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Christiane Hackenberger

Ein turbulentes Jahr mit Folgen

Christiane Hackenberger

Ein turbulentes
Jahr mit Folgen

Roman

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Die Handlung dieses Romans sowie die darin vorkommenden Personen sind frei erfunden; eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Begebenheiten und tatsächlich lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

© 2016 by edition fischer GmbH

Für Hedy

Inhalt

Ein turbulentes Jahr mit Folgen

Freitag, Feierabend. Nelli hatte es eilig, nach Hause zu kommen. Sie war bei ihrer Freundin Anne zur Geburtstagsparty eingeladen und wollte sich noch das Haar waschen. Sie hatte eine Stunde eher Schluss gemacht und ihrer Schwester Conny dafür hoch und heilig versprechen müssen, am Montag früher zu kommen, um die Schaufensterdekoration noch vor Geschäftsbeginn zu erneuern.

Nach langer Diskussion mit Conny hatte sie endlich erreicht, dass sie nun auch ihre eigenen Keramikarbeiten mit im Schaufenster von Porzellan Kühne ausstellen durfte, unter ihrem eigenen Namen. Ein Werbeschild hatte sie schon gemalt. Sie hoffte, mit ihren handgetöpferten, bunt bemalten Müslischalen, Tassen und Eierbechern mehr Umsatz machen zu können, wenn sie schon im Schaufenster zu sehen wären und nicht erst im Laden selbst. Auch einen Hinweis auf das von ihr vertriebene Skandinavien-Steingut wollte sie gut sichtbar platzieren. Es garantierte schließlich einen beträchtlichen Anteil an ihrem Geschäftsumsatz. Sie hegte seit einiger Zeit Pläne, auch reine Dekorationsobjekte wie zarte Vasen und Schalen zu formen und mit edlen Glasuren in Farbe und Gold und Silber zu gestalten. Aus diesen Plänen war aber noch nichts Konkretes geworden, weil sie Vorhaltungen und Spott ihrer Schwester fürchtete. Ihr Standardspruch war immer: »Schließlich sind wir Porzellan Kühne!« Da hatte Keramik nach ihrer Ansicht keinen Platz. Nelli musste das Schaufenster am Montag unbedingt fertig haben, bevor Conny zur Ladenöffnungszeit eintraf. Sonst würde sie sicher wieder alles Mögliche zu beanstanden haben.

Nelli Kühne und ihre ältere Schwester Conny, die seit ihrer Heirat mit Robert nun Hellmann hieß, führten zusammen als gleichberechtigte Partnerinnen das Porzellangeschäft ihrer Großeltern und Eltern weiter. Die Großeltern waren Flüchtlinge aus Schlesien gewesen und hatten zu Beginn der fünfziger Jahre das Haus gekauft und das Geschäft aufgebaut. Es war anfangs nicht leicht gewesen, man hatte jede Mark zweimal umgedreht. Zudem befand sich das Geschäft nicht in der Innenstadt von Augsburg, sondern an einer Ausfallstraße Richtung Westen, mit wenig Laufkundschaft. Man hatte aber über die Jahre einen festen Kundenstamm aufbauen und halten können. Dann waren Oma und Opa kurz hintereinander schwer erkrankt und gestorben, also hatten die Eltern übernommen. Die Geschäfte liefen dann etwas besser, so dass sich ihr Vater einen lang gehegten Wunsch erfüllen und im hinteren Teil des Ladens eine Keramikwerkstatt einrichten konnte. Ihre Mutter war damit nicht einverstanden gewesen, konnte ihn aber von seinem Entschluss nicht abbringen. Er war ein begnadeter Keramikkünster und hatte sein Talent an Nelli vererbt. Conny war nicht kreativ veranlagt und interessierte sich eher für kaufmännische Belange; sie kam nach ihrer Mutter.

