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Norbert Mappes-Niediek

Österreich für Deutsche

Norbert Mappes-Niediek

Österreich für Deutsche

Einblicke in ein fremdes Land

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

2. Auflage als E-Book, Dezember 2016
entspricht der 5., aktualisierten Druckauflage vom Dezember 2012

eISBN 978-3-86284-373-2

Inhalt

Einmal nach Österreich und zurück

Einleitung

Oben, unten, draußen: Wo liegt Österreich?

Geschichte und Nationalgefühl

Links und rechts, oben und unten: Wer regiert wen?

Das politische System

A bissl eine Pest

Nazizeit und Ausländerfeindlichkeit

Geh, könnten S’ grad so lieb sein?

Das Gesellschaftssystem

Österreich und sein Europapa

Ausblick

Anhang

Anmerkungen

Über den Autor

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Basisdaten Österreich (Stand 2011)

Fläche: 83 879 km2 (Deutschland: ca. 357 121 km2)

Einwohner: 8 460 390 (Deutschland 81 844 000)

Gliederung: neun Bundesländer (Vorarlberg, Tirol, Salzburg, Oberösterreich, Niederösterreich, Steiermark, Burgenland, Kärnten und Wien)

Hauptstadt: Wien (1 731 236 Einwohner)

Staatsform: Republik

Staatsoberhaupt: Bundespräsident

Parlament: Zweikammerparlament (Nationalrat mit 183 Sitzen; Bundesrat mit 64 Sitzen)

Nationalfeiertag: 26. Oktober (Verabschiedung des Neutralitätsgesetzes 1955)

Währung: Euro

Amtssprache: deutsch

Ausländeranteil: 10,8 Prozent (Deutschland: 8,8 Prozent). Größte Ausländergruppe in Österreich: Deutsche (176 000). Größte Ausländergruppe in Deutschland: Türken (1,6 Millionen)

Religion: 69,9 Prozent römisch-katholisch

Kind je Frau: 1,43 (Deutschland: 1,39)

Lebenserwartung: Frauen 83,2 Jahre; Männer 77,7 Jahre (Deutschland: Frauen 82,6; Männer 77,5 Jahre)

Maximale Ost-West-Ausdehnung: 560 km

Höchster Berg: Großglockner mit 3798 m

Größter See: Neusiedler See mit 315 km2 (davon 77 Prozent auf österreichischem Gebiet, der Rest gehört zu Ungarn)

Längster Fluss: Donau mit 350 km (auf österreichischem Gebiet)

Exportgüter: Maschinen, PKW, Nahrungs- und Genussmittel, Eisen / Stahl, Halbfertigwaren

Importgüter: Erdöl u. a. Rohstoffe, Maschinen, Fahrzeuge, Halbfertigwaren, Textilien

Bruttoinlandsprodukt: 309,6 Mrd. Euro (Prognose 2012)

Arbeitslosigkeit 2011: 4,2 Prozent (Deutschland: 5,9 Prozent)

Einmal nach Österreich und zurück

Einleitung

»Österreich? Ja, seid ihr denn wahnsinnig?« Als meine Frau und ich uns 1991 entschlossen, gemeinsam mit unserer dreijährigen Tochter von Bonn in die Steiermark zu ziehen, waren die meisten unserer Freunde und Bekannten entsetzt. Das überraschte uns. Wie konnte dieses harmlose und vertraute Land solche heftigen Reaktionen auslösen?

Das Entsetzen war, wie wir erfuhren, in erster Linie kultureller Natur und galt gleichermaßen der Blasmusik und den Lederhosen wie dem morbiden Wien mit seinem faulenden Sperrholz hinter der Blattgoldauflage, seinen Handküssen und Opernbällen. Manche Klischees lernten wir überhaupt erst nach unserem Umzugsbeschluss kennen. Unsere deutschen Freunde kannten Österreich von etlichen Urlaubsreisen. Manche von ihnen litten unter einem generationsspezifischen Trauma. Sie hatten im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren mit ihren Eltern ausgedehnte Mittelgebirgswanderungen unternehmen müssen und träumten noch immer von den roten Kniestrümpfen ihres väterlichen Leithammels, den Serviettentaschen in der Frühstückspension und den wöchentlichen Auftritten der Trachtenkapelle. Einer hatte jeden Sommer drei Wochen in Wertschach im Gailtal verbracht, wo der Vater nach dem 25. Aufenthalt vom Bürgermeister eine Urkunde und eine Plakette bekommen hatte. Er schwor sich damals, Österreich sein Leben lang zu meiden. Auch ein wenig Politisches mischte sich in die allgemeine Abneigung. 1991 war Kurt Waldheim Bundespräsident, der wegen seiner Wehrmachtsvergangenheit unter diplomatischer Kontaktsperre stand, ein Vorgeschmack auf ein Österreichbild, das in den Jahren danach immer unsympathischere Züge annehmen sollte. Damals machte gerade ein gewisser Jörg Haider Furore, ein Rechtspopulist, der rasch europaweite Bekanntheit erreichte. Das alles nahm für Österreich nicht ein. Wie konnte man in ein Land ziehen, wo das, was man schon zu Hause als schlimm und peinlich empfand, offensichtlich noch viel schlimmer war? Die nach uns kamen und schon von Natascha Kampusch und vom Fall Fritzl gehört hatten, den schrecklichen, jahrelangen Entführungen, wurden mit anderen, nicht weniger skeptischen Vorhaltungen konfrontiert: Blühten dort unten nicht Korruption und Inzest? Verbarg sich hinter der putzig-gemütlichen Fassade dieses Urlaubslandes nicht Niedertracht, schwüle Sexualität und verdrängte Aggression?

