image

Hilke Gerdes

Rumänien

image

Hilke Gerdes

Rumänien

Ein Länderporträt

Mit Fotografien von Harald Ullrich

image

Die Mehrzahl der Fotos stammen von Harald Ullrich.

Außerdem stellten das Rumänische Touristenamt (S. 27, 37, 67, 140) und das Literaturfestival European Borderlands (S. 207) Fotos zur Verfügung.

Fünf Abbildungen stammen aus dem Archiv des Verlages (S. 53, 55, 63, 71, 127).

Die Karten zeichnete Klaus Linke, Leipzig.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

2. Auflage als E-Book, Dezember 2016

entspricht der 3., aktualisierten Druckauflage vom Dezember 2012

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de

Covergestaltung unter Verwendung eines Fotos von Harald Ullrich

eISBN 978-3-86284-374-9

Inhalt

Rumänien von Deutschland aus gesehen

Schrecken, Verwechslungen und abgebrochene Wege

MOE, SOE, ÖME und Balkan – die schwierige Frage der Benennungen

Wider die Erwartungen – erste Auffälligkeiten im unbekannten Land

Im Getriebe der Großmächte – die Geschichte Rumäniens

Die Vereinigung zum Großreich

Unter türkischer Herrschaft

Die Fanarioten

Das russische Protektorat und die 48er-Revolution

Einigung und Reformen

Unabhängigkeit und Unterdrückung

Der Erste Weltkrieg

Zwischenkriegszeit

Die königliche und die militärische Diktatur

Alleinherrschaft ohne Widerstand – Rumänien und der Kommunismus

Stalinisierung unter Dej

»Sonnensohn« und »Weltenhonig« – Ceauşescu

Das Ende

Schweineschlachten in der Stadt – Ceauşescus Erbe

»Simulierte Demokratie«

Reich werden

Radikalisierung und Reformierung

Der Schiffskapitän und die Steuermänner

Die »blauäugigen Jungs« und die Guinea-Schweine

Improvisation und Extreme

Das Land in der Stadt

Autorität und Demut

Europa über alles? – Rumänien und die EU

»Pentru Europa« (Für Europa) – eine Momentaufnahme aus dem Jahr 2003

1. Januar 2007

Der EU-Käse

Rumänische Gewinner: die einst Diskriminierten

Rumänische Verlierer: die Kleinbauern

Hoffnungsträger Ökologie?

Erweiterung und Abschottung

Korruption

Minderheiten – Beobachtungen im Harghita-Kreis, am Schwarzen Meer, in Siebenbürgen, Bukarest und Iaşi

Silvester bei den Szeklern

Rumäniendeutsche Vergangenheit

Besuch bei Lebenden und Toten – Juden in Rumänien

Hammel im Geländewagen – bei Tataren am Schwarzen Meer

Nur als Musiker etwas wert – Roma in Rumänien

Vom Wetter, Einkaufen und anderem Alltäglichen in alphabetischer Folge

Architektonische Überraschungen – Bukarest

Tradition und Moderne

Visuelle Reize wider Willen

Wo die Masse lebt

Steinerne Allmachtsphantasien

Früher hinein, heute hinaus

Forget Dracula – Rumäniens vielfältige Kultur

Der attraktive Mythos – Dracula und Rumänien

Jenseits der Trachten

Leiden an oder Leben mit der Nation – die bildende Kunst

Provokation und Phantasie – zeitgenössische Literatur

Die Vergangenheit in der Gegenwart – neues rumänisches Kino

High and Low – rumänische Musik

Epilog

Anhang

Anmerkungen

Informationen zu Rumänien im Internet

Über die Autorin

Basisdaten Rumänien (2011/2012)

Name: România

Fläche: 238 391 km2 (Weltrang: 83)

Einwohner: 19 042 936 = 80 je km2

Hauptstadt: Bucuresti (Bukarest, 1 926 334 Einwohner)

Amtssprache: Rumänisch (Ungarisch 6,7 %, Deutsch 0,3 %)

Währung: 1 Neuer Leu (l) = 100 Bani; 1 Euro = 4,38 Lei (März 2012)

Verwaltungsgliederung: 41 Bezirke und Hauptstadtbezirk

Staats- und Regierungsform: semipräsidiale Republik gemäß Verfassung von 1991, zuletzt geändert 2003

Parlament (Parlamentul): Abgeordnetenhaus (Camera Deputatilor) und Senat (Senatul); Wahl jeweils alle 4 Jahre; Direktwahl des Staatsoberhauptes alle 5 Jahre (einmalige Wiederwahl möglich); Wahlrecht ab 18 Jahre

Bevölkerung: 89,5 % Rumänen, 6,6 % Magyaren (Ungarn), 2,5 % Roma (offiziell), 0,3 % Deutsche, 0,3 % Ukrainer, 0,2 % Russen, 0,2 % Türken, außerdem Tataren, Serben, Slowaken u.a. (18 nationale Minderheiten anerkannt)

Bevölkerungswachstum: – 0,26 % pro Jahr

Einwanderungsrate: – 0,26%

Durchschnittsalter: 39,1 Jahre

Lebenserwartung: Männer 71 Jahre, Frauen 78 Jahre

Religion: 86,8% Rumänisch-orthodox, 4,7% Römischkatholisch, 7,5 % Protestanten, 0,9 % Griechisch-orthodox, 0,3 % Muslime, 12 000 Juden

Erwerbstätige nach Wirtschaftssektoren: Dienstleistungen 49,8 %, Landwirtschaft 30,0 %, Industrie 20,2 %

Arbeitslosigkeit: 5,1 %

Inflationsrate: 5,8 %

Wirtschaftswachstum: 5,6 %

Bruttoinlandsprodukt je Einwohner: 6187 €

Durchschnittseinkommen: ca. 300 Euro monatlich

(Quelle: The World Factbook 2012; indexmundi.com)

Rumänien von Deutschland aus gesehen

Schrecken, Verwechslungen und abgebrochene Wege

»Bestell Dir per Handy eine Pizza mit viel Knoblauch, wenn Dich statt eines Taxis eine Kutsche mit sechs irre schnaubenden Rössern nicht zur Touristen-Information, sondern in einen unwegsamen, steinigen, von Wolfsgeheul erfüllten Wald fährt.«

Das schreibt mir der befreundete Satiriker auf meine Ankündigung, samt Mann und Kind für mindestens drei Jahre nach Bukarest zu ziehen. Dieser witzig gemeinte Ratschlag entspricht genau dem, was den meisten Menschen als Erstes zu Rumänien einfällt. Das wilde, dunkle Land, in dem der Blutsauger haust. Neben Vampiren gibt es dort auch Drachen, wie jeder Fan des britischen Zauberlehrlings Harry Potter weiß, denn Hagrid besorgt sich seine Lieblingstiere aus dem fernen Rumänien.

