verschränkten Armen in unsere Bank drückt und finster geradeaus starrt. Ich bin erleichtert: Immerhin ist er keiner meiner alten Bekannten.
Einen kurzen Moment schließe ich die Augen und nehme einen extratiefen Atemzug. Dann sehe ich wieder aus dem Fenster: auf den Fluss, der sich unter der S-Bahn-Brücke träge und schwerfällig durch die große Stadt schiebt, in der ich neuerdings lebe. An demselben Fluss habe ich früher oft mit meinen Kumpels gesessen. Allerdings locker einhundertsechzig Kilometer stromabwärts. Weit weg. In einem anderen Leben. In einer anderen Zeit.
Plötzlich verstummt die Musik neben mir – das Lied ist zu Ende. Ich spüre, wie mein Sitznachbar sich erhebt. Mit strammem Schritt marschiert er zur Tür. Obwohl er überhaupt keine Notiz von mir genommen hat, bin ich erleichtert, dass er weg ist.
Bis heute bin ich keinem meiner alten Freunde je wieder begegnet. Wahrscheinlich der Grund, warum ich mein neues Leben bisher unbeschadet überstanden habe. Denn: Drohungen gab es genug. Vor allem in der ersten Zeit, als bekannt wurde, dass ich aus der rechten Szene ausgestiegen bin. Da hieß es dann plötzlich: »Achtung! Der Timo ist ein Verräter!« Blitzschnell hat sich diese Nachricht verbreitet. Und dann kamen die Droh-Mails. Manchmal auch beängstigende Anrufe. Plötzlich zählte ich nicht mehr zum »Kreis der lebenswerten Deutschen«. Sie schrien ins Telefon: »Früher hätte man einen wie dich erschossen« oder »Pass auf, dass wir dich nicht erwischen!«. Die Mails hatten einen ähnlichen Ton: »Judas! Wir machen dich einen Kopf kürzer.«
Wochenlang ging das so. Das war heftig – schließlich kamen diese Hass-Nachrichten von meinen ehemaligen Kumpels. Von Jungs, mit denen ich vier Jahre lang beinahe jede freie Minute verbracht hatte. Wir waren unzertrennlich. Uns einte die Überzeugung, der überlegenen Rasse anzugehören. Davon handelten unsere Lieder, unsere Gespräche, unsere Schulungen. Darauf war unser ganzes Denken und Handeln ausgerichtet. Wir haben sogar heimliche Wehrsportübungen abgehalten und schießen gelernt – für den Fall, dass »Tag X« kommt und wir unser deutsches Volk endlich von dem vermeintlichen »Dreck« befreien können. Deshalb weiß ich auch genau, wohin ich mit einer Machete schlagen muss, um den Feind zuverlässig zu töten. Wir haben gezeltet, gefeiert und sind gerannt, wenn die Polizei mal wieder hinter uns her war. Wir waren Kameraden. Wie in den Texten unserer Lieblingsbands. Da ging es schließlich ständig um Kameradschaft, Treue und Zusammenhalt. Jederzeit. An jedem Ort.
Ganz ehrlich: Das ist alles Schwachsinn!
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»Es gibt keine prototypische Begründung für einen Einstieg in die rechtsextreme Szene. Trotzdem sind in vielen Biografien Gemeinsamkeiten zu finden: fehlende Anerkennung, fehlende Vaterfiguren, Gewalt in der Familie, instabile soziale Bindungen, Ausgrenzung, Einsamkeit oder auch die rechtsorientierte Einstellung der Eltern.
