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Rohra

Ja zum Leben trotz Demenz!

Warum ich kämpfe

Ja zum Leben trotz Demenz!

Warum ich kämpfe

von

Helga Rohra

unter Mitwirkung von Ulrike Bez

ISBN 978-3-86216-284-0

© 2016 medhochzwei Verlag GmbH, Heidelberg

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Satz: Reemers Publishing Services GmbH, Krefeld

Illustration und Umschlaggestaltung: Eugen Wachter, St. Martin

Umschlagfoto: www.cristinabobe.com

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Helga Rohra

Vorwort Ulrike Bez

1Veränderung in der Demenz

2Berührungen

3Im Wartezimmer

4Wie ich meinen Alltag bewältige

5Irrfahrten

6Ich spreche für mich selbst

7Gefühle

8Plädoyer für einen Umgang „Auf Augenhöhe“

9Mein Glaube

10Gesellschaft im Umbruch

11Mut machen

12Ethik

13Nützliche Tipps für den Alltag

14Ein Nachwort von Ulrike Bez

Vorwort Helga Rohra

Willkommen in der Gedanken- und Gefühlswelt eines Menschen mit Demenz!

Mein Weg begann mit der Diagnose vor acht Jahren, es fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Von ganz unten aus der Depression habe ich mich hochgearbeitet zu dem, was ich heute bin. Es war kein leichter Weg. Etwas in meinem Inneren hat mich dazu angetrieben. Nennen wir es Glaube, nennen wir es Lust auf Verwandlung. Vielleicht war es auch schlicht eine Flucht nach vorne. Das Wichtigste war, meine noch existierenden Fähigkeiten in den Mittelpunkt meiner eigenen Aufmerksamkeit zu rücken und nicht die zahlreichen Unfähigkeiten und Einschränkungen, die die Krankheit mit sich bringt.

Vor meiner Diagnose war ich Konferenzdolmetscherin. Heute übersetze ich die Gedanken- und Gefühlswelten der Menschen mit Demenz für die Gesunden. Seit 2012 bin ich Vorsitzende der Europä­ischen Arbeitsgruppe der Menschen mit Demenz. Ziel dieser Gruppe ist es, unsere Bedürfnisse und Forderungen zu artikulieren und sie auf nationaler und europäischer Ebene voranzubringen.

Eine wundervolle Würdigung meiner Arbeit habe ich 2014 erfahren. Für meine Leistungen im Bereich Demenz habe ich den Deutschen Engagementpreis erhalten. Überreicht wurde er mir von Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig am 5.12.2014 in Berlin. Einen weiteren Preis erhielt ich im Dezember 2015, ebenfalls in Berlin. Dort wurde ich zur Botschafterin für internationales Engagement ernannt.

Meine Botschaft: Demenz muss nicht das Ende sein. Demenz kann auch der Anfang eines anderen, neuen Lebens sein. Dies kann gelingen in einer Gesellschaft, deren Bewusstsein sich in Bezug auf Menschen mit Demenz verändert: eine inklusive Gesellschaft, die uns und unsere Angehörigen nicht ausgrenzt, sondern einbezieht. Einbeziehen heißt: sich auf unsere Bedürfnisse einstellen, auf uns zugehen, den ­Dialog mit uns suchen, gemeinsam wachsen.

[<<7] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

An dieser Stelle geht ein besonderer Dank an Ulrike Bez, die mich nicht nur beim Schreiben unterstützt hat, sondern mich als Seelenverwandte begleitet; an meinen Sohn Jens, der mir Mut macht und mich nach Kräften unterstützt; und an die sehr professionelle und menschliche Begleitung durch Annette Kerstein vom Verlag medhochzwei.

Ganz besonders möchte ich mich bei meinem Vorstand des Vereins Trotzdemenz e.V. und seinen warmherzigen Mitgliedern bedanken, die mein Thema klug und empathisch voranbringen. Vielen Dank nicht zuletzt an alle meine Freunde und Facebook-Anhänger, die mich auf meinem Weg bestärken und unterstützen.