In deutlicher Erinnerung ist mir auch eine ungewöhnlich begeisterte Reaktion auf meine Erwähnung von Bukarest: »Oh, was für eine schöne Stadt!« Ich stutzte und stellte auf Nachfrage fest, gemeint war Budapest. Die phonetische Ähnlichkeit hat schon zu mancher Verwechslung geführt und so manchen Bukarester genervt. Der Vater eines rumänischen Freundes bekam in den fünfziger Jahren ein Antwortschreiben von Charles de Gaulle, adressiert war: Budapest, Roumanie.

Unkenntnis und Klischeedenken werden freimütig zur Schau gestellt, wenn es um Rumänien geht. Selbst mancher sich so intellektuell gebärdende Mensch, der keine Chance auslässt, seine Belesenheit zu demonstrieren, entblödet sich nicht, auf Knoblauch und Dracula anzuspielen. Bram Stokers legendärer Roman verfehlt nicht seine Wirkung. Wäre ich eine Rumänin, würde ich den Vampir abgrundtief hassen, weil den Ausländern kaum etwas anderes zu meinem Land einfällt. Dazu kämen noch Ceauşescu, die Securitate und die schrecklichen Kinderheime, über die es genügend Bilder im westlichen Fernsehen gab.1 Als aktuellstes Assoziationsfeld bietet sich die Korruption im jüngsten EU-Land an. Andererseits gehört es schon zum Standard in der Rumänien-Berichterstattung, diese Assoziationen als Klischees zu brandmarken. Dass man gleich nach dem Anprangern der Klischees sich ihrer selbst bedient, zeigen so manche der insgesamt recht dünnen Medienberichte zum EU-Beitritt Rumäniens Anfang 2007. So ist in der einschaltquotenstarken Nachrichtensendung im Ersten Deutschen Fernsehen im Bericht über Bukarest ein Grüppchen bunt gekleideter Roma zu sehen. Einer derartigen Formation bin ich in drei Jahren Durch-die-Stadt-Wandern höchstens drei Mal begegnet, sie prägen keineswegs das alltägliche Bild dieser modernen Metropole. Aber wenn Rumänien gezeigt wird, sollen eben auch Zigeuner, Pferdewagen und barfüßige Kinder zu sehen sein. Für jemanden aus einem hochindustrialisierten Land ist das Rückständige vielleicht besonders faszinierend. Die modernen Seiten kennt man ja zur Genüge vom eigenen Land. Auch der rumänische Tourismusverband, der Anfang 2007 eine Werbekampagne für sein Land startete, setzt eher auf die ländlichen Regionen als auf die Städte. Auf der Grünen Woche in Berlin sind am rumänischen Stand archaische Szenen zu sehen: Rumäninnen in Tracht zerstampfen mit bloßen Füßen die Weintrauben. Mit den realen Bedingungen der aktuellen rumänischen Weinproduktion hat das wenig zu tun. Obwohl die Modernisierung in den letzten Jahren rasant fortgeschritten ist, wird vor allem mit dem Ländlichen geworben. Es ist ein Pfund, mit dem Rumänien tatsächlich wuchern kann: die Karpaten, die waldreichen Gebiete im Norden, das Donaudelta – überall paradiesische Natur.

Mit der Aussicht, bald in diesem Land zu leben, beginnen wir die Suche nach dem wahren Rumänien, wird die Wahrnehmung geschärft für alles, was Rumänien betrifft. Freunde helfen dabei, leiten Infos weiter, spannen die Netze aus.

Verdammt sei der deutsche Meteorologe, der sich im Fernsehen unverschämterweise immer vor Rumänien stellt, um das Europawetter zu erklären. Als würde dieses Land nicht existieren. Seit einigen Jahren wird der rumänische Film verstärkt wahrgenommen, und rumänische Musik ist als Balkan Beats einer kleinen, aber feinen Szene sehr wichtig, doch insgesamt ist das nach Polen größte Land im europäischen Ostblock nach wie vor für viele eine große Unbekannte.

Früher einmal gab es mehr Verbindungen, als aus der Wetterkarte heute zu schließen ist. Angefangen bei der Preußischen Akademie, deren Mitglied 1714 der Gelehrte und Fürst der Moldau Dimitrie Cantemir wurde, über die rumänischen Könige, die Hohenzollern waren, bis zu Ingenieuren und Künstlern, wie Henri Coanda, Brassaï und Arthur Segal, die Anfang des 20. Jahrhunderts nach Berlin kamen.

Selbst viele Kunsthistoriker wissen nicht, dass nach einer der Theorien zur Begriffsbildung des »Dadaismus« dieser aus dem Rumänischen abgeleitet ist. Und dass man das »i« im Namen des Bildhauers Brancuşi nicht spricht, weil es ein rumänischer Name ist.

Viele Rumänen sind erst berühmt geworden, nachdem sie ihr Land verließen. Der Religionsforscher Mircea Eliade, der Schriftsteller und Philosoph Émile Cioran, der Dramatiker Eugene Ionescu. Musiker wie Gheorghe Zamfir und Sergiu Celibidache sind aus Rumänien. Und Peter Maffay. Legendär ist der Tarzan-Darsteller Johnny Weissmüller, der aus dem heute zu Rumänien gehörenden Banat stammte. Oskar Pastior, der legendäre Wortkünstler konkreter Poesie, stammte aus Sibiu (Hermannstadt), das für 2007 zur Kulturhauptstadt Europas gewählt wurde.