Nicht dass wir, im Unterschied zu unseren Freunden, Österreich besonders gut gekannt hätten. Nur hatten wir eben keine traumatischen Urlaubserinnerungen. Wir waren im Gegenteil als Erwachsene und freiwillig ein paar Mal mit dem Fahrrad durch Österreich gefahren, hatten das Land schön und die Leute freundlich gefunden. Waldheim und Haider fanden wir auch nicht sympathisch, aber wir waren uns sicher, dass wir mit ihnen und ihren Anhängern sowieso nichts zu tun haben würden. Ich wollte mir eine berufliche Existenz als Korrespondent für Südosteuropa aufbauen, und wir suchten einfach einen angenehmen Ort zum Wohnen. Urlauben und Leben sind zweierlei, das wussten wir. Also quartierten wir uns eine Woche in Graz ein, der zweitgrößten Stadt des Landes, und erkundeten systematisch das Terrain: Miet- und Immobilienpreise, Aufenthaltsbestimmungen, Kindergärten, Schulen, Nahverkehrsverbindungen – was man alles so braucht. Der Befund fiel positiv aus. Im Anzeigenteil der Regionalzeitung fanden wir dann ein Haus, das unseren Vorstellungen entsprach. Es stand in einem äußerlich reizlosen, aber sympathisch normalen Dorf, nicht zu weit von der weit und breit einzigen Großstadt Graz entfernt. Der Ort war uns vergleichsweise egal. Wir rechneten nicht damit, dass er uns einmal wichtig werden würde.

Von unserem Gastland waren wir rasch begeistert. Im Nu kannten wir die ganze Nachbarschaft. Alle waren freundlich, viele demonstrativ hilfsbereit. Neugierige Fragen kamen über den Zaun. Keiner ließ uns spüren, dass er uns irgendwie für fremd und unpassend hielt. Freunde, die aus dem Rheinland ins ländliche Oberbayern gezogen waren, hatten da ganz andere Erfahrungen gemacht. Dabei erbrachten wir keine besonderen Anpassungsleistungen. Wir übten uns nicht in dem fremden Dialekt, trugen keine Jacken mit Hirschhornknöpfen und unterwarfen uns auch nicht den Ritualen der Ehrerbietung, wie wir sie bei anderen beobachten konnten. Meinem Grundsatz, niemanden je mit einem Titel anzureden, bin ich auch in Österreich treu geblieben. Wenn man mir das übelnahm, dann ließ man es sich wenigstens nicht anmerken – wie man überhaupt sorgsam alles vermied, was die Harmonie der Begegnung irgendwie trüben konnte. Das war es dann auch, was uns ab und zu etwas irritierte: Allem, was nach Streit und selbst nach Dissens roch, ging man hier gern aus dem Wege. Unsere Debattierlust, mit der wir uns früher oft gut amüsiert hatten, blieb seit unserem Umzug nach Österreich dauerhaft frustriert. Auf jede forsch vorgebrachte These folgte relativierendes Einlenken, auf direkten Widerspruch Verlegenheit.

Ein paar Monate nach unserem Umzug reiste ich zum ersten Mal wieder für ein paar Tage mit dem Nachtzug nach Deutschland. Am frühen Morgen wurde ich im Kölner Hauptbahnhof Zeuge, wie eine Schlange Wartender spontan und in wunderbarer Einigkeit gegen den lahmen Schalterbeamten rebellierte: »Jeht dat ens voran?« »Der Zug fährt in fünf Minuten, und wir stehen hier schon eine Viertelstunde!« Ich entwickelte zum ersten Mal Nostalgiegefühle: So eine schöne Probe von Solidarität und freiem Bürgersinn hatte ich in den Monaten Österreich nicht erlebt. Aber der Versuch, das Gastland auf einen handlichen Begriff zu bringen, scheiterte wie jeder andere rasch. Schon eine halbe Stunde später kam ich an meinem Zielbahnhof an. Für Freunde hatte ich zwei Flaschen Rotwein mitgebracht, die ich in einer Plastiktüte bei mir trug. Beim Verlassen der Bahnhofsunterführung rutschte ich auf der Treppe aus; eine Flasche zerbrach, und der Rotwein floss die Stufen herab. Die Leute aus dem Zug, die ein paar Schritte hinter mir gegangen waren, machten kehrt und nahmen, statt mir zu helfen, eine andere Treppe. Solidarität? Das, durchzuckte es mich, wäre mir in Österreich nicht passiert. Später haben wir den gleichen Gegensatz dann noch einmal sehr ernsthaft zu spüren bekommen: Unseren Sohn, der 1994 mit einer geistigen Behinderung zur Welt kam, hat unser steirisches Dorf lehrbuchreif integriert. Alle kennen ihn beim Namen, und wenn er beim Feuerwehrfest wegläuft, bringt ihn uns garantiert jemand zurück. Nie würden Eltern seiner Klassenkameraden sich beim Elternabend beschweren, dass ihr Kind in einer Klasse mit unserem nicht genug lerne. Aber als wir in der Klinik etwas über die Ursache seiner Behinderung erfahren wollten, wurden wir kalt und arrogant abgefertigt.

