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Wolfgang Langhoff

Die Moorsoldaten

Wolfgang Langhoff

Die Moorsoldaten

Mit einem Vorwort von Willi Dickhut (1. Auflage 1973)

11. Auflage, August 2014

Verlag Neuer Weg

in der Mediengruppe Neuer Weg GmbH

Alte Bottroper Straße 42, 45356 Essen

Telefon +49-(0)-201-25915

Fax +49-(0)-201-6144462

verlag@neuerweg.de

www.neuerweg.de

Gesamtherstellung:

Mediengruppe Neuer Weg GmbH

eISBN: 978-3-88021-444-6

W. Langhoff

DIE

MOORSOLDATEN

13 Monate Konzentrationslager

Mit einem Vorwort von Willi Dickhut

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Die in diesem Buch abgebildeten geschnitzten Figuren und Reliefs sind Arbeiten Willi Dickhuts aus dem Lager Börgermoor.

Wir bedanken uns herzlich für die zur Verfügung gestellten Abbildungen beim Willi Dickhut Museum, Schmalhorststr. 1, in Gelsenkirchen.

INHALT

Vorwort des Verlags zur 11. Auflage

Vorwort von Willi Dickhut, 1973

Die Verhaftung

Auf der »Ulmer Höh’«

»Zum Schutz von Volk und Staat …«

Erste Begegnung

Der Alpdruck

In der Zelle

Zu Hause

Im Bunker

»Es ist eines deutschen Mannes unwürdig …«

»Zugang«

Ab ins Moor

Ankunft

Die ersten Tage

Die Nacht der langen Latten

»Baracke 11«

»Zirkus Konzentrazani«

Arbeit, Marsch, Mord und Kameraden

Die Einlieferung Hirtsiefers

Barackenleben

Ebert, Heilmann, die »Prominenten«

»Moritz sagt …«

Der 30. Juni im Oktober

Die Lichtenburg

Die »B.V.s«

Stille Nacht, heilige Nacht …

»Heil Hitler!«

»Denk ich an Deutschland in der Nacht …«

Vorwort des Verlags zur 11. Auflage

Wieder ist eine Neuauflage von Wolfgang Langhoffs Tatsachenbericht »Die Moorsoldaten« notwendig geworden. Diese 11. Auflage ist typografisch moderner gestaltet und durch weitere interessante Bilddokumente erweitert. 1935 erstmals im Schweizer Exil erschienen, trug das Buch maßgeblich dazu bei, die Wahrheit über die Gräuel in den faschistischen Konzentrationslagern zu verbreiten. Vor allem zeigt es die beispielhafte Solidarität der vorwiegend politischen Gefangenen, die selbst unter unmenschlichen Bedingungen ihren antifaschistischen, aktiven Widerstand fortführten. Bleibender Ausdruck davon ist das Lied „Die Moorsoldaten«, dessen Geschichte Langhoff erzählt und das auf der ganzen Welt Verbreitung fand. Das Buch wurde in viele Sprachen übersetzt und ist zu einem der meistgelesenen Zeugnisse des Widerstands geworden.

Aufgrund der persönlichen Bekanntschaft von Willi Dickhut mit Wolfgang Langhoff war es uns 1973 möglich, »Die Moorsoldaten« zu veröffentlichen. Willi Dickhut, der im Mai 1992 starb, war selbst »Moorsoldat« und spielte im proletarischen Widerstand gegen die faschistische Diktatur eine wichtige Rolle. Er stellte uns seine im Lager Börgermoor geschnitzten Figuren zur Illustration des Buchs zur Verfügung und steuerte selbst für die erste Auflage das Vorwort bei. Darin hebt er hervor, dass das Buch eine überzeugende Anklage gegen die barbarische Hitlerdiktatur ist, macht zugleich aber auch deutlich, wie unter schwierigsten Bedingungen ein erfolgreicher Widerstand im Lager organisiert wurde.

Wolfgang Langhoff betont die positive Rolle vor allem der kommunistischen Arbeiter im aktiven Widerstand. Deshalb beklagten sie auch die meisten Opfer unter den Antifaschisten. Das wird auch nicht dadurch geschmälert, dass führende Leute wie Honecker, der selbst im Zuchthaus saß, später die sozialistischen Ziele verrieten und dem Ansehen des Sozialismus großen Schaden zufügten.

Die hervorragende Rolle des kommunistischen Widerstands wird von bürgerlichen Historikern heruntergespielt oder ganz geleugnet. Langhoffs Tatsachenbericht ist ein wichtiges Dokument gegen die heutigen bürgerlichen Geschichtsklitterungen. Zugleich bestärkt er das tief verwurzelte antifaschistische Bewusstsein in der deutschen Bevölkerung. Er ermutigt, selbst aktiv dafür zu werden, dass der Faschismus nie mehr zu Stärke und Einfluss kommt.