Sie, liebe Leserinnen und Leser, lade ich ein, trotzDEM mutig mit mir nach vorne zu gehen.

Vorwort Ulrike Bez

Helga Rohra fällt aus dem Rahmen. Sie passt nicht in das vorherrschende Bild eines Demenzbetroffenen.

Kennengelernt haben wir uns 2011 auf einer Tagung. Es war einer ihrer ersten öffentlichen Auftritte und ihr Buch „Aus dem Schatten treten“1 war gerade erschienen. Von Anfang an gab es viele Berührungspunkte zwischen uns.

Ich hatte zu dieser Zeit die Initiative „Demenzfreundliche Kommune“2 in meinem Heimatdorf Sonnenbühl/Schwäbische Alb mit Ausstellung, Videoinstallation, Vorträgen und Austausch für Angehörige und Betroffene durchgeführt und mich mit der bundesweiten Initiative der Aktion Demenz e.V. vernetzt. Aus unseren zahlreichen Gesprächen entwickelte sich eine Freundschaft, ich lernte den Menschen Helga Rohra näher kennen.

Im Jahr 2012 entstand in Kooperation mit der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich das Hörbuch zu ihrem Buch „Aus dem Schatten treten“ und das Video „Demenz & Esprit“3 unter meiner Regie. In den folgenden Jahren unterstützte ich sie bei ihren medialen Auftritten und übernahm ihre PR- und Öffentlichkeitsarbeit. Diese intensive Zusammenarbeit bedeutete eine neue Sicht auf die nationale und internationale Demenzlandschaft, wobei ich ihr politisches Engagement voll und ganz unterstützte.

Im Jahr 2014 wurde die Idee geboren, ein Buch herauszubringen, das Menschen mit Demenz und ihren Stellenwert in der Gesellschaft thematisiert. Ich bin sehr stolz, als Co-Autorin an diesem Buch mitgewirkt zu haben. Über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr haben wir intensiv zusammengearbeitet. Aus den bunten handschriftlichen Aufzeichnungen, die Helga Rohra thematisch in Schachteln vorsortiert hatte, entstand Stück für Stück das Manuskript. Ihr ausgeprägtes Sprachge[<<9] Seitenzahl der gedruckten Ausgabefühl spornte mich an, den Text stilistisch immer weiter zu verbessern, bis zum letzten Feinschliff. Ihre Begeisterungsfähigkeit ist ansteckend, und so verwundert es nicht, dass wir mit Leichtigkeit und Lebensfreude an das Thema herangehen.

Je länger ich sie kenne, umso mehr bewundere ich sie. Mit aller Kraft setzt sie sich für die Rechte von Menschen mit Demenz ein. Mit Charme und Durchsetzungsvermögen hat sie in vielen TV-Talkshows die Herzen der Menschen erreicht und es geschafft, das Thema Demenz salonfähig zu machen. Sie ist eine charismatische Persönlichkeit voller Enthusiasmus und positiver Energie. Sie besteht darauf, mit ihren Fähigkeiten gesehen und akzeptiert zu werden und ein selbstbestimmtes, freies Leben zu führen. Vorne stehen, vorangehen. Die Rolle der Impulsgeberin ist ihr auf den Leib geschneidert. Ihre Botschaft stärkt sowohl Betroffene als auch Angehörige und Pflegende. Durch ihren unermüdlichen Einsatz leistet sie einen wichtigen gesellschaftspolitischen Beitrag zur Veränderung der Sicht auf das Phänomen Demenz.

Das Thema Inklusion ist in aller Munde und geht einher mit dem Infragestellen von herrschenden Normen und Werten. Dieser Paradigmenwechsel ist notwendig, wenn wir Inklusion als wirkliche Teilhabe begreifen; als Teilhabe für alle, für Menschen mit Behinderungen im Allgemeinen und auch für Menschen mit Demenz. Auch für Menschen wie Helga Rohra! In einer Zeit, in der Solidarität und Zusammenhalt verschwinden und wir von einer ökonomisch immer ungerechteren Umverteilung nach oben betroffen sind, ist diese Forderung politisch brisant. Helga Rohra zeigt uns die Facetten ihrer Demenz und fordert jeden Einzelnen von uns auf, uns mitsamt unseren vielfältigen Schwächen und Stärken einzubringen. Sie rebelliert gegen den Optimierungsgedanken und bringt Qualitäten wie Entschleunigung und Achtsamkeit ins Spiel.