War es vielleicht Sozialromantik, die uns an Österreich band? Wir schätzten in der Tat auch das Kleinförmige und Geruhsame in unserem Gastland und waren froh, samstags morgens nicht mehr eine halbe Stunde auf Parkplatzsuche um den Hypermarkt herumkurven zu müssen. Nach ein paar Jahren Österreich erlebten wir vorweihnachtliche Autofahrten durch die großen Einkaufswelten in einem deutschen Ballungsgebiet als schweren Kulturschock. Beide Länder könnten sich da kaum krasser unterscheiden: Selbst die Shopping-City Wien-Mödling wirkte wie ein Tante-Emma-Laden gegen die künstliche Landschaft aus Super- und Verbrauchermärkten in, sagen wir, St. Augustin bei Bonn. Wenn die tägliche Stunde im Stau Fortschritt ist, sind wir gern ein bisschen rückschrittlich. Als es bei der Einrichtung eines Telefonanschlusses dann allzu geruhsam zuging, genügte ein Anruf beim Amt. Dass das superschnelle Internet hier erst ein knappes Jahr später verfügbar war als bei unseren deutschen Freunden, haben wir in Kauf genommen. Aber wer aus romantischen Gründen auswandert, wird leicht zur tragischen Figur. Die Entwicklung, der er entkommen wollte, erlebt er in seiner neuen Heimat ja ein zweites Mal. Tatsächlich wurde unser Dorf in den folgenden Jahren deutlich »deutscher«. Zeitverzögerungen bei der Einführung von Neuerungen, wenigstens von technischen, gibt es keine mehr; Österreich hat spürbar aufgeholt. Das macht nicht nur Freude. Wir haben jetzt auch schon Parkprobleme vor dem Supermarkt, und man geht auch nicht mehr so zwanglos bei Nachbarn ein und aus, seit viele sich Stahltore mit Autofernbedienung angeschafft haben. Wo uns anfangs noch die schlichte Schönheit der traditionellen Bauernarchitektur erfreute, beleidigen nun immer mehr lila getünchte Fertighäuser mit biedermeierlichen Gartentoren unser Auge.

Aber das macht dieses Buch nur noch aktueller. Jetzt wissen wir: Reisen zwischen Deutschland und Österreich sind keine Zeitreisen; beide Länder bleiben dauerhaft anders. Österreich für »rückständig« zu halten, wie Generationen von Deutschen es getan haben, führt in die Irre. Noch vor zwanzig Jahren zum Beispiel dachte man, die Unternehmensstruktur des kleineren Nachbarlandes sei antiquiert: Während Deutschland perfekt durchorganisierte Großbetriebe aufweisen konnte, wurstelten in Österreich »Krauter« und »Klitschen« vor sich hin. Zehn Jahre später hießen die industriellen Giganten »Dinosaurier«, und die flexiblen Klein- und Mittelbetriebe waren auf einmal der letzte Schrei. Jahrzehntelang litt das katholische Österreich unter Minderwertigkeitsgefühlen gegenüber den akkuraten Nachbarn mit ihrem protestantischen Pflichtethos. In der postmodernen Spaß- und Freizeitgesellschaft von heute finden sie sich mit ihrem barocken Erbe dagegen weit besser zurecht. Zwar haben europäische Länder mal Konjunktur, mal nicht, und viele erleben dann und wann ein »Goldenes Zeitalter« und werden von den anderen bewundert. Aber sie bleiben sich doch auf zähe Weise treu.

Wer vom einen Land ins andere zieht, vergleicht beständig und wertet auch: Was ist hier besser, was schlechter? Wer für Deutsche über Österreich schreibt, darf nicht werten, denn er bedient sich ja einer unfairen Perspektive: Jedes Land kann, wenn es mit den Maßstäben eines anderen gemessen wird, nur schlecht abschneiden. Eigentlich bringen Nationen die Maßstäbe, nach denen sie sich beurteilen lassen, ja aus sich selbst hervor – sieht man von den wenigen übernational gültigen Prinzipien ab, mit denen das Nachbarland von Zeit zu Zeit so böse kollidiert. Nationen, denkt man, ruhen in sich. In Österreich liegt der Fall ein bisschen anders. Das Land sieht sich oft mit fremden, deutschen Augen, und das schon lange: früher aus dem Blickwinkel der »deutschnational« orientierten Österreicher, denen drüben alles groß und stark und modern und bei sich zu Hause alles eng und schlapp und rückständig vorkam, heute aus der Perspektive von österreichischen Intellektuellen, die im Nachbarland ihre Bücher verlegen lassen und dort ohne Sprachprobleme an den weit umfänglicheren und tiefergehenden Debatten teilnehmen können. Oder scheinbar ohne Sprachprobleme: »Der Österreicher unterscheidet sich vom Deutschen durch die gemeinsame Sprache« – der bekannte Aphorismus, der zu Unrecht Karl Kraus zugeschrieben wird,1 markiert das Verhältnis am genauesten. Man glaubt über dasselbe zu sprechen, meint aber etwas anderes.