Vor acht Jahren waren dann die Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und Connys und Nellis Situation änderte sich grundlegend. Die Eltern hatten testamentarisch verfügt, dass ihre beiden Töchter den Laden zusammen weiterführen sollten. So war Conny praktisch über Nacht von der angestellten Verkäuferin zur Chefin avanciert, und Nelli hatte ihr Kunststudium aufgegeben, um mit ins Geschäft einzusteigen. Das war ihr alles andere als leicht gefallen. Conny war der praktische Part; sie kümmerte sich hauptsächlich um die Porzellane und machte auch die Buchhaltung, Nelli war eine Künstlerin und schuf ihre Keramikobjekte, soweit es das Geschäft erlaubte. Ihr Vater hatte in der Werkstatt auch einen großen Brennofen bauen lassen. Wie früher ihre Mutter, konnte Conny dagegen nichts tun, obwohl sie gern die Werkstatt ausquartiert und dafür den Geschäftsraum vergrößert hätte. Nellis bunte Keramiken waren in ihren Augen nur ein netter Zeitvertreib, denn schließlich waren sie ›Porzellan Kühne‹. Dass sie seit einigen Jahren auch Küchengeräte wie Gemüsehobel, Reiben, Kellen und dergleichen im Sortiment führten, hatte rein wirtschaftliche Gründe gehabt. Nur mit dem Verkauf von Porzellan allein ließen sich die Kosten nicht decken. Daher war auch der Alleinvertrieb, den Nelli für ein Skandinavien-Steingut erworben hatte, sehr wichtig und brachte gutes Geld; dagegen hatte Conny natürlich nichts.

Nelli hatte ihr hellrotes, enges Leinenkleid angezogen, kontrollierte ihr Make-up, wählte einen passenden Lippenstift und schlüpfte in ihre dunkelrote Jacke, die sehr gut mit dem Kleid harmonierte. Sie stieg noch in ihre schwarzen Pumps und war ausgehfertig. Gerade wollte sie das Haus verlassen, als es klingelte. Sie öffnete – und erstarrte. Fast ohne zu atmen fragte sie: »Was willst du hier?!« Vor der Tür stand ihr Exfreund Stefan. »Hallo, ich habe mal wieder keine Bleibe; ich kann doch bei dir ein paar Tage …?« Weiter kam er nicht, denn Nelli drängte ihn zurück, schlug von außen die Haustür zu und schloss ab.

»Kommt nicht in Frage! Ich dachte, du hast ein kuscheliges Zuhause, also geh doch bitte dorthin.« Sie drängte an ihm vorbei und eilte die Straße entlang. Er kam hinter ihr her. »Hör doch …!« Nelli drehte sich um und sagte sehr laut: »Ich habe nein gesagt, also verschwinde! Sofort!« Dann eilte sie weiter. Durch ihre laute Stimme waren Nachbarn aufmerksam geworden und Stefan sah davon ab, Nelli weiter zu folgen.

Er würde es einfach später noch einmal versuchen, denn irgendwann musste sie schließlich wieder nach Hause kommen. Früher hatte sie ja auch immer nachgegeben, wenn er mitten in der Nacht bei ihr geklingelt hatte, um auf ihrem Sofa zu übernachten. Sie hatte Aufsehen bei den Nachbarn vermeiden wollen und ihn meist hereingelassen. Warum sollte es heute anders sein? Dass er inzwischen verheiratet war, erschien ihm unwichtig; das war ohnehin bald vorbei. Außerdem konnte er gar nicht nach Hause zu seiner Frau, denn sie hatte ihn rausgeworfen. Nelli würde wohl einige Stunden wegbleiben, also konnte er ja inzwischen noch ein Bier trinken gehen. An der Ecke gab es eine Kneipe.

Leo Bernhard stoppte seinen Wagen vor Annes Haus. Er hatte Glück und konnte einen Parkplatz übernehmen, der gerade eben frei geworden war. So musste er nicht weiter um den Block fahren. Er war Mitinhaber einer erfolgreichen Unternehmensberatungsfirma und kam direkt aus Frankfurt von einem Kundenbesuch. Die Woche war ziemlich anstrengend gewesen. Eigentlich hätte er lieber zu Hause ein gemütliches Wochenende eingeläutet, aber er wollte Anne nicht enttäuschen. Sie hatte ihn und seine Freundin Maren eingeladen, aber Maren arbeitete in London, also musste er allein die Stellung halten. Obwohl – von Maren hatte er seit Wochen nichts gehört, sie hatte ihn nicht einmal angerufen; er sie allerdings auch nicht. Und er musste sich eingestehen, dass sie ihm eigentlich nicht fehlte. Es gab auch nichts, was er ihr unbedingt hätte erzählen wollen; tatsächlich erzählte er ihr auch dann nichts von sich, wenn Maren gelegentlich übers Wochenende in Augsburg war und sie sich kurz trafen. Dafür sprach sie pausenlos, meist über total Belangloses. Leo nahm es hin, er störte sich nicht weiter daran. Eigentlich war er lieber allein, zu viel Nähe machte ihn nervös. Er brauchte seine Freiheit.