Szeneeinstiege können der Versuch sein, eine (soziale) Problemlage zu bearbeiten. Deshalb ist es grundsätzlich möglich, dem Einstieg in die rechtsextrem orientierte Szene entgegenzuwirken, indem man jungen Menschen andere Möglichkeiten der Zugehörigkeit, der Anerkennung, der Teilhabe oder der Problembewältigung bietet.«
JUMP – Ausstiegsarbeit in MV
Auch wenn das jetzt wie eine schlechte Ausrede klingt: Ich wuchs in ziemlich ungeordneten Verhältnissen auf. Meine Mutter arbeitete selten bis gar nicht. Mein »Papa« – also der Mann, den ich bis zu meinem sechsten Lebensjahr für meinen Vater hielt – hatte einen Job als Lkw-Fahrer. Er war ein großer, massiger Kerl, der, wenn er zu Hause war, einen harten Ton anschlug. Wir lebten in einem kleinen Kaff mitten in Deutschland. Hier waren die Mieten so günstig, dass wir uns ein Häuschen mit Garten leisten konnten. Wenn »mein« Vater von der Arbeit kam, jagte er meinen zwei Jahre jüngeren Bruder Stefan und mich erst einmal ums Haus. Merkwürdig fand ich, dass er zu Stefan so viel netter war als zu mir. Egal, bei was. Wenn wir beispielsweise Räuber und Gendarm spielten, war ich garantiert der Gangster, während Papa und Stefan als die »Guten« gegen mich kämpften. Meist schubsten sie mich schon nach kürzester Zeit ins Gefängnis im Gebüsch. Sie waren die Helden. Ich war der Depp.
Dementsprechend unwohl fühlte ich mich mit dieser Rollenverteilung, schließlich wollte ich selbst gerne mal gewinnen. Aber davon wollte mein Vater nichts wissen. »Entweder spielen wir so oder gar nicht«, brummte er. »Dann eben so«, lenkte ich jedes Mal traurig ein. Zumal Vater sich ohnehin nicht besonders ausdauernd mit uns beschäftigte. Meist verabschiedete er sich schon nach kurzer Zeit vor den Fernseher. Stefan und ich spielten dann im Kinderzimmer weiter. Am liebsten auf dem Fußboden mit unseren Autos. Einmal hatten wir aus Holzbausteinen Garagen gebaut und mit unseren Büchern kleine Rampen. Ich belud gerade einen Laster mit Legosteinen, da wollte Stefan ausgerechnet diesen Laster haben. Ich schüttelte den Kopf. Mein Bruder griff nach dem Laster, aber ich war schneller. Als Stefan sich nun wütend auf mich stürzte, hielt ich den Laster einfach in die Höhe – schließlich war ich viel größer als er. Stefan schrie und tobte. Und ich freute mich, weil ich meinem Bruder so deutlich überlegen war. Stefan, außer sich vor Wut, wusste sich nicht anders zu helfen und biss mir kräftig in den Bauch. Sofort quoll dunkelrotes Blut durch mein hellgelbes T-Shirt. Nach einer kurzen Schrecksekunde brüllte ich los. Allerdings ohne den Laster loszulassen. Deshalb schrie nun auch Stefan noch lauter, schließlich hatte er den Laster immer noch nicht … Es dauerte nicht lange und »Papa« riss mit einem Ruck die Tür auf und stürmte ins Kinderzimmer. Sein erster Blick fiel auf Stefans blutverschmierten Mund. Vermutlich glaubte er, ich hätte meinem kleinen Bruder ins Gesicht geschlagen. Denn ohne nachzusehen, warum Stefan blutete, oder vielleicht mal zu fragen, was überhaupt passiert war, holte er aus und verpasste mir mit einer solchen Wucht eine Ohrfeige, dass ich mit dem Kopf gegen unsere Schrankwand krachte und erst wieder zu mir kam, als ich neben Mama im Auto saß. Offenbar war ich längere Zeit bewusstlos gewesen. Dementsprechend erleichtert war Mama, als ich endlich wieder die Augen aufmachte. Sie lächelte mich an und schnaufte: »Na, endlich!« Schließlich waren wir bereits auf dem Weg ins Krankenhaus und sie musste mir dringend noch Anweisungen geben, was ich den Ärzten im Krankenhaus zu sagen hatte. »Wenn dich jemand fragt, was passiert ist, sagst du einfach, dass du vor lauter Schreck über den Biss gestolpert und gegen den Schrank gefallen bist. Okay?« Dann konzentrierte sie sich wieder auf den Verkehr.