Einer der ersten Konflikte, die wir in diesem Land auszutragen hatten, spielt im Kinderkrankenhaus. Wir wollten unseren einjährigen Jungen die Nacht über dort nicht allein lassen – ein Wunsch, den wir selbstbewusst vortrugen, weil wir ihn für offenkundig legitim hielten. Die Krankenschwester, von unserem bestimmt vorgetragenen Anspruch erkennbar genervt, bot uns nach längeren Verhandlungen an, einer von uns Eltern könne bleiben, wenn wir mit einem »Sessel« vorlieb nähmen. Wir willigten ein, bekamen am Abend dann aber von ihrer Kollegin einen harten Holzstuhl. Wir protestierten ärgerlich – und erfuhren erst später, dass in Österreich jeder Stuhl, und sei er noch so hart, »Sessel« heißt. In Frankreich hätten wir uns vielleicht anhand des Wörterbuchs über den Unterschied zwischen »chaise« und »fauteuil« kundig gemacht, bevor wir angefangen hätten zu schimpfen. In Österreich kamen wir gar nicht auf die Idee, dass hier ein sprachliches Missverständnis vorliegen könnte. Und wenn schon so banale Wörter wie »Sessel« verschiedene Begriffe bezeichnen, wie dann erst »Verfassung«, »Elterninitiative« oder »Ausländerfeindlichkeit«?

Dieses Buch soll nicht werten, sondern Verständnisprobleme klären. Aber wie tut man das? Die vielen Forscher, die solche Versuche schon unternommen haben, lassen sich in zwei Fraktionen unterteilen. Die einen haben kunstvolle Konstruktionen der österreichischen Identität aufgebaut und übertreffen einander bei dem Versuch, die spezifische Differenz zwischen beiden Ländern auf einen möglichst originellen Punkt zu bringen. Die anderen fühlen sich für die Probe zuständig und lassen von den Konstruktionen kaum etwas stehen. Sie zeigen Tabellen mit Wirtschaftsdaten vor sowie vergleichende soziologische Untersuchungen und stellen immer wieder fest, dass es ja kaum Unterschiede gibt – jedenfalls keine signifikanten, die das spezifisch »Österreichische« vom spezifisch »Deutschen« trennen würden. Beide Länder sind reich. Natürlich, Österreich ist katholisch – aber das ist das Rheinland auch. Österreich ist alpin, aber das ist auch Oberbayern. »Die Geschichte« ist anders, nur kümmert sie hier wie dort kaum jemanden mehr. Die Sprache des Österreichers ist, dialektgeographisch gesprochen, vorwiegend »bairisch«. Neonazis und Rechtsradikale, Rassisten und Wohlstandschauvinisten schließlich gibt es zu beiden Seiten der Grenze, und wer mag sich länger mit der aktuellen Häufung hier oder dort aufhalten und sie zur Charakterisierung einer ganzen Nation heranziehen – außer, er möchte seine eigenen Schamgefühle auf andere projizieren?

Aber die Wissenschaftler steigen auch mit schwerem Gepäck auf den Berg der Erkenntnis. Historiker müssen sich mit alten Erzählungen und Traditionslinien auseinandersetzen und genau um die Bedeutung wissen, die etwa der Kyffhäuser-Mythos für den deutschen Nationalismus des 19. Jahrhundert gehabt hat – selbst wenn diesen Mythos heute kaum ein Mensch mehr kennt. Empirische Sozialforscher halten sich an ihre peniblen Methoden, weil sie sich nicht dem Verdacht freien Phantasierens aussetzen wollen. So haben sie zum Beispiel Österreicher und Deutsche nach ihrem »Staatsbild« befragt. Bürger beider Länder bekamen Begriffe vorgelegt und wurden gefragt, an welchen davon sie denken, wenn sie das Wort »Staat« hören. Viel mehr Deutsche als Österreicher zum Beispiel dachten bei »Staat« an die Verfassung.2 Ein Unterschied, aber was bedeutet er? Im einen Land wurde der »Verfassungspatriotismus« erfunden, und es zelebriert die Sprüche seines Verfassungsgerichts wie die Übergabe der Zehn Gebote an Moses. Im anderen Land ist die Verfassung eine völlig uninteressante Politikersatzung, die über mehr als 150 Jahre bei wechselnden Gelegenheiten um- und fortgeschrieben wurde. Wenn zwei dasselbe sagen, meinen sie noch lange nicht das Gleiche.

Nach so vielen Jahren kommt uns Grenzgängern Österreich nicht mehr spanisch vor – nicht weil wir alles begriffen hätten, sondern weil wir langsam »betriebsblind« werden. Als mir nach ein paar Jahren Österreich an einer deutschen Tankstelle die Kassiererin für meine Rechnung von 49,96 Mark die vier Pfennig schuldig bleiben musste, darauf ins Hinterzimmer verschwand, ehrlich zerknirscht zurückkehrte und den peinlichen Vorfall mit rotem Kopf bedauerte, war ich zum ersten Mal versucht, etwas über das verrückte Deutschland zu schreiben. Nach acht Jahren wusste ich: Es ist höchste Zeit für das Österreichbuch. Inzwischen sind wieder etliche Jahre ins Land gezogen. Seither haben wir, wie wohl die meisten Migranten, im Verhältnis zu unserem Gastland alle emotionalen Phasen durchgemacht: schiere Begeisterung, Ernüchterung, Abwehr, Fremdheitsgefühle, Heimatgefühle. Irgendwann reifte der Plan, doch nach Deutschland zurückzukehren. Ein halbes Jahr Berlin hat gereicht, mich von den Illusionen, die ich mir in der Fremde über mein Herkunftsland gemacht hatte, gründlich zu kurieren.