Die Musik war bis auf die Straße zu hören, die Partystimmung war offensichtlich bereits ausgezeichnet. Leo stieg aus, nahm den Blumenstrauß vom Rücksitz und folgte einer schlanken Frau in einem roten Kleid ins Haus. Sie hatte dunkelblondes Haar, das zu einer eleganten Frisur hochgesteckt war. Offensichtlich gehörte sie auch zu Annes Gästen. Leo folgte ihr, als sie sich durch die tanzenden Partygäste drängte, um bei Anne zuerst einmal mit Bussi rechts und Bussi links ihre Glückwünsche und ihr Geschenk loszuwerden und sich dann ihren Weg in Richtung Buffet bahnte.

»Leo, wie schön!« Annes laute Stimme übertönte die Musik; sie fiel ihm um den Hals. »Bist du allein?«

»Wie du siehst, Maren ist ja in London – alles Gute zum Geburtstag!« Auch Leo küsste Anne auf beide Wangen und drückte ihr die Blumen in die Hand. »Wer ist die Frau im roten Kleid?«, fragte er dann.

»Nelli? Ich dachte, ihr kennt euch? Seid ihr euch denn nie bei meinen Partys begegnet? Komm, ich mache euch bekannt.« Anne zog ihn in Richtung Buffet, noch mit den Blumen in der Hand, und tippte Nelli an die Schulter: »Hier, Süße, dein Typ wird verlangt!«

Nelli drehte sich um, mit ihrem Teller in der Hand. Leo blickte in graugrüne Augen. »Das ist Leo Bernhard, zur Zeit Single – und das ist Nelli Kühne, notorisch Single. Nun amüsiert euch.« Damit ließ sie die beiden stehen, die zuerst einmal herzlich lachten.

»Das war Anne Thaler, kurz und bündig«, sagte Leo und hob vielsagend die Schultern. Sie gaben sich die Hand. Beladen mit Tellern, Wein- und Wassergläsern, suchten sie sich anschließend einen Tisch im Hintergrund, wo keine Gefahr bestand, von besonders aktiven Tänzern angerempelt zu werden.

»Woher kennen Sie Anne?«, fragte Leo. »Wir sind zusammen zur Schule gegangen und haben ein paar Semester Kunst zusammen studiert«, antwortete Nelli, »und Sie?«

»Ich kenne Anne auch schon einige Jahre, eigentlich auch aus der Studienzeit. Mein Bereich war aber nicht Kunst, sondern Wirtschafts- und Betriebswissenschaften. Warum haben wir uns bei Annes spontanen Partys denn nie getroffen?«

»Nun, die Partys haben meistens am späten Abend stattgefunden, das tun sie ja immer noch. Ich muss aber morgens früh raus, also kann ich nicht lange feiern. Ähnlich ist es mit ihren Wochenendtrips. Ich habe jeden zweiten Samstag Ladendienst, da habe ich meist keine Lust, wegen eines halben Tages Feiern noch irgendwohin hinterher zu fahren.« Leo nickte. »Mir geht es ähnlich. Wenn die ganze Woche über Volldampf angesagt ist, muss man am Wochenende abschalten können; sonst geht das nicht lange gut.«

Sie sprachen über alles Mögliche. Nelli hörte, dass Leo Unternehmensberater und viel auf Reisen war, und Leo erfuhr, dass Nelli Keramikerin war und im Familiengeschäft arbeitete. »Jetzt weiß ich auch, wo ich Sie schon gesehen habe – bei uns im Geschäft!« Leo stutzte. »Wirklich? Ich würde mich doch an Sie erinnern.«

»Sie haben mit meiner Schwester gesprochen; ich war stille Beobachterin aus dem Hintergrund. Sie haben altes englisches Porzellan gesucht.«

»Stimmt!«, antwortete Leo, »das war Ihre Schwester? Sie sehen sich aber gar nicht ähnlich.« Er erinnerte sich an eine nicht besonders freundliche Frau von etwa vierzig Jahren, mit blonder Kurzhaarfrisur und fülliger Figur und fuhr fort: »Sie wollte nach dem Muster forschen; in zwei Wochen soll ich nochmal vorbeikommen, sehe ich Sie dann auch?«

