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Ed Stuhler

Die letzten Monate der DDR

Ed Stuhler

Die letzten Monate der DDR

Die Regierung de Maizière
und ihr Weg zur deutschen Einheit

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Das Buch entstand parallel zur Fernsehdokumentation der Firma Heimatfilm über die letzte Regierung der DDR, die auch die Interviews mit den Zeitzeugen führte. Das Gesamtprojekt wurde gefördert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, November 2016
entspricht der 1. durchgesehenen und erweiterten Druckauflage vom September 2010
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Cover: KahaneDesign, Berlin, unter Verwendung eines dpa-Fotos vom CDU-Vereinigungsparteitag am 1. Oktober 1990 in Hamburg

eISBN 978-3-86284-368-8

Inhalt

Vorwort

Prolog: Beitritt

1. Die Laienspieler

2. Ein Plebiszit

3. Arbeitsbeginn

4. Die große Umarmung

5. Der kleine und der große Klaus

6. Ein Wink mit dem Zaunpfahl?

7. Das letzte Parlament

8. Der erste Staatsvertrag

9. Der zweite Staatsvertrag

10. Strickjacken am Selemtschuk

11. Angst vor Großdeutschland

12. Pflastersteine für den Westen

13. Eier für den Staatssekretär

14. Pseudokrupp am Silbersee

15. Den Löffel abgeben

16. Blühende Stadtlandschaften

17. Beifall für den Minister

18. Gespräche mit dem Wolf

Epilog: Abschlussfeier

Nachwort: Die DDR im innerdeutschen und internationalen Kräftespiel
von Marc-Dietrich Ohse

Anhang Das Kabinett de Maizière

Interviewpartner

Abkürzungsverzeichnis

Chronik zur deutschen Einheit 1990

Dank

Personenregister

Vorwort

Wenn von Deutschlands Vereinigung gesprochen wird, fallen immer die Namen Kohl, Gorbatschow, Bush, vielleicht noch Genscher. Der Name Lothar de Maizière wird weit seltener genannt, die Namen der Minister der von ihm geführten letzten DDR-Regierung, die politischen Entscheidungsträger der Ostseite, gar nicht. Die Akteure dieser überaus wichtigen Übergangszeit, die trotz extremer Bedingungen friedlich verlaufen ist, scheinen wie aus der Geschichte gefallen.

Im Mauermuseum Bernauer Straße wird eine Publikation mit dem Titel »Die Berliner Mauer 1961 – 1989« vertrieben. Dem Buch liegt eine DVD des Landesarchivs Berlin bei. Am Ende der 50-minütigen Dokumentation wird »der letzte Ministerpräsident der DDR« erwähnt: Hans Modrow!

Bei den zahlreichen Feiern zur Deutschen Einheit könnte man fast den Eindruck gewinnen, als habe sich die Bundesrepublik mit sich selbst vereinigt. Dass dies das komplizierte und dramatische Zusammenfinden von zwei souveränen Staaten mit, über einen langen Zeitraum, sehr unterschiedlicher politischer und sozialer Entwicklung war, gerät fast in Vergessenheit. Vergessen auch die Arbeit dieses einzigen demokratisch legitimierten Kabinetts der DDR, das unter dramatischen Umständen, wachsendem Zeitdruck und sich fast täglich verändernden Bedingungen einen ungeheuren Berg von gesetzesgeberischer Arbeit zu bewältigen hatte. Das Attribut »Riesen-« ist eines der meistgebrauchten in den Erinnerungen der damaligen Protagonisten; die entsprechenden Wortkombinationen würden eine ganze Seite füllen: Riesenprobleme, Riesenmenge (an Arbeit), Riesenunterschiede, Riesenherausforderung, Riesenarsenale (an Waffen, die zu sichern waren), Riesenapparate (die abzuwickeln waren), Riesenkoloss (MfS), Riesenaufmärsche, Riesenstreit, Riesendifferenzen, aber auch Riesenchancen. Dieses Buch soll eine längst überfällige Darstellung dieser Riesenarbeit sein, und zwar aus der subjektiven Sicht derer, die den Prozess der Einigung gestaltet haben.

Der vorliegende Band ist keine Chronologie und kein Geschichtsbuch. Er erhebt deshalb nicht Anspruch auf Vollständigkeit. Die Fülle der Probleme, aber auch die erzielten Erfolge konnten nur an einigen besonders signifikanten Teilgebieten deutlich gemacht werden, wie zum Beispiel der Umweltproblematik, dem Verfall der Städte, der Landwirtschaft, der Armee. Eine Betrachtung aller Teilbereiche und Ressorts lag nicht in der Absicht des Autors. Er wollte an einigen ausgewählten Schwerpunkten zeigen, mit welchen Herausforderungen und Sachzwängen die Akteure zu kämpfen hatten, wie sich die Arbeit gestaltet und, unter zunehmendem Zeitdruck, verändert hat.

Es ist eine Darstellung der sich überschlagenden Ereignisse einer historisch kurzen Phase, eines halben Jahres, vom 18. März bis 2. Oktober 1990. Gezeigt werden 199 Tage spannender deutscher Geschichte, das stürmische Ende der DDR-Geschichte in Geschichten.

Der Text beruht in wesentlichen Teilen auf den Fernsehinterviews der Firma Heimatfilm zur Dokumentation über die letzte Regierung der DDR, die die Autoren Rainer Burmeister und Hans Sparschuh (Heimatfilm GbR) zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung mit Mitgliedern der ersten und letzten frei gewählten Regierung der DDR geführt haben.

