Die Kurfürstenklinik 32 – Ihre letzte Chance

Die Kurfürstenklinik –32–

Ihre letzte Chance

Roman von Nina Kayser-Darius

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-283-3

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»Das ist kein Leben!« sagte Andrea von Hillenburg tonlos. »Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt und fühle mich bereits wie eine alte Frau, Mama! Manchmal denke ich, es wäre gut, wenn es endlich vorbei wäre.«

Sonja von Hillenburg setzte sich neben ihre Tochter und griff nach ihrer Hand. »Du darfst den Mut nicht verlieren, Andrea«, sagte sie erschrocken. »Papa und ich glauben ganz fest daran, daß du eine Chance hast, eines Tages ein normales Leben zu führen.«

»Ach, Mama!« Andrea fing an zu weinen, doch sie gab keinen Ton von sich, und das machte es für ihre Mutter nur noch schrecklicher. »Ich werde nie gesund sein, ich werde nie das tun können, was andere in meinem Alter tun. Wie gern möchte ich einmal in einer Diskothek tanzen oder mit dem Fahrrad so schnell durch eine Fußgängerzone flitzen, daß sich alle über mich aufregen. Oder auf einen Berg steigen – ich träume immer noch davon, daß ich einmal eine richtig anstrengende Bergtour mit euch machen kann. Eine, bei der ich am Ende jeden Muskel meines Körpers spüre. Aber das einzige, was ich spüre, ist mein Herz. Immer wieder nur mein Herz.«

Sonja hielt ihre Hand und sagte nichts – was hätte sie auch sagen sollen? Sie verstand Andrea, natürlich verstand sie sie. Sie selbst und ihr Mann Rudolf waren schließlich kerngesund und konnten all das tun, wonach Andrea sich sehnte. Und daß sie es nicht mehr taten, hatte weniger mit ihrer körperlichen Konstitution zu tun als mit der Krankheit ihrer einzigen Tochter, die auch ihr Leben völlig verändert hatte. Da war kein Platz mehr für Bergsteigen und Tanzen! Nur mit dem Fahrrad fuhren sie noch immer viel.

Während ihre Tochter lautlos und verzweifelt weinte, dachte Sonja an die Operationen zurück, die Andrea bereits hinter sich hatte. Immer wieder hatten die Ärzte ihnen Hoffnung gemacht, und immer wieder waren die Hoffnungen zerstört worden. Andrea hatte bereits bei der Geburt einen schweren Herzfehler gehabt. Die erste Operation hatten die Ärzte vorgenommen, als sie erst wenige Tage alt gewesen war. Damals waren sie noch voller Optimismus gewesen.

Aber andere Operationen waren gefolgt, und mittlerweile war Andreas Herz viel zu groß und dünnwandig geworden, als daß man ihr noch einmal eine künstliche Klappe hätte einsetzen können. Sie brauchte ein ganz neues Herz – und die Chance, daß es einen geeigneten Spender für sie gab, war gering, das wußten sie. Dennoch weigerten sich Sonja und Rudolf, ihre einzige Tochter verlorenzugeben.

»Ich weiß, daß es schwer für dich ist, Andrea«, sagte Sonja behutsam. »Aber du darfst die Hoffnung nicht verlieren, hörst du? Du mußt ganz fest daran glauben, daß du ein neues Herz bekommst! Wir tun es auch, Papa und ich. Wenn wir diese Hoffnung nicht hätten, dann…« Sie sprach nicht weiter. Sie wollte vor Andrea nicht weinen und dieser alles noch schwerer machen, als es ohnehin schon war. Sie schluckte und sagte gewollt heiter: »Du wirst wieder gesund, daran glaube ich! Und jetzt sag mir, was du essen möchtest. Du hast einen Wunsch frei heute.«

»Ach, Mama!« Andrea war gerührt über diesen Versuch ihrer Mutter, sie von ihrem Unglück abzulenken. Sie hatte nie großen Appetit und aß wie ein Spatz, aber wenn Sonja sich nicht so große Mühe mit dem Kochen gegeben hätte, dann hätte sie sicher noch weniger gegessen. Sonjas Kochkünsten war nur sehr schwer zu widerstehen.