Verlag Neuer Weg, August 2014

Vorwort von Willi Dickhut, 1973

Wolfgang Langhoff, der Verfasser des vorliegenden KZ-Berichts, starb, nach langer schwerer Krankheit, 1966 im Alter von 65 Jahren. Auf eigenen Wunsch hin wurde er in aller Stille beerdigt. Alle Genossen, die ihn kannten, trauerten um ihn. Nach dem II. Weltkrieg kam Wolfgang Langhoff aus der Emigration zurück, wurde 1946 Intendant des Deutschen Theaters in Ostberlin und Mitglied der SED. In den letzten Lebensjahren hatte er heftige Auseinandersetzungen mit der DDR-Kulturkommission.

Ich kannte Wolfgang Langhoff seit 1928; zu dieser Zeit kam er als Schauspieler und Regisseur nach Düsseldorf. Wenn er auf größeren Veranstaltungen der KPD revolutionäre Gedichte vortrug, war alles begeistert. Er hatte eine mitreißende Art zu rezitieren, die vor allem uns damals junge Arbeiter tief beeindruckte.

1933 sah ich dann Wolfgang Langhoff wieder – im Konzentrationslager Börgermoor. Er kam aus der Düsseldorfer und ich aus der Anrather Strafanstalt, wo wir Schutzhäftlinge zunächst untergebracht waren. Wir erlebten beide den gleichen Transport ins Moor, den er so anschaulich schildert.

Bevor ich dieses Vorwort schrieb, habe ich noch einmal »Die Moorsoldaten« gelesen. Wenn ich an den Marsch von Dörpen nach Börgermoor, an die Brutalität der SS-Wachmannschaft, die täglichen Schikanen, die »Nacht der langen Latten«, die Sklavenarbeit im Moor, die Arrestbaracke, den Mord an Wehrlosen zurückdenke, dann steigt in mir die kalte Wut hoch. Keiner dieser verfluchten Menschenschinder wurde später zur Verantwortung gezogen.

Aber ich denke auch zurück an die Kameradschaft, die proletarische Disziplin, die Prinzipienfestigkeit und Kampfentschlossenheit des größten Teils der Häftlinge, die zu 95 Prozent Arbeiter und aktive Kommunisten waren. Da sie fast alle aus den Bezirken Köln, Niederrhein und Ruhrgebiet kamen, kannten sich viele Funktionäre durch ihre frühere Parteiarbeit. Dies ist für das Verständnis des Buches von großer Wichtigkeit.

Das, was Wolfgang Langhoff über die illegale Lagerleitung – wahrscheinlich aus Sicherheitsgründen (denn das Buch wurde bereits 1935 geschrieben) – nur andeutete, war in Wirklichkeit viel weitgehender. Es war ein im ganzen Lager verzweigter Apparat, der nach allen Regeln der Konspiration arbeitete und nur die Zuverlässigsten einbezog. Die Genossen, die gemeinsam eine Aufgabe durchführten, waren lediglich über den sie betreffenden Bereich unterrichtet.

Wenn zum Beispiel in der Heimat Flugblätter erschienen mit ganz genauen Angaben über das Lagerleben, über Misshandlungen durch namentlich genannte SS-Banditen, geriet die Wachmannschaft außer sich vor Wut, die sie durch verstärkte Schikanen an uns Häftlingen ausließ. Auch wenn umgekehrt über die Lage draußen konkrete Dinge im Lager verbreitet wurden, waren viele erstaunt. Niemand ahnte, wer die Nachrichten hinaus- und hereingeschmuggelt hatte und wie das geschah. Die Entdeckung der Nachrichtenübermittler bedeutete sicheren Tod durch Erschießung.

Es wurde trotz schwerster Bedingungen eine politische Zersetzungsarbeit unter der SS-Wachmannschaft betrieben. Dazu war die planmäßige Besetzung bestimmter Posten in Bereichen wie Häftlings- und SS-Küche, Verwaltungsbaracke, Kantine, Magazin, Kleider- und Wäschekammer usw., von den Stubenältesten organisiert, sehr wichtig. Für diese Posten wurde jeweils ein SS-Mann als Bewacher zugeteilt. Ein Kontakt zwischen Häftling und SS-Mann ließ sich hier nicht verhindern. Anders draußen im Moor, wo die SS-Bewacher etwa 50 Meter von den arbeitenden Häftlingen entfernt standen.