Ein paar persönliche Worte seien mir gestattet. Als ich begann dieses Buch zu schreiben, habe ich, um mich in die Stimmungslage des Jahres 1990 zurückzuversetzen, meine Tagebücher aus der Zeit hervorgesucht und gelesen. Unter dem Datum 19. März fand ich folgenden Eintrag:

»Das neue Zeitalter hat begonnen. Bei der gestrigen Wahl hat die CDU haushoch gesiegt. De Maizière wird Ministerpräsident von Kanzlers Gnaden. Die Leute sind Kohls stärkstem Argument gefolgt, der D-Mark. Von der CDU erhoffen sie sich deren schnelle Einführung. Daß die Folgen (Betriebsstillegungen, Arbeitslosigkeit) an ihm selbst vorbeigehen, hofft wohl jeder für sich. Und der zweite Grund für diesen (für viele überraschenden) Wahlausgang ist wohl das tiefe Mißtrauen allem gegenüber, was links ist. Leichte Traurigkeit und Enttäuschung. Bin mir aber der Irrationalität dieses Gefühls bewußt. Ich habe Bündnis 90 gewählt. Weniger als drei Prozent! Keiner will mehr was wissen von der Revolution und von der eigenen Vergangenheit. Bloß nicht erinnert werden, man hat ja schon perfekt verdrängt!«

Weitere Einträge handeln von Stasi-Verdächtigungen und -Entlarvungen, Gerüchten über plötzliche Währungsumstellung, rapide gestiegene Abtreibungszahlen, dem sinkenden Stern von Gorbatschow, von Trabbis und Wartburgs, die man jetzt plötzlich kaufen kann, von leeren Kaufhallen und vollen Sparkassen und einer gewonnenen Fußball-Weltmeisterschaft.

Den meisten Raum jedoch nehmen Notizen zu unserer kleinen Tochter ein. Das beglückte Staunen über ihr Wachsen und Werden war mir offensichtlich wichtiger als all die dramatischen politischen Ereignisse. Seltsame Duplizität: Genau wie ihr Vater wurde sie in eine Welt geboren, die es ein Vierteljahr später nicht mehr gab. In meinem Fall war es der Februar 1945, in ihrem der August 1989, ausgerechnet der 13. In der neuen Welt hat sie in diesen sechs Monaten, von denen dieses Buch handelt, das Krabbeln gelernt, ihre ersten Schritte gemacht, ihre ersten Worte gesprochen. Und genau wie ihrem Vater ist ihr die Welt, in die sie geboren wurde, bis heute sehr fern.

Übergangszeiten sind Zeiten überraschender Umbrüche, weitreichender Weichenstellungen, unvorhersehbarer Entwicklungen, aber auch ungewohnter Möglichkeiten; Treibende werden zu Getriebenen, die Dinge bekommen ihre eigene Dynamik – Übergangszeiten sind spannend.

Möge dieser Band denen, die diese Zeit nicht erlebt oder vergessen haben, das Besondere dieser Tage und das Handeln und die Motivationen der Akteure näherbringen.

Prolog: Beitritt

Um Mitternacht steigen Raketen in den nächtlichen Himmel. Vor dem Reichstag haben sich Tausende von Menschen versammelt, um ein Fest zu feiern, das Fest der deutschen Einheit. Vor dem Eingang des historischen Gebäudes stehen die Repräsentanten der Bundesrepublik, darunter Willy Brandt, Oskar Lafontaine, Richard von Weizsäcker und ein massiger, sichtlich zufriedener Helmut Kohl. Der schmale, in den letzten Monaten stark abgemagerte Lothar de Maizière ist neben ihm kaum auszumachen. Weitere Repräsentanten der DDR, die in diesen Minuten aufhört zu existieren, sind nicht zu sehen. Es erklingt Händels Feuerwerksmusik, geschrieben einst für eine andere Siegesfeier.

Auf einem extra errichteten vierzig Meter hohen Fahnenmast wird eine 60 Quadratmeter große Deutschlandfahne gehisst. Reden werden keine gehalten. Man ist peinlich darauf bedacht, jeden Anschein nationalen Überschwangs zu vermeiden. Dreihundertsiebenundzwanzig Tage nach dem Fall der Mauer ist die Einheit vollendet. Fünfundvierzig Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands ist die Phase des Kalten Krieges Geschichte. Die Zukunft ist ein europäisches Deutschland.

Nachwort: Die DDR im innerdeutschen und internationalen Kräftespiel

von Marc-Dietrich Ohse

»Ich glaube, wir haben allen Grund, uns zu freuen und dankbar zu sein«, erklärte Lothar de Maizière in seiner Fernsehansprache am Vorabend des 3. Oktober 1990: Den »schwierigen Weg« bis zur Vollendung der deutschen Einheit hätten die Deutschen »geordnet und gesittet« hinter sich gebracht.42 Damit griff der scheidende Ministerpräsident ein Motiv aus seiner ersten Regierungserklärung auf, als er am 19. April, an die Abgeordneten der erstmals frei gewählten Volkskammer gerichtet, erklärt hatte: »Wir bringen [in die Einheit] unsere Identität ein und unsere Würde.«43

Würde und Anstand, also das, was man gemeinhin als »gesittet« bezeichnet, aber vermissten die Mitglieder der Regierung de Maizière und mit ihr viele Bürgerinnen und Bürger der DDR im Einigungsprozess – ein Eindruck, der nach der staatlichen Vereinigung fortwirkte. Was später gemeinhin »den« Westdeutschen unter dem Stichwort »Besser-Wessi« zugeschrieben wurde, ein dominantes, teils anmaßendes Auftreten, kritisier(t)en die Mitglieder der letzten DDR-Regierung und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch am Umgang von Mitgliedern und Emissären der Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl mit den ostdeutschen Amtskollegen. Solche Eindrücke haben den deutschen Einigungsprozess von Anfang an begleitet, und sie haben häufig zu einem besonderen – oft geradezu trotzigen – Selbstbewusstsein vieler Ostdeutscher und zur Ausbildung einer retrospektiven DDR-Identität beigetragen – und damit auch zur nostalgischen Verklärung einiger Facetten des untergegangenen SED-Staates, zur »Ostalgie«.