»Bitte, Andrea! Ich möchte dir so gern wenigstens eine kleine Freude machen!«

»Also gut, Mama.« Andrea wischte sich die Tränen ab, versuchte zu lächeln. »Dann wünsche ich mir etwas mit Fisch.«

»Gut«, sagte Sonja. »Und hinterher gibt es etwas Süßes, ich weiß auch schon was.« Sie stand auf und gab ihrer Tochter einen Kuß. »Und was machst du jetzt?«

»Ich arbeite weiter an diesem Artikel«, antwortete Andrea. Sie war an der Universität eingeschrieben, versäumte aber viele Vorlesungen. Selbst wenn Sonja sie bis zur Universität fuhr, war der Weg von der Straße bis in den Hörsaal oft genug zu weit für Andreas schwaches Herz. Dann mußte sie schon nach wenigen Metern stehenbleiben und rang verzweifelt nach Luft. Aber sie war auch zu stolz, sich im Rollstuhl in den Hörsaal bringen zu lassen.

Zum Glück hatte sie eine gute Freundin, Beatrice Kellermann, die ihr regelmäßig ihre Mitschriften zur Verfügung stellte und ihr auch sonst auf vielfältige Weise half. »Außerdem kommt Bea nachher noch.«

»Gut, dann bis nachher!« Sonja warf ihrer Tochter einen letzten prüfenden Blick zu, aber Andrea schien sich tatsächlich wieder gefangen zu haben. Erleichtert darüber verließ sie das Zimmer.

Andrea aber vertiefte sich keineswegs wieder in den Artikel, den sie eigentlich lesen wollte. Sie stand auf und stellte sich vor den großen Spiegel, der neben ihrem Kleiderschrank hing. Sie betrachtete sich so aufmerksam, als sehe sie sich zum ersten Mal, und was sie sah, gefiel ihr durchaus. Blonde, glänzende Haare, die in natürlichen Wellen bis über die Schultern fielen, große blaue Augen, ein hübscher Mund – dazu eine gute Figur, schlank und doch weiblich. Natürlich war sie sehr blaß, das war sie immer – aber sie konnte mit ihrem Aussehen trotzdem zufrieden sein. Man sah ihr jedenfalls nicht sofort an, wie krank sie war.

Ihr kam eine Idee, die sie im ersten Augenblick völlig verrückt fand. Aber dann nahm diese Idee Gestalt an, und je länger sie darüber nachdachte, desto besser gefiel sie ihr. Warum nicht?, dachte sie. Ich könnte mich den ganzen Tag ausruhen…

Sie überlegte, ob sie Bea einweihen sollte, verwarf diesen Gedanken dann aber. Bea würde versuchen, ihr ihr Vorhaben auszureden oder, schlimmer noch, sie würde es vielleicht sogar verraten, um Andrea daran zu hindern. Nein, auch vor Bea mußte es geheim gehalten werden. Sie würde es ganz allein tun müssen.

Andrea kehrte zurück zu ihrem Sessel und setzte sich wieder. Ihr Herz schlug heftig, und sie legte unwillkürlich eine Hand auf die Brust, als könne sie es dadurch beruhigen. Wenigstens einmal, dachte sie, und wenn es mich das Leben kostet!

*

Dr. Adrian Winter betrat die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik in Berlin-Charlottenburg. Er hatte in den nächsten zwei Wochen Nachtdienst, gemeinsam mit seinen Kollegen Dr. Julia Martensen und Dr. Bernd Schäfer. Mit diesen beiden arbeitete Adrian, der seit einiger Zeit Chefarzt

und zugleich Leiter der Notaufnahme war, am liebsten zusammen.

Julia war Internistin und über zehn Jahre älter als er, was man ihr aber keineswegs ansah. Sie war eine gut aussehende, schlanke und sehr sportliche Brünette. Bernd war chirurgischer Assistenzarzt und ein wenig jünger als Adrian. Er kämpfte ständig mit seinen überzähligen Kilos und der Tatsache, daß er kein Glück bei Frauen hatte.

Adrian warf einen Blick auf den Dienstplan und stellte fest, daß auch Schwester Claudia Nachtdienst hatte. Darüber freute er sich ebenfalls. Claudia war sehr still, aber ungeheuer kompetent.

»Oh, der Chef ist auch schon da«, hörte er eine freundlich spottende Stimme hinter sich.