»Ich denke schon.«

Nelli fühlte sich in Leos Gesellschaft wohl. Er strahlte so eine innere Ruhe und Selbstsicherheit aus und schien auch durchaus Humor zu haben. Er sah sehr gut aus; groß und nicht zu schlank, durchtrainierte Figur, dunkelbraunes, kurz geschnittenes Haar, dunkle Augen, markante Gesichtszüge. Nelli schätzte, er müsste etwa in ihrem Alter sein, so Mitte bis Ende dreißig. Und er war ausgezeichnet gekleidet. Sein Anzug war aus feinstem italienischen Material, ebenso das Hemd und die genau abgestimmte Krawatte, auch die Schuhe. Eigentlich war er der bestangezogene Mann auf Annes Party. Offensichtlich hatte man als Unternehmensberater keine finanziellen Probleme. Seine Freundin war zu beneiden. Nelli genoss den Abend; den unerfreulichen Auftritt mit ihrem Ex Stefan hatte sie vollkommen vergessen.

Die Häppchen, Canapés und Salate schmeckten sehr gut, wie immer. Anne hatte durch ihren Beruf als Eventmanagerin weitreichende Verbindungen in alle Richtungen, zu Künstlern, Handwerkern, natürlich auch zu namhaften Cateringunternehmen. Die freuten sich immer über Annes Aufträge, denn sie buchte häufig und zahlte pünktlich.

Seit Anne ihr Studium beendet hatte, war sie im Veranstaltungsbereich tätig, zuerst als Angestellte in einem Hotel und seit einigen Jahren in ihrem eigenen Unternehmen. Da war sie in ihrem Element. Mit ihren außergewöhnlichen Ideen für Hochzeits-, Geburtstags- und sonstige Feiern hatte sie sich einen guten Namen gemacht und brauchte sich über mangelnde Aufträge nicht zu beklagen. Auch durch ihre auffällige Erscheinung war sie in weiten Kreisen bekannt. Sie war etwas mollig, trug immer Schwarz, behängte sich nach Kräften mit buntem Schmuck und bunten Tüchern und hatte knallrotes Haar. Dazu je nach Anlass eine riesige runde Brille auf der Nase, und ihre Stimme war ohnehin nicht zu überhören. Trotz der Vollbeschäftigung schaffte sie es, auch ihre privaten Kontakte ständig auf dem Laufenden zu halten, häufig Partys zu veranstalten, alle möglichen Aktionen für die Freunde zu planen und über alles und jeden Bescheid zu wissen. Das war ihr zweites Element. Selbst war sie an Männern nicht interessiert, aber sie fand es ausgesprochen spannend, das Knüpfen und Lösen von Verbindungen in ihrer näheren Umgebung zu verfolgen. Gelegentlich gestattete sie sich auch einmal, etwas nachzuhelfen und die Leute gezielt zusammenzubringen, quasi Vorsehung zu spielen.

»Bei diesen flüssig gefüllten Törtchen bin ich meist vorsichtig«, sagte Nelli mit Blick auf Leos Teller, »die sind entweder schrecklich scharf oder man kleckert sich voll.«

»Beides!«, antwortete Leo trocken und betrachtete einen grünlichen Klecks auf seinem Hosenbein. Dann hob er die Wasabisauce geschickt mit dem Messer ab und betupfte den Fleck mit Mineralwasser. Nelli hatte interessiert zugesehen. »Wenn Ihnen das Wasabi jetzt ein Loch in den Stoff frisst?«

»Dann verklage ich meinen Schneider.« Sie lachten und prosteten sich zu. »Sympathische Frau«, dachte Leo, »was hat Anne wohl gemeint mit ›notorisch Single‹? Sie macht nicht den Eindruck, als hätte sie etwas gegen Männer.«

»Sympathischer Mann«, dachte Nelli, »aber Anne sprach von ›zur Zeit Single‹; wo seine Freundin wohl ist? Ich kann ihn ja schlecht fragen.«

Sie tanzten zwischendurch ein bisschen, und Leo führte so ausgezeichnet, dass es trotz des Gedränges nicht zu Ellenbogenstößen der anderen Tänzer kam. Das fand Nelli auch ausgesprochen angenehm. An diesen Mann könnte ich mich gewöhnen, dachte sie. Die Musik wurde mit fortschreitender Stunde immer lauter. »Ich werde jetzt nach Hause gehen«, sagte Nelli und erhob sich, »mir wird der Lärm zuviel. Vermutlich dauert es auch nicht mehr lange, bis einer der Nachbarn protestiert oder sogar die Polizei vor der Tür steht.« Leo stand ebenfalls auf und sagte: »Ich bringe Sie nach Hause – keine Widerrede!«, bekräftigte er, als sie fast instinktiv abwehren wollte. Also war sie einverstanden und erklärte ihm, wie er fahren sollte. Sie stellten fest, dass sie gar nicht so weit voneinander entfernt wohnten.