Eines der unrühmlichen Kapitel der Geschichte Rumäniens ist die Allianz mit den Nationalsozialisten unter General Antonescu. Deutsche Nazis vergnügten sich in den Bukarester Luxushotels, bevor es in den Ostfeldzug ging. Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet Rumänien hinter den Eisernen Vorhang, lugte ab und zu mit antisowjetischen Provokationen dahinter hervor und versuchte durch westdeutsche Kurgäste seine Devisenkasse aufzubessern. Bald jedoch hatte das ein Ende. Je mehr im Ostblock die Perestroika erstarkte, desto enger wurden die Bande zu der ebenfalls reformunwilligen DDR. Vorher hatten Ceauşescus Politik des nationalen Kommunismus und die frühe Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Bundesrepublik wenig Freude bei den deutschen Genossen hervorgerufen. Auch die Kooperation zwischen Stasi und Securitate war nach Ceauşescus Protest gegen den sowjetischen Einmarsch 1968 in Prag weitgehend eingeschlafen.2

In der DDR war Rumänien – anders als der bulgarische Nachbar – kein Urlaubsziel für die Massen. Es waren vor allem junge Leute mit Rucksack, die ihre mehrwöchigen Zelturlaube in den Karpaten mit Kondomen oder Kaffee als Tauschware bestreiten konnten. Beides war Mangelware. Von der Schönheit des Landes schwärmte uns ein Rostocker Schiffsoffizier vor, lange bevor wir daran dachten, für länger nach Rumänien zu gehen. Dass man dieses Land einmal besuchen sollte, sagten wir uns allerdings schon damals.

Für unser Abschiedsfest wollten wir »Rumänisches« organisieren. Die Recherche begann in Berlin. Der heute nicht mehr existierende rumänische Imbiss gegenüber einem großen Presseunternehmen am ehemaligen Mauerstreifen half uns weiter mit einer Adresse im südlichen Teil Deutschlands. Dort leben mehr Rumäniendeutsche als im Norden, ihre historischen Ursprünge liegen dort, und dort waren die Auffanglager für die Flüchtlinge und Aussiedler. Eine Metzgerei aus der Nähe von Nürnberg hat allerlei Spezialitäten im Angebot. Hätte ich es gewagt, sie als »rumänisch« zu betiteln, hätte die resolute Metzgersfrau protestiert, erklärte sie mir doch gleich, dass die nach original siebenbürgischem Rezept hergestellte Wurst viel besser sei als die der Banater Schwaben. Von den rumänischen »Mici«, kleinen gegrillten Hackfleischröllchen, die – wie wir später erfuhren – vom Popularitätsgrad her zu vergleichen sind mit der Currywurst (in Berlin), ist erst gar nicht die Rede.

Die Würstchenangelegenheit war uns eine erste Lektion: Nenne nicht etwas rumänisch, das von der deutschen Minderheit kommt! Und wir lernten: Die deutsche Minderheit im Vielvölkerstaat Rumänien differenziert sich nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Die Abgrenzung gegen Rumänen und Banater Schwaben bzw. Siebenbürger Sachsen bestimmt die eigene Identität.

Zur Vervollständigung des kulinarischen Angebots besorgten wir Lammfleisch. Rumänien ist ein schafreiches Land, also wird man dort auch Lammfleisch essen, so unsere Schlussfolgerung. Doch heute sind wir klüger. Auf den Speisekarten der Restaurants, ob preiswert oder de luxe, finden sich Rind- und Schweinefleisch, Geflügel in allen Varianten, aber Lamm kommt relativ selten vor. Nur zu Ostern isst man es in jeder zweiten Familie. Schafsfleisch wird im Winter getrocknet und extrem gesalzen als »Pastramă« serviert.

Unser Büffet ergänzten wir mit uns rumänisch erscheinenden Salaten aus Weißkohl, Paprika, Tomaten und Gurken. Den Rest entliehen wir der türkischen und griechischen Esskultur, denn uns blieb keine Zeit, in Bibliotheken nach deutschsprachigen Kochbüchern mit rumänischen Rezepten zu suchen. Später lernten wir, dass es gar nicht so einfach ist, »rumänische« Rezepte zu finden. Die rumänische Küche spiegelt schließlich den Vielvölkerstaat und seine Geschichte. Berliner Freunde kannten die habsburgisch geprägte Küche Siebenbürgens, aber die Rezepte der anderen Regionen, etwa der Walachei, waren ihnen unbekannt. Mit dem Gemüse lagen wir immerhin nicht falsch. Grundnahrungsmittel sind in Rumänien tatsächlich Kohl, Bohnen und Zwiebeln. Im Sommer kommen Tomaten, Möhren, Gurken, Auberginen und kleine grüne Paprika hinzu. Jeder, der Rumänien kennt, wird in das Loblied auf das rumänische Gemüse mit einstimmen. Die rumänische Tomate ist die beste auf dem ganzen europäischen Kontinent!

Identitätsmäßig unkomplizierter als die Esswaren erschien uns der trockene und für den niedrigen Preis recht ordentliche rumänische Wein, den ein Freund für uns in einem türkischen Imbiss entdeckt hatte. Der Wein war aus der nördlichen Dobrogea (Dobrudscha), einer Region am Schwarzen Meer. Aber auch dieses Getränk barg, wenn auch nicht so eindeutig wie die siebenbürgische Würstchenangelegenheit, eine kleine Lehre über den Vielvölkerstaat Rumänien. Die nördliche Dobrudscha gehörte zeitweilig zu Bulgarien und ist heute u. a. von der kleinen türkischen und tatarischen Minderheit bewohnt.

Zu einem Abschiedsfest gehört natürlich auch Musik, in diesem Fall eben rumänische Live-Musik. Dank eines guten Freundes, der seine Kontakte aktiviert hatte, war es irgendwann soweit: Am Hackeschen Markt sollte ich Musiker, die gerade aus Rumänien gekommen waren, treffen. Ich hatte keine Ahnung, wie sie aussehen, wie alt sie sind, welche Sprachen sie sprechen. Ich wusste nur, sie sind Zigeuner – oder politisch korrekt: Roma. Sollte ich also nach dunkelhäutigen Typen mit Goldkettchen, Schnäuzer und schwarzem Hut Ausschau halten? Ich traf vier junge Leute mit heller Haut, in Jeans und T-Shirt. Florin, der Älteste, übernahm die Gesprächsführung, ein bisschen in Deutsch, ein bisschen in Französisch. Seine Cousine Florentina half zwischendurch mit Spanisch, das sie in den Telenovelas gelernt hatte, die von morgens bis abends im rumänischen Privatsender »Romantica« laufen. In diesem Sprachmischmasch verhandelten wir den Preis für ihren kleinen Auftritt. Pünktlich zur verabredeten Zeit waren sie dann da, spielten traditionelle Zigeunerlieder und verbreiteten eine wunderbare Stimmung. Am Ende gaben sie mir eine Bukarester Telefonnummer. Wir sehen uns wieder, sagten sie. Ich glaubte nicht daran. Dann kam der Abschied.