Auch für die neue, gründlich überarbeitete Auflage ist es nun wieder höchste Zeit. Zwanzig Jahre bleiben nun einmal nicht in den Kleidern hängen. Nach dem Rückkehrversuch ist schon wieder eine ganze Zeit vergangen, und immer öfter ertappe ich mich dabei, wie ich schon mit österreichischen Augen zurück auf Deutschland gucke – oder schaue, wie ich es inzwischen sagen würde. Erfreulich viele haben das Buch gelesen, besonders unter den vielen Deutschen, die in den letzten Jahren in immer größerer Zahl nach Österreich gezogen sind und die hier inzwischen die größte Ausländergruppe stellen. Vor allem für sie ist dieses Buch gedacht. Es soll deutschen Leserinnen und Lesern Österreich so erschließen, wie wir uns als ganz normale Familie das Land erschlossen haben: streng unsystematisch, nicht unbelastet von der vielen Literatur, aber kritisch und mit Sympathie.

Oben, unten, draußen: Wo liegt Österreich?

Geschichte und Nationalgefühl

Österreich wird von Deutschen im Süden verortet; das ist nicht ganz falsch, trifft den Sachverhalt aber nur sehr ungenau. Ein Blick auf die Karte zeigt, dass Österreich vor allem im Osten liegt. Wien liegt nördlich von München, aber östlich der Oder-Neiße-Grenze, sogar östlich der kroatischen Hauptstadt Zagreb. In Wien wird es abends etwa eine Stunde früher dunkel als in Köln.1 Das gliedert den Tag ganz anders: Geschäfte öffnen morgens um acht, und es gilt als unhöflich, abends nach 21 Uhr bei Bekannten anzurufen – während Österreicher nichts dabei finden, ausländische Mitbürger aus Deutschland morgens um sieben aus dem Bett zu klingeln. Österreich erstreckt sich von West nach Ost, und das fast ebenso weit wie Deutschland von Nord nach Süd: Die Luftlinie von der liechtensteinischen Grenze im Westen zur slowakischen im Nordosten ist ungefähr so lang wie die Strecke Hamburg–München. Ebenso lange wie die Autofahrt zwischen den beiden Großstädten in Deutschland dauert die Reise von Graz nach Bregenz: etwa 7,5 Stunden.2 Wie groß Österreich ist, haben wir sinnlich erst an Freunden aus Deutschland erfahren, die in Vorarlberg zum Skifahren waren und auf der Rückfahrt »mal eben« bei uns in der Steiermark »vorbeigucken« wollten, woraus nie etwas wurde – Österreich ist aus deutscher Perspektive nicht nur im Süden, sondern auch klein.

Noch östlicher als beim bloßen Blick auf die Karte ist das Land, wenn man die Einwohnerzahlen hinzunimmt: Sieben von acht Österreichern leben in einem der sieben Bundesländer östlich von Bayern. Der ferne Westen ist für die meisten Österreicher Peripherie; von Wien an die Westgrenze des Landes ist es ebenso weit wie von dort nach Uschgorod, und das ist eine Stadt in der Ukraine. Für die Autofahrer sind Vorarlberg und Tirol sogar eine Exklave wie das Gebiet Kaliningrad für die Russen. Man fährt von Ostösterreich nach Tirol nämlich über das »Deutsche Eck«. Dieser feste Begriff bezeichnet im Österreichischen nicht die Moselmündung in Koblenz, sondern die deutsche Autobahn von Salzburg bis Kufstein oder bis Lindau am Bodensee. Nicht nur Schulkinder pflegen bei der Aufzählung der Bundesländer Vorarlberg zu vergessen. Deutsche dagegen nehmen Österreich umgekehrt wahr. »Von der Existenz Ost-Österreichs, von Niederösterreich oder der Steiermark, haben sie kaum einen Begriff«, hat mir einmal ein geplagter österreichischer Reiseleiter erzählt: »Dafür kennen sie in Tirol jeden Skilift.«

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Europa im Jahr 2001

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vor dem 1. Weltkrieg 1914

»Der Osten« war ein halbes Jahrhundert lang das Reich des »realen Sozialismus«; da gehörte Österreich natürlich nicht dazu. Es war in der Wahrnehmung der nordwestlichen Nachbarn die ganze lange Nachkriegszeit über eine besonders stabile, durch und durch westliche Demokratie, die sich von der eigenen, westdeutschen, nur durch besondere Briefmarken und sonstige Hoheitssymbole unterschied. In Wirklichkeit verhielt es sich doch etwas anders. Seit 1955 war Österreich – im Unterschied zur Bundesrepublik, die im gleichen Jahr Mitglied der NATO wurde – im Ost-West-Konflikt neutral. Die Neutralität war zunächst eine militärische. Österreich hatte sich verpflichtet, keinen militärischen Bündnissen beizutreten, keine Stützpunkte fremder Mächte auf seinem Territorium zu dulden und keine eigenen Streitkräfte zu unterhalten. Man folgte streng der Definition von Neutralität nach dem Haager Abkommen von 1907.3 Von einem politischen oder ideologischen »Neutralismus« wollte das bis 1970 konservativ dominierte Österreich nichts wissen.