Als Leo mit ›Wrooooum‹ den Motor anließ und losfuhr, wurde Nelli in den Sitz gedrückt. »Uhh, hat das Auto Raketenantrieb?« Leo lachte. »Nein, es klingt nur so; wir behalten Bodenkontakt, also keine Angst!«

»Wie sieht denn Ihr Verkehrssünderkonto aus?«, fragte Nelli scherzhaft. »Sie meinen, wieviele Punkte ich dort habe? Viel weniger spektakulär, als Sie vielleicht denken. Wenn man so viel unterwegs ist wie ich, wird man von ganz allein zum braven Autofahrer. Sonst wird es teuer und unangenehm.«

»Da vorn an der Ecke können Sie halten«, sagte Nelli einige Minuten später, »in meiner Straße gibt es keine Wendemöglichkeit.« Leo lachte wieder. »Sie werden es kaum für möglich halten, aber das Auto verfügt über einen Rückwärtsgang. Ich kann Sie also direkt vor Ihrer Tür absetzen – und das mache ich auch.« Er war schon in die schmale Wohnstraße eingebogen. »Bis ganz nach hinten, bitte.«

Er fuhr bis vor ihre Tür, hielt und stellte den Motor ab. »Ich bringe Sie zur Tür«, sagte Leo, eilte um den Wagen herum, öffnete den Schlag und reichte Nelli die Hand. Er begleitete sie zur Tür; so konnte er durch einen unauffälligen Blick auf ihr Klingelschild feststellen, ob da eventuell noch ein weiterer Name stand. Aber nein, da stand nur ›N. Kühne‹. »Darf ich Sie morgen anrufen?«, fragte er. »Gern, ich würde mich freuen.« Sie tauschten Telefonnummern aus, dann reichte Nelli Leo die Hand. »Es war ein netter Abend, und vielen Dank fürs Nachhausebringen.« Sie wartete, bis er in sein Auto gestiegen war, winkte kurz, dann schloss sie die Tür.

Leo ließ den Motor an und rollte einige Meter rückwärts, als sein Handy klingelte. Es steckte noch in seiner Jackentasche, daher stoppte er den Wagen wieder und nahm das Gespräch an. Ohne recht verstanden zu haben, wer dran war, sagte er: »Ich rufe zurück«, und drückte den Anruf weg. Er hatte mitbekommen, dass ein Mann bei Nelli klingelte. Sie öffnete die Tür einen Spalt, wollte sie wieder schließen, aber der Mann drückte mit aller Kraft gegen die Tür, drängte hinein und schlug die Tür zu. Leo knallte den ersten Gang rein, gab Gas und fuhr wieder vor Nellis Tür, war in drei Sprüngen die Stufen hoch, klingelte Sturm und hämmerte gegen die Tür. Von drinnen hörte er heftigen Streit. Nellis Stimme klang schrill. »Kommt nicht in Frage!«, schrie sie. »Verlass sofort mein Haus! Sofort! Raus!«

»Hab dich nicht so!«, brüllte der Mann zurück. »Früher warst du auch nicht so zimperlich!«

»Früher ist längst vorbei, also verschwinde!« Dann ein Schmerzensschrei, etwas krachte zu Boden, vermutlich ging Porzellan zu Bruch. Die Tür wurde wieder einen Spalt breit geöffnet, Leo warf sich von außen dagegen, schaffte es aber nicht, sie aufzudrücken; sie wurde wieder zugeschlagen. Leo rief die Polizei.