Bis Bukarest brauchten wir von Berlin aus fast so lange wie bis nach New York – und fast so viel Geld. Noch liegt Rumänien weit abseits von den gängigen Wegen der Weltreisenden. Die Ost-West-Teilung der Welt ist politisch Vergangenheit, aber sie bestimmt nach wie vor die Vorlieben der Mehrheit in Westeuropa.

MOE, SOE, ÖME und Balkan – die schwierige Frage der Benennungen

»In den Schluchten des Balkans«, »Blut und Honig«, »Auf der Suche nach dem Balkan« – so hießen Ausstellungen zeitgenössischer Kunst aus verschiedenen Ländern Südosteuropas in Kassel, Wien und Graz. Der kulturliebende Westen interessierte sich für den Balkan. Balkan? Dieser historisch beladene Begriff löst Unbehagen bei mir aus. Ist vom Balkan die Rede, wird von Geschichtskennern gern Otto von Bismarck zitiert. Die Knochen eines einzigen Grenadiers aus Pommern sollen ihm mehr wert gewesen sein als der ganze Balkan zusammen. Hintergrund seiner Äußerung war die »orientalische Frage«, der Kampf um die Macht über dieses Gebiet zwischen der französisch-englischtürkischen Allianz und Russland. Mangelnde Disziplin und Ordnung; Gewalt und Rückständigkeit – das wurde in der Nachfolge Bismarcks vielfach mit dem Balkan assoziiert. Bis heute hält sich dieses Negativbild in den westlichen Medien. Zweifellos war es eine politisch extrem unruhige Region (und ist es teilweise noch), in der die Staatenbildung nach dem Ende des Osmanischen Reiches zahlreiche Konflikte mit sich brachte. Dies allerdings unter Mitwirkung der westlichen Großmächte und Russlands, die ihre Einflussbereiche zu sichern suchten.

Doch wo genau fängt der Balkan an, wo endet er? Bereits die geographischen Grenzen des Balkans zu bestimmen, ist nicht so einfach. Es gibt die Definition »südlich der Donau gelegen«. Dann gehört nur ein kleiner Teil Rumäniens dazu. Aber Griechenland. Was für die Westeuropäer wiederum ungewöhnlich erscheint. Griechenland hat die Westanbindung geschafft, Gyros und Ouzo kennt jeder. Bulgariens »Gjuvetsch« und »Slivova« dagegen kaum einer. Geographisch eindeutig »Balkan« ist allein die Gebirgskette in Bulgarien. Die Bezeichnung ist eine Zusammensetzung aus den türkischen Wörtern für »Blut« und »Honig«. Das meinten die Türken in Bulgarien zu sehen, als sie das Land besetzten. Als das Osmanische Reich im ausgehenden 19. Jahrhundert seine Eroberungen in Südosteuropa aufgeben musste, wandte der Westen den Begriff »Balkan« für diese Gebiete an. Zuvor soll der Begriff »europäische Türkei« gebräuchlich gewesen sein.3 Letztendlich ist die geographische Grenzziehung egal, der Balkan ist eher ein mentaler Raum, eine Idee.

Ich frage Rumänen danach, wo und was für sie der Balkan ist. Die meisten antworten sofort mit »Bulgarien« und, nach einigem Überlegen, mit dem ehemaligen Jugoslawien. Rumänien selbst als Balkanstaat zu sehen, erscheint nicht wenigen als völliger Unsinn: »Der Balkan ist slawisch, wir haben einen lateinischen Ursprung.« Der Balkan, das sind die anderen. Die meisten zucken mit den Schultern oder antworten nur zögerlich, wenn es darum geht, das Balkan-Bild inhaltlich zu füllen. Krieg, Chaos und staatliche Zerstückelung werden genannt, aber auch die Fähigkeit, zu genießen und schalkhaft zu sein.

Die in Belgrad geborene Künstlerin Marina Abramovic bedient die Klischees der Mental Map Balkan erfolgreich im Westen. Kunst aus dem Balkan sei für sie »leidenschaftlich, blutig, visuell aggressiv, tief melancholisch«. Differenzierter äußert sich der rumänische Künstler und Direktor der Biennale für zeitgenössische Kunst in Iasi, im Nordosten Rumäniens, Matei Bejenaru. Er stellt die Negation des Balkans im eigenen Land fest, hält aber diese Ablehnung für falsch. Für ihn persönlich ist das Respektieren und Kultivieren von Unterschieden das Spezifische der Region, und nicht das Einzwängen in Normen. Damit entspricht er in etwa dem, was der aus Rumänien stammende und jetzt in Berlin lebende Kunstkritiker und Kurator Marius Babias mit der »Neuerfindung« des Balkans meint: »Vielsprachigkeit und kulturelle Vielfalt, ethnisches Nebeneinander und religiöse Toleranz, Entgrenzung statt Begrenzung, Raum statt Linie«4 seien die positiven Merkmale.

Babias’ Begriff der »Neuerfindung« bezieht sich auf das Buch »Die Erfindung des Balkans« von Maria Todorova5. Die in Bulgarien geborene Historikerin hat in diesem berühmten Werk den westlichen Begriff vom Balkan hinsichtlich seiner politischen und kulturellen Implikationen untersucht.

Ob alter oder neu erfundener Balkan, ich verzichte auf diese Bezeichnung, denn der Streit ist akademisch und für das Selbstverständnis der Rumänen ohne große Bedeutung. Doch wenn nicht Balkan, was dann? Mehrere Varianten der Benennung sind zur Zeit im Umlauf. Immer noch am häufigsten gebraucht wird »Südosteuropa«. Das klingt sachlicher als »Balkan«. Aber auch dieser Bezeichnung wohnt die Westperspektive inne. Kein Mensch käme auf die Idee, Spanien und Portugal als Südwesteuropa zu bezeichnen.