Irritiert sah ich zu ihr rüber. Ich war zwar mit dem Kopf gegen die Schrankwand gefallen, trotzdem wusste ich doch ganz genau, dass die Geschichte anders abgelaufen war. Weil ich nichts sagte, sondern sie nur verwirrt anstarrte, stöhnte Mama genervt auf und schüttelte den Kopf. Dabei krallten sich ihre rot lackierten Nägel ins Lenkrad. Sie ärgerte sich über mich. Das merkte ich. Unsicher begann ich, mit meinen Händen zu spielen. An der nächsten Ampel legte Mama dann ihre Hand auf mein Knie und sah mich an. Sie lächelte. Aha. Taktikwechsel.
»Wenn du gleich sagst, dass du aus Versehen gegen die Schrankwand gefallen bist, fahren wir nachher ins Spielzeuggeschäft und du darfst dir aussuchen, was du möchtest.«
»Was ich möchte?«
»Ja, ein Teil! Was immer du willst!«
Das war ein Deal, auf den ich mich natürlich sofort einließ. Dann würde ich den Ärzten eben erzählen, dass ich gestolpert sei. Na und? Was hätte ich auch sonst machen sollen? Ich war fünf Jahre alt. Noch dazu komplett überfordert mit dem brutalen Ausraster meines vermeintlichen Vaters. Deshalb plapperte ich beim Arzt brav nach, was Mama mir vorgesagt hatte. Keiner wurde misstrauisch, die Platzwunde am Kopf schnell geklebt, die Wunde am Bauch bloß desinfiziert und Mama fuhr mit mir schnurstracks ins nächstgelegene Spielzeuggeschäft. Dort suchte ich mir einen gigantischen Plastiklaster mit einer riesigen Ladefläche aus. Damit hatte sich die Sache erledigt. Für alle Beteiligten.
Nur nicht für mich.
Denn seit dieser Attacke hatte ich immer ein wenig Angst vor Papa. Außerdem achtete ich nun genauer darauf, ob er Stefan bevorzugt behandelte, und wurde beinahe permanent bestätigt. Deshalb zog ich mich zurück. Ich weigerte mich, weiter den Räuber zu spielen, und beteiligte mich nicht einmal mehr an den morgendlichen Raufereien im Ehebett.
Irgendwann machte sich meine Mutter wohl Sorgen um mich. Deshalb bekam ich in der Folgezeit plötzlich extraviel Aufmerksamkeit von ihr. Sie schlug sogar vor, dass ich mir etwas aussuchen dürfte, was nur ich machen würde. Ganz alleine. Ohne Stefan und Papa. Fußball, Handball, worauf ich Lust hatte. Allerdings war ich schon als Kind eher pummelig und fand Sport, bei dem ich mich selbst bewegen sollte, viel zu anstrengend. Aber glücklicherweise gab es ganz in unserer Nähe ein Kartcenter. Schnelle Autos, laute Motoren, Rennen fahren – das fand ich cool! Mama freute sich über meine Begeisterung. Endlich kroch ich wieder aus meinem Schneckenhaus!
Weil ich so viel Spaß hatte, gingen wir bald einmal pro Woche zum Kartfahren. Jeden Donnerstag war »Timo-Zeit«, dann durfte ich auf meine kleine Rennmaschine steigen – ohne Stefan und ohne »Papa«. Dafür mit einer glücklich strahlenden Mama, die mir in jeder neuen Runde fröhlich zuwinkte. Wenn meine Fahrzeit zu Ende war, wartete der freundliche Herr von der Kartbahn bereits am Boxenstopp auf mich, um mir den Helm abzunehmen. Dabei überschüttete er mich jedes Mal mit Lob: »Du machst das super! Der neue Michael Schumacher.«
Das gefiel mir natürlich. Endlich war ich der Held! Mama drückte mir stolz einen Kuss auf die Wange. »Bäh!«, rief ich jedes Mal und wischte mir schnell ihren Lippenstift ab. Dann lachten wir alle zusammen.