I.

Erfahrungen mit bundesdeutscher Dominanz waren den Regierenden in Ost-Berlin jedoch nicht neu. So waren der Delegation der zweiten Regierung Hans Modrows (SED), der erstmals auch acht Minister ohne Geschäftsbereich aus den Reihen der DDR-Opposition angehört hatten, Mitte Februar 1990 in Bonn Soforthilfen für den maroden ostdeutschen Staat versagt worden. Das empfanden viele Ostdeutsche als Demütigung44, war aber aus westdeutscher Sicht durchaus verständlich. Schließlich wollte man in Bonn zunächst die Volkskammerwahl am 18. März abwarten, die Klarheit darüber bringen würde, wer der schwarz-gelben Koalition bei den Verhandlungen zur deutschen Vereinigung gegenüber säße.

Zur Entscheidung, wer dies sein sollte, trugen die westdeutschen Parteien maßgeblich mit bei. Der Wahlsieg der »Allianz für Deutschland«, des Bündnisses aus den neu entstandenen Oppositionsgruppen Demokratischer Aufbruch (DA) und Deutsche Soziale Union (DSU) sowie der ehemaligen Blockpartei CDU, war nicht allein deren Eintreten für eine schnelle Wiedervereinigung Deutschlands zu verdanken; er beruhte wesentlich auf dem Umstand, dass die Allianz von der Union und Bundeskanzler Kohl im Wahlkampf massiv unterstützt wurde. Unter den übrigen Parteien und Gruppierungen erfreuten sich lediglich der Bund Freier Demokraten aus LDP (der vormaligen Blockpartei LDPD) und den Neugründungen FDP und Deutsche Forumpartei sowie die SPD einer Unterstützung durch westdeutsche Schwesterparteien. Die Freien Demokraten blieben dabei ebenso marginal wie ihr westdeutsches Pendant, die FDP. Die SPD hingegen litt trotz einer frühen Absetzbewegung von den anderen Oppositionsgruppen unter ausbleibendem Zuspruch unter dem DDR-Wahlvolk und an der Zerstrittenheit ihrer Bonner Schwesterpartei gerade in der deutschen Frage. Nahezu auf sich allein gestellt blieb im Wahlkampf das Bündnis 90 aus den Bürgerrechtsgruppen Neues Forum, Initiative für Frieden und Menschenrechte und Demokratie jetzt. Die vormalige Staatspartei SED, nun PDS, hatte Unterstützung aus dem Westen ohnehin nicht erwarten können.

Im Wahlkampf waren also die Fronten verschoben worden, welche sich ein halbes Jahr zuvor in der DDR gebildet hatten. In der ersten Phase der friedlichen Revolution, von September 1989 bis Januar/Februar 1990, hatten sich die Bürgerrechtsgruppen, einschließlich der Sozialdemokraten, die sich als einzige als Partei – als SDP – formierten, als Sprachrohr der protestierenden Massenbewegung profilieren können. Allerdings war es ihnen nicht gelungen, funktionsfähige Strukturen auszubilden. Zudem hatte sich das Profil der protestierenden Massen geändert und mit ihm die Forderungen der »Straße«: Hatten zunächst die Entmachtung der SED und die Entwicklung der DDR zu einem demokratischen Gemeinwesen im Vordergrund gestanden, so rückte seit dem Mauerfall vom 9. November 1989 zunehmend die Einheit Deutschlands in den Mittelpunkt. Der größte Teil der Bürgerrechtsbewegung hielt jedoch an dem Ziel einer eigenständigen, reformierten DDR fest und verlor damit seine – ohnehin schwache – Verankerung in der Protestbewegung. Dies schlug sich in dem für sie niederschmetternden Ergebnis bei der Volkskammerwahl nieder (siehe Seite 33).

Deren Ausgang musste die Bürgerrechtler auch insofern enttäuschen, als mit der CDU eine Partei stärkste Kraft im Parlament wurde, die erst Anfang Dezember den Bruch mit der Staatspartei SED vollzogen hatte.

II.

Wegen ihrer »Blockflöten«-Vergangenheit konnte die Ost-CDU keine unbedingte Zuwendung durch ihre westdeutsche Schwesterpartei erwarten. Insofern war das Misstrauen in deren Reihen verständlich. Zurückhaltung war aus dieser Sicht kaum angebracht, und westdeutsche Dominanz hatte denn auch, wie erwähnt, bereits die Atmosphäre beim Besuch Modrows am 13. Februar bei Kohl in Bonn geprägt. Drei Tage zuvor hatte der Kanzler bei einem Besuch in Moskau von Michail Gorbatschow die Zusicherung erhalten, die Sowjets würden einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten letztlich nicht im Wege stehen. Noch am Ende desselben Monats klärten Helmut Kohl und US-Präsident George Bush (sen.) in Camp David, welche Bedingungen der Westen im Zuge des Einigungsprozesses stellen würde.