Es gibt Institutionen, die »Östliches Mitteleuropa« (ÖME) als Bezeichnung gewählt haben. Die Neue Zürcher Zeitung benutzt den ähnlichen Begriff »Ostmitteleuropa« und versteht darunter Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Polen. Mit diesem Begriff werden stillschweigend neue Grenzlinien gezogen. Mitteleuropa erscheint als der »gute« Name, Osteuropa als der eher schlechte. Historisch ist dieser Begriff habsburgisch und preußisch geprägt. Nicht das von deutscher Seite vorgeschlagene Großdeutsche Reich, sondern ein den Herrschaftsbereich von Österreich-Ungarn berücksichtigendes »Mitteleuropa« wollten die Habsburger entstehen lassen. Daraus wurde nichts. 1915 schlug Friedrich Naumann in seinem Werk »Mitteleuropa« einen Staatenbund unter der Führung Deutschlands vor. Gegen ihn wehrten sich Politiker wie der spätere tschechische Staatspräsident Tomás Garrigue Masaryk, der einzelne Kleinstaaten ohne hegemoniale Großmächte forderte. Politisch ist der Mitteleuropa-Begriff also nicht unproblematisch. Und wo fängt es an, wo hört es auf? Intellektuelle Polens, Tschechiens, Sloweniens, der Slowakei und Ungarns begannen Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre mit dieser Begrifflichkeit ihre ideelle Bindung an Westeuropa in Abgrenzung zur Sowjetmacht zu betonen. Der britische Historiker Timothy Garton Ash veröffentlichte 1986 einen Aufsatz mit dem Titel: »Mitteleuropa – aber wo liegt es?» 13 Jahre später verzichtet er auf den Begriff in der englischen Originalausgabe von »Zeit der Freiheit. Aus den Zentren von Mitteleuropa«, denn inzwischen sei der Begriff, so Garton Ash, »wieder Bestandteil des offiziellen politischen Vokabulars«6 geworden. Nur welche Länder zu Mitteleuropa gehören, sei so wenig eindeutig wie vor Jahren. Tendenziell sind damit die ersten Nato- bzw. die ersten EU-Mitgliedsstaaten des ehemaligen Ostblocks gemeint (Polen, Tschechien, Ungarn, das Baltikum, die Slowakei und Slowenien). Welches Land zu »Mitteleuropa« gerechnet wird, ist definiert durch die Nähe zu Westeuropa. Nicht nur die geographische, sondern eine mentale, kulturelle Nähe. Welche Werte im Einzelnen verbindend sind, ist so umstritten wie unklar. Während Garton Ash sich lange für den Begriff »Mitteleuropa« eingesetzt hat, war er später über dessen ausgrenzende Anwendung entsetzt.

Rumänien erscheint dem Westen als sehr fern. Es Mitteleuropa zuzurechnen, käme den meisten nicht in den Sinn, trotz Nato- und EU-Mitgliedschaft. Erst wenn in ferner Zukunft womöglich die Türkei und Ukraine zur EU gehören, mag das anders werden.

Wer von Mitteleuropa spricht, zieht Grenzen, grenzt unwillkürlich aus, weshalb man diplomatisch eine andere Lösung bevorzugt: MOE, abgekürzt für Mittel- und Osteuropa oder auch Mittelosteuropa. So kann sich jeder aussuchen, für was er sich hält. Im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich der politisch am meisten korrekte Begriff allerdings nicht durchgesetzt. Südosteuropa ist die gängige Variante geblieben.

Mit der geographischen Realität Europas haben diese Bezeichnungen wenig zu tun. Europa reicht bis zum Ural, doch bei Moskau denkt fast keiner an Europa. Und wer vermag schon zu sagen, wo die geographische Mitte Europas eigentlich liegt? Beinahe jeder wähnt sie bei sich. Es gibt dazu einen interessanten Film, der mit folgender Szene beginnt: Ein Autofahrer wird gefragt, wo die Mitte Europas liege. Er antwortet: »In Essen natürlich«, und fährt weg. Auf seinem Autokennzeichen erkennt man das »E« für Essen. Die Fragenden reisen weiter nach Osten bis in die Ukraine, überall finden sich Stellen, die als die Mitte Europas deklariert und teilweise zum touristischen Anziehungspunkt ausgebaut wurden. Im rumänischen Statistischen Jahrbuch zur Geographie, Meteorologie und Umwelt für 2006 heißt es, Rumänien liege in der geographischen Mitte Europas; es liege auf der Strecke zwischen der Atlantikküste und dem Ural genau in der Mitte. Dem ist nicht zu widersprechen.

Wider die Erwartungen – erste Auffälligkeiten im unbekannten Land

Ohne den von diversen Freunden und Bekannten anempfohlenen Knoblauch gegen Vampire im Gepäck, aber mit der Angst vor Meisterdieben und Trickbetrügern im Nacken, die uns ein Berliner Polizist eingeredet hat, betreten wir die Ankunftshalle des Flughafens in Bukarest.

Wir halten unser Gepäck gut fest und sind auf alles gefasst. Doch nirgends eine Spur von verdächtig herumschleichenden Gestalten, die uns erleichtern wollen, keine Heerscharen von Straßenkindern, die uns bettelnd umlagern. Es herrscht normale Geschäftigkeit wie auf jedem Flughafen der Welt: Menschen warten auf ankommende Freunde, Familienmitglieder oder Geschäftsleute, begrüßen sich herzlich oder formell, sitzen an der Kaffeebar und lesen Zeitung. Unsere Gepäckstücke bleiben unbeachtet.

Auch in den folgenden Jahren werden wir weder Opfer eines Überfalls, noch bricht man in unsere Wohnung ein. Selbst dann nicht, als wir vergessen, die Hintertür abzuschließen. Man klaut uns weder die Geldbörse noch das Auto, dessen eine oder andere Tür aufgrund der nicht vorhandenen Zentralverriegelung öfters einfach offen bleibt. Mitgehen lassen hat der vom Berliner Polizisten so einprägsam beschriebene rumänische Delinquent einzig und allein eine Mülltonne von unserem Hof.

Es kann nicht deutlich genug gesagt werden: Rumänien ist sehr viel ungefährlicher als sein Ruf. Wer in London seinen Urlaub verbringt, wird mit höherer Wahrscheinlichkeit Opfer eines Diebstahls werden als der Tourist, der sich nach Rumänien wagt. Gerade in der Anfangszeit, als uns die Zahlen und Preise noch wie Kauderwelsch vorkamen, passierte es, dass die Geldsumme, die wir glaubten verstanden zu haben, mit einem Kopfschütteln wieder in unsere Hand zurückgelegt wurde, weil sie zu hoch war. Es wäre ein Leichtes gewesen, diese Situation auszunutzen.

Als Frau abends alleine durch die Stadt zu gehen, stellt kein Problem dar. Zwar liegt Rumänien im Süden Europas, aber die Männer haben nichts gemein mit den Latin Lovers Italiens oder Spaniens, die meinen, jede Frau, die nach Sonnenuntergang ohne Begleitung ist, lege Wert auf ihre Bekanntschaft.

Auch das Durchforsten der täglichen Meldungen nach den berühmt-berüchtigten rumänischen Gaunern führt nur zu schwachen Ergebnissen. Wir können keinen potenzierten Kriminalitätsfaktor feststellen. Dass es Menschen gibt, die versuchen Ortsunkundige übers Ohr zu hauen, ist nichts Landesspezifisches. Dies durften wir auch in Rumänien erleben. An einem frühen Samstagabend auf dem weniger belebten Teil des Hauptboulevards gaben sich zwei Männer als Polizisten in Zivil aus und verlangten nach unseren Ausweispapieren. Dass es darum geht, an das Portemonnaie zu kommen, wussten wir bereits und wechselten wortlos die Straßenseite. Damit war das Problem erledigt. Körperliche Angriffe, Totschlag oder gar Mord muss man nicht fürchten. Diese Art der Gewalt kommt hier nicht öfter als in mittleren deutschen Großstädten vor.

Woher nährt sich das Bild Rumäniens als so gefährlich, wenn wir doch von Bedrohung nichts spüren? Sarkastische Stimmen behaupten, die rumänischen Kriminellen seien alle im Ausland. In Österreich waren im Jahre 2011 von insgesamt 2802 ausländischen Häftlingen 284 Rumänen, das sind etwa zehn Prozent. Sie stellen die größte Gruppe der ausländischen Gefängnisinsassen dar. Wenn man berücksichtigt, dass man von so manchen Städten Rumäniens schneller in Wien als in Bukarest ist, erscheint es immer noch als nicht besonders viel.

Vor einigen Jahren ging die Kunde über die sogenannten Rumänenbanden durch die Presse, die mit brachialer Kraft ganze Tresore aus Banken sprengten. In Wäldern sollten sie hausen und alles, was nicht niet- und nagelfest ist, mitgehen lassen. Viel Übertreibung und wenig Fakten bestimmten die Berichterstattung in deutschen Medien über diese, statistisch betrachtet, eher zu vernachlässigende Größe an Straftaten.

Recherchiert man heute zu diesem Thema im Internet, stößt man einerseits auf den xenophoben Sumpf am rechten Parteienrand, auf Chatrooms von Waffenfanatikern, die es zur Selbstwehr drängt, und andererseits auf Antirassismus-Gruppen, die das Problem der Kriminalität als reine Ausländerfeindlichkeit betrachten. Beide Positionen treffen nicht den Kern der Wahrheit. Laut Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes wurden 2010 in Deutschland 20 Prozent der Straftaten (ohne Verstöße gegen das Aufenthalts- und Asylgesetz) von »Nichtdeutschen« begangen. Davon waren 4,6 Prozent Rumänen.7 Das ist zwar mehr als vor fünf Jahren, aber sicherlich weniger, als so mancher glaubt.

Die Rumänen selbst sagen, dass diejenigen, die im Ausland sind und klauen, alles »Zigeuner« seien. Sie würden ihnen den guten Ruf kaputtmachen. Kaum ein Mensch in Rumänien benutzt den politisch korrekten Begriff »Roma«. Die Minderheit, die offiziell 2,9 Prozent der etwa 21,5 Millionen starken Bevölkerung des Landes stellt, ist die meistgehasste Ethnie im Land, die für alles Schlechte verantwortlich gemacht wird. Statistiken über den Anteil von Roma an Straftaten in Deutschland gibt es nicht. Zweifel an ihrer hohen Zahl sind angebracht. Allerdings haben die Rumänen in einem Punkt Recht: In Deutschland kennen wir als Rumänen fast ausschließlich den Akkordeonspieler auf der Straße. Dieser ist in den meisten Fällen ein Roma, denn das Musikmachen gehört zu ihren traditionellen Betätigungsfeldern. Bei den stumm knienden Bettlern im Betgestus, die vorzugsweise in den Fußgängerzonen anzutreffen sind, ist die ethnische Identifizierung schon schwieriger. Es sind nicht immer Roma. Dass es Organisationen gibt, die Betteltouren in den Westen organisieren, ist längst bekannt. Betteln ist nicht gleich Stehlen.

Mitverantwortlich für unser Bild des kriminellen Rumänen ist die Assoziationskette Balkan = organisierte Kriminalität = Gewalt. Es ist nicht abzustreiten, dass seit dem Fall des Eisernen Vorhangs sich auch in den ehemaligen Ostblockländern international agierende kriminelle Organisationen gebildet haben. Es ist allerdings nicht leicht, sich hier ein differenziertes Bild zu schaffen. Von »Balkan-Mafia« ist die Rede, das gleichnamige Buch von Mappes-Niediek8 behandelt aber vor allem das ehemalige Jugoslawien und Albanien. Rumänien kommt so gut wie nicht vor, was natürlich nicht heißt, dass es hier keinen Drogen-, Waffen- und Menschenhandel sowie Wirtschaftskriminalität gibt. Transitstrecken für den Drogenhandel vom Südosten in den Nordwesten Europas verlaufen auch durch Rumänien. Aus umgekehrter Richtung, von Westeuropa in den Osten, kommen Kokain und synthetische Drogen. Allerdings darf man sich das Straßenbild rumänischer Großstädte nicht wie die Bahnhofsgegend von Frankfurt a. M. oder das Berliner Kottbusser Tor vorstellen. Junkies gehören hier nicht zum alltäglichen Anblick. Wenn man Drogenabhängige sieht, dann die Schnüffler von Aurolack. Das ist ein preiswerter, legal zu bekommender Industrielack. Im Gegensatz zu Deutschland stellt für die städtische Jugend Rumäniens das Rauchen von Marihuana keine Norm fürs Coolsein dar. Noch ist der Drogenkonsum vergleichsweise gering.

Die organisierte Kriminalität agiert im Verborgenen. Als Normalsterblicher wird man nicht mit ihr konfrontiert, weder in Rumänien noch in Deutschland. Den angeblich typischen mafiosen Ost-Kriminellen – schwere Limousine, schwarze Brille, stiernackig, korpulent und bescheiden intelligent aussehend – erblicken wir auf rumänischen Straßen kein einziges Mal, auch wenn es ihn gibt und in den Medien über solche Typen berichtet wird. Auf dem Bukarester Flughafen begegnete ich allerdings bei einer späteren Gelegenheit drei etwa sechzehnjährigen Mädchen, die mit ihren Plateauschuhen, bauchfreien Tops und Pokemon-Stofftieren im Arm eine bizarre Mischung von Kindlichkeit und Erotik boten. Sie waren auf dem Weg nach Wien, in eine Tanzbar, wie sie sagten. Nur tanzen, betonte eine von ihnen. Freiwillig würden sie gehen und vermittelt durch eine Landsmännin, die wie sie aus der Republik Moldau sei. Das kleine Land im Norden, zwischen Rumänien und der Ukraine, ist noch viel ärmer als der große südliche Nachbar. Seit dem EU-Beitritt Rumäniens ist das Leben noch schwerer dort, da der Grenzverkehr eingeschränkt wurde. Von dort betrachtet ist Rumänien nahezu reich, beträgt das durchschnittliche Bruttonationaleinkommen eines Einwohners der Republik Moldau gerade einmal 1953 Dollar, und das sind etwa 6376 Dollar weniger als in Rumänien.9 Es ist alles eine Frage der Perspektive. Wer sich über osteuropäische Frauen- und Kinderhändler moralisch entrüstet, sollte auch den Absatzmarkt im Blick haben. Ihre Kunden sitzen in Deutschland, Österreich und weiter westlich.

Als wir nach der Ankunft in Bukarest unser erstes Geld tauschen, schauen wir misstrauisch auf die Scheine: Ist dieses Plastikgeld, das zudem noch eine Art Loch, eine transparente Stelle zum Durchschauen hat, wirklich richtiges Geld? Später erfahren wir: Da die Münzen hier so gut wie keinen Wert haben, sind die Scheine permanent im Umlauf, weshalb man sich für dieses widerstandsfähigere Material entschieden hat. Ähnlich wie in Italien vor der Euroeinführung sind die Zahlen riesig: 36000 Lei sind ein Euro. Seit dem Sturz Ceauşescus 1989 stieg die jährliche Inflationsrate kontinuierlich auf bis zu 200 Prozent. Im Jahre 2000 betrug sie noch 40 Prozent. Erst im letzten Jahrzehnt konnte sie unter die Zehn-Prozent-Hürde gedrückt werden. Jeder war hier Millionär – Löwenmillionär, so heißt die Währung übersetzt. Doch 2005 wurde der neue Leu (RON) eingeführt. Vier Nullen hat man gestrichen, um der Zahlenmonster Herr zu werden. Die Scheine haben ihr altes Aussehen behalten, nur sind sie jetzt kleiner und tragen die neuen Zahlen. Im Kopf vier Nullen zu streichen, ist komplizierter als drei. Wir denken maximal in Tausender-Schritten. Alle hatten Mühe mit der Umstellung.

Unsere offensichtliche Verwunderung beim ersten Geldumtausch scheint keiner zu bemerken. Um uns herum nur unbeteiligte Gesichter. Das blieb so.

Einen Winter lang fahren mein Sohn und ich mit dem Autobus zum Kindergarten ins Zentrum. Jeden Tag dieselbe Strecke, dieselbe Situation: der Sohn kommentiert laut in das eisige Schweigen hinein das, was er draußen sieht. Einige wenige schauen mit unbewegter Miene kurz auf und wenden die Augen schnell ab, wenn ich sie anblicke. Nie bekommen wir ein Lächeln. Selbst das blonde Kind nicht, dem man im westlicheren Südeuropa so gern über den Kopf streicht. Die Gesichter bleiben regungslos. Je länger man in Bukarest lebt, desto deutlicher wird es. Wer nur für einige Tage hier ist, den lenkt die Quirligkeit der Stadt zunächst einmal ab. Zu einem berichtenswerten Erlebnis wird es, wenn jemand auf der Straße freundlich reagiert oder möglicherweise sogar lächelt. So wie der alte Herr in Temeswar, der mich auf dem Einheitsplatz einfach anspricht und voller Stolz von der Geschichte seiner österreichisch geprägten Stadt erzählt.

Nicht-Bukarester betonen gern, dass die Hauptstädter kühl und distanziert seien. Auch Berlin gilt ja landläufig nicht als Hort der menschlichen Wärme. Ist es also ein Hauptstadt-Phänomen? Vielleicht, aber Berlin erscheint mir, seitdem ich Bukarest kenne, als nahezu herzlich. Zudem sehe ich auch in anderen rumänischen Städten diese Art von Gesichtern. Es ist weniger Kühle oder Distanz als Teilnahmslosigkeit, die aus ihnen spricht. Sie beherrscht die Atmosphäre im öffentlichen Raum. Wir können an Menschen herantreten und sie fotografieren, sie werfen einen kurzen Blick auf uns und schauen weg, ohne eine Bewegung im Gesicht. Die »toten Augen«10, die der in der Bukowina geborene Schriftsteller Gregor von Rezzori 1990 wahrnahm, sind nicht verschwunden.

»Im Grunde sah mich keiner von ihnen an, alle taten so, als hätten sie beschlossen, sich nicht einzumischen, darauf zu warten, daß alles vorüberging – und Gott allein wußte, wie es enden würde, schienen sie zu sagen –, ohne selbst für die weitere Entwicklung der Dinge verantwortlich gemacht zu werden.«11 So wie Ana Blandiana, die rumänische Schriftstellerin und Bürgerrechtlerin, die Menschen in ihrem Roman »Die Applausmaschine«, der im Securitate-Milieu der Ceauşescu-Zeit spielt, beschreibt, so erscheinen mir viele heute noch.

Die Ära des Diktators ist vorbei, die Teilnahmslosigkeit nach außen ist geblieben. Der öffentliche Raum ist keine Aktionsfläche, sondern ein gezwungenermaßen zu betretendes Terrain. Der Mensch ist nicht Akteur, sondern ein fliehendes Teilchen. Orte, die Plätze genannt werden, sind mit wenigen Ausnahmen entweder Achsenkreuze wichtiger Verkehrsstraßen oder kümmerliche Grünanlagen umgeben von Straßen und Parkplätzen.

Der Platz als Ort des Zusammentreffens, der Kommunikation und Interaktion im Sinne der griechischen Agora, ist in kommunistischer Zeit zerstört worden, sagt Augustin Ioan, Assistenzprofessor an der Bukarester Universität für Architektur und Stadtplanung. »Dass sich viele Menschen versammeln, sollte nur bei Aufmärschen und politischen Massenveranstaltungen stattfinden – als gelenkte Masse auf einem einzigen Platz, der damit aber kein öffentlicher Platz war.«12 Nur die alten Parks in den Städten bieten einen Schimmer von einem öffentlichen Raum, den sich die Menschen angeeignet haben und in dem sie sich wohlfühlen. Auch vor den Wohnblöcken sitzt man draußen und spielt Schach. Doch der Rest ist Feindesland.