Bis mein Vater irgendwann einmal mit zur Kartbahn kam …
Stefan war bei einem Freund. Papa stand neben Mama am Rand der Bahn und sah mir zu. Ich freute mich, ihm zeigen zu können, wie toll ich fahren konnte. Und wurde enttäuscht. Er sah nämlich überhaupt nicht begeistert aus. Auch Mama lachte nicht so viel wie sonst. Nachdem ich meinen Wagen geparkt und meinen Helm abgegeben hatte, lief der nette Herr von der Kartbahn wie immer mit seinem Arm auf meiner Schulter mit mir zu Papa und sagte: »Ihr Neffe fährt wirklich ausgezeichnet. Sobald er etwas älter ist, könnte er Rennen mitfahren.«
Ich war etwas irritiert. Neffe? Offenbar hielt er meinen Vater für Mamas Bruder. Ich kicherte: »Das ist doch mein Papa!«
Allerdings fand diese Verwechslung außer mir keiner lustig. Stattdessen starrten sich plötzlich alle ganz merkwürdig an. Keiner sagte ein Wort, sodass mir allmählich mulmig wurde. Verunsichert sah ich in die Runde, bis Papa sich mit einem Mal umdrehte und wütend aus dem Kartcenter stapfte. Mama schnappte meine Hand. »Timo, wir müssen los.« Irgendwas stimmte hier nicht. Zumal auch der nette Mann von der Kartbahn plötzlich wie tiefgefroren wirkte und mir nicht einmal zum Abschied winkte. Natürlich war ich noch viel zu klein, um zu verstehen, dass meine Mutter offenbar eine Affäre mit ihm angefangen hatte, hinter die mein Vater nun gekommen war.
Sobald wir zu Hause waren, schaltete Mama mir im Wohnzimmer das Kinderprogramm ein. »Du schaust fern und ich lasse dir das Badewasser ein.«
Von mir aus – sehr gerne! Begeistert kuschelte ich mich vor dem Fernseher in unsere Wolldecke ein, die dort immer lag. Und obwohl ich aus der Küche Geschrei hörte, bewegte ich mich keinen Zentimeter, weil ich SpongeBob viel zu lustig und die Streitereien der Erwachsenen viel zu bedrohlich fand. Doch dann wurde die Küchentür plötzlich aufgerissen und Papa stürmte zu mir ins Zimmer. Unwillkürlich zuckte ich zusammen. Wortlos und ohne mich zu beachten, griff er sich die Fernbedienung und schaltete ins Erwachsenenprogramm um. Enttäuscht schob ich meine Unterlippe vor und rutschte gleichzeitig möglichst unauffällig vom Sofa. Nach meiner Begegnung mit dem Wandschrank war ich, was Papa anging, vorsichtiger geworden. Lautlos schlich ich aus dem Zimmer. Auf der Schwelle zum Flur kam mir Mama mit einem Teller entgegen, auf dem zwei mit Käse überbackene Baguette-Brötchen lagen. Ich reckte schnüffelnd meine Nase in die Höhe, aber leider war es das Abendessen für meinen Vater. Nur hatte der offenbar keine Lust auf Baguette-Brötchen. Als meine Mutter vor ihm stand und ihm gerade den Teller reichen wollte, sprang er plötzlich auf und schlug mit einer solchen Wucht von unten gegen den Teller, dass der Mama direkt ins Gesicht und die Baguettes einmal quer durch den Raum flogen. Sofort ging das Geschrei wieder los, woraufhin ich panisch in mein Kinderzimmer flüchtete. Verzweifelt sah ich mich um. Dann entdeckte ich unseren kleinen Malschrank, den ich hektisch von innen vor die Tür schob, in der Hoffnung, dass nun keiner mehr in mein Zimmer kommen könnte. Deutlich gedämpft hörte ich Papa brüllen: »Ich habe keinen Bock mehr auf deinen Mikrowellen-Fraß! Den kannst du dir sonst wohin schieben!«
Dann polterte es. Mama schrie auf. In meiner Angst kroch ich blitzschnell unter mein Bett. So tief, bis ich an meinem Rücken die kalte Wand spürte. Dabei traute ich mich unter normalen Umständen nicht einmal, mit dem Arm unter mein Bett zu greifen, um ein Auto hervorzuholen. Vor lauter Angst, dass hier eine Spinne lauern könnte … Aber heute war mir alles egal. Ich kauerte mich in mein Versteck und lauschte, was in der Wohnung vor sich ging, wobei mein Herz so laut hämmerte, dass es beinahe das Weinen meiner Mutter übertönte. Irgendwann hörte ich nur noch meinen Herzschlag. In der Wohnung wurde es still. Trotzdem wagte ich mich nicht unter meinem Bett hervor. Als sich meine Türklinke langsam nach unten bewegte, musste ich enttäuscht beobachten, wie der kleine Malschrank ganz problemlos weggeschoben wurde. Ich hielt die Luft an – voller Angst, dass man mein Atmen hören und mich finden könnte. Dann erkannte ich erleichtert, dass meine Mutter gekommen war. Ihre Lippen waren geschwollen. Trotzdem lächelte sie mich an, als sie mich unter dem Bett entdeckte. »Baguette?«
Sofort kroch ich aus meinem Versteck und nahm den Teller entgegen. Es war zwar nicht mehr viel Belag auf den Brötchen, aber ich hatte inzwischen ziemlichen Kohldampf bekommen.