Damit sind die dominierenden Akteure des Einigungsprozesses benannt: Nicht Ost-Berlin stand auf der internationalen Bühne im Rampenlicht, sondern die beiden Supermächte UdSSR und USA sowie die Bundesrepublik Deutschland als der gewichtigere der beiden deutschen Staaten. Gewichtiger deshalb, weil Ost-Berlin eher von nachgeordnetem internationalen Rang war. Schließlich hatte es bis dahin lediglich als sowjetischer Vasall agieren können, was unter den neuen Verhältnissen zu den anfänglichen Unstimmigkeiten zwischen Gorbatschow und de Maizière bei dessen erstem Besuch in Moskau am 29. April führte. Im Gegensatz zur Bundesrepublik fehlte es der DDR an wirtschaftlicher und politischer Substanz. Ihre neu gewählte Regierung brachte dafür ein schier unglaubliches Maß an Energie in die Einigungsverhandlungen mit. Dieses Engagement wurzelte im Optimismus und Idealismus, der die Reformkräfte in der DDR soeben in und durch die erfolgreiche friedliche Revolution geführt hatte.

III.

Der erste wichtige Schritt auf dem Weg zur Einheit war die Währungsund Wirtschaftsunion. Das Konzept dazu war im Bundesfinanzministerium Ende Januar erarbeitet worden, und bereits in diesem Papier ist zu erkennen, dass die DDR materiell nur wenig in die Einheit einzubringen hätte: Die Rede war hier von einer durchschnittlichen Arbeitsproduktivität von 40 Prozent des westdeutschen Niveaus (im günstigsten Fall 65 Prozent) und von einem verfügbaren Einkommen der DDR-Bevölkerung in Höhe von 12,1 Prozent des der Bundesdeutschen.45 Unterstrichen wurde diese negative, aber weitgehend realistische Einschätzung durch das wiederholte Ersuchen Ost-Berlins um Hilfen aus Bonn und durch massive krisenhafte Entwicklungen, die in der DDR seit dem Frühjahr im Zuge erster Schritte auf dem Weg von der Plan- zur Marktwirtschaft zu beobachten waren.

So entsprach es zwar einerseits dem starken Selbstbewusstsein der ostdeutschen Reformkräfte, war aber andererseits bei nüchterner Betrachtung ein wenig illusorisch, wenn de Maizière am 19. April erklärte, die DDR-Regierung werde über den Weg zur deutschen Einheit ein »entscheidendes Wort mitzureden haben«, und gar konkrete Forderungen zur Gestaltung der Währungsunion aufstellte.46 Hatte Bonn bereits beschlossen, die Währungs- mit der Wirtschaftsunion zu verbinden, so gelang es Ost-Berlin immerhin, diesen Schritt im ersten Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR mit einer Sozialunion zu verknüpfen. Renten, Löhne und Sozialversicherungsverhältnisse wurden dadurch unmittelbar in das bundesdeutsche System überführt – wenngleich zum Teil mit einigen Abstrichen (und mit gravierenden Folgen für die ostdeutsche Wirtschaft und für die bundesdeutschen Sozialversicherungssysteme). Ansonsten aber hatte die Regierung de Maizière den Forderungen der Kohl-Administration wenig entgegenzusetzen.

Das galt noch mehr für den zweiten Staatsvertrag, den Einigungsvertrag. Noch bevor dieser unterzeichnet wurde, hatte zunächst Lothar de Maizière seinen »Canossa-Gang« zu Helmut Kohl in dessen Feriendomizil am österreichischen Wolfgangsee antreten müssen und hatte die Volkskammer drei Wochen später den Beitrittstermin der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes auf den 3. Oktober festgelegt. Hatte de Maizière vor Kohl den Offenbarungseid leisten müssen, dass die DDR nicht mehr zahlungsfähig und seine Regierung damit nicht mehr handlungsfähig war, und dementsprechend verlangt, die Vereinigung vorzuziehen, so hatte die Volkskammer in gewisser Weise die bedingungslose Kapitulation der DDR beschlossen. War de Maizières Schritt unumgänglich, so war der Zeitpunkt des Volkskammer-Beschlusses vor dem Ende der Verhandlungen über den Einigungsvertrag schlicht töricht. Beides stärkte nochmals die Position Bonns.

IV.

Auf internationaler Bühne hatte die DDR-Regierung ebenfalls einen schweren Stand. Anders als die Bundesregierung, die aufgrund der gefestigten Bündnisstrukturen des Westens aus einer Position der (relativen) Stärke agieren konnte, war das Kabinett in Ost-Berlin willens, die Empfindlichkeiten der osteuropäischen Nachbarn – gerade mit Blick auf die gemeinsame Geschichte im 20. Jahrhundert – besonders ernst zu nehmen. So versuchte Ost-Berlin – zum Missfallen Bonns –, Fragen der Neutralität des vereinten Deutschlands und eines kollektiven Sicherheitssystems in Europa auf die Agenda der Verhandlungen zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu setzen, erfuhr dabei jedoch von keiner Seite ernsthafte Unterstützung.

Die wesentlichen Punkte wurden ohnehin zwischen Washington und Moskau direkt ausgehandelt. Dabei konnte Bonn stets sein politisches Gewicht im westlichen Bündnis einbringen, nachdem dort entscheidende Widerstände vor allem der Franzosen und der Briten ausgeräumt worden waren, und gegenüber der östlichen Großmacht seine wirtschaftliche Potenz nutzen.

