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Fördern lernen – Intervention

Herausgegeben von

Stephan Ellinger

 

Band 6

Philipp Abelein/Roland Stein

Förderung bei Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen

Verlag W. Kohlhammer

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-026900-2

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-026901-9

epub:    ISBN 978-3-17-026902-6

mobi:    ISBN 978-3-17-026903-3

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Vorwort des Reihenherausgebers

 

 

Die Reihe Fördern lernen umfasst drei klare thematische Schwerpunkte. Es sollen erstens die wichtigsten Förderkonzepte und Fördermaßnahmen bei den am häufigsten vorkommenden Lern- und Verhaltensstörungen dargestellt werden. Zweitens gilt es, die wesentlichen Grundlagen pädagogischer Beratungsarbeit und die wichtigsten Beratungskonzepte zu diskutieren, und drittens sollen zentrale Handlungsfelder pädagogischer Prävention übersichtlich vermittelt werden. Dabei sind die Bücher dieser Reihe in erster Linie gut lesbar und unmittelbar in der Praxis einzusetzen.

Im Schwerpunkt Intervention informiert jeder einzelne Band (1–9) in seinem ersten Teil über den aktuellen Stand der Forschung und entfaltet theoriegeleitet Überlegungen zu Interventionen und Präventionen. Im zweiten Teil eines Bandes werden dann konkrete Maßnahmen und erprobte Förderprogramme vorgestellt und diskutiert. Grundlage für diese Empfehlungen sollen zum einen belastbare empirische Ergebnisse und zum anderen praktische Handlungsanweisungen für konkrete Bezüge (z. B. Unterricht, Freizeitbetreuung, Förderkurse) sein. Schwerpunkt des zweiten Teils sind also die Umsetzungsformen und Umsetzungsmöglichkeiten im jeweiligen pädagogischen Handlungsfeld.

Die Bände im Schwerpunkt Beratung (10–15) beinhalten im ersten Teil eine Darstellung des Beratungskonzeptes in klaren Begrifflichkeiten hinsichtlich der Grundannahmen und der zugrundeliegenden Vorstellungen vom Wesen eines Problems, den Fähigkeiten des Menschen usw. Im zweiten Teil werden die Methoden des Beratungsansatzes anhand eines oder mehrerer fiktiver Beratungsanlässe dargestellt und erläutert, so dass Lehrkräfte und außerschulisch arbeitende Pädagogen konkrete Umsetzungen vornehmen können.

Die Einzelbände im Schwerpunkt Prävention (16–21) wenden sich allgemeinen Förderkonzepten und Präventionsmaßnahmen zu und erläutern praktische Handlungshilfen, um Lernstörungen, Verhaltensstörungen und prekäre Lebenslagen vorbeugend zu verhindern. Die Zielgruppe der Reihe Fördern lernen bilden in erster Linie Lehrkräfte und außerschulisch arbeitende Pädagogen, die sich entweder auf die Arbeit mit betroffenen Kindern vorbereiten oder aber schnell und umfassend gezielte Informationen zur effektiven Förderung oder Beratung von Betroffenen suchen. Die Buchreihe eignet sich auch für die pädagogische Ausbildung und als Zugang für Eltern, die sich nicht auf populärwissenschaftliches Halbwissen verlassen wollen.

Die Autorinnen und Autoren wünschen allen Leserinnen und Lesern ganz praktische Aha-Erlebnisse!

Stephan Ellinger

Einzelwerke in der Reihe Fördern lernen

Intervention

Band    1: Förderung bei sozialer Benachteiligung

Band    2: Förderung bei Lese-Rechtschreibschwäche

Band    3: Förderung bei Rechenschwäche

Band    4: Förderung bei Gewalt und Aggressivität

Band    5: Förderung bei Ängstlichkeit und Angststörungen

Band    6: Förderung bei ADS/ADHS

Band    7: Förderung bei Sucht und Abhängigkeiten

Band    8: Förderung bei kulturellen Differenzen

Band    9: Förderung bei Hochbegabung

Beratung

Band 10: Pädagogische Beratung

Band 11: Lösungsorientierte Beratung

Band 12: Kontradiktische Beratung

Band 13: Kooperative Beratung

Band 14: Systemische Beratung

Band 15: Personzentrierte Beratung

Prävention

Band 16: Berufliche Eingliederung

Band 17: Förderung der Motivation bei Lernstörungen

Band 18: Schulische Prävention im Bereich Lernen

Band 19: Schulische Prävention im Bereich Verhalten

Band 20: Resilienz

Band 21: Hilfen zur Erziehung

 

Inhalt

 