Mama tat, als wenn nichts geschehen wäre. Nur ins Kartcenter durfte ich nie wieder. Das fand ich schade. Aber es war nicht das Schlimmste. Am schlimmsten war die Stimmung, die nun zu Hause herrschte. Meine Eltern schrien sich eigentlich nur noch an. Meine Mutter verlegte ihren Schlafplatz vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer. Geschwollene Lippen und blaue Augen wurden bei ihr quasi zum Dauerzustand und ich hatte manchmal das Gefühl, genauso viel Zeit unter meinem Bett wie in meinem Bett zu verbringen. Eigentlich fühlte ich mich permanent wie auf der Flucht. Deshalb war ich auch nicht wirklich unglücklich, als Mama uns, während »Papa« mal wieder für längere Zeit unterwegs war, verkündete, dass wir ausziehen würden – nur Mama, Stefan und ich. In eine kleine Wohnung im Nachbardorf. »Dann wohnen wir im selben Ort wie Oma und Opa«, lockte meine Mutter.
Ich freute mich. Schließlich war ich gerne bei meinen Großeltern. Insgesamt war ich also allerbester Dinge, was unseren Umzug betraf. Bis ich zum ersten Mal vor unserem neuen Zuhause stand. Ich erinnere mich noch heute genau daran, wie ich als Sechsjähriger entsetzt auf diese grau-braune Bröckelfassade starrte. Das Dreifamilienhaus sah aus wie eine Ruine! Passend dazu stank es im Treppenaufgang, als würden unter den morschen Holztreppen Hunderte toter Ratten verwesen. Unglücklich sah ich zu meiner Mutter, die Stefan und mich ungerührt weitertrieb. In den ersten Stock, in unsere spärlich eingerichtete Wohnung. Und plötzlich fehlte mir unser Häuschen. Und »Papa«. Einfach mein gewohntes Leben, bevor dieser ganze Streit losging. Aber das war nun vorbei. Definitiv. Stattdessen lebte ich in einer Bruchbude mit meiner dauergenervten und vor lauter Überforderung ständig herumschreienden Mutter. Beinahe jeden Tag setzte ich mich auf mein kleines Kinderfahrrad und flüchtete zu meinen Großeltern. Dort spielte ich mit meinen Tanten, Mamas jüngeren Schwestern. Sie hatten einen anderen Vater als meine Mutter und waren wesentlich jünger als sie und daher nicht viel älter als ich. Ich genoss deren Aufmerksamkeit und Fürsorge. Hier stand ich endlich mal im Mittelpunkt! Selbst wenn ich Blödsinn machte – und ich machte viel Blödsinn –, waren sie noch lieb zu mir. Ich habe noch heute ein unendlich schlechtes Gewissen, wenn ich daran denke, dass einer meiner Lieblingsstreiche war, Spülmittel auf die oberste Treppenstufe zu schmieren. Wenn Oma dann nicht aufpasste, purzelte sie mit Karacho die ganze steile Holztreppe runter. Geschimpft hat sie nie, sie hat höchstens mal zu Mama gesagt, dass die mich besser erziehen sollte. Aber trotzdem hat Oma sich immer gefreut, wenn ich sie besuchen kam. Deshalb gewöhnte ich mich allmählich an unsere neue Situation – trotz Bruchbuden-Zuhause.