Martinshorn und Blaulicht hatten die Nachbarn auf die Straße gelockt. Einige waren schon alarmiert gewesen, als dieses starke, vibrierende Motorengeräusch von Leos Wagen zu hören gewesen war. Nun sahen sie, die meisten schon im Schlafanzug mit übergehängtem Bademantel, mit Interesse und leichtem Gruseln zu, wie ein Mann in Handschellen und in gebückter Haltung von zwei Polizisten aus Frau Kühnes Haus geführt und in einen Streifenwagen verfrachtet wurde. »Das wirst du bereuen!«, schrie er noch, bevor die Autotür zugeschlagen wurde und der Wagen abfuhr. »Der war mal ihr Freund«, flüstere die alte Frau Mühlmann von nebenan der nächsten Nachbarin zu, »aber nicht lange; ich habe ihn auch schon sehr lange nicht mehr gesehen; vermutlich hat sie ihn damals schon rausgeworfen. Ist ja auch ein ziemlich schmuddeliger Typ. Nichts für eine ehrbare junge Frau, wenn Sie mich fragen. Der andere Mann da scheint wohl ihr Neuer zu sein; viel besser.«

Der herbeigerufene Notarzt stellte bei Nelli keine gravierenden Verletzungen fest. Ihre Schulter schmerzte, es war aber nichts gebrochen. An ihrer Schläfe bildete sich eine große Beule. Glücklicherweise war Leo gerade noch rechtzeitig zur Stelle gewesen, bevor sie ernsthaft verletzt wurde. Der Arzt gab Nelli eine abschwellende Salbe für Schulter und Gesicht und ein paar Schmerztabletten. »Nehmen Sie davon eine vor dem Schlafengehen, tagsüber nur, wenn Sie zu Hause bleiben können – was Sie wenigstens für zwei Tage tun sollten«, fügte er noch hinzu, »und bedanken Sie sich bei Ihrem Freund; ohne ihn müsste ich Sie jetzt vermutlich mitnehmen und umfangreich reparieren lassen.« Notärzte haben anscheinend einen besonderen Humor. »Und wenn noch etwas ist – falls Sie Schwindelgefühl haben sollten oder so – Ihr Hausarzt kann mich jederzeit erreichen.« Er gab ihr seine Karte und verließ das Haus.

»Geht es wieder?«, fragte Kommissarin Katrin Wiedemann besorgt, als Nelli zusammen mit dem Arzt aus dem Schlafzimmer kam. Sie hatte die uniformierten Polizisten weggeschickt; die Aussagen würde sie allein aufnehmen. Nelli fühlte sich noch etwas benommen. Sie hatte das zerrissene Kleid gegen Jeans und Pulli getauscht, das Makeup abgewischt und ihr Haar glatt gebürstet. Jetzt sank sie aufatmend auf einen Küchenstuhl. Sie wollte etwas sagen, schaffte es aber noch nicht.

»Ruhig«, sagte Frau Wiedemann, »lassen Sie sich Zeit.« Leo hatte Tee gekocht und brachte Nelli eine Tasse. »Trinken Sie einen Schluck Tee.« Nelli dankte ihm und nippte an der Tasse. Kommissarin Wiedemann, eine schlanke, blonde Frau in Nellis Alter, hatte sich von Leo berichten lassen, was er beobachtet hatte und das Gespräch aufgezeichnet. Dann fragte sie ihn, ob er eventuell noch bei Nelli bleiben könnte. »Der Kerl ist zwar erst einmal unter Verschluss, aber sie fühlt sich sicher besser, wenn sie nicht allein ist.« Leo nickte. »Wenn Frau Kühne einverstanden ist, gern.«

»Oder möchten Sie für heute Nacht in ein Hotel gehen?«, fragte sie Nelli. »Nein, ich kann sehr gut hierbleiben, vielen Dank!«, wehrte Nelli ab.

Leo hatte sich unauffällig etwas in Nellis Wohnung umgesehen. Sie war sehr geschmackvoll eingerichtet, helle, moderne Möbel mit klaren Linien, nichts Billiges; es gab viele Bilder, Bücher und mehrere wirklich schöne Objekte aus Keramik, wohl ihre eigenen Kunstwerke; zwei davon lagen in Scherben auf dem Boden. Einige ihrer CDs entsprachen durchaus auch Leos Musikgeschmack. Die Küche war klein, aber zweckmäßig eingerichtet. Alles wirkte ausgesprochen gemütlich.