Trotzdem entwickelte sich das Land in der Nachkriegszeit auch in politischer und vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht viel weniger westlich als die Bundesrepublik. Der Europäischen Union trat es erst 1995 bei. Zur Zeit des Kalten Krieges war Österreich das Scharnier für politisch unkorrekte Handelsgeschäfte und profitierte durch Provisionen und fette Aufträge für die staatliche Industrie. Schon 1958 erkannte Österreich die DDR-Reisepässe an. »DDR-Delegationen aller Art«, erzählt der frühere Außenhandelsbeauftragte Österreichs in Ostberlin, Hans Thalberg, »reisten über Österreich zu Kongressen und Tagungen, die katholischen Bischöfe Ostdeutschlands reisten über Wien nach Rom, österreichische Kurorte waren für DDR-Gewerkschaften zugelassenes Erholungsgebiet.« Die guten Beziehungen Wiens zum Osten lösten in Bonn immer wieder Empörung aus. Als 1963 die Fluggesellschaft Austrian Airlines einen regelmäßigen Luftverkehr in beide Teile Berlins einrichten wollte, gelang es der Bundesregierung mit der Hilfe der westlichen Alliierten, das Projekt zu stoppen.4 Zwar war auch in Österreich die Nachkriegsöffentlichkeit antikommunistisch eingestellt, aber niemals auch nur annähernd so sehr wie in der Bundesrepublik, wo kommunistisches Denken nach 1945 »nach drüben« gehörte und seit dem KPD-Verbot 1956 endgültig im Geruch des Landesverrats stand. Die Kommunisten, halb spöttisch, halb liebevoll »Kummerln« genannt, gründeten 1945 gemeinsam mit SPÖ und ÖVP die »zweite Republik«, durften anschließend ein paar Jahre in die Regierung und preisen sich noch heute, als erste Partei die Existenz einer eigenständigen österreichischen Nation anerkannt zu haben.

Die Himmelsrichtungen Osten und Westen haben nach dem Ende der Blockkonfrontation ihre politische Bedeutung zwar verloren, aber ihre ältere, kulturelle Bedeutung zurückbekommen. Der amerikanische Kulturwissenschaftler George Schöpflin erkennt in Europa ein westliches und ein östliches Grundmuster. Typisch für den dicht bevölkerten Westen ist danach die Teilung der Macht nicht nur zwischen regionalen Zentren, den Städten, sondern auch in politische, rechtliche, wirtschaftliche und religiöse Sektoren. Früher Ausdruck solcher Teilungen ist die erste Trennung von Kirche und Staat im Mittelalter. Im dünn besiedelten Osten dagegen musste die Macht gegen die zentrifugalen Tendenzen zusammengehalten werden. »Russland ist groß und der Zar ist weit« – der Spruch beleuchtet das Problem. Im Osten gelang es den Herrschern, die Kirche in den Rahmen ihrer Macht einzufügen. Davon legen bis heute die nationalen orthodoxen Staatskirchen Zeugnis ab. Extreme Ausformung eines östlichen Machtprinzips ist der »Cäsaropapismus«, die Vereinigung weltlicher und geistlicher Macht in einer Person, wie in Byzanz und bis 1917 in Russland – oder, in einem übertragenen Sinn auch nach 1917, als Macht und Ideologie in einer Hand konzentriert waren.5

»Mitteleuropa«, zu dem sich Österreich seit der europäischen Wende von 1990 wieder rechnet, liegt irgendwo zwischen beiden Polen, zwischen westlicher Demokratie und östlichem Despotismus. Wer danach forscht, kann in diesem Spannungsfeld vielleicht Unterschiede zwischen Österreich und Deutschland finden: etwa im katholischen Staatskirchentum des habsburgischen Kaiserhauses bis 1918, dessen Nachwirkungen man manchmal noch fühlen kann, oder in der weltlichen Priesterherrschaft, die in der Zwischenkriegszeit einen geistlichen Bundeskanzler und etliche Bürgermeisterpfarrer hervorgebracht hat, im ausgeprägten Sinn für »oben« und »unten«, für Hierarchien und Titel, wie sie den Deutschen in Österreich überall auffallen. Trotzdem wird niemand daran zweifeln, dass, wenn man solche großen Scheidelinien über den Kontinent zieht, Österreich mit anderen mitteleuropäischen Ländern in die westliche Hälfte gehört. Das aber auf eine ganz besondere Weise – eine mitteleuropäische.