Doch dann kam ich einmal nach Hause und Mama saß verheult vor dem Fernseher. Verwundert sah ich mich um. Es war seltsam still in unserer Wohnung. Deshalb fragte ich meine Mutter misstrauisch: »Wo ist denn Stefan?«
Sie schluchzte einmal laut auf. Dann erzählte sie, dass Papa ihn abgeholt hätte. Mitsamt seinen Klamotten, seinen Spielsachen, seinen Möbeln.
Ich war sprachlos, und obwohl ich mich oft mit meinem kleinen Bruder gestritten hatte, fühlte ich mich schlagartig einsam. Mama streckte den Arm nach mir aus und ich kuschelte mich sofort an sie. Während sie über meine blonde Igelfrisur streichelte, versuchte sie, mich zu trösten: »Du musst nicht traurig sein, Timo. Immerhin habe ich jetzt nur noch Zeit für dich!«
Diese Vorstellung tröstete mich ein wenig. Trotzdem fehlte mir mein kleiner Bruder sehr. Lustlos schob ich die verbliebenen Autos durch mein Zimmer und baute für sie eine riesige Garage aus Holzbausteinen an der Stelle, an der zuvor Stefans Bett gestanden hatte. Dabei begann ich, mich zu fragen: Warum hat Papa eigentlich nur Stefan abgeholt?
Als ich mit Mama ein paar Tage später im Auto zum Einkaufen unterwegs war, fragte ich sie danach. Mama verzog ihren rot bemalten Mund. Auf ihre gewohnt einfühlsame Art erklärte sie mir: »Achim wollte dich noch nie haben. Deshalb hat er nur Stefan abgeholt. Er hatte sogar gedroht, dich zu verdreschen, wenn ich ihm Stefan nicht mitgeben würde.«
Ungläubig starrte ich sie an. Es war, als ob meine Ohren meinem Gehirn einen Streich spielen wollten. Das sollte mein Vater gesagt haben? Während Mama sich im Auto ungerührt eine Zigarette anzündete, schrie ich wütend: »Das stimmt nicht! Warum sollte er das tun? Er ist doch mein Papa.«
Nun lachte Mama auf: »Nein, er ist nicht dein Vater und deshalb hat er Stefan ja auch viel lieber als dich.«
Mir blieb die Luft weg. Irgendwie blieb mir plötzlich alles weg. »Papa« war gar nicht mein Vater? Was erzählte meine Mutter denn da? Unwillkürlich musste ich losheulen.
Mama verdrehte die Augen – sie war schon wieder genervt. Deshalb presste ich mir die Hände vors Gesicht, so als könnte ich damit die Tränen stoppen. Aber sie liefen weiter und weiter und weiter. Es war, als würden nun sämtliche unterdrückten Ängste und Schmerzen der vergangenen Wochen aus mir herausbrechen.
Mama stöhnte laut auf. »Sei doch nicht immer so eine Heulsuse! Dein richtiger Vater ist bei uns ausgezogen, als du noch ein Baby warst.« Dann tätschelte sie aufmunternd mein Knie. »Nun beruhige dich mal wieder. Du hast ja noch mich.« Wie um diesen Satz zu unterstreichen, lächelte sie mich an. Dann zog sie wieder an ihrer Zigarette.
Schluchzend und mit verschwommenem Blick sah ich zu ihr rüber. Ich war extrem verunsichert. Das Leben erschien mir plötzlich wie ein riesiger Ozean. Alles war in Bewegung. Permanent. Man wusste nie, was als Nächstes plötzlich neben einem auftauchte oder was schon längst gefräßig in der dunklen Tiefe lauerte. Und der einzige Halt in dieser bedrohlichen Welt war: Mama. Plötzlich erschien sie mir wie eine Lichtgestalt. Mama war scheinbar die einzige Person auf Erden, der ich vertrauen konnte. Sie war die Einzige, die wirklich immer für mich da war. Erst war mein echter Papa weg. Dann Achim. Nun Stefan. Nur Mama blieb. Ich durfte sie auf gar keinen Fall auch noch verlieren! Deshalb nahm ich mir vor, alles auf der Welt dafür zu tun, damit das so blieb.