Verlierer des internationalen Tauziehens um die deutsche Einheit, der Zwei-plus-vier-Verhandlungen, war allerdings nicht Ost-Berlin, sondern Moskau. Aufgrund der inkonsequenten sowjetischen Verhandlungsführung konnte der Westen seine Maximalforderungen vollständig durchsetzen, vor allem die NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands. Den Sowjets hingegen blieben nur wirtschaftliche Hilfen als Gegenleistung, zum Teil als Unterstützung für ihren Truppenabzug aus Ostdeutschland. Die Schwäche des Kremls in den Zwei-plus-vier-Verhandlungen war ein Ausdruck der Erosion seines Machtbereichs, die sich unterdessen beschleunigte. So erklärte die Sowjetrepublik Litauen im Mai 1990 ihre Unabhängigkeit, der Warschauer Pakt löste sich zusehends auf, und Gorbatschow entging Anfang Juli auf dem XXVIII. Parteitag der KPdSU mit Mühe der Entmachtung (ein Jahr danach sah er sich zum Rücktritt gezwungen, und wenig später wurde die Partei in Russland verboten).

Mit dem »Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland«, den die Außenminister der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und der beiden deutschen Staaten am 12. September 1990 in Moskau unterzeichneten, wurde deutlich, dass die bipolare Weltordnung des Kalten Krieges sich aufgelöst hatte; das vierzig Jahre an der Nahtstelle zwischen den Blöcken geteilte Deutschland wurde wieder vereint. Mit der Aussetzung ihrer Vorbehaltsrechte im Bezug auf ganz Deutschland durch die Alliierten zum 3. Oktober erhielt es seine volle Souveränität, noch bevor der Zwei-plus-vier-Vertrag dann im März 1991 abschließend ratifiziert wurde.

Trotz ihrer misslichen Lage hatte die letzte, zugleich erste frei gewählte Regierung der DDR die Ostdeutschen weitgehend »geordnet und gesittet« in die Einheit geführt. Anders als Helmut Kohl, der den Ostdeutschen »blühende Landschaften« verheißen und den Westdeutschen versprochen hatte, es werde niemand »wegen der Vereinigung Deutschlands auf etwas verzichten müssen«,47 hatte Lothar de Maizière von Anfang an erklärt: »Die Teilung kann nur durch Teilen aufgehoben werden.«48 Die Einheit sei eine »Gemeinschaftsaufgabe aller Deutschen.«49

Weder materiell noch politisch hatte die DDR ausreichend Substanz besessen, um die Konditionen für die deutsche Wiedervereinigung bestimmen zu können. Jedoch konnte die letzte Regierung der DDR den Weg zur deutschen Einheit durch ihre Anstrengungen in kürzester Zeit »gesittet und geordnet« gestalten. Und der erste Schritt auf diesem Weg war – wenngleich damals noch nicht absehbar – die friedliche Revolution, der Aufbruch der Ostdeutschen in die eigene Freiheit.

Auswahlbibliografie

Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90 (DzD – Sonderedition), Hg. Bundesministerium des Innern, München 1998.

Nakath, Detlef; Gerd-Rüdiger Stephan: Countdown zur deutschen Einheit. Eine dokumentierte Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen 1987–1990, Berlin 1996.

Texte zur Deutschlandpolitik, Hg. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bde. III/8a–b, Bonn 1991.

Grosser, Dieter: Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln (Geschichte der deutschen Einheit; 2), Stuttgart 1998.

Henke, Klaus-Dietmar (Hg.): Revolution und Vereinigung. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009.

Jäger, Wolfgang; Michael Walter: Die Überwindung der Teilung. Der innerdeutsche Prozeß der Vereinigung 1989/90 (Geschichte der deutschen Einheit; 3), Stuttgart 1998.

Plato, Alexander von: Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel, 3. Aufl., Berlin 2010.

Ritter, Gerhard A.: Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats, München 2006.

Rödder, Andreas: Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009.

Sturm, Daniel Friedrich: Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90 (Willy-Brandt-Studien), Bonn 2006.

Waigel, Theo; Manfred Schell (Hg.): Tage, die Deutschland und die Welt veränderten. Vom Mauerfall zum Kaukasus. Die deutsche Währungsunion, München 1994.

Weidenfeld, Werner; Patrick M. Wagner; Elke Bruck: Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90 (Geschichte der deutschen Einheit; 4), Stuttgart 1998.

42 Lothar de Maizière, Rundfunk- und Fernsehansprache, 2.10.1990, in: Texte zur Deutschlandpolitik, Hg. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bonn 1991, Bd. III/8b, S. 700–703, hier 700 u. 702.

43 Lothar de Maizière, Regierungserklärung, Berlin 19.4.1990, in: Texte zur Deutschlandpolitik, Bd. III/8a, S. 167–195, hier 175.

44 Vgl. dazu die Äußerungen von Gerd Poppe u.a. in: Alexander von Plato: Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel, 3. Aufl., Berlin 2010, S. 297 f.

45 Thilo Sarrazin, Gedanken zu einer unverzüglichen Einbeziehung der DDR in den D-Mark-Währungsraum, Bonn 29.1.1990, in wesentlichen Auszügen dokumentiert in: Dieter Grosser: Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln, Stuttgart 1998, S. 165–170, hier 166 f.; und bei: Thilo Sarrazin: Die Entstehung und Umsetzung des Konzepts der deutschen Wirtschafts- und Währungsunion, in: Theo Waigel/Manfred Schell (Hg.): Tage, die Deutschland und die Welt veränderten. Vom Mauerfall zum Kaukasus. Die deutsche Währungsunion, München 1994, S. 160–225, hier 183.