So wurde ich zum Beispiel in der Pumpstation untergebracht, eine gesonderte Baracke für Pump- und Filteranlagen, mit denen das eisenhaltige braune Moorwasser gereinigt wurde. Die ganze Arbeit bestand in der Überwachung und Säuberung der Apparatur. So hatte ich Zeit und diskutierte mit dem mir zugeteilten SS-Posten. Um auch andere SS-Männer beeinflussen zu können, habe ich Aschenbecher, Brieföffner und sonstige Kitschandenken aus Kupfer getrieben, die bei den SS-Leuten sehr beliebt waren.

Die auf solche Posten gestellten Genossen hatten Tag für Tag Gelegenheit, auf »ihren« SS-Mann politisch einzuwirken. Natürlich musste das mit der größten Vorsicht und Geschicklichkeit geschehen. Dies war für die meisten Genossen eine Schule für ihre illegale Arbeit nach der Entlassung. Im Lager wirkte sich diese systematische Zersetzungsarbeit allmählich aus. Als Folge wurde die SS-Mannschaft mit etwas Nachdruck durch die Polizei abgelöst. Die politische Arbeit wurde anschließend leichter, weil die Polizeibeamten zum größten Teil frühere Sozialdemokraten waren. So dauerte es nur sechs Wochen, bis sie durch eine SA-Mannschaft abgelöst wurden.

Zu dieser Zeit war Wolfgang Langhoff bereits im KZ Lichtenburg. Auch ich kam Ende Januar 1934 auf Transport, zur Vernehmung durch die Gestapo. Und dann im Juni ging es wieder ins Moor, diesmal nach Esterwegen. Börgermoor war als Schutzhaftlager aufgelöst und die restlichen Insassen Esterwegen zugeteilt worden. In Esterwegen wehte ein schärferer Wind. Am Abend meiner Ankunft war ein Häftling »auf der Flucht« erschossen worden. Der Terror wurde verschärft und der Widerstand schwieriger; schwieriger schon deshalb, weil die Zusammensetzung der Gefangenen eine andere war wie in Börgermoor.

Ich wurde in die gleiche Baracke eingeliefert, in der Dr. Theodor Neubauer, der bekannte KPD-Reichstagsabgeordnete, lag. Er war mir durch seine Tätigkeit als Chefredakteur der »Freiheit« (Parteiorgan des Bezirks Niederrhein) bekannt. 1927 hatte ich meine erste marxistisch-leninistische Schulung durch ihn bekommen. Jetzt spielten wir manche Partie Schach miteinander; mit den Schachfiguren, die ich im Lager geschnitzt hatte. Trotzdem Theo von Beruf Studienrat war, betrachteten wir Arbeiter ihn als einen der Unsrigen. Er war seit 1920 führender Kommunist, aber immer kameradschaftlich zu den einfachen Genossen. Er war ein mutiger Kämpfer, vor dem die SS-Wachmannschaft in Esterwegen großen Respekt hatte. Als einmal englische Quäker in Begleitung hoher SS-Offiziere das Lager besichtigten, wurde Theo Neubauer als eine in internationalen wissenschaftlichen Kreisen geachtete Persönlichkeit geholt, damit er sich positiv über das Lagerleben äußere. Aber als er unmissverständlich zu verstehen gab, was hier los war, wurde das Gespräch schnell unterbrochen. Nach seiner Entlassung 1939 organisierte er sofort den antifaschistischen Widerstand, wurde 1944 erneut verhaftet und 1945 hingerichtet.

In Esterwegen lernte ich auch Carl von Ossietzky kennen, den Herausgeber der »Weltbühne«. Er war bürgerlicher Pazifist und Antifaschist, mehr Gelehrter als Journalist, ein lebendes Lexikon. Wenn wir irgendeine Frage hatten, gab er uns sofort die entsprechende Antwort. Bei der Arbeit draußen im Moor zeigte sich, wie hilflos er körperlicher Arbeit gegenüber war, was auch zum Teil seiner angegriffenen Gesundheit zuzuschreiben war. Seine Ungeschicklichkeit reizte die SS-Leute, ihn zu verspotten, zu verhöhnen und zu schikanieren. Es machte ihn tiefunglücklich, aber er ertrug alles mit großer Würde. So weit es ging, haben wir Arbeiter versucht, ihm zu helfen, damit er sein Arbeitspensum schaffen konnte und vor weiteren Schikanen bewahrt blieb. Diese Schikanen wurden verstärkt, nachdem er 1935 den Friedensnobelpreis bekommen hatte. Er hat unsäglich viel gelitten und starb 1938 an den Folgen der KZ-Haft.

Im Februar 1935 wurde ich nach zweijähriger »Schutzhaft« aus Esterwegen entlassen. Wenn ich an diese Zeit als »Moorsoldat« zurückdenke, dann treten mir einige wichtige Erkenntnisse vor das Auge:

In den meisten Fällen waren Arbeiter in der Haft und den Schikanen gegenüber härter und disziplinierter als Intellektuelle.