Die westeuropäische Kultur kam aus den unabhängigen Städten. Sie spielten die entscheidende Rolle »für die Erhaltung und Förderung des Marktes, die Autonomie wirtschaftlicher Transaktionen, die Entwicklung von Technologien, die Verwaltung des Geldes, die Spezialisierung von Fertigkeiten und die Herausbildung eines Konzepts von wirtschaftlichem Wachstum nach eigenen Mustern von Ursache und Wirkung, nicht der Gutwilligkeit des Herrschers oder göttlichen Vorsehung unterworfen«.6 Berühmt aus jener Zeit sind die stolzen, reichen und unabhängigen Städte in Italien und den Niederlanden mit ihren ehrwürdigen Patrizierkulturen: Gent und Amsterdam, Venedig und Genua, und der Städtebund der Hanse. »Freie Reichsstädte« gab es am Ende des Dreißigjährigen Krieges viele in Süddeutschland, besonders in Schwaben und Franken, einige in Westdeutschland (Frankfurt, Aachen, Dortmund) und einige im Norden (Hamburg, Bremen, Lübeck). Aber auf dem Territorium des heutigen Österreich gab es keine einzige. Die wenigen größeren Städte – Wien, Graz und Innsbruck – waren ursprünglich Residenzen lokaler Fürsten und später Verwaltungszentren des habsburgischen Territorialstaates. Salzburg gehörte dem reichsten und mächtigsten Erzbischof im deutschen Sprachraum. Selbst Wien hat, anders als bürgerliche Städte, keine zentrale »gute Stube« mit Rathaus, Marktständen und Denkmal: Der berühmte Heldenplatz vor der Hofburg ist von der Anlage her der Innenhof eines Schlosses. Trotz seiner schwach entwickelten Stadtkultur hat Österreich – meistens mit zeitlicher Verzögerung – alle kulturellen Neuerungen und Wandlungen Westeuropas mitvollzogen. Aber eben »mit« und nicht von sich aus: Zwar hatten mitteleuropäische Städte wie Prag, Krakau und Wien schon im 14. Jahrhundert Universitäten – Erfurt, Heidelberg und Köln folgten erst einige Jahre später. Aber, so Schöpflin, sie waren »Kolonien«, denn »das Konzept stammte von anderswoher« – aus Paris, Oxford und Bologna. Dieses Muster der Übernahme hat sich bis heute erhalten: Keine größere Reform hat es in Westeuropa gegeben, die Österreich nicht mitgemacht hätte. Nur die dazugehörigen Bewegungen, die die Reformen erst angestoßen haben, gehen an dem Land meistens vorbei. Das Neue wurde erlassen, nicht erkämpft, und man merkt es ihm noch lange an. Deutsche spüren das zum Beispiel an der Sprache. Zwar hat Österreich die Berufsausbildung ebenso reformiert wie das Sexualstrafrecht, es gibt Frauenförderpläne und eine EU-Leitstelle gegen den Rassismus, aber niemand käme auf die Idee, einen Lehrling »Azubi« zu nennen; noch immer hört man arglos, Zeitungen würden nie von »Schwulen« (geschweige von einem »schwulen Bürgermeister«) schreiben, und Ärztinnen finden nichts dabei, sich auf ihrem Praxisschild als »Arzt« zu bezeichnen. In Deutschland haben Reformbewegungen oft erst einmal die Wahrnehmung und oft auch die Sprache geändert, zuweilen bis zum Tugendterror der political correctness. Man spricht auch an Technischen Hochschulen von »Professorinnen und Professoren«, auch wenn es noch gar keine oder kaum Professorinnen gibt. Das findet man in Österreich albern. Dort ist die Reihenfolge in der Regel umgekehrt: Man führt ebenso zögerlich die nötigen Neuerungen ein, hat aber für die Bewegungen, die sie hervorbrachten, kein Verständnis.

Reformen kommen seit jeher von außen, und zwar über den Umweg von »oben«; in diesem Sinne ist Österreich östlicher als Deutschland. Diese Feststellung kann in einer Zeit, da das Östliche im Westen besonders inbrünstig verachtet wird und sich alle östlichen Länder nichts dringlicher wünschen, als zum Westen zu gehören, als Anlass gebraucht werden, auf Österreich hinabzublicken. Zu Unrecht: Denn zum hier beschriebenen Mitteleuropa gehört auch Preußen, das ebenso wie Österreich keine freien Städte kannte. Preußen, das sich mit der Reichsgründung 1871 politisch über ganz Deutschland ausdehnte, ging einen anderen Weg als Österreich: Es übernahm nicht alles aus dem Westen, sondern schuf sein eigenes, aggressives, militaristisches Modell – mit den bekannten Folgen. Für den ungarischen Historiker Jenö Szücs, den das spezifisch Mitteleuropäische interessierte, entwickelte sein Heimatland aus einer ganz ähnlichen Mittellage wie Österreich einen »deformierten Musterabsolutismus, der mit seiner militärisch-bürokratischen Struktur dem östlichen Modell am nächsten stand, obgleich er mit westlicher Präzision verwirklicht wurde«.7 Österreich schuf mit seinem Prinzip der Übernahme das mildere Modell. Im Übrigen muss eine »koloniale« oder »kulturkoloniale« Vergangenheit kein Nachteil sein, wie die USA und Japan zeigen – und Österreichs »sekundäre« Universitäten haben im 20. Jahrhundert immerhin 16 Nobelpreisträger hervorgebracht. An den politischen und künstlerischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts hatte das Land, teils mit hervorragenden Vertretern, einen deutlichen Anteil. Nur eigene Bewegungen brachte es keine hervor. »Austromarxismus«, »Austrofaschismus« und »Austrokeynesianismus« lassen sich schon im Namen als Adaptationen erkennen.

Das Scharnier zwischen dem Volksleben in Österreich und den Neuerungen aus dem Westen war traditionell der kaiserliche Hof, viel reicher und mächtiger als die kümmerlichen Residenzen der handtuchgroßen deutschen Fürstentümer oder die strenge und soldatische Hauptstadt, die der Emporkömmling Preußen auf den märkischen Sand baute. Der Kaiser klagte zwar immer wieder über Geldmangel, war aber reich genug, Künstler aus ganz Europa anzuziehen. Sein üppiges Mäzenatentum wurde in republikanischer Zeit durch eine großzügige Kulturförderung ersetzt. Der deutsche Wissenschaftler und Schriftsteller Franz Borkenau bewunderte das prächtige kulturelle Modell, das der Hof zu Wien geschaffen hatte. Aber, schrieb er: »Diese internationale, im wesentlichen lateinische, mediterrane und katholische, aristokratische, bürokratische, klerikale, brillante, doch irgendwie wurzellose Zivilisation der gehobenen Klassen lag die ganze Geschichte Österreichs hindurch in Streit mit den viel bescheideneren, eher rückständigen und sprachunfähigen, doch tief im Leben der Dörfer und Städte verwurzelten Elementen, die ihren Ursprung vor der Hochblüte des österreichischen Kaiserreiches hatten.«8 Im prächtigen Wien, das in der Liga der Weltstädte spielte, gab es nur ein schwaches Bürgertum, und die Hauptstadt und ihr ärmliches und rückständiges Hinterland hatten kaum Bezüge zueinander. Kulturelle Moden konnten sich in Wien schon deshalb ungehindert ausbreiten, weil sie am Leben des Volkes eh nichts änderten. Damit gab es auch weniger beharrende Elemente, die die künstlerische Phantasie zügelten – wie es in Ländern wie der Schweiz oder Holland etwa die Kaufmannschaft und die reichen Bauern waren. Während in den Niederlanden handliche Bilder produziert wurden, die man kaufen und ins bürgerliche Heim tragen konnte, blühte in Wien die Musik, die – bevor man sie technisch reproduzieren konnte – ganz vom festlichen Augenblick abhängig war und keine Chance hatte, Handelsware zu werden.