46 De Maizière, Regierungserklärung, 19.4.1990, S. 167 u. 176 f.

47 Helmut Kohl, Regierungserklärung, Bonn 21.6.1990, in: Texte zur Deutschlandpolitik, Bd. III/8a, S. 393–412, hier 395 f.

48 De Maizière, Regierungserklärung, 19.4.1990, S. 174.

49 De Maizière, Rundfunk- und Fernsehansprache, 2.10.1990, S. 702.

Anhang

Das Kabinett de Maizière

Lothar de Maizière

CDU

Ministerpräsident

Klaus Reichenbach

CDU

Minister im Amt des Ministerpräsidenten

Peter-Michael Diestel

DSU

Stellvertreter des Ministerpräsidenten, Minister des Innern

Rainer Eppelmann

DA

Minister für Abrüstung und Verteidigung

Regine Hildebrandt

SPD

Minister für Arbeit und Soziales

Markus Meckel

SPD

Minister für Auswärtige Angelegenheiten

Axel Viehweger

BFD

Minister für Bauwesen, Städtebau und Wohnungswirtschaft

Hans-Joachim Meyer

parteilos

Minister für Bildung und Wissenschaft

Peter Pollack

parteilos

Minister für Ernährung, Land- und Forstwirtschaft

Christa Schmidt

CDU

Minister für Familie und Frauen

Walter Romberg

SPD

Minister der Finanzen

Frank Terpe

SPD

Minister für Forschung und Technologie

Jürgen Kleditzsch

CDU

Minister für Gesundheitswesen

Sybille Reider

SPD

Minister für Handel und Tourismus

Cordula Schubert

CDU

Minister für Jugend und Sport

Kurt Wünsche

BFD

Minister der Justiz

Herbert Schirmer

CDU

Minister für Kultur

Gottfried Müller

CDU

Minister für Medienpolitik

Emil Schnell

SPD

Minister für Post- und Fernmeldewesen

Manfred Preiß

BFD

Minister für Regionale und Kommunale Angelegenheiten

Karl-Hermann Steinberg

CDU

Minister für Umwelt, Naturschutz, Energie und Reaktorsicherheit

Horst Gibtner

CDU

Minister für Verkehr

Gerhard Pohl

CDU

Minister für Wirtschaft

Hans-Wilhelm Ebeling

DSU

Minister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit

Für die Fernsehdokumentation der Firma Heimatfilm wurden interviewt:

Lothar de Maizière, Klaus Reichenbach, Peter-Michael Diestel, Markus Meckel, Rainer Eppelmann, Gerhard Pohl, Hans-Joachim Meyer, Emil Schnell, Peter Pollack, Christa Schmidt, Jürgen Kleditzsch, Hans-Wilhelm Ebeling, Gottfried Müller, Karl-Hermann Steinberg, Manfred Preiß, Axel Viehweger, Herbert Schirmer und Cordula Schubert

Sabine Bergmann-Pohl, Volkskammerpräsidentin und Staatsoberhaupt Reinhard Höppner, Vizepräsident der Volkskammer

Richard Schröder, Fraktionsvorsitzender der SPD

Wolfgang Thierse, Schröders Nachfolger als Fraktionsvorsitzender der SPD

Gregor Gysi, Fraktionsvorsitzender der PDS

Jens Reich, Fraktionsvorsitzender Bündnis 90

Günther Krause, Staatssekretär beim Ministerpräsidenten

Matthias Gehler, Staatssekretär und Pressesprecher

Alwin Ziel, Staatssekretär im Ministerium für Arbeit und Soziales

Almuth Berger, Staatssekretärin und Ausländerbeauftragte

Werner Ablaß, Staatssekretär im Ministerium für Abrüstung und Verteidigung

Hans-Jürgen Misselwitz, Staatssekretär im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten

Gabriele Muschter, Staatssekretärin im Ministerium für Kultur

Reinhard Nissel, Staatssekretär im Ministerium für Justiz

Eberhard Stief, Staatssekretär im Ministerium des Innern

Walter Siegert, Staatssekretär im Ministerium für Finanzen

Abkürzungsverzeichnis

AfNS

Amt für Nationale Sicherheit

CDJ

Christlich Demokratische Jugend

CDU

Christlich Demokratische Union

BFD

Bund Freier Demokraten

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

DA

Demokratischer Aufbruch

DDR

Deutsche Demokratische Republik

CSU

Christlich-Soziale Union

DSU

Deutsche Soziale Union

FDP

Freie Demokratische Partei

GST

Gesellschaft für Sport und Technik

IM

Inoffizieller Mitarbeiter (des MfS)

KPdSU

Kommunistische Partei der Sowjetunion

LDPD

Liberal-Demokratische Partei Deutschlands

LPG

Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft

MdI

Ministerium des Innern

MfS

Ministerium für Staatssicherheit

NVA

Nationale Volksarmee

PdR

Palast der Republik

PDS

Partei des Demokratischen Sozialismus

RAF

Rote Armee Fraktion

SDP

Sozialdemokratische Partei (der DDR)

SED

Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

taz

Tageszeitung

UdSSR

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

Chronik zur deutschen Einheit 1990

Januar 1990

8.1.1990: Die erste Leipziger Montagsdemonstration nach der Weihnachtspause wird von den Losungen »Wir sind ein Volk« und »Deutschland einig Vaterland« beherrscht.

15.1.1990: Erstürmung der Zentrale des Staatssicherheitsdienstes in Ost-Berlin und Kontrolle durch ein Bürgerkomitee.