  1. Vorwort des Reihenherausgebers
  2. Einleitung
  3. 1 Das Phänomen AD(H)S
  4. 1.1 AD(H)S – ein klar definiertes und anerkanntes Störungsbild?
  5. 1.1.1 Definition und Klassifikation von AD(H)S
  6. 1.1.2 Epidemiologie
  7. 1.1.3 Komorbidität
  8. 1.2 AD(H)S – ein unscharf formuliertes Störungsbild?
  9. 1.2.1 Aufmerksamkeitsdefizit – eine unscharf formulierte Variable?
  10. 1.2.2 (Regionale) Überdiagnostizierung von AD(H)S in Deutschland?
  11. 1.2.3 Entlastungsfunktion der Diagnose AD(H)S?
  12. 1.3 Stärken von Kindern und Jugendlichen mit AD(H)S – ein Blick auf den Forschungsstand
  13. 1.3.1 Überdurchschnittliche Intelligenz
  14. 1.3.2 Empathie
  15. 1.3.3 Kreativität
  16. 1.4 Fazit
  17. 2 Diagnostik von AD(H)S
  18. 2.1 Leitlinien zur Diagnostik von AD(H)S
  19. 2.2 Differentialdiagnostik
  20. 2.3 Symptomkriterien nach ICD-10
  21. 2.4 Symptomkriterien nach DSM-5
  22. 2.5 DSM-5 versus ICD-10 – einige bedeutende Unterschiede
  23. 2.6 Kritik der Diagnostik von AD(H)S nach ICD-10 und DSM-5
  24. 2.6.1 Kritische Betrachtung der wichtigsten Veränderungen von DSM-IV zu DSM-5
  25. 2.6.2 Kritische Betrachtung der Symptomkriterien nach ICD-10 und DSM-5
  26. 2.6.3 Ausblick
  27. 3 Bedingungsfaktoren und Theorien zur Entstehung von AD(H)S
  28. 3.1 Genetische sowie prä- und perinatale Bedingungsfaktoren von AD(H)S
  29. 3.2 Neurobiologische Bedingungsfaktoren von AD(H)S
  30. 3.2.1 Neuroanatomische und neurophysiologische Faktoren
  31. 3.2.2 Neurochemische Faktoren
  32. 3.2.3 Neuropsychologische Faktoren
  33. 3.3 Kulturtheoretische Erklärungen
  34. 3.4 Psychoanalytische Erklärungsperspektive
  35. 3.4.1 Grundlagen einer psychoanalytischen Erklärung von AD(H)S
  36. 3.4.2 Kritische Betrachtung der psychoanalytischen Erklärungsperspektive von AD(H)S
  37. 3.5 Weitere Bedingungsfaktoren
  38. 3.6 Eine interaktionistische Betrachtungsweise von Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsproblemen
  39. 3.6.1 Auf dem Weg zu einer interaktionistischen Perspektive: komplexere Modelle von AD(H)S
  40. 3.6.2 Grundlagen einer interaktionistischen Sicht von Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsproblemen
  41. 3.6.3 Personorientierte Sichtweise von Verhaltensstörungen in Bezug auf AD(H)S
  42. 3.6.4 Situationsorientierte Sichtweise von Verhaltensstörungen und AD(H)S
  43. 3.6.5 Interaktionistische Sichtweise von Verhaltensstörungen und AD(H)S
  44. 3.6.6 Etikettierungsansatz/Perspektive der Beobachterwahrnehmung von Verhaltensstörungen und AD(H)S
  45. 3.6.7 Interaktionen zwischen Aspekten
  46. 3.6.8 Fazit: Erklärungsperspektiven von AD(H)S und ihre Bedeutung für die pädagogische und didaktische Praxis
  47. 4 Therapeutische Förderung bei AD(H)S
  48. 4.1 Medikamentöse Therapie
  49. 4.1.1 Wirksamkeit der Pharmakotherapie bei AD(H)S
  50. 4.1.2 Entwicklung der Verordnungen von Methylphenidat-Präparaten in Deutschland
  51. 4.1.3 Einnahme von Methylphenidat – primär schulbezogen?
  52. 4.2 Verhaltenstherapeutische Maßnahmen
  53. 4.2.1 Patientenzentrierte Interventionen bei AD(H)S
  54. 4.2.2 Elternzentrierte Interventionen bei AD(H)S
  55. 4.2.3 Kindergarten- und schulzentrierte Interventionen bei AD(H)S
  56. 4.3 Neurofeedback
  57. 4.4 Fazit
  58. 5 Förderkonzepte und Trainingsprogramme im Kontext von AD(H)S
  59. 5.1 Einführung
  60. 5.2 Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Trotzverhalten (THOP)
  61. 5.3 Training mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern (TmaK)
  62. 5.4 Marburger Konzentrationstraining (MKT) und Marburger Verhaltenstraining (MVT)
  63. 5.4.1 Das Marburger Konzentrationstraining (MKT)
  64. 5.4.2 Das Marburger Verhaltenstraining (MVT)
  65. 5.4.3 Fazit zu MKT und MVT
  66. 5.5 Attentioner
  67. 5.6 Das Lerntraining LeJA
  68. 5.7 Fazit
  69. 6 Pädagogische Ansatzpunkte und Handlungsmöglichkeiten bei AD(H)S
  70. 6.1 Haltung
  71. 6.2 Gestaltung von Situationen
  72. 6.2.1 Der Ausgangspunkt: ›klassische‹ Unterrichtskonzepte zu AD(H)S
  73. 6.2.2 Strukturgebung
  74. 6.2.3 Bewegung
  75. 6.3 Unterstützung der Kinder und Jugendlichen
  76. 6.3.1 Maßnahmen zur Förderung von Aufmerksamkeit und Konzentration
  77. 6.3.2 Förderung von Gedächtnisleistungen
  78. 6.3.3 Förderung der Fähigkeit zur Selbstregulation
  79. 6.3.4 Förderung eines angemessenen Selbstkonzepts
  80. 6.4 Kompetenz von Pädagoginnen und Pädagogen
  81. 6.4.1 Merkmale erfolgreichen Lehrerhandelns nach Kounin
  82. 6.4.2 Ausgewählte Maßnahmen für Pädagogen und Lehrkräfte
  83. 6.4.3 Fachwissen zu AD(H)S als wichtige Grundlage professionellen Handelns
  84. 6.5 Arbeit mit der Gruppe
  85. 6.6 Kompetenz und Einbindung der Eltern
  86. 7 Fazit
  87. Literatur
  88. Internetquellen
  89. Internetseiten

 

Einleitung

 

 

Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen werden in diesem Buch aus einer pädagogischen Perspektive betrachtet – und zugleich spezifisch im Hinblick auf pädagogische Handlungsfelder. Seit Jahrzehnten stellt die Auseinandersetzung mit diesen Problemen ein Brennpunktthema dar – sei es hinsichtlich Auffälligkeiten und Schwierigkeiten in der Schule oder auch in der Familie. Hierzu ist – wiederum über die Jahrzehnte – eine Fülle von Literatur auf den Markt gekommen, und es sind auch verschiedenste Förderprogramme zur Prävention von und zum Umgang mit solchen Problemen entwickelt worden.

Historisch hat der Phänomenbereich eine Fülle von unterschiedlichen Bezeichnungen und Begriffen erlebt; aktuell steht die Bezeichnung AD(H)S im Vordergrund, die ein Syndrom aus Aufmerksamkeits- und teilweise damit verbundenen Hyperaktivitätsstörungen kennzeichnen soll. Impulsivität spielt – als drittes Problemfeld – in beiderlei Richtung eine bedeutsame Rolle.

In der Forschung kann man eine erhebliche Dominanz der Medizin feststellen, hier insbesondere der Kinder- und Jugendpsychiatrie, aber auch anderer medizinischer Teildisziplinen. Die Medizin betreibt große Projekte und erforscht insbesondere die biologisch-genetischen Ursachen von ADHS, aber auch komplexe Verursachungsmodelle und Auswirkungen sowie die Effekte unterschiedlicher Therapieformen und -verfahren. Es fließen erhebliche öffentliche Mittel in dieses Feld. Dementsprechend ergibt sich auch eine Dominanz der Medizin, ergänzt durch die Psychologie, in der verfügbaren Literatur. Auch Förderprogramme kommen häufig aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie der Psychologie. Ein genauerer Blick auf den Erscheinungsbereich von Problemen der Aufmerksamkeit, der Impulsivität und der Hyperaktivität in unserer Gesellschaft zeigt allerdings, dass die Frage von Ursachen, Einflussfaktoren sowie zudem Entwicklungsprozessen in ihrer Dynamik ausgesprochen komplex ist und es nach wie vor verschiedene Erklärungsmodelle gibt. Nur wenige stehen im Vordergrund, und nur zu denjenigen Aspekten, die erforscht werden, können auch Ergebnisse zutage gefördert werden. Daher ist es an der Zeit, den Blick auf Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen zu weiten, über den aktuellen Schwerpunkt der Sichtweisen und Erklärungen hinaus – und dies gilt gerade aus einer pädagogischen Perspektive heraus, die im bisherigen wissenschaftlichen und praxisbezogenen Diskurs um »AD(H)S« deutlich unterrepräsentiert ist. Dazu bedarf es auch eines besonderen Störungsverständnisses.

Warum, könnten Leser1 dennoch fragen, wenn es schon so viel Literatur gibt, noch ein Buch zu diesem Thema? Die von den Autoren gesehenen Gründe wurden bereits angesprochen, seien jedoch angesichts der berechtigten Frage noch einmal auf den Punkt gebracht: Aus Sicht der Verfasser, die an einem sonderpädagogischen Lehrstuhl tätig sind, und ihrer Erfahrung in der universitären Lehre und Forschung fehlt es an genuin pädagogischen Auseinandersetzungen zu dieser Thematik, die zugleich drei Funktionen erfüllen müssten:

•  erstens das Phänomen und die Forschung hierzu aus einer distanzierten wissenschaftlichen Perspektive kritisch betrachten,

•  zweitens eine solche Perspektive auf Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsprobleme einnehmen, die auch pädagogischen Handlungsfeldern gerecht wird,

•  drittens auch einen Blick auf eine spezifisch pädagogische Förderung und ihre Möglichkeiten werfen, gerade angesichts eines Phänomens, das häufig und allzu schnell therapeutische Antworten aus Medizin und Psychotherapie erfährt.

Diesen drei Zwecken soll das vorgelegte Buch gerecht werden. Dabei wird, aus noch darzulegenden Gründen und in einer ebenso darzulegenden Art und Weise, von einem besonderen, »interaktionistischen« Störungsverständnis ausgegangen. Dieses Störungsverständnis ist grundsätzlich durchaus kompatibel mit internationalen Klassifikationssystemen, entspricht aber nicht dem »Mainstream« der Verwendung des Störungsbegriffs, welche sehr »personenbezogen« erfolgt. Im Text selbst wird aus pragmatischen Gründen auch sehr häufig das Kürzel »AD(H)S« verwendet, welches jedoch keineswegs eng im medizinisch-psychiatrischen Sinne verstanden sein soll, sondern als Kurzform dessen, was hier – aus einer pädagogischen Perspektive – eben als »Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen« in den Blick rückt. Es wird in diesem Buch aber auch, offener, von »Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsproblemen« die Rede sein.

Insofern folgt das Buch begrifflich dem »Mainstream«, um den Lesern Zugänge zu eröffnen – allerdings folgt es nicht dem »Mainstream« der Erklärungs- und Handlungskonzepte. Damit ist die Begriffswahl eine Gratwanderung, was den Autoren bewusst ist: die genutzten Begriffe könnten falsch verstanden werden; ihnen wird hier eine andere als die übliche Sicht »unterlegt«. Ziel ist es, den Lesern auf diesem Wege eine breitere Betrachtung des Problemfeldes zu ermöglichen, was wiederum auf das Verständnis des Konzepts »Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen« bzw. auch des Begriffs AD(H)S zurückwirken könnte.

Würzburg, im Herbst 2016

Philipp Abelein und Roland Stein

1     Aus Gründen der Lesbarkeit ist in diesem Buch, soweit nicht anders gekennzeichnet, bei Nennung der männlichen Form die weibliche stets mitgemeint.

 

 

 

 

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Das Phänomen AD(H)S

 

Im Vergleich zu anderen bedeutenden Störungsbildern wie Ängstlichkeit oder Aggressivität und Gewalt dominiert in den fachlichen Beiträgen bei der Beschreibung dieses Phänomens nahezu ausschließlich ein – im deutschsprachigen Raum mittlerweile weitverbreitetes – Kürzel: AD(H)S. Angelehnt ist die deutsche Abkürzung am angloamerikanischen Kürzel ADHD der offiziellen Diagnosebezeichnung »Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder« des Klassifikationssystems DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, fifth edition, APA 2013). Die offizielle deutschsprachige Übersetzung der Diagnosebezeichnung im DSM-5 lautet »Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung«, wobei einige Autoren den Buchstaben ›S‹ des Kürzels AD(H)S anders wiedergeben und es als »Aufmerksamkeits-Defizit/Hyperaktivitätssyndrom«, »Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom« oder »Aufmerksamkeits-Defizit- und Hyperaktivitätssyndrom« bestimmen (Becker-Pfaff & Engel 2010, 177; Klicpera & Gasteiger-Klicpera 2007, 103; Ellinger 2007, 121). Hinter der Abkürzung AD(H)S steht ein Phänomen, das ein relativ komplexes Erscheinungsbild aufweist. In den international anerkannten Diagnosesystemen DSM-5 und ICD-10 meint AD(H)S das durchgängige Auftreten von unaufmerksamen, hyperaktiven und impulsiven Verhaltensweisen (APA 2013; Remschmidt et al. 2012). Für kritische Betrachter der Diagnose sowie des Störungsbildes AD(H)S erweckt es jedoch den Anschein, dass durch die gängige Verwendung dieses Kürzels eine vereinfachte Kategorie geschaffen wurde, um eine Vielzahl von normabweichenden Verhaltensmustern in diese Störungsgruppe einzuordnen, die aber letztlich recht heterogen sind (Dörpinghaus 2009, 23 f).

Des Weiteren findet sich in der Fachliteratur, synonym zum Begriff AD(H)S, die Bezeichnung »psychoorganisches Syndrom« (Preuss & Stümpfig 2010, 97) mit dem dazugehörigen Akronym POS, welches aber bis zum heutigen Tag ausschließlich in der Schweiz verwendet wird. Zudem nehmen einige Autoren in Bezug auf AD(H)S Begriffsneuschöpfungen vor – wie beispielsweise: »Mozart-Edison-Syndrom« (Brandau & Kaschnitz 2008, 17) oder die »Hypies« (Dietz 2006, 21; Harland 2003, 18; Schaupp 2009, 177). Mit solchen Umschreibungen wird die Absicht verfolgt, die Schwierigkeiten und Defizite der Betroffenen in den Hintergrund der Diskussion zu rücken und stattdessen deren Stärken zu betonen. Diese ressourcenorientierten Bezeichnungsformen scheinen bei einem von Autoren und Klassifikationssystemen so defizitär betrachteten Phänomen wie AD(H)S auf den ersten Eindruck durchaus nachvollziehbar zu sein. Bei einer genaueren wissenschaftlich orientierten Betrachtung fällt jedoch auf, dass diese Bezeichnungen ähnlich wie der Begriff »verhaltensoriginell« (Streßler 2008, 18; Neuhaus 2009, 108) dazu führen, empirisch nicht bzw. nicht eindeutig zu belegende positive Eigenschaften von Kindern und Jugendlichen mit AD(H)S in den Vordergrund zu rücken (image Kap. 1.3). Dabei werden gleichzeitig die Schwierigkeiten, die sich in vielerlei Hinsicht für die betroffenen Kinder und Jugendlichen und für deren Umfeld in der schulischen und häuslichen Praxis ergeben, verschleiert – eine Folge, die letztlich für keine Seite wirklich hilfreich ist.

 

1.1       AD(H)S – ein klar definiertes und anerkanntes Störungsbild?

 

Die Mehrzahl der Autoren vertritt den Standpunkt, »dass AD(H)S und Hyperkinetische Störungen unzweifelhaft als Verhaltensstörungen mit Krankheitswert« (Biegert 2004, 73) anzuerkennen sind.

Als Gegenargument zu den in den letzten Jahren aufgekommenen Vorwürfen, AD(H)S sei eine »Modekrankheit« bzw. »Modediagnose« (Tschauer & Feuz 2011, 59 ff; Leuzinger-Bohleber 2006, 11 ff), wird häufig die Figur des »Zappelphilipp« als Prototyp eines Kindes mit AD(H)S angeführt, welcher bereits im Jahr 1844 vom späteren Psychiater Hoffmann in seinem Urmanuskript des Kinderbuches »Struwwelpeter« erschaffen wurde (Gawrilow 2013, 17). Diese Bildergeschichte belege »anschaulich, dass es die Kinder […] immer schon gab« (Hoberg 2013, 13). Ebenso beschreibt Hoffmann in diesem Werk Geschichten des »Hanns Guck-in-die Luft«, der in aktuellen Literaturbeiträgen als klassisches »Träumerchen« (Schäfer & Gerber 2007, 22), als »vorwiegend unaufmerksamer Typ« (Tücke 2005, 285) betrachtet sowie mit dem Diagnosekürzel »ADS« (Harland 2003, 17) versehen wird. In der Folgezeit des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Kinder, denen vermutlich heutzutage die Diagnose AD(H)S zukommen würde, als »zappelig, impulsiv, ablenkbar, streitsüchtig, ungehorsam, rebellisch und antisozial« beschrieben (Vernooij 1992, 11).

Als nachweislicher Ursprung der wissenschaftlichen Anerkennung der Störungskategorie AD(H)S wird in vielen Beiträgen auf das Jahr 1902 und den englischen Pädiater und Professor für Kinderkrankheiten Sir George Frederic Still verwiesen (Krause & Krause 2009, 13; Müller et al. 2011, 34; Rothenberger & Neumärker 2005, 17 ff). Still (1902) habe anhand von 23 Fallgeschichten von ihm behandelter Kinder die heute gültigen Kernsymptome Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität beschreiben können (Gawrilow 2013, 18). Als Ursache für die beschriebenen Verhaltenssymptome machte er einen »defect of moral control« (Still 1902, 1009) verantwortlich, welchen er auf eine feine organische Hirnschädigung zurückführte. Historisch besonders erwähnenswert waren in der Folgezeit die Erkenntnisse der beiden Psychologen Strauss & Lehtinen (1947), die ein Buch über Kinder mit einer Hirnhautverletzung veröffentlichten und dabei Zusammenhänge zwischen Schädigungen im Zentralnervensystem und Verhaltensstörungen aufzeigen konnten (Myschker & Stein 2014, 471). Hieraus entwickelte sich für Kinder mit unaufmerksamen, hyperaktiven und impulsiven Verhaltensweisen die damalige Störungsbezeichnung einer »minimalen Hirnschädigung« (»minimal brain injury«, »minimal brain damage«) (Müller et al. 2011, 36). Mit Beginn der 1960er Jahre geriet die Bezeichnung »minimale Hirnschädigung« verstärkt in die Kritik, da bei mehreren betroffenen Kindern keine Schädigung des Gehirns gefunden werden konnte und es als unzulässig angesehen wurde, organische Schädigungen aufgrund von beobachtbaren Verhaltensweisen zu erschließen (Kessler 1980, zit. n. Myschker & Stein 2014, 473). Dementsprechend einigte man sich 1966 darauf, den »Schädigungsbegriff« durch einen »Funktionsstörungsbegriff« und die Bezeichnung »Minimal cerebral Dysfunction«, »Minimale cerebrale Dsyfunktion« (MCD) zu ersetzen (Heinemann & Hopf 2006, 9 f; Stiehler 2007, 4). Bis in die 1970er Jahre wurde in Deutschland das Kürzel MCD synonym zu den Begriffen Hyperaktivität und hyperkinetisches Syndrom verwendet. In den 1970er Jahren verlor dann das Konzept der MCD wegen fehlender wissenschaftlicher Befunde an Bedeutung (Rothenberger & Neumärker 2005, 33) – genauer gesagt zeigte eine Forschergruppe um Laucht, Eisert & Esser (1986) auf, dass bei ca. 75% der Kinder mit normaler bis höherer Intelligenz (IQ = 85) trotz nachgewiesener cerebraler Dysfunktion keine psychiatrischen Auffälligkeiten gefunden werden konnten, während wiederum bei etwa 80% der psychiatrisch auffälligen Kinder keine Hirnfunktionsstörung feststellbar war. Im Jahr 1980, mit der Veröffentlichung des DSM-III durch die APA (American Psychiatric Association), kam es infolgedessen zu einer Veränderung der Diagnosebezeichnung in »Attention Deficit Disorder« mit der Differenzierung in die beiden Subtypen »with or without hyperactivity« bzw. ADD-H (ADS) und ADD+H (AD(H)S) (Rothenberger & Neumärker 2005, 37; Müller et al. 2011, 37). Das DSM-III brachte darüber hinaus noch eine weitere Neuerung mit sich, indem erstmalig genaue Kriterien bestimmt wurden, die einer Diagnose zugrunde zu legen wären (Müller et al. 2011, 37). Es folgte im Jahr 1987 eine Revision des DSM-III, die es vorsah, auf den Subtyp »without hyperactivity« weitestgehend zu verzichten, weil man der Ansicht war, dass Aufmerksamkeitsstörungen gewöhnlich mit Hyperaktivität einhergehen (Krause & Krause 2009, 3). Aus diesem Grund wurde die »reine« Aufmerksamkeitsstörung in die Restkategorie »Undifferentiated ADD« verschoben, was wiederum zu einer weiteren und bisher letzten Namensänderung im DSM führte: »Attentiondeficit-Hyperactivity Disorder« (Müller et al. 2011, 37). Verglichen mit dieser begrifflichen Weiterentwicklung und dem Wechsel vom Fokus auf Hyperaktivität zum Aufmerksamkeitsdefizit im DSM blieb es im Klassifikationssystem der ICD (International Classification of Diseases) der WHO (World Health Organization) seit der ersten Aufnahme des Störungsbildes im Jahr 1974 bei einer Betonung der Hyperaktivität, sodass auch in der aktuellen Einteilung der ICD-10 die Bezeichnung »Hyperkinetische Störungen« (HKS) lautet (Remschmidt et al. 2012, 33). Somit wird hier die Diagnose »AD(H)S« nicht gestellt, sondern ist nur für das DSM gültig.

1.1.1     Definition und Klassifikation von AD(H)S

Beide international gültigen Klassifikationssysteme sind kategorial angelegt, d. h. es wird eine Entscheidung getroffen, ob eine Störung bzw. Krankheit vorliegt oder nicht. Dabei wird sowohl im DSM-5 als auch in der ICD-10 eine primär deskriptive Einteilung verfolgt, also in Unabhängigkeit von bestimmten Erklärungskonzepten und Theorien. Im Hinblick auf AD(H)S werden verschiedene Verhaltensauffälligkeiten bestimmten (Haupt-)Symptomen zugeordnet, um bei der Gesamtbeurteilung zu entscheiden, ob die Diagnose AD(H)S erfüllt ist. Angesichts ihrer deskriptiven Ausrichtung sind beide Klassifikationssysteme weder in der Lage, genauere Aussagen über die Ätiologie von AD(H)S zu treffen, noch direkte Hinweise für das pädagogische und didaktische Handeln zu geben (Staufenberg 2011, 30).

Übereinstimmend gehen sowohl DSM-5 für die Diagnose »Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung« (314) als auch ICD-10 für das Vorliegen von »Hyperkinetischen Störungen« (F90.0) vom Vorhandensein der drei Kernsymptome »Unaufmerksamkeit, motorische Unruhe und Impulsivität« aus (Lehmkuhl & Döpfner 2008, 215). In der Langfassung der Stellungnahme der Bundesärztekammer (2005) zur »Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung« werden die drei Hauptsymptome wie folgt dargestellt:

•  Die Aufmerksamkeitsstörung zeigt sich durch eine fehlende Ausdauer bei Leistungsanforderungen sowie in der Neigung, nicht bei der zu bearbeitenden Aufgabe zu bleiben und stattdessen zu anderen Tätigkeiten zu wechseln.

•  Die Hyperaktivität wird als »unruhiges Verhalten, insbesondere mit der Unfähigkeit, stillsitzen zu können« beschrieben (Bundesärztekammer 2005, 5).

•  Kennzeichnend für die Impulsivität sind »abrupte[n] motorische[n] und/oder verbale[n] Aktionen, die nicht in den sozialen Kontext passen« (ebd.).

In beiden Klassifikationssystemen werden ähnliche zentrale Kriterien aufgelistet, die für die Diagnose Voraussetzung sind. Die erste Bedingung ist, dass die auftretende Symptomatik nicht dem zu erwartenden Entwicklungsstand entspricht, situationsübergreifend und in einem »abnormen Ausmaß« (Lehmkuhl & Döpfner 2008, 215) in Erscheinung tritt. Neben dem Grad der Ausprägung ist der frühe Beginn der Störung vor dem sechsten (ICD-10) bzw. zwölften Lebensjahr (DSM-5) sowie das konstante Auftreten der Symptome über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten maßgeblich (ICD-10 sowie DSM-5).

Zudem sollte die Störung in zumindest zwei Lebensbereichen gleichbleibend vorkommen – z. B. in der Schule, Familie, im Kindergarten oder im Unterricht (Lehmkuhl & Döpfner 2008, 215). Aufgrund der hohen Komorbiditätsrate (image Kap. 1.1.3) von AD(H)S ist für beide Klassifikationssysteme eine gründliche Differentialdiagnose erforderlich (Lehmkuhl & Döpfner 2008, 215; Quaschner et al. 2011, 158). Hier gilt es auszuschließen, dass die auftretenden Symptome nicht vordergründig auf andere psychische Störungsbilder zurückzuführen sind – wie beispielsweise affektive Störungen, Angststörungen oder Störungen des Sozialverhaltens.

Klassifikation der Störung nach dem DSM-5

Im Klassifikationssystem des DSM-5 unterscheidet man drei »Präsentationen« von AD(H)S. Zunächst ist die »reine« Aufmerksamkeitsstörung, die vorwiegend unaufmerksame Präsentation zu nennen (APA 2013, 60). Die Betroffenen scheinen dauernd verträumt, den Faden zu verlieren und fallen durch ein langsames und eher introvertiertes (Arbeits-)Verhalten auf (Frölich et al. 2014, 15). Voraussetzung für die Diagnose ist, dass die Kriterien für Hyperaktivität und Impulsivität nicht erfüllt, jedoch sechs (oder mehr) Symptome der Unaufmerksamkeit vorhanden sind (APA 2013, 60). Zweitens soll davon die vorwiegend hyperaktiv-impulsive Präsentation mit vorherrschenden hyperaktiven und impulsiven Verhaltenssymptomen abgegrenzt werden. Hierunter sind Personen zu verstehen, die ein erhöhtes Defizit an motorischer, kognitiver und emotionaler Selbstkontrolle aufweisen, dabei jedoch keine Kriterien einer Aufmerksamkeitsstörung erfüllen (Frölich et al. 2014, 16 ff). Insofern dürfen für diese Gruppe weniger als sechs Symptome von Unaufmerksamkeit und gleichzeitig mindestens sechs Symptome aus den Bereichen Hyperaktivität und Impulsivität erfüllt sein. Drittens konstituiert sich in dieser Systematik aus der Kombination der beiden beschriebenen Symptomebenen die kombinierte Präsentation, bei der sowohl wenigstens sechs Symptome der Unaufmerksamkeit als auch mindestens insgesamt sechs Symptome aus Hyperaktivität und Impulsivität bestehen müssen (APA 2013, 60). Neben diesen drei Symptompräsentationen wird eine Restkategorie einer nicht näher bezeichneten AD(H)S vorgesehen, die gewählt werden kann, wenn einzelne Kriterien nicht vollständig erfüllt sind (ebd., 66).

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Abb. 1: Präsentationen der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung nach DSM-5 (APA 2013, 60).
C = Combined presentation; H/I = Predominantly hyperactive/impulsive presentation; I = Predominantly inattentive presentation

Klassifikation der Störung nach der ICD-10

In der ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 2013 wird die Kategorie der »Hyperkinetischen Störungen« zunächst in die beiden größeren Subtypen F90.0 »Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung« und F90.1 »Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens« ausdifferenziert. Für die Diagnose einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung müssen neben einer Aufmerksamkeitsstörung auch situationsübergreifende Störungen der Aktivität und Impulskontrolle vorliegen.

Insgesamt müssen mindestens sechs Kriterien aus dem Kardinalbereich Unaufmerksamkeit, drei Kriterien aus dem Gebiet Überaktivität und ein Kriterium der Impulsivität erfüllt sein, damit eine »Einfache Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung« (F90.0) diagnostiziert werden kann. Von einer »Hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens« (F90.1) kann gesprochen werden, wenn zusätzlich eine Störung des Sozialverhaltens feststellbar ist. Dies betrifft überdauernde Verhaltensgewohnheiten, bei denen »entweder die Grundrechte anderer Menschen oder altersentsprechende Normen und Gesetze verletzt werden« (Freitag 2007, 74).

Neben diesen beiden großen Gruppen »Hyperkinetischer Störungen« (F90) tauchen in der ICD-10, wie bei vielen anderen Störungsformen, zwei weitere Restkategorien (F 90.8, F 90.9) auf, die jedoch bei einer Vielzahl der Autoren keinerlei Berücksichtigung finden (u. a. Freitag 2007; Brandau & Kaschnitz 2008; Lehmkuhl & Döpfner 2008). Diese »völlig unspezifischen« Restkategorien (Heinemann & Hopf 2006, 11) sorgen bei den Autoren für Uneinigkeit im Hinblick auf die Einteilung einer »Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität«. Während Heinemann & Hopf (ebd.) die davon Betroffenen unter F90.8, »Sonstige hyperkinetische Störungen«, zuordnen würden, weisen Altherr (2000, 197), Müller et al. (2011, 11) sowie Krause & Krause (2009, 4) darauf hin, dass eine »Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität« vielmehr der Unterkategorie F98.8, »Sonstige näher bezeichnete Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend«, zuzuweisen sei. Für diese Sichtweise spricht, dass neben Symptomen wie Nägelkauen, Daumenlutschen, Nasebohren und exzessiver Masturbation in dieser Gruppierung tatsächlich die »Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität« aufgelistet ist. Letzte Untergruppe sind die unter F90.9 angeführten »nicht näher bezeichneten hyperkinetischen Störungen« – eine nach Steinhausen (2000, 13) »nicht zu empfehlende Restkategorie«, »die nur verwendet werden soll, wenn die Differenzierung zwischen F90.0 und F90.1 nicht möglich ist, die allgemeinen Kriterien für F90 aber erfüllt sind«.

1.1.2     Epidemiologie

In der wissenschaftlichen Literatur begegnet man teilweise sehr unterschiedlichen Häufigkeitsangaben zum Störungsbild AD(H)S. Lauth & Schlottke (2009, 19) führen diese Heterogenität der Prävalenzraten in Studien vor allem auf folgende Faktoren zurück:

•  Untersuchungskriterien

•  Untersuchungsinstrumente

•  Beurteilerquellen

•  untersuchte Stichproben

Sie weisen darauf hin, dass höhere Häufigkeitsangaben vor allem dann entstehen, wenn lediglich eine einzelne Beurteilerquelle erhoben wird und wenn unspezifische Messinstrumente zum Einsatz kommen. Zudem kann festgestellt werden, dass sich in Abhängigkeit des verwendeten Klassifikationssystems verschiedene Prävalenzraten von AD(H)S ergeben. Die differenzierte Aufteilung in unterschiedlichen Subtypen im DSM hat zur Folge, dass die Häufigkeitsangaben von HKS nach ICD-10 mit 1–3% deutlich geringer ausfallen als diejenigen von AD(H)S nach DSM-IV, welche bei etwa 4–8% der Schulkinder zwischen 6 und 14 Jahren liegen (Quaschner & Theisen 2008, 157). Die weltweite Prävalenz von AD(H)S wird nach einer Metaanalyse von Polanczyk et al. (2007) auf 5,29% beziffert.

Eine in Deutschland häufig zitierte Studie zur Prävalenz von AD(H)S ist der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey des Robert Koch-Instituts, welcher von den Bundesministerien Gesundheit sowie Bildung und Forschung finanziert wird (KIGGS; Schlack et al. 2007). Im Rahmen dieser Untersuchung wurde eine schriftliche Elternbefragung von insgesamt 7569 Jungen und 7267 Mädchen im Alter von 3–17 Jahren aus 167 deutschen Städten und Gemeinden durchgeführt (Schlack et al. 2007, 828). Im KIGGS wurden die Eltern zunächst danach gefragt, ob bei ihrem Kind jemals eine AD(H)S diagnostiziert wurde und von welcher professionellen Personengruppe (Arzt oder Psychologie) diese Diagnose gestellt wurde. Zusätzlich wurden die Eltern gebeten, ihr Kind auf der Subskala »Unaufmerksamkeit/Hyperaktivität« des Fragebogeninstruments Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ) (Goodman et al. 2000) zu bewerten – um neben dem Anteil an klinisch diagnostizierten Kindern auch die Häufigkeit von AD(H)S-Verdachtsfällen einschätzen zu können. Nach Angaben der Eltern haben durchschnittlich 4,8% der Kinder und Jugendlichen in Deutschland eine offiziell anerkannte klinische Diagnose einer AD(H)S erhalten (Schlack et al. 2007, 830), wobei für Jungen mit einer Prävalenz von 7,9% ein deutliches Übergewicht im Vergleich zu Mädchen mit nur 1,8% festzustellen ist. Des Weiteren weisen die Ergebnisse des KIGGS darauf hin, dass die Häufigkeit der Diagnose AD(H)S in Deutschland abhängig vom sozialen Status ist. So ist bei Heranwachsenden aus Familien mit niedrigem sozialen Status die Anzahl der von Eltern wiedergegebenen klinisch bestätigten AD(H)S-Diagnosen (6,4%) signifikant größer als bei der Vergleichsgruppe mit mittlerem (5,0%) und hohem sozialen Status (3,2%) & diese Unterschiede werden durch eine neue Erhebungswelle bestätigt (Schlack et al. 2014). Außerdem wird bei Familien mit Migrationshintergrund seltener von dem Vorliegen einer klinischen Diagnose einer AD(H)S berichtet (3,1%) als in Familien ohne Migrationshintergrund (5,1%), wobei Eltern mit Migrationshintergrund häufiger vom Verdacht einer AD(H)S bei ihrem Kind berichten als Eltern aus Familien ohne Migrationshintergrund (Schlack et al. 2007, 831).