Dementsprechend versetzte es mich in Panik, als plötzlich alle davon sprachen, dass ich jetzt ein großer Junge sei und eingeschult werden solle. Ich sollte weg von Mama! Alleine die Vorstellung, mich stundenlang mit unzähligen wildfremden Kindern in eine Klasse zu setzen und auf die Unterstützung einer Lehrerin zu hoffen, die ich bislang noch nicht einmal kannte, überforderte mich dermaßen, dass ich sofort losheulte, sobald das Thema Schule aufkam. Erst beschimpfte mich meine Mutter als »Heulsuse«: »Mann, Timo, du bist doch kein Mädchen!« Doch irgendwann gab sie es auf und seufzte resigniert: »Dann geht er eben ein Jahr später.«
Noch heute erinnere ich mich daran, wie unglaublich erleichtert ich über diesen Satz war. Ich durfte zu Hause bleiben! Damals fühlte sich ein Jahr ja wie eine Ewigkeit an.
Während also alle anderen Sechsjährigen in die Schule gingen, saß ich im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Dort sah ich am liebsten irgendwelche Kriegs-, Räuber- und Ritterfilme. Wenn Mama dann meinte, ich hätte nun genug Zeit »vor der Glotze« verbracht, und mich nach draußen scheuchte, streunte ich durch die Gegend und spielte Polizist, Ritter, Ninja Turtle oder Power Ranger. Hauptsache, irgendetwas mit Kämpfen und Waffen. Schaumstoffschwerter, Plastikpistolen – ich hatte das ganze Sortiment und fühlte mich besser ausgerüstet als jede Armee dieser Welt. Ich dachte daran, wie schön es wäre, jetzt mit Stefan hier unterwegs zu sein. Ich wunderte mich ohnehin, warum Mama Stefan nicht wieder zu uns holte, und erklärte es mir damit, dass Mama vermutlich Angst hatte, dass Achim mir dann tatsächlich etwas antun würde. Immerhin hatte er ja damit gedroht …
Um uns beide abzulenken, unternahmen wir an jedem Wochenende besondere Ausflüge. An einem Sonntag fuhr Mama mit mir mit dem Auto zu einem Flohmarkt. An einem Stand, der allerlei altes Militärzeug verkaufte, entdeckte ich ein Butterflymesser und einen Wurfstern. Echte Waffen. Ich war fasziniert. Mit leuchtenden Augen klebte ich an dem Stand und bewunderte die gefährlich scharfen Kanten des Wurfsterns, der beinahe so groß wie meine ganze Handfläche war. Vorsichtig ließ ich das Butterflymesser aufschnappen und klappte es wieder zu, ließ es aufschnappen und klappte es zu.
Mama hatte einen guten Tag und sagte: »Such dir was aus!«
Aber ich konnte mich nicht entscheiden. Fast zärtlich strich ich über beide Waffen und schließlich entschied meine Mutter: »Wir nehmen bitte beide …«
Ich war überwältigt. Ich kann mich an kein einziges Weihnachtsfest erinnern, an dem ich mich so sehr gefreut habe wie über diese beiden Schätze, die ich in einer schwarzen Plastiktüte fest an meine Brust gepresst nach Hause trug. Meine Mama erlaubte mir sogar, sie mit in mein Zimmer zu nehmen – ich versteckte sie in der hintersten Ecke meiner Strumpfschublade. Aber sobald wir Besuch bekamen, holte ich meine Waffen aus ihrem Versteck, um sie voller Stolz zu präsentieren. Die meisten Freunde meiner Mutter lachten darüber, wie gut ich (als Sechsjähriger!) ausgestattet war. Manche kramten auch sofort in ihren Jackentaschen, um mir ihre Waffen zu zeigen, die sie mit sich herumtrugen. Als Kind fand ich das natürlich klasse. Mir war nicht bewusst, dass meine Mutter sich offenbar in sehr speziellen Kreisen bewegte, in denen es normal war, permanent schwer bewaffnet durch die Gegend zu laufen.