Ich denke, es täte uns allen gut, sich von ihren Gedanken und Visionen inspirieren zu lassen. Schließlich zeigt sich die Reife einer Gesellschaft am Umgang mit ihren Schwachen. Dass Schwachsein nicht Handlungsunfähigsein, sondern aktives Gestalten und eigeninitiatives Handeln bedeuten kann, zeigt sie uns auf eindrucksvolle Weise.

Ich wünsche ihrem Buch viele Leserinnen und Leser, damit sich die Begegnung auf Augenhöhe durchsetzt.


1 Rohra, Helga: Aus dem Schatten treten. 2011.

2 www.bezmedien.de/index.php/auf-augenhoehe

3 Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik: Demenz und Esprit (DVD). Jürgen Steiner im Gespräch mit Helga Rohra und Richard Taylor.

Kapitel 1

Veränderung in der Demenz

Ziehende Landschaften

Man muß weggehen können

und doch sein wie ein Baum:

als bliebe die Wurzel im Boden,

als zöge die Landschaft und wir ständen fest.

Man muß den Atem anhalten,

bis der Wind nachläßt

und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,

bis das Spiel von Licht und Schatten,

von Grün und Blau

die alten Muster zeigt

und wir zuhause sind,

wo es auch sei,

und niedersitzen können und uns anlehnen,

als sei es an das Grab

unserer Mutter.

(Hilde Domin)1

[<<11] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

Ich möchte darüber schreiben, wie sich Demenz heute für mich anfühlt und welche neue Lebensphilosophie mit ihr und durch sie entstehen kann. Im Vordergrund steht nicht das Medizinische oder Pathologische, sondern in erster Linie das Sich-selbst-Annehmen, so wie man ist. Das bedeutet: das Funktionieren im Alltag, wie ich und die anderen es von mir erwarten, ist verschwunden und weg. Wenn ich sage „Es ist weg“, schwingt darin eine tiefe Trauer mit. Es ist der Schmerz darüber, dass das, was ich einmal hatte, mir für immer verlorengegangen ist. Ich stehe vor der Frage: Was bleibt, wenn „der Geist schwindet“? Woran halte ich mich, wenn mein Alltag brüchig wird? Was jetzt zählt, ist viel Geduld und Liebe zu sich selbst. Dies sind die ersten und wichtigsten Schritte aus der Krise.

Hinzu kommt, dass wir Demenzbetroffene nach der Diagnose sehr gegen das Selbstmitleid ankämpfen müssen. Auch die anderen bemitleiden uns, wenn sie von unserem Schicksal hören. Sie sagen: „Ach du Arme, so eine schlimme Diagnose und das in deinem Alter!“ Ein weiteres, übermächtiges Gefühl ist die Angst. Der eine weint, die andere wird aggressiv. Dahinter steckt die Furcht, zur Last zu fallen. Niemand will eine Bürde sein. Denn wir Menschen sind sehr darauf bedacht, unseren eigenen Beitrag zu leisten, autonom zu sein und für uns selbst zu sorgen. Wir wollen zuallererst geben, nicht nehmen; das liegt in unserer Natur.

Als ich im Jahr 2008 die Diagnose bekam, versank ich in eine tiefe Depression. Düstere Gedanken kreisten in meinem Kopf: „Bin ich jetzt nur noch eine Last für die anderen?“ „Was bin ich überhaupt noch wert?“ In meinem ersten Buch „Aus dem Schatten treten“ habe ich beschrieben, wie ich mich aus diesem Negativkreislauf befreit habe und zu der Person wurde, die ich heute bin.