Ein Land, das seine Ideen und Reformen importiert, braucht keine Rebellen, sondern visionäre Patriarchen. Österreichs Danton trug die Kaiserkrone, sein Rudi Dutschke war Bundeskanzler. Der größte Erneuerer dieses Typs war Joseph II. (1741 – 1790), ältester Sohn von Franz I. und Maria Theresia, ein Mann, von dem die überzeugten Bürgerlichen in ganz Deutschland begeistert waren. Als er 1765 Kaiser wurde und noch entschiedener dann nach dem Tod seiner Mutter 1780, setzte er die Erkenntnisse der Aufklärung in Österreich durch. Er schaffte die Folter ab und schuf ein weltliches Schulwesen, hob zahlreiche Klöster mit großem Landbesitz auf und befreite die Bauern von den feudalen Frondiensten, erließ Toleranzedikte für Protestanten und Juden, baute einen – damals modernen – Beamtenapparat auf und ließ Waisen-, Armen- und Krankenhäuser bauen – das alles nicht als Reaktion auf das Drängen eines erstarkenden Bürgertums, sondern aus eigener Machtvollkommenheit. Seine Ideen hatte er sich auf Reisen durch Frankreich, die spanischen Niederlande, das selbständige Holland, die Schweiz, Süddeutschland und Italien geholt – nicht zuletzt auch aus Russland, wo Zar Peter I. seinem Land ein paar Jahrzehnte zuvor ebenfalls ein rigoroses und autoritäres Modernisierungs- und Europäisierungsprogramm verordnet hatte. Die wichtigsten Protagonisten des neuen Denkens waren, anders als in Westeuropa, nicht die Kaufleute und die Freiberufler, sondern einzelne Beamte und Priester. Vor allem kamen sie nicht aus Österreich. Kaiserberater Joseph von Sonnenfels stammte aus einer jüdischen Berliner Familie, der Arzt Gerard van Swieten aus dem holländischen Leiden.9 Es war, wie in Russland, eine Aufklärung ohne bürgerliche Aufklärer, die Österreich zwar nachhaltig veränderte, aber im gemeinen Volk auf Abwehr stieß und nach Josephs Tod 1790 auch heftige Gegenreaktionen hervorrief. Manche seiner Reformen, wie die Enteignung der Klöster und die Abschaffung der Leibeigenschaft, wurden wieder rückgängig gemacht. Ähnliche Züge lassen sich auch bei Bruno Kreisky (1911 – 1990) erkennen, dem sozialdemokratischen Reformkanzler der siebziger Jahre, der reformerischen Geist mit stramm autoritärem Gehabe verband und treffend »der Sonnenkönig« genannt wurde – übrigens eine interessante Gegenfigur zum eher antiautoritären Willy Brandt in Deutschland.

Spätere Österreichmythologen wollten nach Joseph II. in aller weiteren Geschichte zwei grundlegende Prinzipien erkennen: ein »josephinisches«, d. h. reformerisches, aber auch staatsfixiertes, autoritäres und zentralistisches Prinzip, und im Gegensatz dazu ein konservatives, aber föderales und ausgleichendes »franziszeisches« Prinzip, benannt nach Franz I. Erst beide Prinzipien zusammen ergäben Österreich – eine Art nationale Yin-Yang-Philosophie, versinnbildlicht durch den doppelköpfigen Adler im Reichswappen. Der Doppeladler hatte im Laufe seiner Verwendung als Staatswappen alles Mögliche zu symbolisieren. 1867 wurde das Reich des Kaisers in zwei weitgehend autonome »Reichshälften« gegliedert: die österreichische und die ungarische. Auch in diesem Reich, der »Doppelmonarchie«, wollte man die beiden von Franz und Joseph verkörperten Prinzipien wiedererkennen: Österreich habe dort den friedlich-föderalen und Ungarn den aggressiv-zentralistischen Part gehabt. Später ließ der ewige Gegensatz sich dann im Parteiensystem der Republik ausmachen, wo sich Christlich-Soziale (später die ÖVP) und die SPÖ die Rollen geteilt hätten. Glücklich vereint seien beide »Reichshälften« in der Geschichte zwei Mal gewesen: unter Franz Joseph I., der zwischen 1848 und 1916 für 68 unvorstellbar lange Jahre auf dem Kaiserthron saß und der nach dieser Lesart nicht zufällig die beiden komplementären Namen zusammenführte, und das andere Mal unter der Großen Koalition aus SPÖ und ÖVP, die in Österreich seit dem Zweiten Weltkrieg die mit Abstand häufigste Regierungsform ist.10