Frau Wiedemanns Handy klingelte. Sie hörte zu, sagte mehrmals ›Aha‹ und dann: »Das ist ja hochinteressant, da haben wir ja einen echten Fang gemacht!« Nelli hatte sich beruhigt und konnte nun ebenfalls berichten, was geschehen war. Sie erzählte, dass sie vor etwa zwei Jahren mit Stefan Timme, einem Musiker, kurze Zeit befreundet gewesen war, bis er ihr per Telefon erklärt hatte, es sei aus, er habe eine Frau mit Geld kennengelernt, die seine Musik finanzieren wollte und die er heiraten würde. Was er auch getan hatte. Aus der Zeitung hatte Nelli erfahren, dass die bekannte Architektin Verena Johanns einen aufstrebenden Musiker – Stefan – geheiratet hatte und dass Mauritius das Ziel für die Flitterwochen war. Dann sah und hörte Nelli nichts mehr von ihm, zu ihrer großen Erleichterung. »Bis heute Abend«, schloss sie.

»Seien Sie froh, dass Sie sich nicht weiter mit diesem Mann eingelassen haben«, meinte Frau Wiedemann, »er hat noch so einiges auf dem Kerbholz. Vermutlich wollte er bei Ihnen unterkriechen, weil ihn seine Frau vor die Tür gesetzt hat, nach massiven Handgreiflichkeiten übrigens. Er hat dort Kontaktverbot und darf sich seiner Frau nur auf fünfzig Meter nähern. Und es gibt noch mehr Delikte, die ihm zur Last gelegt werden. Außerdem ist er auf Bewährung.« Sie stand auf. »Machen Sie sich keine Sorgen, er wird bis auf weiteres in Haft bleiben. Aber seien Sie trotzdem vorsichtig. Er hat doch nicht etwa einen Wohnungsschlüssel von Ihnen?«

»Nein, er hat keinen Schlüssel«, antwortete Nelli. Frau Wiedemann gab Nelli ihre Karte und verabschiedete sich. »Rufen Sie mich sofort an, wenn irgendetwas ist! Ach ja, in den nächsten Tagen sollten Sie im Polizeirevier vorbeikommen, um das Protokoll zu unterschreiben und wegen der Anzeige; Sie beide.«

Als Nelli mit Leo allein war, sagte sie: »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Herr Bernhard.«

»Leo, bitte. Ich glaube, nach diesem Schrecken können wir ruhig Du sagen.«

»Ja, gern. Ich heiße Nelli, das weißt du ja schon.« Leo antwortete: »Eigentlich musst du meinem Kollegen danken, der mich anrufen wollte. So hatte ich deine Haustür im Blick. Anderenfalls hätte ich ja beim Rückwärtsfahren nur nach hinten gesehen und nichts mitbekommen. Wir hatten einfach Glück.«

»Ja, das hatten wir.« Nelli lächelte und wies auf ihre Teetasse. »Und in meiner Küche findest du dich auch schon gut zurecht.« Leo lachte, leicht verlegen. »Na ja, man macht so zwei oder drei Schranktüren auf, dann klappt das schon mit dem Tee.« Nelli meinte, ihr Sofa sei für seine Größe zu klein, sie wollte es ihm nicht zumuten und schickte ihn nach Hause. Sie würde die Nacht schon allein überstehen. Also verabschiedete sich Leo. »Ich rufe dich morgen gegen Mittag an, um zu hören, wie es dir geht und ob du etwas brauchst.« Damit verließ er das Haus.

Auf dem Heimweg dachte Leo über seine neue Bekannte nach. Er fand sie sehr sympathisch und sehr tapfer. Er bewunderte, wie schnell sie sich nach dem Überfall wieder gefasst hatte. Andere Frauen wären wohl eher in heulendem Elend versunken und hätten sich ausgiebig trösten lassen. Aber wie konnte sich eine intelligente Frau, die Nelli ja offensichtlich war, von einem Mann – diesem Stefan – derart behandeln lassen? Hatte sie am Ende doch noch Gefühle für ihn? Bei Frauen wusste man ja nie … Und was war er nur für ein Mensch, so aus heiterem Himmel bei seiner Exfreundin aufzutauchen, ohne jede Rücksicht auf ihre Gefühle, und wie selbstverständlich davon auszugehen, dass er wieder bei ihr wohnen könnte? Soweit Leo verstanden hatte, waren ja mehr als zwei Jahre vergangen, seit er sich bei Nelli endgültig verabschiedet hatte. Jetzt war er regelrecht bei ihr eingebrochen! Leo selbst verabscheute Rücksichtslosigkeit und Gewalt grundsätzlich. Er beschloss, auf jeden Fall mit Nelli in Verbindung zu bleiben, auch nach dem für morgen geplanten Anruf. Er wollte sie besser kennenlernen; viel besser.