Wenn man eine Krise durchlebt, gerät das ganze Gebilde der eigenen Persönlichkeit ins Wanken. Alle Beziehungen müssen neu überdacht und geordnet werden. Es bleibt, im wahrsten Sinne des Wortes, kein Stein auf dem anderen. Der Mensch neben mir, sei es mein Sohn, eine Freundin oder ein Bekannter: Es ist immer die Angst da, nicht verstanden zu werden. Ich bin mit mir selbst absolut unzufrieden. Ich vergesse Dinge, ich mache Fehler. Über allem schwebt das drohende Scheitern, und dann ist ständig diese Trauer da, stark und herausfor[<<12]dernd. Ein Gefühl der Ohnmacht, das allgegenwärtig ist. Alle Wahrnehmungen im Beziehungssystem verschieben sich. Die innere Verzweiflung hat mich im Griff. Was fange ich nur damit an?

Meine Strategie heraus aus dieser Krise war: Ich besann mich auf die innere Stärke, die in jedem Menschen verborgen ist. Wenn ich tief in mich gehe, weiß ich, es geht trotzdem weiter. Vertrauen ist hier essentiell. Vertrauen in mich und in meinen Gott.

In dem Moment, in dem ich die Diagnose gestellt bekomme, stehe ich abrupt an einem Scheideweg. Plötzlich müssen neue Prioritäten gesetzt werden. Mit der Angst vor dem Verlust musste ich mich zuerst alleine und dann zusammen mit meinen Angehörigen auseinandersetzen. Aber das braucht Zeit, viel Zeit. Erst viel später bemerkt man, wie gut es war, Ballast abzuwerfen und mit leichtem Gepäck ins neue Leben zu reisen.

Am Anfang dieses Prozesses ist das Wichtigste, sich selbst von jedem Druck zu befreien. Ich musste lernen, meinem Sohn das Gefühl zu geben, dass ich immer noch und auch in Zukunft dieselbe Person bin wie vor der Krankheit. Er wiederum musste lernen, mich nicht an meinen früheren Leistungen zu messen, sondern Nachsicht mit mir zu üben. Mir hat es geholfen, die Langsamkeit zu entdecken. Das ist schwerer, als es sich anhört, denn in unserer beschleunigten Welt, in der das Prinzip „Schneller-Weiter-Höher-Besser“ herrscht, erfordert dies viel Mut. Man muss lernen, sich Zeit zu nehmen, sich an die neue Situation heranzutasten, widersprüchliche Empfindungen zuzulassen und ein Gefühl für sich selbst zurückzubekommen. Das ist ein äußerst komplexer Vorgang, anstrengend und klärend zugleich. Von außen mag es scheinen, als sei man stehen geblieben, innerlich jedoch ist enorm viel in Bewegung.

Wenn man sich auf diesen Prozess einlässt, ist es von großer Bedeutung, sich in dieser Orientierungsphase nicht grundsätzlich infrage zu stellen. Das wäre nicht hilfreich, sondern selbstzerstörerisch. Nein, ich muss mir täglich mehrmals sagen: Ich bin wie ich bin, und das ist gut so! Was jetzt zählt, ist ein langsamer, aber stetiger Aufbau von Wertschätzung sich selbst gegenüber, denn es ist eine tägliche Herausforderung, mit der Demenz zu leben. Ich bin gezwungen, immer [<<13]und immer wieder neu aufzustehen. Das ist anstrengend, aber es lohnt sich, täglich die Verzweiflung abzuschütteln und sich zusammenzureißen. Mit der Zeit wird deutlich, dass man dabei ist, einen Reifeprozess zu durchleben, in dem man als Mensch wachsen und eine ungeahnte Stärke erreichen kann.

Und dann sind da diese Tage ...

Es überkommt dich einfach

Du spürst es ja täglich – du bist nicht mehr DU

Setze dir ein Ziel – ein noch so kleines

Nur du kannst es – sei zuversichtlich

DU schaffst es!

Immer nur DU!

Es gibt diese Momente – fange sie ein – jetzt

Es ist nichts, wie es mal war!


1 Domin, Hilde: Ziehende Landschaft. Aus: dies., Gesammelte Gedichte. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1987.