20.1.1990: Gründung der Deutschen Sozialen Union (DSU) durch zwölf christlich-liberal-konservative Gruppen in Leipzig. Die Partei befürwortet eine schnelle deutsche Vereinigung und wird von der bayerischen CSU unterstützt.

28.1.1990: Bildung einer Allparteien-Regierung der »nationalen Verantwortung« unter Einbeziehung der Oppositionsgruppen. Es wird beschlossen, die Volkskammerwahlen vom 6. Mai auf den 18. März vorzuziehen.

Februar 1990

1.2.1990: Nach einem Besuch in Moskau, wo Gorbatschow Modrow klarmacht, dass die Sowjetunion die DDR nicht halten kann und will, verkündet der DDR-Ministerpräsident bei seiner Rückkehr einen Drei-Stufen-Plan »Für den Weg zu einem einheitlichen Deutschland«. Vorgesehen sind: Vertragsgemeinschaft, Konföderation und schließlich Übertragung von Souveränitätsrechten auf ein geeintes, neutrales Gesamtdeutschland.

5.2.1990: In Berlin einigen sich die DDR-CDU, die DSU und der Demokratische Aufbruch (DA) für die Volkskammerwahlen am 18. März auf das Wahlbündnis »Allianz für Deutschland«. Bundeskanzler Helmut Kohl kündigt die Unterstützung durch seine Partei an.

7.2.1990: Während Bundesbankpräsident Pöhl und DDR-Wirtschaftsministerin Luft darin übereinstimmen, dass eine schnelle Währungsunion nicht erstrebenswert sei, sondern zunächst Wirtschaftsreformen in der DDR auf der Tagesordnung stehen, schlägt Bundeskanzler Kohl im Bundestag sofortige Verhandlungen mit der DDR über eine Währungsunion vor. Damit solle dem Übersiedlerstrom aus der DDR begegnet werden.

11. – 13.2.1990: Am Rande von Abrüstungsverhandlungen in Ottawa einigen sich die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges auf Verhandlungen mit den beiden deutschen Staaten zur außenpolitischen Regelung einer deutschen Einheit (Zwei-plus-Vier-Verhandlungen).

14.2.1990: In Bonn vereinbaren Bundeskanzler Kohl und DDR-Ministerpräsident Modrow die Einsetzung einer gemeinsamen Kommission zur Vorbereitung der Währungsunion und von Wirtschaftsreformen. Eine Soforthilfe der Bundesregierung zur wirtschaftlichen Stabilisierung der DDR vor freien Wahlen wird abgelehnt.

22. – 25.2.1990: Auf dem Wahl-Parteitag der DDR-SPD wird die Absicht erklärt, Deutschland in drei Stufen zu vereinigen und die Einheit mit einer neuen, gesamtdeutschen Verfassung auf der Grundlage des Artikels 146 des Grundgesetzes zu besiegeln.

24. / 25.2.1990: Kohl und Bush verständigen sich bei einem Treffen in Camp David darauf, dass das vereinte Deutschland Mitglied der NATO bleiben soll.

März 1990

1.3.1990: Der DDR-Ministerrat beschließt die Umwandlung aller Kombinate und volkseigenen Betriebe in Kapitalgesellschaften sowie die Einrichtung einer Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung von Volkseigentum.

9.3.1990: Die CDU / CSU-Bundestagsfraktion spricht sich für eine Vereinigung auf dem Wege des Grundgesetzartikels 23 aus, also einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik.

12.3.1990: In seiner letzten Sitzung lehnt der Runde Tisch die Übernahme des Grundgesetzes der Bundesrepublik für die DDR ab und schlägt für den 17. Juni einen Volksentscheid über eine neue Verfassung vor.

18.3.1990: Bei den ersten freien Volkskammerwahlen erreicht die konservative »Allianz für Deutschland« aus CDU, DSU und DA mit 48,15 Prozent der Stimmen einen überwältigenden Sieg. Die SPD erhält 21,84 Prozent, die PDS 16,33 Prozent und die Liberalen 5,28 Prozent der Stimmen. Das Bündnis 90, in dem sich die Hauptinitiatoren der friedlichen Revolution zusammengeschlossen haben, erreicht nur 2,91 Prozent der Stimmen. Die Wahlbeteiligung liegt bei 93,38 Prozent.

20.3.1990: Um die Massenabwanderung aus der DDR zu stoppen, beschließt die Bundesregierung, zum 1. Juli 1990 das Notaufnahmeverfahren für Übersiedler aus der DDR mit den dazugehörigen Unterstützungsmaßnahmen abzuschaffen.

28.3.1990: Frankreichs Präsident Mitterrand und Großbritanniens Premierministerin Thatcher stimmen offiziell einer deutschen Einheit zu.

April 1990

5.4.1990: Konstituierende Sitzung des ersten frei gewählten Parlaments der DDR.

12.4.1990: Die Volkskammer wählt Lothar de Maizière zum Ministerpräsidenten eines Kabinetts der großen Koalition aus den Allianzparteien CDU, DSU, DA sowie der SPD und den Liberalen. Sie sprechen sich in ihrer Koalitionsvereinbarung für den Weg zur deutschen Einheit über Artikel 23 des Grundgesetzes aus.

19.4.1990: In seiner Regierungserklärung verkündet Lothar de Maizière: »Die Einheit muss so schnell wie möglich kommen, aber ihre Rahmenbedingungen müssen so gut, so vernünftig und so zukunftsträchtig sein wie nötig.« Er gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dass zu den Olympischen Spielen 1992 wieder eine gesamtdeutsche Mannschaft antreten kann.