Die von früheren Rumänien-Reisenden gern zitierte rumänische Hilfsbereitschaft spürt der hier Lebende erst einmal nicht. Wenn auf der Straße jemand stürze, würde keiner zu Hilfe eilen, behaupten rumänische Jugendliche, mit denen wir ins Gespräch kommen. Wie zur Bestätigung beobachte ich, wie einem betrunkenen Mann im Bus keiner eine Antwort auf seine Frage nach der nächsten Haltestelle gibt. Andererseits: Als sich ein Mädchen beim Rollschuhlaufen im Park den Arm bricht, sind sofort Menschen zur Stelle, um ihr zu helfen. Als wir auf der nächtlichen Landstraße eine Autopanne haben, wird für uns der rumänische Autoclub benachrichtigt. Hilfsbereitschaft existiert durchaus, zeigt sich aber nur, wenn es wirklich dringlich erscheint.

Wie die Währung und vieles andere im Land, hat sich im Laufe der Zeit auch die Taxisituation vor dem Flughafen geändert. Bei unserer ersten Ankunft müssen wir noch mit grimmigem Gesicht aus der Halle nach draußen treten, um die Traube von privaten Taxifahrern abzuschütteln. Es folgen zähe Verhandlungen über den viel zu teuren Fahrpreis und die Fahrt auf der Hinterbank eines alten Dacias, deren Spiralfedern uns genauso unvergessen bleiben wie dieses schwingend-schwimmende Fahrgefühl. Heute sprechen einen nur noch vereinzelt Taxifahrer an, stets auf der Hut vor dem Taxi-Unternehmen, das jetzt das Monopol hier hat und dessen französische Kastenwagen es dem Neuankömmling schwer machen zu identifizieren, wo er sich gerade befindet. Auch die Büro- und Gewerbebauten und Werbetafeln an der Ausfallstraße zum Flughafen könnten in jedem x-beliebigen Land stehen. Trotz langer Stagnation hat sich Rumänien seit 1989 sichtbar verändert. Nicht nur in politischer, wirtschaftlicher und gesetzlicher Hinsicht, auch die Lebensweisen, das Verhältnis zwischen den Jungen und Alten, die Werte und Normen – all dies ist in rasanter Veränderung begriffen und bringt neben Verbesserungen auch viel Verunsicherung und Ablehnung. Jahrzehntelang war Rumänien ein relativ abgeschottetes Land mit zementierten Strukturen. Der Wandel ist für viele Menschen auf materieller wie auf ideeller Ebene eine große Herausforderung.

Der Taxifahrer, der uns vom Flughafen zu unserer Unterkunft bringt, spricht glücklicherweise Italienisch und so können wir uns verständigen. Inzwischen beherrschen viele Rumänen eine Fremdsprache. Denn welcher Ausländer lernt schon Rumänisch? Es ist ihnen klar, dass ihre Sprache keine Chance hat auf dem internationalen Parkett, obwohl sie eine lateinische Sprache und deshalb für Westeuropäer nicht so schwer zu erlernen ist wie die slawischen Sprachen. Jüngere sprechen zumeist mehrere Sprachen und diese oft auf einem recht hohen Niveau. Die jungen Manager und Managerinnen, die in den einschlägigen Business-Blättern in Kurzporträts vorgestellt werden, geben mindestens drei Fremdsprachen an. Englisch ist auch hier die wichtigste. Danach kommen Französisch, Deutsch und Italienisch. Weniger akademisch Gebildete lernen vom Fernsehen, wo die amerikanischen Filme oder südamerikanischen Telenovelas unsynchronisiert laufen.

Bildungsbewusste Eltern schicken ihr Kind schon mit zwei oder drei Jahren in den Fremdsprachenunterricht, selbst wenn das Geld dafür mühsam gespart werden muss. Im deutschsprachigen Kindergarten unseres Sohnes begegne ich einem Vater, der seit der Geburt seiner Tochter ausschließlich Englisch mit ihr spricht. Sie war gerade vier Jahre alt und erhielt nach dem langen Kindergartentag auf Deutsch zweimal wöchentlich abends noch zusätzlichen Sprachunterricht. Von der Leistungskapazität eines Kindes hat man in Rumänien andere Vorstellungen als in Deutschland. Ironischerweise wird hier beim Stichwort »deutsche Erziehung« die alte Rohrstock-Methode assoziiert, die Disziplin und Fleiß befördert. Dass auch in Deutschland die Entwicklung vorangeschritten ist und beispielsweise erkannt wurde, dass Spielen die kognitiven Fähigkeiten schult, ist hier noch nicht angekommen. Spielen wird hier fast als Zeitverschwendung betrachtet, die sich eher die bildungsfernen Schichten leisten. Wer kein Geld für zusätzlichen Unterricht hat, hofft seinem Kind durch Sport zum gesellschaftlichen Aufstieg zu verhelfen. Als unser Sohn in der Zwergengruppe des Bukarester Fußballclubs Dinamo Bucuresti spielte, waren wir mit zwei, drei anderen Eltern die einzigen, die aus ihrem Kind keinen Fußballstar machen wollten und dementsprechende Leistungsanweisungen gen Spielfeld brüllten. Dass die besten Turnerinnen aus dem Osten kommen, ist kein Wunder. Noch heute ist von dem alten Drill gegenüber Kindern viel zu spüren. Lehrer, die anders sind, haben nicht nur mit Kollegen zu kämpfen, sondern ebenso mit Eltern, die unter Bildung umfangreiches Faktenwissen verstehen und nicht die Fähigkeit zum eigenständigen Denken und zur Transferleistung.

Unser Taxifahrer nimmt den Weg ins Stadtzentrum über eine vielspurige Chaussee, die bis heute als die Champs Elysées von Bukarest gilt. »Hier leben die Reichen«, erklärt der Fahrer verächtlich. Dass wir dort später einmal wohnen werden, können wir uns nicht vorstellen, denn wir sind wahrlich nicht reich. Aus der Perspektive von jemandem, der den rumänischen Durchschnittslohn von 350 Euro netto im Monat verdient (2012), allerdings schon, zumal viele Menschen mit deutlich weniger auskommen müssen, obwohl sie teilweise mehrere Jobs haben.