Passend zu Mamas Freunden, bekam ich im Winter dann auch eine Bomberjacke – in so einem fröhlich kindgerechten Armeegrün. Dazu eine niedliche kleine Armeehose. So wie sie auch sämtliche Freunde meiner Mutter trugen …
Mama quoll beinahe über vor Stolz, wenn sie mich in meinem neuen Outfit vorführte. Sämtliche ihrer Bekannten nickten anerkennend. Das fühlte sich gut an. Am liebsten hätte ich meine Bomberjacke rund um die Uhr getragen. Damals verstand ich natürlich noch nicht, in welchem Milieu meine Mutter sich seit ihrer Jugend bewegte. Wenn ich mir heute meine Kinderfotos anschaue, bekomme ich regelmäßig eine Gänsehaut: Da salutiere ich mit vor Stolz geschwellter Brust mit Barett auf dem Kopf und diversen Spielzeugpistolen im Anschlag. Und während andere Kinder mit ihrem Teddy im Arm einschliefen, nahm ich offenbar meine M16 aus Plastik mit ins Bett. Schon damals schien mein Weg vorgezeichnet …
Da meine Mutter noch immer nicht arbeitete und wir dementsprechend wenig Geld zur Verfügung hatten, waren wir nicht mehr in Urlaub gefahren, seit wir bei Achim ausgezogen waren. Ich war also ziemlich aufgeregt, als Mama mir verkündete, dass wir zusammen mit ihrer besten Freundin Susanne verreisen würden. Zu einem Freund von Susanne. Mama schwärmte: »Der Freund wohnt an einem richtig breiten Fluss. Bestimmt hundert Mal so breit wie unsere Dorfstraße. Und wir müssen mit einer Fähre übersetzen.«
Ich konnte es kaum erwarten …
Umso größer war die Enttäuschung bei unserer Ankunft. Zwar waren wir tatsächlich mit einer Fähre gefahren, allerdings hatte die Überfahrt maximal fünf Minuten gedauert. Danach erreichten wir nach weiteren fünf Minuten eine gammelige Junggesellenwohnung, in der Susannes Freund mit seinem Bruder Enrico lebte.
Der Umgangston war rau. Schon beim ersten »Hallo« zuckte ich erschrocken zusammen. Überall lagen Pizzaschachteln oder Bierflaschen herum. Ich habe mich total gegruselt. Und dann musste ich auch noch ab dem zweiten Abend alleine im Wohnzimmer schlafen, weil Mama nicht mehr mit mir auf dem Sofa, sondern viel lieber bei Enrico im Bett schlafen wollte. Ganz ehrlich: Das war mein bislang schrecklichster Urlaub!
Ich dachte daran, wie ich mit Mama und Achim in Bulgarien war. Wie wir am Strand Sandburgen gebaut haben. Oder wie wir in Ägypten auf einem Kamel geritten sind. Damals hatten wir wenigstens ab und zu mal gemeinsam Spaß. Diesmal war Mama eigentlich nur zufrieden, wenn ich mich quasi unsichtbar machte.
Den tollen Fluss, von dem Mama so geschwärmt hatte, habe ich genau zwei Mal gesehen: bei der Anreise und bei der Abreise. Daher war ich froh, als unser Urlaub endlich vorbei war. Wohlgemerkt: Ich war froh. Denn meine Mutter hatte seit unserer Rückkehr eigentlich permanent schlechte Laune. Sie meckerte nur noch. Mein Abendessen konnte ich mir alleine zubereiten. Und wenn ich ins Bett ging, winkte sie mir allerhöchstens vom Sofa aus teilnahmslos zu. Dafür telefonierte sie stundenlang mit ihrem neuen Freund.
Ich fühlte mich einsam und verbrachte so viel Zeit wie möglich bei meinen Großeltern oder neuerdings auch bei unseren Nachbarn, die eine Etage über uns lebten: Frau Schulze mit wechselnden Lebensgefährten und ihren drei Kindern, die allesamt von unterschiedlichen Männern stammten. Ihr jüngster Sohn, Florian, war zwei Jahre älter als ich. Heute, mit etwas Abstand, empfinde ich alleine die Tatsache, dass meine Mutter mir überhaupt erlaubte, zu den Schulzes zu gehen, als sicheren Beweis ihrer absoluten Gleichgültigkeit.