25.4.1990: Die Volkskammer lehnt den Antrag der Fraktion Bündnis 90 / Grüne mit 179 zu 167 Stimmen ab, den Entwurf des Runden Tisches für eine neue DDR-Verfassung zu erörtern.

27.4.1990: In Ost-Berlin beginnt die erste offizielle Verhandlungsrunde zum deutsch-deutschen Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion.

28.4.1990: Die Staats- und Regierungschefs der EG-Mitgliedsstaaten stimmen in Dublin der Vereinigung Deutschlands vorbehaltlos zu.

Ministerpräsident de Maizière reist zu seinem Antrittsbesuch nach Moskau.

30.4.1990: Erste offizielle Kontakte der beiden deutschen Parlamente Bundestag und Volkskammer.

Mai 1990

2.5.1990: Die beiden deutschen Regierungen vereinbaren die Umtauschkurse für die Währungsunion. Danach werden die Löhne, Gehälter, Mieten, Stipendien und Renten im Verhältnis eins zu eins umgestellt. Sparguthaben und Bargeld werden gestaffelt umgetauscht: Kinder bis 14 Jahre können 2000 Mark, 15- bis 59-Jährige 4000 Mark und über 60-Jährige 6000 Mark im Verhältnis eins zu eins einwechseln. Darüber hinausgehende Beträge werden im Verhältnis zwei zu eins umgestellt.

6.5.1990: Bei den Kommunalwahlen in der DDR schneidet die CDU als erfolgreichste Partei ab.

8.5.1990: Die DDR und die EG unterzeichnen in Brüssel ein Handels- und Kooperationsabkommen mit einer Laufzeit von zehn Jahren; die EG-Außenminister erklären sich bereit, die Visumpflicht für DDR-Bürger bei Reisen in EG-Staaten zum 1. Juli aufzuheben, da am selben Tag auch die innerdeutschen Grenzkontrollen entfallen.

13.5.1990: Kanzlerberater Teltschik fliegt mit den Bankiers Wolfgang Röller und Hilmar Kopper zu Kreditverhandlungen nach Moskau und sagt eine großzügige Unterstützung in Höhe von 5 Mio. DM zu.

15.5.1990: In Bonn einigen sich Bund und Länder auf die Gründung eines weitgehend kreditfinanzierten Fonds »Deutsche Einheit« zur Unterstützung der DDR. Er soll bis Ende 1994 mit 115 Milliarden D-Mark ausgestattet werden und die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion finanzieren.

18.5.1990: Bundesfinanzminister Theo Waigel und der DDR-Finanzminister Walter Romberg unterzeichnen den Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, die zum 1. Juli wirksam wird. Damit gibt die DDR ihre finanzielle Oberhoheit an Bonn ab und übernimmt zahlreiche bundesdeutsche Bestimmungen. Die Volkskammer wird verpflichtet, weitere Gesetze zu erlassen, um eine zügige Rechtsangleichung an die Bundesrepublik zu befördern. Die Bundesrepublik gewährt dafür Zuschüsse zum Staatshaushalt der DDR und subventioniert den Aufbau der Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung.

31.5.1990: Gorbatschow gibt bei einem Treffen mit Bush in Washington seine grundsätzliche Zustimmung zur freien Bündniswahl des vereinten Deutschlands.

Juni 1990

1.6.1990: Abschaltung des Kernkraftwerkes Lubmin bei Greifswald aus sicherheitstechnischen Gründen.

10.6.1990: Ministerpräsident de Maizière reist zu Verhandlungen nach Washington.

13. – 15.6.1990: Letzte Tagung des Verteidigungsausschusses des Warschauer Paktes in Strausberg.

15.6.1990: Die beiden deutschen Regierungen veröffentlichen eine gemeinsame Erklärung zur Regelung offener Vermögensfragen. Danach sind Enteignungen auf besatzungsrechtlicher Basis zwischen 1945 und 1949 nicht mehr rückgängig zu machen. Ansonsten ist enteignetes Grundvermögen in der DDR grundsätzlich den ehemaligen Eigentümern zurückzugeben.

17.6.1990: Beschluss des Treuhandgesetzes in der Volkskammer.

Gemeinsame Veranstaltung von Volkskammer und Bundestag im Ost-Berliner Schauspielhaus zum Gedenken an den Volksaufstand von 1953.

21.6.1990: Zeitgleich verabschieden der Deutsche Bundestag in Bonn und die DDR-Volkskammer in Ost-Berlin den Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR sowie eine Entschließung über die endgültige Anerkennung der polnischen Westgrenze. Die PDS, Bündnis 90 und Die Grünen lehnen den Staatsvertrag ab, da er das System der Bundesrepublik auf die DDR anwende, ohne deren Bürgern die Möglichkeit einer gleichberechtigten Mitwirkung einzuräumen.

22.6.1990: Auch der Bundesrat stimmt dem Staatsvertrag zu. Die SPD-geführten Länder Niedersachsen und Saarland lehnen ihn jedoch ab, da sie ihn für »unzureichend« halten.

Während des zweiten Zwei-plus-Vier-Außenministertreffens in Ost-Berlin schlägt die sowjetische Seite einen etappenweisen Rückzug aller Siegermächte aus Deutschland vor; erst danach solle Deutschland seine volle Souveränität zurückerhalten; alle übrigen Teilnehmer sprechen sich für eine Gleichzeitigkeit von innerer Vereinigung und äußerer Selbständigkeit aus.

23.6.1990: Sommerfest im Garten des Bonner Kanzleramtes mit einem Brat-schen-Auftritt von Lothar de Maizière.

Juli 1990

1.7.1990: