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Utta Danella

Stella Termogen

oder
die Versuchungen der Jahre

Roman

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Regina auf den Stufen

978-3-95751-200-0

München im Jahre 1955. Der Zufall führt in der Silvesternacht zwei Menschen zusammen: Regina, die aus Dresden in den Westen geflohen ist, und der ehemalige Kriegsgefangene Martin, der nach zehn Jahren wieder nach Hause zurückkehrt. Beide haben sie von diesem Moment geträumt, aber für beide bricht nach der Konfrontation mit der Realität eine Welt zusammen. Martins Frau lebt inzwischen mit einem anderen Mann zusammen, und Regina ist bei ihren Westverwandten nicht willkommen. Ihre Einsamkeit bringt Regina und Martin zusammen, doch Regina macht als Model Karriere, und bald müssen sie sich wieder voneinander trennen. Aber Regina merkt schnell, dass sie die Welt der Modenschauen, Partys und Flirts nicht glücklich machen kann; das vermag nur ganz bestimmter Mensch: Martin.

Die Autorin

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Utta Danella

Utta Danella ist mit 43 Romanen und einer Auflage von weltweit rund 70 Millionen Büchern die erfolgreichste deutschsprachige Schriftstellerin der Nachkriegszeit. Geboren am 18. Juni 1920 in Leipzig und aufgewachsen in Berlin, begeisterte sich Utta Danella (eigentlich Utta Denneler) früh für Theater, Oper und Musik und nahm neben der Schule Schauspielunterricht, Tanz- und Gesangstunden. Schon als 14jährige versuchte sie sich heimlich an einem ersten Roman. Nach dem Abitur schrieb sie Beiträge für verschiedene Zeitungen und für den Rundfunk. Sie zog später nach München und veröffentlichte 1956 ihren ersten Roman Alle Sterne vom Himmel, nachdem das ursprünglich über 1000 Seiten umfassende Manuskript um die Hälfte gekürzt worden war. Obwohl sich nur ein bescheidener Erfolg einstellte, drängte Verleger Franz Schneekluth die Autorin, für die er auch das Pseudonym erfand, ihre schriftstellerische Arbeit fortzusetzen. Und mit ihrem vierten Roman Stella Termogen gelang Utta Danella auch der Durchbruch: Die Auflage stieg rasch auf über 100.000 Exemplare. Von da an reihte sich ein Bestseller an den anderen. Utta Danella lebt heute nach wie vor in München. Im November 1998 verlieh ihr Bundespräsident Roman Herzog das Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Im Juni 2000 erwarb die Bavaria Film die Verfilmungsrechte an sämtlichen Danella-Romanen. Zahlreiche Romane wurden verfilmt. Die beliebte Autorin verstarb 2015 in München, im hohen Alter von 95 Jahren.

5

Schwester Marie hatte sich vorsorglich eine Woche Urlaub genommen, aber sie hatte eigentlich die Absicht gehabt, Stella nur abzuliefern, sich kurz umzusehen und wieder abzureisen. Doch sie blieb die ganze Woche lang. Vom ersten Moment an gefiel es ihr hier. Es war eine neue, eine fremde und wunderbare Welt, so schien es ihr. Und sie war tief befriedigt, dass sie die Idee gehabt hatte, Stella hierherzubringen. Erst recht, als sie sah, dass sich das Kind vom ersten Tag an wohlfühlte.

Stella lief neben Pieter Termogen her, als hätte sie ihn seit eh und je gekannt. Sie hatte nicht die geringste Scheu vor ihm. Sie begleitete ihn in den Stall, auf die Weiden, in das Dorf.

Am vierten Tag war es. Kapitän Termogen saß auf Tack und rief, halb im Scherz, zu Stella hinab: »Na, wie ist es, min Deern, willst du mitkommen? Ich reite ’rüber an den Strand.«

Und Stella nickte, ganz ernsthaft.

»Na, denn komm.« Der Kapitän beugte sich herab und hob sie zu sich aufs Pferd.

»Aber«, begann Schwester Marie. »Wenn sie bloß nicht ’runterfällt.«

»Warum soll sie denn runterfallen? Ich halte sie fest. Oder hast du Angst, min Deern?«

»Nein«, sagte Stella, die Lippen etwas zu fest zusammengepresst, aber Entschlossenheit im Blick.

»Denn man tau!«, rief der Kapitän, und Tack schritt mit weitem, zügigem Schritt zum Tor hinaus.

Schwester Marie blickte den Reitern besorgt nach.

»Keine Bange«, sagte Thies mit einem Lächeln. »Mein Vater ist ein guter Reiter. Er passt schon auf Stella auf.«

»Wenn du meinst.« Schwester Marie lächelte dem Jungen zu. »Dann wollen wir weiterlesen.« Sie kehrte zu ihrem Platz unter dem Holunderstrauch zurück.

Seit sie hier war, hatte sie viel Zeit mit Thies verbracht. Es war eine Überraschung gewesen, den kranken Jungen hier vorzufinden. Sie hatte sich keine Gedanken über die Familie Termogen gemacht. Nun sah sie, dass in dieser Familie, die nur noch aus Vater und Sohn bestand, das Leid zu Hause war. Sie war Leid und Krankheit gewohnt. Es hier zu finden, bekümmerte sie jedoch.

Thies blickte zu Christian hinüber, der noch am Hoftor stand und sehnsüchtig den Reitern nachblickte.

»He, Krischan!«, rief er. »Du solltest mitreiten. Nimm dir Borro. Mach schnell. Dann holst du sie noch ein.«

Christian trat zögernd einen Schritt auf ihn zu. »Meinst du?«, fragte er zweifelnd.

Er ritt für sein Leben gern. Aber meist unterdrückte er den Wunsch, weil er Thies nicht allein lassen wollte. Aber jetzt war ja die Schwester bei ihm. »Meinst du wirklich?«, fragte er noch einmal.

»Mach schon. Du weißt doch, Vadding sagt immer, du sollst ihm helfen, die Pferde zu bewegen.«

Wie ein Blitz schoss Christian in den Stall und machte sich gar nicht erst die Mühe, Borro zu satteln. Er legte ihm nur die Trense an, streifte ihm den Zügel über den Kopf und schwang sich auf den bloßen Pferderücken. Keine Minute dauerte es, da jagte er mit wehendem blondem Schopf Tack nach.

Schwester Marie blickte ein wenig ängstlich in Thies’ Gesicht. Sie bemerkte wohl den sehnsüchtigen Ausdruck in den dunklen Augen. Dann trafen sich ihre Blicke.

Plötzlich sagte der Junge leise, scheu, was er sonst nie gesagt hätte: »Ob ich wohl noch einmal gesund werde?«

Schwester Marie wich seinem Blick nicht aus. »Warum nicht? Wie ich gehört habe, hat sich dein Zustand doch schon sehr gebessert. Es dauert eben manchmal lange. Ich habe Fälle gekannt, da dauerte es viele Jahre, aber wenn die Besserung mal in Gang kommt, geht es plötzlich schnell. Und dann, Thies, vergiss eines nicht: Die Wissenschaft macht ja auch täglich Fortschritte.«

»Ja«, erwiderte Thies auf diese sachlich und ganz unsentimental gegebene Auskunft. »Ja, ich weiß. Es ist nur … Manchmal denke ich, es wird immer so bleiben wie jetzt.«

»Das weiß man nicht. Aber wenn es so bleibt, dann musst du damit fertigwerden. Und eins will ich dir sagen, Thies, es gibt zwei Dinge, die dir sehr dabei helfen. Einmal, dass du klug bist, dass du ein Mensch bist, der denken und lernen kann und gerne liest und der sich dadurch eine eigene Welt aufbauen kann. Und dann das zweite, dass du hier leben kannst, in der freien Natur, hier …«, sie wies mit einer Handbewegung über den blühenden Garten ringsumher, »hier dies alles. Hier ist es grün, es blüht, die Vögel singen, und du siehst den Himmel über dir. Denk einmal, wenn ein Mensch sich nicht rühren kann und er lebt dann in der Stadt in einem engen Zimmer, vielleicht in einem Hinterhof, wo er keinen Himmel sieht und nie eine Blume … Das ist noch viel schlimmer. Und noch etwas wollen wir nicht vergessen: Dein Vater ist immerhin ein wohlhabender Mann, er kann viel für dich tun, was dir das Leben erleichtert.«

»Ja«, sagte Thies leise, »ja, schon. Aber …«

»Natürlich, das ist alles kein Ersatz für Gesundheit. Aber es ist in deiner Lage eine Erleichterung. Du kannst es mir glauben. Ich habe in meinem Beruf unendliches Elend gesehen. Gerade in der Großstadt. Darum sehe ich auch hier alles, was für dich eine Selbstverständlichkeit ist, mit anderen Augen.«

»Ja«, sagte Thies wieder. Er ließ jetzt auch seinen Blick über den Garten schweifen. »Ja. Es ist wenigstens ein schöner Käfig. Das meinen Sie doch.«

»Ein Käfig wird es nur, wenn du einen daraus machst«, sagte Schwester Marie. »Ich habe dir ja schon gesagt, du hast einen Kopf, und der muss dir helfen, dass dir kein Käfig wächst.«

»Ja«, lächelte Thies, »das hier zum Beispiel, nicht?« Er hob das Buch hoch, das er im Schoß liegen hatte. Es war ein Band Karl May.

Schwester Marie lächelte auch. »Das auch. Jetzt noch. Später wirst du anderes finden. Aber ich gestehe, es macht Spaß, das zu lesen.«

Schwester Marie hatte auch einen Band Karl May in der Hand. Es war ihre erste Begegnung mit diesem Schriftsteller, und sie hatte ihren ehrlichen Spaß daran. Eine Weile lasen sie schweigend. Plötzlich sagte Thies: »Wissen Sie, was ich möchte?«

»Nun?«

»Ich weiß nicht, ob ich es kann. Aber wenn ich es könnte … Ich möchte später auch einmal Bücher schreiben.«

»Wenn du es kannst, dann wäre das keine schlechte Sache. Gerade für dich.«

Alle bedauerten es sehr, als Schwester Marie abreisen musste. Auch ihr selbst fiel der Abschied schwer.

»Aber gleich wenn der nächste Urlaub fällig ist, dann sind Sie wieder hier, Schwester Marie, noch? Das haben Sie versprochen«, sagte Kapitän Termogen.

»Ja.« Schwester Marie lachte hell und vergnügt. »Ich komme gern. Es war so schön hier. Und ich freue mich schon auf das Gesicht von meinem Oberarzt, wenn ich ihm von hier erzähle. Der macht nämlich immer hier Urlaub.«

Ihre gesamte Zuhörerschaft nickte beifällig über diese erfreuliche, wenn auch nicht gerade neue Mitteilung. Denn dass Oberarzt Dr. Möller auf Sylt seine Ferien verbrachte, hatte Schwester Marie jeden Tag mindestens einmal erzählt.

Die ganze Familie begleitete sie ans Schiff. Christian saß mit auf dem Bock, Stella und Thies hinten bei Schwester Marie im Wagen.

Als die Fähre ablegte, denn Schwester Marie fuhr diesmal über Hoyerschleuse zurück, hatte sie Tränen in den Augen. Wie glücklich sie war, dass Stella hier sein durfte. Und es gab gar keinen Zweifel, schon in der kurzen Zeit hatte sich das Kind erholt, es hatte rote Wangen bekommen und ein wenig zugenommen.

6

Stellas erster Inselsommer. Die Zeit verging wie im Flug. Jeder Tag war randvoll ausgefüllt, sie hätte immer zwei Dinge zu gleicher Zeit tun können. Stine in der Küche beim Kochen helfen oder mit Onkel Pieter zum Hafen nach Munkmarsch fahren und frische Fische einkaufen; bei Thies im Garten sitzen und lesen oder mit Christian in die Töpferwerkstatt gehen und zuschauen, wie er die Scheibe drehte; mit den jungen Kätzchen spielen oder die weißen Mäuse füttern; mit Christian über die Heide laufen oder einen Ausflug zu den Dünen machen; baden gehen oder mit Kapitän Termogen spazieren reiten. Wer hätte je gedacht, dass es so viele herrliche Dinge auf der Welt gab!

Als sie vier Wochen da war, konnte man sie kaum mehr von den anderen Kindern im Dorf unterscheiden. Barfuß, in einem kurzen grauen Röckchen und einem ärmellosen Mieder, das Stine genäht hatte, lief sie Hand in Hand mit Christian durchs Dorf. Ihre helle, zarte Haut hatte eine samtene Tönung angenommen, das kupferne Haar war von der Sonne heller geworden, goldene Lichter blitzten darin, und die Augen waren noch dunkler geworden, tief dunkelblau, und strahlten, wie sie nie zuvor gestrahlt hatten. Sie aß mit einem Appetit, der selbst Kapitän Termogen in Erstaunen versetzte und Stine tief befriedigte.

Christian hatte sich mit dem Besuch ausgesöhnt. Es handelte sich zwar nur um ein Mädchen, ein kleines Mädchen noch dazu, aber man konnte doch einiges mit ihr anfangen. Sie lief tapfer ins Wasser hinein, ohne sich vor noch so hohen Wellen zu fürchten, und wenn die Wellen sie überrollten und umwarfen, dann tauchte sie gleich wieder auf, schüttelte den roten Schopf und stürzte sich der nächsten Welle entgegen. Wenn das Meer ruhig war, erteilte Christian ihr Schwimmunterricht und lehrte sie später, wie man bei Wellengang schräg in die Welle hineinschwamm und sie durchtauchte, ehe sie sich brach.

Manchmal saß Kapitän Termogen oben auf den Dünen und sah den Kindern zu. Gutes Blut ist drin, in der kleinen Kröt’, dachte er. Das wird einmal ein Staatsfrauenzimmer.

Vollends entzückt war er, als Stella eines Tages, als er sie wieder aufs Pferd heben wollte, entschieden verkündete, dass sie allein reiten wolle.

»Hm«, meinte der Kapitän, »wenn du willst, dann sollst du. Unternehmungslustige Leute soll man nicht antüdern. Krischan, sattle der Deern mal die Grete.«

Zu dritt ritten sie zum Tor hinaus, und stolz, wie eine Siegerin, kam Stella von diesem ersten selbstständigen Ausritt zurück.

Viel Zeit verbrachte sie auch mit Thies. Sie konnte regungslos neben ihm im Gras sitzen und zuhören, wenn er erzählte. Christian lag dann bäuchlings vor ihnen und kaute an einem Grashalm und hörte ebenfalls aufmerksam zu.

Thies konnte gut erzählen. Er hatte viel gelesen. Bücher über die Insel, ihre Vergangenheit und Geschichte, Bücher über das Meer, die Seefahrt, über fremde Länder und ferne Welten. Er vergaß nichts von dem, das er gelesen hatte, und er konnte es blutvoller und farbiger erzählen, als es in den Büchern stand.

Am liebsten hörte Stella die alten Sylter Sagen und Geschichten. Vom wilden Pidder Lüng, der so trotzig und widerspenstig war, dass er niemals Ja, sondern stets nur Nein sagte, und der dem bösen Dänenherrn, der ihn verspottete und in seinen Grünkohl spuckte, den Kopf in die Kohlschüssel tauchte, bis der Peiniger darin erstickt war.

»Im Grünkohl?«, fragte Stella ungläubig und respektvoll.

Thies nickte. »Im Grünkohl.«

Später wurde Pidder Lüng ein gefürchteter Seeräuber, und sein Wahlspruch »Lewer duad üs Slaav!« war bis heute das Losungswort der stolzen Friesen geblieben.

Großen Eindruck auf Stella machten auch die Önnerersken, die Unterirdischen, die unter der Insel lebten, alles sahen und hörten und den Menschen manchen Schabernack spielten, ihnen aber auch halfen, wenn man sich gut mit ihnen stellte. Man musste ihnen gelegentlich etwas zu essen hinstellen, dann waren sie friedlich, und man konnte auf ihre Unterstützung bauen, wenn man mal in Not war.

Große Augen bekam Stella, wenn Thies von den bösen Strandräubern erzählte, die in alter Zeit jeden Schiffbrüchigen ausraubten, wenn nicht gar erschlugen, und manchmal sogar mutwillig die Schiffe durch falsche Lichtzeichen zum Stranden brachten, damit sie Beute bekamen. Aber dann kam Lorenz Petersen de Hahn, der schon mit elf Jahren das erste Mal zur See fuhr, später mit einem Walfänger bis nach Grönland kam und die Walfängerei auf Sylt einführte. Er bekämpfte energisch die Strandräuberei. In späteren Jahren wurde er Strandhauptmann von Sylt, und zusammen mit fünf Strandvögten, die seine Untergebenen waren, rückte er den Strandräubern zu Leibe.

Einen Strandhauptmann gab es auch heute noch auf der Insel, und Stella betrachtete ihn mit achtungsvollen Augen. Strandhauptmann Hansen war nämlich Kapitän Termogens Freund, er kam regelmäßig zu Besuch, auch er ein großer, weißhaariger Riese mit einem scharf geschnittenen, kühnen Gesicht und hellen, klaren Augen. Er bestätigte alles, was sie von Thies zu hören bekam.

Stellas ganz besonderer Liebling aber war der Meerkönig Ekke Nekkepenn, der rundherum das Meer beherrschte und der sich, das betonte Thies mit Nachdruck, von Zeit zu Zeit ganz gern ein Menschenmädchen zur Gesellschaft holte. Daher sei es nicht ratsam, allein zu weit ins Meer hinauszuschwimmen, ja nicht einmal allein in den Dünen herumzulaufen, denn Ekke Nekkepenn war durchaus imstande, das Meer zu verlassen und die Dünen zu erklimmen. Man habe da genug Beispiele. Immer wieder gab es mal ein leichtsinniges Mädchen, das spurlos verschwunden war. Jedes andere kleine Mädchen hätte vielleicht bei so haarsträubenden Geschichten Angst bekommen. Stella nicht. Die Augen weit geöffnet, manchmal auch den Mund, lauschte sie Thies hingerissen und fand all die wilden Gestalten in seinen Geschichten nicht fürchtenswert, sondern höchst bewundernswert und interessant.

Ihre Aufmerksamkeit beflügelte Thies’ Fantasie noch mehr. Ein Mädchen hatte er noch nie zur Gesellschaft gehabt. Und eines, das so gut zuhören konnte, war zweifellos eine Bereicherung seines Lebens.

Kapitän Termogen beobachtete die drei manchmal vom Fenster der Wohnstube aus. Drei Kinder in seinem Garten, es war ein hübscher Anblick. Und sein armer Thies schien an dem Besuch seine Freude zu haben. Es war schade, dass Stella wieder abreisen musste. Sie war richtig aufgeblüht hier, vom Husten war nichts mehr zu hören. Wie würde es nun weitergehen, in Berlin, in der dunklen Wohnung ohne Licht und Luft? Von Schwester Marie hatte er einiges über Stellas Familie gehört, und das gefiel ihm nicht sonderlich. Aber was ließ sich dagegen tun?

Wie nicht anders zu erwarten, fiel Stella der Abschied schwer. Als sie mit den Braunen das letzte Mal durch das Hoftor fuhr, hatte sie die Lippen zusammengepresst und sprach kein Wort. Sie wollte nicht weinen.

Als sie dann aussteigen musste, schüttelte sie Thies und Christian stumm die Hände. Sie klopfte Grete und Borro die Hälse und küsste sie plötzlich auf die Nüstern.

»Nächstes Jahr kommst du wieder«, sagte Kapitän Termogen tröstend.

»Werden wir dann wieder reiten?«

»Aber klar, min Deern. Nächstes Jahr fangen wir gleich an, wenn du kommst. Du wirst sehen, bis du abreist, bist du eine großartige Reiterin.«

Stine fuhr mit nach Hamburg. Sie hatte dort ihre Tochter wohnen, die sie sowieso besuchen wollte. Sie würde Stella in den Zug nach Berlin setzen.

Stella war zu jung, um zu erkennen, was ihr diese ersten Ferien ihres Lebens geschenkt hatten: die Begegnung mit ihrem wahren Selbst. Bisher war sie ein kleines, verkümmertes Schattenpflänzchen gewesen. Nun hatte sie lachen gelernt, gelernt, die Tage zu genießen, sich der süßen Lust des Lebens zu erfreuen. Es war eine kurze Zeit gewesen. Aber sie nahm die Erinnerung daran mit. Und die Sehnsucht nach diesem Leben.

7

Es konnte niemals genau festgestellt werden, ob eigentlich eine gute oder eine böse Fee an Stellas Wiege Pate gestanden hatte. Vermutlich beide, wie letztlich bei jedem Menschen, sofern es sich nicht um ein echtes Glückskind oder einen richtigen Pechvogel handelt. Tatsache war, dass es trotz aller Misserfolge und Schicksalsschläge, die Stella in ihrem Leben ertragen musste, immer wieder vorkam, dass sich ihr ein heißer Herzenswunsch erfüllte, dass etwas wild Begehrtes sich ganz von selbst anbot, ohne dass sie viel Mühe darauf verwenden musste, es zu erringen. Sie wurde niemals ein Mensch voll Tatkraft und Zielstrebigkeit, der sein Leben in die Hände nahm und nach eigenem Willen formte. Sie ließ sich treiben, mit einer lässigen Gleichgültigkeit, die auf tüchtige und strebsame Menschen aufreizend wirken musste und der im Grunde, ihr selbst nicht bewusst, eine vertrauensvolle Sicherheit innewohnte. Die Sicherheit nämlich, dass der unregelmäßige Wellenschlag des Schicksals sie doch immer wieder, wenn auch nicht vorwärtsbringen, so doch wenigstens tragen würde. Wohin, das war ungewiss, aber es spielte auch keine so große Rolle. Sie hatte niemals, in ihrem ganzen Leben nicht, das Gefühl, dass sie das Schicksal zwingen müsse, dass es ihre Aufgabe sei, auf den Verlauf ihres Daseins Einfluss zu nehmen. Machte sie wirklich einmal den Versuch dazu, so fand sie sich meist in Verwirrung und Chaos wieder. Vertraute sie sich dem Spiel der Wellen an, mit geschlossenen Augen gleichsam, eine rothaarige Nixe mit weißen Händen und stummen Lippen, dann trug das Meer, das ihr Element war, diese Tochter des Meeres oftmals in eine sturmfreie Hafenbucht, an ein seliges Eiland, wo ihr das Glück oder wenigstens die Illusion von Glück begegnete.

Erstmals geschah es in dieser frühen Zeit der Jugend, als sie sich plötzlich nach einer grauen, freudlosen Kindheit auf dem Termogen-Hof wiederfand und nun ein paar glückliche und unbeschwerte Kinderjahre verleben konnte.

Denn es blieb nicht bei den Ferienbesuchen. Zunächst kam gelegentlich ein kleiner Brief von Berlin auf die Insel. Meist von Schwester Marie veranlasst, von Stella bereitwillig verfasst. Die Antwort erhielt sie stets von Thies, einen ausführlichen Brief über die Geschehnisse der letzten Zeit.

So blieb Stella mit allem, was in Keitum vor sich ging, in Verbindung. Kapitän Termogen ließ jedes Mal grüßen, und Christian schrieb eigenhändig einen Gruß darunter.

Diese Briefe machten Stella große Freude. Bisher hatte sie nie Post bekommen. Und nun bekam sie welche. Sie kamen aus dem Termogen-Haus, dem einzigen Paradies auf Erden, das sie kannte. Sie trug die Briefe tage-, ja wochenlang mit sich herum. Nachts lagen sie unter ihrem Kopfkissen.

Ihre Mutter sagte: »Jotte doch, wie du dich hast mit den fremden Leuten.«

Stella erwiderte ernsthaft: »Es sind keine fremden Leute. Es ist meine Familie.«

Sie sagte »meine Familie«, nicht unsere Familie. Als Fritz einmal, neidisch gemacht durch ihre begeisterten Erzählungen, leichthin sagte: »Kann ich ja auch mal in Urlaub hinfahren, wenn’s da so schön ist«, fuhr Stella ihn heftig an: »Was willst du denn da?«

»Ich bin schließlich mit denen genauso verwandt wie du«, meinte Fritz beleidigt.

Und Stella darauf, mit entschiedenem Kopfschütteln: »Nein.« Weiter nichts. Nein. Ein eisernes Nein, und nicht zu erschüttern.

Fritz regte sich mächtig darüber auf und ließ eine längere Schimpfkanonade los, die in der durchaus zu Recht bestehenden Feststellung gipfelte, er sei ihr Bruder, und sein Verwandtschaftsgrad zu der Familie Termogen auf Sylt sei der gleiche wie ihrer.

Als Stella eigensinnig hierzu ihre Zustimmung verweigerte, wurde die Mutter als Schiedsrichter aufgerufen, die selbstverständlich ihrem Sohn recht geben musste.

»Nein«, beharrte Stella. Und die Augen, noch dunkler vor Erregung, blickten Mutter und Bruder feindselig an. Neue Wesenszüge im Charakter des Mädchens zeigten sich: Eifersucht und der hochmütige Anspruch auf ein besonderes Recht. Auf eine Besonderheit schlechthin.

Fritz gab sich nicht damit zufrieden. Schwester Marie bekam bei ihrem nächsten Besuch den Fall vorgetragen, und auch sie musste, verständlicherweise, in diesem Falle Fritz recht und Stella unrecht geben. Die schmerzliche Enttäuschung in Stellas Augen und das trotzige Sichabwenden, nachdem Marie ihre Meinung ausgesprochen hatte, verblüffte die Schwester. Fast kam sie sich vor, als habe sie einen Verrat an dem Kind begangen.

»Stella, sei nicht albern«, sagte sie mit ungewohnter Strenge. »Keiner will dir etwas wegnehmen. Tatsache ist nun mal, dass Fritz dein Bruder ist und er mit den Termogens genauso verwandt ist wie du. Schließlich führt er ja auch den Namen Termogen. Und Onkel Pieter ist genauso sein Großonkel wie deiner.«

Wie eine kleine Furie fuhr Stella herum, das kleine Gesicht schien nur noch aus dunklen, blitzenden Augen zu bestehen, sie stampfte mit dem Fuß auf und schrie wild: »Nein. Nein. Nein. Und er ist nicht mit ihnen verwandt.« Darauf wandte sie sich um und stürzte aus der Wohnung, wobei sie die Tür heftig hinter sich zuwarf. Sie kam nicht zurück bis zum Abend.

Sie bekam daraufhin von ihrer Mutter zwei Ohrfeigen und kein Abendbrot. Schweigend nahm sie die Züchtigung entgegen und kroch ins Bett, ohne zu weinen, ohne ein Wort zu sagen. Nach Marie, die schon gegangen war, fragte sie nicht.

Sie war verraten worden, einsam und unglücklich war sie, ohne eine Menschenseele, die zu ihr gehörte. Gedemütigt und geschlagen hatte man sie, aber sie war nach wie vor nicht geneigt, zuzugeben, dass sie im Unrecht war. Die Leute auf Sylt waren ihr Besitz. Ihr, ihr alleiniger, unantastbarer Besitz, und Fritz mit seinen dicken Fingern und seinen dummen Augen sollte nicht daran rühren. Fritz konnte es sich nicht verkneifen, noch zu ihr ins Zimmer zu kommen und die kleine Schwester zu ärgern. »Alte, dämliche Ziege«, sagte er. »Dummes Luder! Du bist zu doof, um Familienverhältnisse zu begreifen. Tut das weh, wenn man so schwach auf der Birne ist?«

Stella rührte sich nicht, gab keine Antwort, atmete kaum. Aber sie wusste, dass sie ihren Bruder hasste.

Anfang März schrieb Thies, es gäbe ja auch Osterferien, warum also bis zum Sommer warten, sie solle doch mal ein büschen vorbeikommen. Das Reisegeld würde man ihr schicken.

Natürlich war Stella sofort Feuer und Flamme. Ihre Mutter und sogar auch Schwester Marie hatten Bedenken. Stellas wilder Auftritt war nicht vergessen. Wenn sie zu oft dahin fuhr, würde ihr die Trennung, der unvermeidliche Abschied, immer schwerer fallen. Andererseits hatte ihr der Aufenthalt am Meer gesundheitlich sehr gutgetan. Wenn die Kräftigung auch nicht lange vorgehalten hatte, dazu war die Zeit zu kurz gewesen, so war sie doch seitdem etwas gesünder und frischer geworden.

Natürlich brachte es niemand übers Herz, ihr die Reise zu verweigern. Am ersten Ferientag fuhr sie los. Allein diesmal, was sie trotz ihrer Jugend glänzend bewältigte. Eine ernsthafte junge Dame, die Augen ohne Scheu prüfend auf die Umwelt gerichtet, so saß sie im Zug, ohne Angst, mit einer erstaunlichen Sicherheit.

Über die Insel brausten die Frühjahrsstürme, es war kalt, man konnte noch nicht im Garten sitzen, nicht baden gehen natürlich, und kaum gelang es einmal, die Dünen zu erklimmen.

»Halt dich man fest, min Deern«, sagte Kapitän Termogen und legte schützend den Arm um die schmalen Kinderschultern. »Sonst bläst dich der Sturm noch aufs Meer hinaus, bis ’rüber nach England.«

Aber das raue Wetter störte Stella nicht im Geringsten. Stundenlang saß sie wieder bei Thies, war bei Stine in der warmen Küche oder saß bei Kapitän Termogen neben dem molligen Kachelofen und sah ihm zu, wenn er mit gerunzelter Stirn in seinen Büchern rechnete. Oft war sie auch bei Meister Hoog in der Werkstatt. Ohne sich zu rühren, beobachtete sie, wie die Töpferscheibe kreiste, und es war jedes Mal eine aufregende Überraschung, was unter den geschickten Händen des Töpfers hervorging.

»Das möchte ich auch lernen«, verkündete sie eines Tages.

»Woll«, meinte Vater Hoog bedächtig, »büschen später. Nu biste noch tau lütt dortau.«

Von den Osterferien bis zu den Sommerferien war es nicht allzu lange. Stella zählte die Tage, bis sie wieder den Zug besteigen konnte. Folgten die langen herrlichen Wochen des Sommers, die nicht anders verliefen als im Jahre zuvor. Nur dass sie diesmal schon schwamm wie ein Fisch, ritt, als sei sie auf dem Pferderücken groß geworden, die Zahl und Art der Schafe kannte, mit dem Rad allein nach Westerland zum Einkaufen fuhr und alle, alle, die hier um sie waren, Thies und Stine und Christian und den Vater Hoog, Tack und die anderen Pferde, den Hund und die Katzen, und vor allem aber und am meisten, Kapitän Termogen mit leidenschaftlicher, grenzenloser Liebe in ihr Herz geschlossen hatte.

Sie war nicht mehr scheu und schüchtern, sie redete und lachte und belebte das Termogen-Haus wie ein junger Sonnenschein.

In diesem Sommer wurde der Hindenburgdamm eröffnet, die lang geplante Bahnverbindung zum Festland, an der viele Jahre lang gearbeitet worden war. Die ganze Insel war in Feststimmung. Der Reichspräsident würde selber zur Einweihung kommen, der Festzug versprach Unvergleichliches an Pracht und Glanz. Sogar Christian würde darin zu sehen sein, in der Ringreitergruppe, die ihn trotz seiner Jugend mitreiten ließ, denn Christian war ein äußerst geschickter Ringreiter. Er traf im raschen Galopp noch den kleinsten Ring und war meist auf den Dörfern dabei, mit einem von Kapitän Termogens Pferden, wenn die Wettbewerbe stattfanden. Schon einige Male war er Sieger gewesen.

Allerdings bedrückte alle die Tatsache, dass Thies nicht mitkommen wollte, um den Festzug zu sehen. Kapitän Termogen hatte vorgeschlagen, Thies solle mit hinüberfahren nach Westerland und vom Fenster einer befreundeten Familie aus den Festzug ansehen.

Thies lehnte ab. Nein, er wolle nicht. Man drang nicht weiter in ihn. Jeder wusste, was er fühlte. Er war zu stolz, um sein Gebrechen in aller Öffentlichkeit zu zeigen, an einem Festtag noch dazu. Außer, um in die Schule zu gehen, verließ er Keitum nie. Es wurde daraufhin nicht mehr vom Festzug gesprochen. Doch am Tage vorher erklärte Stella plötzlich, sie würde auch nicht mitgehen.

»Warum nicht, Deern?«, fragte Kapitän Termogen erstaunt.

»Ach, so viel Menschen. So ein Gedränge.« Und weil sie fürchtete, dass ihre Argumente nicht ganz überzeugten, fügte sie hinzu: »Mir ist nicht ganz gut. Ich glaube, ich habe Halsschmerzen.« Mit Krankheitssymptomen war sie vertraut.

»Wirklich?«, fragte Kapitän Termogen besorgt und befühlte ihre Stirn. »Hm, büschen warm vielleicht. Stine wird dir einen Tee kochen.«

Thies zuliebe schluckte Stella tapfer den Fliedertee. Aber abends, als sie einen Moment lang allein in der Stube waren, sagte Thies, der sie durchschaute: »Mach keinen Unsinn. Natürlich gehst du morgen mit. Wer soll mir denn davon erzählen?«

Stella hob die Lider, und eine kurze Weile begegneten sich das blaue und das dunkle Augenpaar der beiden Termogen-Kinder in einem stummen Dialog. Stella war nicht überrascht, dass Thies die Wahrheit wusste. Er wusste immer alles.

Er lächelte ihr zu. »Kleine Schwester«, sagte er zärtlich.

»Ich hab’ dich lieb«, sagte Stella unbeholfen. »Ich hab’ euch alle furchtbar lieb. Und dich am meisten.« Dann lief sie aus dem Zimmer.

Der Abschied glich einer Tragödie. Alle waren traurig. Doch Stella ließ diesmal jede Zurückhaltung und Beherrschung vermissen. Sie klammerte sich an Pieter Termogen und schluchzte verzweifelt: »Ich will nicht weg. Ich will nicht weg.«

Ein schwerer Abschied.

Kapitän Termogen überlegte ein paar Tage lang gründlich. Dann hatte er ein Gespräch mit seinem Sohn, darauf auch mit Stine. In der Woche darauf tauchte er plötzlich in Berlin auf.

8

Es war September. Er mietete sich in einem Hotel in der Innenstadt ein, machte am Nachmittag einige Einkäufe, speiste am Abend allein und mit Genuss bei »Lutter und Wegner« und machte sich am nächsten Morgen, wohlgeplant zu einer Zeit, als er Stella in der Schule glauben konnte, auf den beabsichtigten Weg.

Er hatte gründlich darüber nachgedacht, wie er sich Stellas Mutter nähern sollte. Erst hatte er an einen einleitenden Brief gedacht. Dann daran, die Vermittlung von Schwester Marie in Anspruch zu nehmen. Aber schließlich war er zu dem Entschluss gekommen, dass es wohl am besten wäre, ohne Umschweife und Vorbereitungen mit seinem Plan herauszurücken. Mit dem Plan nämlich, Stella ganz zu sich auf die Insel zu nehmen.

Man wusste nicht, wie die Mutter reagieren würde. Das Einzige, was feststand, war Stellas begeisterte Zustimmung. Ihre Tränen beim Abschied, ihr leidenschaftliches »Ich will nicht weg!« waren nicht vergessen.

Aber die Familie! Die Mutter, der Vormund, die Geschwister. Kleine Leute waren manchmal empfindlich. Und schließlich gab keine Mutter freiwillig ihr Kind her.

Doch nun hatte der Kapitän sich entschlossen, Volldampf voraus zu geben, wie er es nannte, und die Sache mal in gerader Richtung anzusteuern. Kam ein Brief, da konnten sich die Berliner überlegen, was sie antworten sollten. Kam er selbst, blieb ihnen nicht viel Zeit zum Überlegen.

Er musterte das graue Vorstadthaus missbilligend. Die schief getretene Treppe knarrte unter seinem Schritt, ein schmutziges Kind saß im ersten Stock auf der Treppe und heulte, eine Frau schimpfte hinter einer der Wohnungstüren. Drei Türen in jedem Stockwerk. Im zweiten Stock stand an einer dieser Türen »Termogen«. Seltsam, den Namen in dieser Umgebung wiederzufinden.

Der Kapitän blieb einen Moment stehen und verschnaufte. Eine Luft war das hier in diesem Treppenhaus. Einfach gruselig, wie Stine immer sagte. Dass ein Mensch leben konnte in so einer Luft.

Dann klingelte er. Eine Weile blieb es still, und er dachte schon, es sei keiner zu Hause. Dann gab es drinnen ein Geräusch, langsame Schritte näherten sich, die Tür ging einen Spalt auf. Das Erste, was der Kapitän bemerkte, war der Geruch gekochter Wäsche, dann sah er das zerfurchte, mürrische Gesicht der Frau.

»Ja?«, sagte sie gewohnheitsmäßig, um erst dann die Erscheinung des Besuchers richtig wahrzunehmen. Ihre Augen weiteten sich erstaunt. Da stand ein breitschultriger Hüne, überaus mächtig wirkte er durch den Türspalt, dichtes weißes Haar, ein gerötetes Gesicht und zwei tiefblaue große Augen.

Lene war nicht übermäßig intelligent. Aber diesmal begriff sie gleich. Sie wusste, wer vor ihr stand.

»Tach«, sagte Kapitän Termogen. Da er keinen Hut aufhatte, den er ziehen konnte, nickte er ein bisschen mit dem Kopf, kurz und herrisch. »Frau Termogen?«, fragte er, um ganz sicherzugehen. Lene nickte stumm.

Kapitän Termogen bewegte noch einmal den Kopf und sagte: »Termogen. Pieter Termogen aus Keitum. Kann ich Sie wohl mal sprechen?«

Lene hatte Furcht vor dem fremden Mann. Am liebsten hätte sie die Tür wieder zugemacht. Aber das ging wohl nicht. So sagte sie widerwillig: »Bitte«, und ließ den Fremden eintreten.

Der Kapitän stapfte in den dunklen engen Korridor und von dort in die Küche. Lene folgte ihm schweigend, drehte das Gas unter der Wäsche aus und wies mit der Hand auf einen der Stühle am Küchentisch. »Bitte«, sagte sie noch einmal.

Ihre Schweigsamkeit machte den Kapitän unsicher. Er hatte erwartet, mit einem Wortschwall empfangen zu werden. Galten die Berlinerinnen nicht als sehr gesprächig? Und er hatte gedacht, er würde freundlich und gemütlich antworten können, sodass die Frau zu ihm Vertrauen fasste. Aber offenbar war sie nicht geneigt, ihm ein Stichwort zu geben. Sie blieb schweigend neben der Tür stehen.

Er musste anfangen.

»Äh – Frau Termogen – äh, Sie wissen, wer ich bin?«

»Sie haben’s ja gesagt«, erwiderte Lene.

»Hm. Ja. Der Onkel Ihrer Tochter Stella, nicht wahr?«, fügte er der Sicherheit halber hinzu.

Lene nickte. »Der Großonkel, soviel ich weiß«, sagte sie dann gründlich.

»Großonkel, bitte schön. Ja, ich … Aber wollen wir uns nicht setzen, es redet sich dann gemütlicher.«

Es sah aus, als wolle Lene der Aufforderung nicht folgen, aber dann kam sie doch näher und setzte sich an den Tisch. Der Kapitän nahm auf dem anderen Stuhl Platz.

»Ja, hm, ich habe nämlich in Berlin zu tun, wissen Sie. Und da dachte ich, muss ich doch mal vorbeikommen und sehen, wie es Stella geht.«

»Es geht ihr gut«, meinte Lene abweisend. Aber dann, doch bezwungen von dem Blick der großen Augen, die sie nicht losließen, fügte sie hinzu: »Da wird sich Stella aber freuen.«

Stellas Augen in dem Gesicht des weißhaarigen Mannes! Es war seltsam.

»Ja, noch?«, redete Kapitän Termogen weiter, erfreut über das erste freundliche Wort. »Dachte ich mir auch. Vielleicht kann ich die junge Dame mal zu einem Stadtbummel einladen. Büschen konditern gehen, so nennt man das doch woll. Oder vielleicht können wir für sie was einkaufen gehen.«

Das war falsch gewesen. »Sie hat alles, was sie braucht«, meinte Lene kurz.

»Na, ich dachte auch nur. So ’n Mädchen hat ja immer einen Wunsch, ’n Kleid vielleicht oder so was.«

»Die Kleider für Stella schneidere ich selbst.«

»Ja, richtig, hat sie mir erzählt.« Und da ihm zunehmend ungemütlicher wurde, verstieg er sich zu einem ungewöhnlichen Kompliment. »Sehr hübsche Kleider, wie ich gesehen habe.«

Ihm war heiß in seinem etwas eng gewordenen Stadtfrack. Es war überhaupt heiß in diesen Septembertagen in Berlin. Mal so ein büschen frischer Wind, der würde guttun. Man war nun mal daran gewöhnt.

Lene erwiderte nichts auf den Ausspruch von den hübschen Kleidern, sie lächelte auch nicht. Immerhin war ihr inzwischen eingefallen, dass doch wohl eine dankende Bemerkung angebracht wäre, nach allem, was Stella von diesen Leuten gehabt hatte. Und der sollte nicht denken, der Alte mit seinen blauen Augen, sie wisse nicht, was sich gehörte.

»Stella hat es immer sehr gut bei Ihnen gefallen«, sagte sie unbeholfen. »Und ich möchte mich bedanken, dass Sie – dass Sie dem Kind …«

Pieter Termogen hob abwehrend die Hand. »Geschenkt«, sagte er kurz. »Wir haben uns alle gefreut, wenn Stella da war. Und es ist ihr ja auch immer gut bekommen, noch? Wenn ich denke, voriges Jahr, als sie das erste Mal kam, mit diesem ollen Husten und so spillerig, da hatte man wirklich das Gefühl, dass sie ein büschen Erholung nötig hatte.«

Lene hörte einen Vorwurf heraus. »Leider konnte ich meinen Kindern keine Erholung bieten«, sagte sie. »Wenn man als Frau allein für alles sorgen muss …«

»Klar doch, weiß ich ja alles. Aber liebe Frau Termogen«, komisch, dass er zu dieser blassen, unfrohen Person Frau Termogen sagen musste, es kam ihm nur schwer über die Lippen. Dass der Junge so eine Frau geheiratet hatte! War doch ein hübscher Bengel gewesen, soweit er sich an ihn erinnerte. »Ja, liebe Frau Termogen, kann ich alles gut verstehen. Waren schwere Zeiten für Sie. Und sind es noch. Ihre Cousine, die nette Schwester, die voriges Jahr dabei war, hat mir das erzählt. Und nun inzwischen, wissen Sie, hab’ ich mir nämlich was überlegt.« Für weitere diplomatische Umwege fehlte ihm das Geschick. Mal ’raus damit, was er auf dem Herzen hatte. Außerdem befürchtete er, die Frau durch längeres Geschwätz nur unnötig misstrauisch zu machen.

»Wissen Sie, mein Junge, der Thies – Stella hat Ihnen wohl von ihm erzählt –, der mag Ihre Tochter auch sehr gern. Er ist ja – na ja, er ist nicht so ganz auf dem Posten, haben Sie vielleicht gehört. Und wir alle mögen Stella gern. Wir haben neulich mal darüber gesprochen, das heißt, mein Junge und ich, und da dachten wir, eigentlich könnte Stella doch für ganz zu uns kommen.«

Nun war es heraus. Lene saß unbeweglich. Nur ihr Kreuz hatte sich versteift, die Lippen pressten sich schmal zusammen.

Kapitän Termogen redete weiter. Wie es dem Kind guttun würde, ständig in der frischen Luft zu leben, sie sei ja doch sehr zart und empfindlich. Und sie fühle sich wohl auf der Insel. Und es war ja schließlich alles da. Das große Haus und die Tiere, und die Spielgefährten, und eine ordentliche Schule natürlich auch. Man würde sie genau wie Thies auf die höhere Schule schicken, das sei selbstverständlich. Wie seine eigene Tochter sollte sie in seinem Haus leben.

»Sie hätten es dadurch doch auch leichter, Frau Termogen«, sagte er überredend und ließ den Blick nicht von ihr. »Die beiden anderen Kinder sind doch schon groß, wie ich gehört habe. Sie könnten sich dann mehr Ruhe gönnen.«

So redete er eine Weile weiter. Lene schwieg. Sie war nicht einmal sehr überrascht. Seit sie die Tür geöffnet und den Mann gesehen hatte, wusste sie, was kommen würde. Während sie ihm zuhörte, schossen ihr die verschiedensten Gedanken durch den Kopf.

Ihr erstes Gefühl: eine große Erleichterung. Ja, es würde dann leichter für sie sein. Was sie selber brauchte, verdiente sie leicht. Und die Rente war auch noch da. Und nicht mehr die Sorge um das zarte Kind. Überhaupt kein Kind mehr im Hause haben. Sie war so müde.

Das zweite Gefühl: Nein. Es ist mein Kind. Was will der fremde Mann? Die Termogens auf Sylt. Karl war ihnen davongelaufen, und sie hatten sich nie mehr um ihn gekümmert. Sie waren reich, und Karl hatte oft nicht gewusst, wovon er leben sollte.

Das dritte Gefühl: Nein. Stella liebt diese fremden Menschen. Hat nur wenige Wochen mit ihnen verbracht und liebt sie mehr als uns alle. Mehr als mich, ihre Mutter, mehr als ihre Geschwister. Sie würde nie mehr zurückkehren.

Aber dann: Warum eigentlich nicht? Warum sollte sie denn zurückkehren? Wenn es dort ein besseres Leben für sie gab, wenn man ihr das schenken wollte, warum sollte man das Geschenk zurückweisen? Wann wurde den Armen schon einmal etwas geschenkt? Und warum sollte sich die Familie Termogen nicht wenigstens um ein Kind von Karl Termogen kümmern. Vielleicht würde sie später was erben. Und in die höhere Schule konnte sie hier auch nicht gehen.

Dann wieder ein auflehnender Gedanke: Schließlich bin ich die Mutter! Stella ist mein Kind!

Komisch, so hatte sie Stella gegenüber nie empfunden. Mein Kind, mein geliebtes Kind. So hatte sie nicht empfunden, als Stella geboren wurde, später nicht und auch jetzt nicht. Sie wollte bloß dem Fremden nichts geben.

Kapitän Termogen war am Ende. Er hatte alles gesagt, was ihm eingefallen war, und blickte nun die Frau abwartend an. Er sah die Ablehnung in ihrem Gesicht. Aber einmal musste sie wohl etwas sagen.

Lene sagte nichts, bis sie den Blick dieser Augen nicht mehr ertragen konnte.

»Ja«, begann sie dann, »das ist natürlich … Ich meine, das ist natürlich eine große Überraschung.«

»Selbstverständlich«, sagte Pieter Termogen, »Sie sollen ja auch in Ruhe darüber nachdenken. Es ist ein Vorschlag, den ich Ihnen mache. Sie sind die Mutter, Sie haben zu entscheiden. Aber ich habe mir gedacht, es wäre für alle Beteiligten gut. Für Sie, für Stella. Sie können sicher sein, dass es Stella bei uns gut haben wird. Und sie geht Ihnen ja nicht verloren. Sie kann Sie hier besuchen, und vielleicht kommen Sie auch mal zu uns. So ’n kleiner Urlaub könnte Ihnen doch sicher nicht schaden, noch?«

Das hatte er eigentlich nicht sagen wollen. Das gerade nicht. Denn wenn man Stella haben wollte, so hieß das noch lange nicht, dass man sich die ganze Sippe ins Haus ziehen wollte. Aber nun hatte er es doch gesagt, Stella zuliebe.

Lene lächelte jetzt doch, halb widerwillig. »Jotte doch, ich! Ich bin mein ganzes Leben nicht verreist.«

»Na, dann wird es mal Zeit!«, rief Kapitän Termogen in munterem Ton, erfreut darüber, dass sich ihre Miene endlich ein wenig aufhellte. »Höchste Zeit. Nächsten Sommer machen Sie einen schönen langen Urlaub bei uns. Passen Sie mal auf, das gefällt Ihnen bestimmt.«

Das Lächeln verlor sich wieder aus Lenes Gesicht. Es war dort nicht daheim. »Ich weiß nicht«, sagte sie zögernd. »Das kommt so – so plötzlich. Ich …« Dann kam ihr der rettende Gedanke. »Ich muss das mit meinem Bruder besprechen. Er ist sowieso der Vormund.«

»Natürlich«, sagte der Kapitän, befriedigt, dass er sich wenigstens kein glattes Nein geholt hatte. »Besprechen Sie es in aller Ruhe. Reden Sie auch mit Schwester Marie darüber. Ist ja ’ne sehr vernünftige Person. Und morgen sagen Sie mir dann Bescheid.«

Lene sah ihn erschrocken an. »Morgen schon? Nein, so schnell geht das nicht.«

»Schön«, sagte Pieter Termogen geduldig, »wie Sie wollen. Lassen Sie sich Zeit. Wann kommt denn nun Stella aus der Schule?«

»Kurz nach eins«, sagte Lene.

»Denn kann ich sie wohl abholen und mit ihr essen gehen, noch?«

»Heute?«, fragte Lene widerstrebend.

»Ja. Dachte ich mir so. Wir brauchen ihr ja nichts von meinen Absichten zu erzählen, ehe Sie sich entschieden haben. Damit sie nicht enttäuscht ist, falls es nichts wird.«

Das war ungeschickt gesagt. Lenes Gesicht verschloss sich wieder. Gerade weil sie wusste, dass der fremde Mann recht hatte. Stella würde enttäuscht sein, maßlos enttäuscht, wenn sie bei ihrer Mutter bleiben müsste und nicht zu den fremden Leuten gehen konnte.

»Ich hab’ sowieso noch was zu erledigen«, meinte Kapitän Termogen, »und komm’ dann so gegen halb zwei wieder vorbei. Ist es Ihnen recht?«

Er stand auf. Nur erst mal ’raus hier. Mit einer raschen herzlichen Bewegung streckte er Lene die Hand entgegen. »Also, tschüs denn, nachher komme ich wieder.«

Lene nahm zögernd die Hand. Und dann erwiderte sie unwillkürlich sein Lächeln. Es war Karls Lächeln. Das strahlende, offene Termogen-Lächeln. Sie hatte ihm nie widerstehen können.

14

Dies war ein Sommer des Abschiednehmens. Der Erste, der ging, war Christian, und er fehlte allen sehr. Thies natürlich am meisten, aber auch Stella vermisste ihn täglich. Er war ihr Begleiter gewesen in all den Jahren, ohne ihn war das Dasein nur halb so unterhaltend.

Und dann verließ Nora Jessen die Insel. Endlich wieder einmal war ihr die Liebe begegnet. Nora hatte einen Mann kennengelernt, einen Sommergast, und obwohl sie nun eine reife Frau war, wiederholte sich das Geschehen ihrer jungen Jahre: Sie ging restlos auf in der Liebe, verlor völlig den Kopf darüber. Stella war die Erste, die davon erfuhr. Die Einzige auch in Keitum, die diesen Mann kennenlernte.

Sie traf das Liebespaar an einem sonnigen Nachmittag draußen am weiten leeren Strand von Rantum. Sie war mit Tack hinausgeritten, ganz allein, trabte nun am Strand entlang zurück und entdeckte zwei im übermütigen Spiel in der Brandung.

Als die Frau aus dem Wasser lief, erkannte Stella sie. Es war Nora. Stella hob grüßend den Arm und ritt auf die beiden zu. Nora lachte ihr strahlend entgegen.

»Darum gehst du jetzt so oft zum Schwimmen, ohne mich mitzunehmen«, sagte Stella und musterte ungeniert den Mann in Noras Begleitung.

»Darum«, entgegnete Nora.

»Hm, gar nicht schlecht«, meinte Stella, denn der Mann sah nicht übel aus. Er war groß und braun gebrannt, etwa um die vierzig herum.

Auch der Mann betrachtete die Reiterin interessiert. »Nicht schlecht«, sagte auch er. »Nora, wer ist diese reizvolle Diana?«

»Das ist meine Freundin Stella.«

»Da hast du dir eine hübsche Freundin ausgesucht«, sagte er galant und lachte Stella an.

»Finden Sie mich hübsch?«, fragte Stella ernsthaft.

»Unbedingt«, sagte er. »Sogar ganz außerordentlich.«

Stella lächelte befriedigt. »Das wollte ich schon immer mal wissen. Zu Hause sagt es mir keiner.«

»Das ist sehr unrecht von denen zu Hause. Man sollte das einer jungen Dame gelegentlich sagen.«

Stella blickte Nora triumphierend an. »Er nennt mich eine junge Dame. Ich finde ihn sehr nett, deinen Bekannten.«

Der Mann verbeugte sich lächelnd. Nora lachte. »Ich auch.«

Nora sah reizend aus. Die Verliebtheit ließ ihre Augen strahlen, das Unruhige, Flackernde war ganz daraus geschwunden. Sie wirkte wie ein junges Mädchen mit ihrer schlanken, zierlichen Figur.

Am nächsten Tag kam Stella am Jessen-Haus vorbeigeschlendert. Sie war neugierig.

Anke war im Garten und zupfte Unkraut aus den Blumenbeeten. »Tach«, sagte Stella und blieb am Zaun stehen.

Anke schaute auf. Ihr Blick war kühl und unpersönlich wie immer.

»Hübsche Blumen habt ihr«, meinte Stella.

Anke war erstaunt, dass Stella sie ansprach. Das tat sie sonst nie. »Ihr ja auch«, sagte sie kurz.

Dann bückte sie sich und fuhr in ihrer Arbeit fort. Aber Stella blieb stehen.

»Ist deine Mutter da?«, fragte sie.

»Nein«, antwortete Anke knapp.

»Schade. Ist sie drin, in Westerland?«

»Ich weiß nicht.«

»Wann kommt sie denn wieder?«

»Weiß ich auch nicht.«

»Ich wollte nämlich … Onkel Pieter meint, ich könnte mir ein neues Kleid machen lassen.«

»So«, sagte Anke uninteressiert. Und in feindseligem Ton fügte sie hinzu: »Da wirst du wohl kein Glück haben. Meine Mutter ist sehr beschäftigt.«

»Ach?«, fragte Stella gedehnt. »Wirklich? So viel Arbeit?«

Jetzt richtete sich Anke auf, und eine kleine Weile maßen sich die beiden Mädchen stumm. Anke mit düsterem Blick, Stella ein kleines, spöttisches Lächeln auf den Lippen.

»Was willst du eigentlich?«, fragte Anke dann rau.

»Das hörst du doch. Ein neues Kleid. Den Stoff hab’ ich schon. Hab’ ich zum Geburtstag gekriegt. Blau mit weißen Tupfen.«

»Ich werd’s Mutter sagen«, erklärte Anke schließlich gnädig. »Wenn sie wiederkommt.«

»Das tu man«, sagte Stella. »Und wenn’s nicht zu spät ist, soll sie noch zu uns ’rüberkommen. Wenn’s nicht zu spät wird«, betonte sie noch einmal mit Nachdruck.

Anke gab keine Antwort, sie bückte sich wieder zu ihrer Arbeit.

»Tschüs«, sagte Stella lässig und schlenderte davon.

Anke hob den Kopf und sah ihr nach, die Zähne wütend in die Unterlippe gegraben. Kein Zweifel, Stella wusste irgendetwas. Anke wusste nichts, aber sie ahnte etwas. Ihre Mutter war seit zwei Wochen kaum zu Hause. Sie ging morgens weg, kam spät am Abend wieder. Manchmal erst mitten in der Nacht.

Anke lag im Bett und hörte den Wagen kommen. Hörte, wie er anhielt, wie es dann lange still blieb, dann knallte die Autotür, das Gartentor quietschte, und der Wagen fuhr fort.

Ankes Fenster ging zur Seite des Hauses hinaus. Sie konnte nicht sehen, was draußen vorging. Aber täglich sich steigernd, erfüllte sie eine kalte Wut. In der Stille der Nacht konnte man in allen Nachbarhäusern hören, was sie hörte. Und jeder konnte sich gut denken, was vor sich ging. Dass ihre Mutter sich nicht schämte! So alt wie sie war.

Am Tage kam der Wagen niemals vor das Haus gefahren. Dann stieg Nora am Rande des Dorfes aus und ging das letzte Stück zu Fuß. Aber in dieser Woche war sie selten vor Mitternacht nach Hause gekommen.

Auch Güde wusste Bescheid. Wenn Nora da war, wurde zwischen den drei Frauen im Haus fast nichts gesprochen. Nora spürte wohl das feindliche Schweigen, die bösen Blicke. Doch das kümmerte sie nicht. Sie liebte. Endlich liebte sie wieder, und so, wie sie nie geliebt hatte.

Was kümmerte sie das störrische alte Weib, das immer ihre Feindin gewesen war, und was das widerspenstige, altkluge Kind, das ihre Liebe nie erwidert hatte.

An diesem Abend ging Anke nicht zu Bett. Angezogen blieb sie in ihrem Zimmer sitzen und wartete. Es war ein Uhr nachts, als sie das Auto kommen hörte. Sie öffnete lautlos die Tür, schlich auf Strümpfen die Treppe hinunter und wartete hinter der Haustür.