Die ermittelte Häufigkeit von 4,8% an Kindern und Jugendlichen mit einer klinischen AD(H)S-Diagnose deckt sich größtenteils mit den Ergebnissen von internationalen Studien. So wurde beispielsweise anhand einer umfassenden Bestandsaufnahme von Ihle & Esser (2002), in der die Autoren einen Überblick über 19 internationale Studien von 1970 bis 2000 zur Prävalenz von psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter geben, die durchschnittlichen Prävalenz von AD(H)S auf 4,4% beziffert. Bei der Auswahl der Studien wurden repräsentative und große Stichproben herangezogen, die entweder die Kriterien der ICD-9/ICD-10 oder des DSM-III/DSM-IV erfüllen konnten. Bemerkenswerterweise ermittelte diese Metaanalyse für die in der öffentlichen Wahrnehmung weitaus weniger präsenten Angststörungen eine Häufigkeit von 10,4%, und zudem lag Depressivität bei Kindern und Jugendlichen hier gleichauf mit AD(H)S.

Was die Persistenz des Störungsbildes AD(H)S betrifft, ist man innerhalb der letzten Jahre in der wissenschaftlichen Forschung davon abgerückt, dass AD(H)S mit dem Jugendalter bzw. spätestens mit dem Erwachsenenalter schrittweise verschwinde. Laut Längsschnittstudien bleibt AD(H)S zu 33–66% bis ins Erwachsenenalter bestehen (Gawrilow 2009, 17). Verbunden mit der Persistenz von AD(H)S ins Erwachsenenalter hinein ist zumeist ein negativer Entwicklungsverlauf von Menschen mit Diagnose AD(H)S zu beobachten (Lauth & Schlottke 2009, 28 ff).

Bei den Angaben zur Prävalenz von AD(H)S blieb bisher unerwähnt, dass sich zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht erhebliche Unterschiede ergeben. Dem unausgewogenen Geschlechterverhältnis bei AD(H)S soll sich ein kurzer Exkurs widmen, da in der Literatur verschiedene Auffassungen darüber bestehen, welche Gründe für diese ungleiche Verteilung verantwortlich sind.

Exkurs: Unausgewogenes Geschlechterverhältnis bei AD(H)S

In allen epidemiologischen Untersuchungen zeigt sich eine deutliche Überrepräsentierung von Jungen (Quaschner et al. 2011, 158). Als Gründe für die ungleiche Häufigkeitsverteilung werden vordergründig genetische Ursachenfaktoren angeführt.

In diesem Zusammenhang weisen viele Autoren auch auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede hinsichtlich der Ausprägung von AD(H)S hin. Im Vergleich zu ihren männlichen Altersgenossen zeigen Mädchen zumeist weniger bis keinerlei Symptome im Bereich der motorischen Unruhe, sondern wirken eher »verträumt« bzw. »hypoaktiv« (Simchen 2007, 14), was eher einer Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität und Impulsivität zuzuordnen wäre (Imhof et al. 2007, 12). Da sich das Verhalten der Mädchen in der Regel nicht so sehr nach außen richtet, wird in der Literatur diskutiert, ob AD(H)S bei Mädchen teilweise übersehen werde (Müller et al. 2011, 10) und ob dies eine mögliche Ursache für den geringen Anteil von Mädchen mit AD(H)S sein könnte (Imhof et al. 2007, 12; Preuss & Stümpfig 2010, 41). Dafür spräche, dass bei Fehlen bzw. einer schwächeren Ausprägung der Kernsymptome Impulsivität und Hyperaktivität das Kardinalsymptom der Unaufmerksamkeit weniger auffällt. Ferner können auch die geschlechtsspezifischen Unterschiede hinsichtlich der Komorbidität bei AD(H)S eine mögliche Erklärung für die häufigere AD(H)S-Diagnose bei Jungen sein. Während bei Jungen eher andere externalisierende Verhaltensstörungen wie Störungen des Sozialverhaltens komorbid auftreten, neigen Mädchen mit AD(H)S zu internalisierenden Störungen wie Angststörungen oder depressiven Erkrankungen, die nicht so augenscheinlich zutage treten (Gawrilow 2009, 67). Eine differenzierte Auseinandersetzung mit der genetischen Ursachenerklärung und anderen zentralen Erklärungstheorien zu AD(H)S findet sich in Kapitel 3.

1.1.3     Komorbidität

Sowohl nationale als auch internationale Forschungsbefunde zeigen auf, dass AD(H)S ohne Begleitung von anderen psychischen Störungen eher als Ausnahme bezeichnet werden kann (Gawrilow 2012, 31 ff). Ein Studienergebnis von Lavigne und Kollegen (1996) weist beispielsweise darauf hin, dass bereits im Vorschulalter 90% der Kinder mit AD(H)S die Kriterien einer komorbiden Störung erfüllen. Von ähnlichen, wenn auch nicht ganz so eindeutigen Zahlen berichten Döpfner und Kollegen (2013, 7), Gawrilow (2012, 31) und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA 2010, 16), wonach bei etwa zwei Drittel aller Kinder mit AD(H)S Doppel- bzw. Mehrfachdiagnosen vorliegen. Den größten Anteil in empirischen Untersuchungen haben dabei Störungen des Sozialverhaltens mit oppositionellem Trotzverhalten. Gefolgt davon sind Störungen des Sozialverhaltens ohne eine oppositionelle Verhaltensstörung sowie affektive Erkrankungen, insbesondere depressive Störungen sowie Angststörungen, Tic-Störungen und Teilleistungsstörungen (Döpfner et al. 2013, 7; BzgA 2006, 16).

Tab. 1: Die häufigsten komorbiden Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit AD(H)S und ihre jeweiligen Prävalenzraten (aus Döpfner et al. 2013, 7)

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Wie Tabelle 1 zu entnehmen ist, tritt bei etwa der Hälfte der Kinder und Jugendlichen mit AD(H)S eine oppositionelle Störung des Sozialverhaltens auf. Typische oppositionelle Verhaltensweisen sind beispielsweise das Nicht-Befolgen von Regeln und Anweisungen, das Beschuldigen von anderen Personen für eigene Fehler sowie eine erhöhte Tendenz, mit Gleichaltrigen und Erwachsenen zu streiten und diese zu ärgern (Wyschkon & Esser 2007, 42). In 30–50% der Fälle wird bei Kindern und Jugendlichen mit AD(H)S eine Störung des Sozialverhaltens diagnostiziert. Hierunter sind schwerwiegende dissoziale Verhaltensweisen zu verstehen, wie körperliche und verbale Aggressionen gegenüber anderen Personen (ebd.). Neben diesen externalisierenden Begleitproblemen weisen Kinder und Jugendliche mit AD(H)S auch einen erheblichen Anteil an depressiven Störungen und Angststörungen auf (bis zu 40%). Die Zusammenhänge zwischen AD(H)S und diesen internalisierenden Problematiken werden u. a. auf (schulische) Misserfolgserlebnisse und Schwierigkeiten in den sozialen Beziehungen zurückgeführt, welche sich in negativer Art und Weise auf das Selbstwertgefühl und die Selbstwirksamkeit auswirken (Döpfner et al. 2013, 8). Bei etwa einem Drittel der Kinder und Jugendlichen mit AD(H)S liegt zudem eine Tic-Störung vor, welche ebenfalls mit psychosozialen Beeinträchtigungen einhergeht (Frölich et al. 2014, 26). An dieser Stelle sei der Hinweis gegeben, dass 70% der Personen, die unter Tic-Störungen leiden, gleichzeitig AD(H)S aufweisen (ebd.). Dies könnte so interpretiert werden, dass das Unterdrücken von Tic-Störungen aufgrund von Schamgefühlen auch umgekehrt AD(H)S-typische Verhaltensweisen hervorrufen mag (ebd.). 10–40% der Kinder und Jugendlichen mit einer AD(H)S-Diagnose wiesen umschriebene Entwicklungsstörungen, Lernstörungen und Teilleistungsstörungen auf. Neben fein- oder grobmotorischen Defiziten sind hierunter Lese-Rechtschreib-Störungen, Dyskalkulie und Störungen der sprachlichen Entwicklung zu nennen.

Schwenck et al. (2007, 28) weisen auf die Bedeutung des Vorliegens von komorbiden Störungen hin, da diese den Schweregrad und die Prognose negativ beeinflussen. Sie zeigen auf, dass eine komorbide Problematik sowohl hauptursächlich durch AD(H)S bedingt sein als auch unabhängig davon entstehen kann. Das Auftreten einer Begleitstörung modifiziert das Erscheinungsbild von AD(H)S und erschwert dadurch einerseits die Diagnose, erhöht andererseits die Persistenzrate der Störung bis ins Erwachsenenalter (ebd.).

Zusammenfassend lässt sich in Anlehnung an Wyschkon & Esser (2007, 48) feststellen, dass Störungen des Sozialverhaltens die häufigste Begleitstörung von AD(H)S sind und besonders ungünstige Auswirkungen auf den Entwicklungsverlauf dieser Kinder und Jugendlichen haben: »Kinder mit dieser Kombination sind in hohem Maße gefährdet, sich ungünstig zu entwickeln, und zwar sowohl hinsichtlich späterer delinquenter Handlungen, im Hinblick auf Substanzmissbrauch im Jugendalter, in Bezug auf die schulische Entwicklung als auch bezüglich ihres Funktionierens in der Familie und ihrer Einbindung in die Peer-Group« (ebd.).

 

1.2       AD(H)S – ein unscharf formuliertes Störungsbild?

 

Der Position, AD(H)S vollständig als Krankheitsbild zu sehen, steht eine in den letzten Jahren deutlich gewachsene Anzahl von Autoren gegenüber, die Zweifel an der Diagnosestellung von AD(H)S äußern und sie stattdessen als »Modediagnose« bezeichnen. Jene Vertreter richten sich vereinzelt deutlich gegen eine neurobiologische Ursachenerklärung von AD(H)S, wobei ihre Kritik hauptsächlich die Definition des Störungsbildes AD(H)S und die in den letzten Jahrzehnten gestiegenen Raten von AD(H)S-Diagnosen, somit die damit in Verbindung stehenden pharmakologischen Interventionsmaßnahmen betrifft.

1.2.1     Aufmerksamkeitsdefizit – eine unscharf formulierte Variable?

Im Fokus verschiedener Kritiker des Störungsbildes AD(H)S steht das Kernsymptom der Unaufmerksamkeit. Dabei wird auf eine unzureichend genaue Auseinandersetzung mit den heterogenen Zuständen von Aufmerksamkeit hingewiesen. Das Phänomen Aufmerksamkeit wird in den medizinischen Klassifikationssystemen sowie in den meisten Literaturbeiträgen zu AD(H)S als ein homogener Kernbereich wiedergegeben, ohne dabei eine Abgrenzung zum eng verwandten Konzept Konzentration vorzunehmen, wie sie z. B. Resch et al. (1999), Scharfetter (2002, 142) und Stiehler (2007) vollziehen (auch schon: Kleber & Stein 1993). Scharfetter (2002, 142) zufolge meint Aufmerksamkeit »die Ausrichtung (aktiv, passiv) des Bewusstseins auf ein Erfahrenes«, während Konzentration »das versammelte Dabeibleiben« ist. In diesem Sinne haben sowohl Aufmerksamkeit als auch Konzentration etwas mit Wachheit für Geschehnisse innerhalb des Wahrnehmungsfeldes zu tun, wobei Konzentration im Sinne von Resch (1999, 331) und Stiehler (2007, 10) als eine eigene und spezielle