»Hallo, Bernd«, sagte er. »Fein, daß wir mal wieder alle drei zusammen sind, Julia, du und ich.«

»Genau das habe ich auch gesagt«, erwiderte Bernd und senkte dann die Stimme. »Allerdings bin ich etwas enttäuscht, daß Schwester Claudia mit von der Partie ist. Sie ist eine tolle Krankenschwester, und sie sieht auch gut aus, aber sie ist immer so wahnsinnig zurückhaltend.«

»Mir gefällt sie gerade deshalb«, sagte Adrian lächelnd. »Und du solltest endlich aufhören, die Schwestern danach zu beurteilen, ob sie bereit sind, mit dir zu flirten oder nicht. Such dir eine Freundin, Bernd, aber möglichst nicht im Krankenhaus.«

»Du hast gut reden«, brummte Bernd. »Als wenn das so einfach wäre!«

Adrian ging nicht darauf ein, denn in diesem Augenblick kam Julia auf die beiden Männer zu und begrüßte jeden von ihnen mit einem Kuß auf die Wange.

»Womit haben wir das denn verdient«, erkundigte sich Bernd geschmeichelt. »So könntest du uns öfter begrüßen, Julia.«

»Mal sehen«, erwiderte diese. »Wie sieht’s aus? Was sagen die Kollegen?«

»Viel los«, berichtete Bernd düster, »die Leute spielen wieder einmal verrückt – ihr wißt ja, in regelmäßigen Abständen gibt es Nächte, in denen man hier nicht zur Ruhe kommt. Dies könnte eine davon werden.«

»Ach, Bernd«, meinte Adrian, »hör auf zu unken!«

»Guten Abend«, sagte eine Stimme direkt neben ihnen.

»Guten Abend, Schwester Claudia«, erwiderte Adrian freundlich. »Fein, daß wir wieder einmal zusammenarbeiten.«

»Ja, das finde ich auch«, sagte sie und errötete leicht. Sie war hübsch, aber auf eine unauffällige Art. Auffällig an ihr waren einzig ihre wunderschönen grauen Augen.

»Dann wollen wir mal hören, was uns die Kollegen an Arbeit zu übergeben haben«, schlug Adrian vor.

»Auf in den Kampf«, murmelte Bernd und warf Schwester Claudia einen nervösen Blick zu. Vielleicht gelang es ihm im Laufe der Nacht ja doch, ihr ein wenig näherzukommen. Er würde schon dafür sorgen, daß Adrian von seinen Bemühungen nichts merkte, denn dessen Einstellung zu diesem Thema kannte er zur Genüge. Aber wie sollte er eine Frau außerhalb des Krankenhauses kennenlernen, wenn er kaum jemals irgendwo anders war? Und wenn er einmal frei hatte, dann war er so müde von seinen anstrengenden Diensten, daß er versuchte, den versäumten Schlaf nachzuholen. Da war kein Platz für Frauen…

»Und, wie geht’s Ihnen, Schwester Claudia?« fragte er, als sie auf dem Weg zu den Behandlungskabinen waren. Adrian und Julia waren weit genug entfernt, daß er diese Frage gefahrlos stellen konnte.

Sie warf ihm einen Blick aus ihren schönen grauen Augen zu und lächelte so, daß sein Herz unwillkürlich anfing, ein wenig schneller zu schlagen.

»Ich freue mich, wieder einmal in der Notaufnahme zu arbeiten«, antwortete sie und ging ein wenig schneller, so daß er nicht dazu kam, das Gespräch fortzusetzen. Aber was machte das schon? Die Nacht war ja noch lang, und weitere Nächte gemeinsamen Dienstes würden folgen.

*

»Eigentlich müßte ich noch arbeiten«, sagte Wolf Schemmann zögernd zu seinem Freund Hans Merkler. Wolf war Übersetzer – er war zweisprachig aufgewachsen, weil seine Mutter Engländerin war, und das kam ihm bei seinem Beruf natürlich sehr zugute. Obwohl er noch so jung war, war er bereits recht gut im Geschäft.

»Ach, komm schon«, sagte Hans. Er war ein großer, schlaksiger Blonder mit braunen Augen und einem übermütigen Lächeln im Gesicht. »Wir sind nur einmal jung, Wolf. Laß uns mal wieder um die Häuser ziehen heute abend. Ich habe keine Lust mehr, irgendwas zu machen.«

Hans hatte auch einmal Übersetzer werden wollen – so hatten Wolf und er sich kennengelernt – jedoch bald feststellen müssen, daß ihm die nötige Disziplin dafür fehlte. Nun studierte er Journalistik und hoffte, eines Tages durch spannende Reportagen berühmt zu werden. Vor allem aber wollte er durch die Welt reisen und so das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Zum Glück waren seine Eltern nicht arm und konnten es sich leisten, ihren Sohn weiterhin zu unterstützen. Allerdings hatte sein Vater kürzlich angedeutet, es werde Zeit, daß auch Hans allmählich erwachsen werde und seinen Unterhalt selbst verdiene.