Wenn Intellektuelle es verstanden hatten, sich eng mit der Arbeiterklasse zu verbinden, leisteten sie eine hervorragende politische Arbeit und zeigten großen Mut.

Kommunisten meistern jede Situation, wenn sie organisiert und zielbewusst auftreten. Die Zersetzung der SS-Mannschaft in Börgermoor unter den schwierigsten Bedingungen ist ein Musterbeispiel dafür.

Die brutale Unterdrückung seitens des staatlichen Machtapparats (dazu gehörten auch die SS-Mannschaften) machte jedem, auch manchem Sozialdemokraten im Lager, klar, dass sich die Arbeiterklasse nur befreien kann, wenn sie diesen Staatsapparat zerschlägt.

Darum ist heute jegliche Erzeugung von Illusionen, dass die Macht des Monopolkapitals mit »friedlichen« Mitteln »zurückgedrängt« und durch eine »antimonopolistische Demokratie« ersetzt werden könnte, äußerst gefährlich und schädigend für den Kampf der Arbeiterklasse.

Aber auch das leichtfertige Verhalten einiger kleinbürgerlicher Intellektueller, die in die marxistisch-leninistische Bewegung eingedrungen sind, ist verhängnisvoll, weil sie den furchtbaren Terror des Faschismus dadurch bagatellisieren, dass sie die Tätigkeit der sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsführer als »sozialfaschistisch«, als »faschistische Verwaltung« bezeichnen usw. Sie haben aus den Fehlern der KPD in den 1920er Jahren nichts gelernt.

Eine solche verhängnisvolle Linie kann nicht dadurch entschuldigt werden, dass diese sehr jungen und unerfahrenen Intellektuellen keine Ahnung von dem furchtbaren Terror und den täglichen, zermürbenden Schikanen haben. Wenn sie, die Vergangenheit missachtend, diese Erfahrungen erst am eigenen Leib durchmachen müssen, ist es zu spät.

Das Buch »DIE MOORSOLDATEN« kann dazu beitragen, den jungen Menschen die Augen über den faschistischen Terror zu öffnen und sie am Beispiel der »Moorsoldaten« von der Notwendigkeit des antifaschistischen Kampfes zur Verhinderung der Errichtung einer neuen faschistischen Diktatur zu überzeugen.

WEHRET DEN ANFÄNGEN!

Willi Dickhut

Frühjahr 1973

Die Verhaftung

Am 28. Februar 1933 ging ich nachmittags ins Theater, um nach dem Probenplan zu sehen. Der Portier sagte zu mir:

»Gut, dass Sie da sind. Sie sollen gleich zum Generalintendanten kommen.«

Ich ging ins Vorzimmer und wurde sofort vorgelassen. Iltz saß hinter seinem großen Schreibtisch.

»Bitte, nehmen Sie Platz.«

Seine Hand spielte mit dem Brieföffner. Er blickte an mir vorbei zum Fenster hinaus auf die kahlen Kastanienbäume.

»Ich habe Sie zu mir kommen lassen, um Ihnen etwas zu sagen. Ich möchte Sie aber bitten, die Sache vertraulich zu behandeln. – Vor einer Stunde war die Polizei hier. Sie hat Sie gesucht.«

»Nanu! Warum?«

»Soviel ich verstanden habe, sind Sie politisch denunziert worden. Es scheint sich allerhand vorzubereiten. Haben Sie die Zeitungen heute gelesen? Seien Sie auf jeden Fall vorsichtig in den nächsten Tagen.«

Das kam mir nicht ganz unerwartet.

Ich war seit fünf Jahren als Regisseur und Schauspieler in Düsseldorf. Vier Jahre bis zum Tode von Louise Dumont im Schauspielhaus und seit einem Jahr am Stadttheater. Die Art meines Rollenfaches – jugendliche Helden und Charakterhelden – hatte mir im bürgerlichen Publikum einen großen Freundeskreis verschafft. Andererseits war ich auch der Düsseldorfer Arbeiterschaft nicht unbekannt, weil ich auf ihren Veranstaltungen rezitierte und mich überhaupt für ihre Bemühungen auf kulturellem Gebiet stark einsetzte. Ich studierte Gesangschöre ein, leitete Laienaufführungen und war der nationalsozialistischen Bewegung aus diesem Grunde verhasst. Dann war ich auch noch der Mitgründer einer Gesellschaft, die allmonatlich einen sozial-wissenschaftlichen Vortrag veranstaltete. Dieser Gesellschaft gehörten linksgerichtete Ärzte, Architekten, Schriftsteller, Schauspieler, kurz, Vertreter der geistigen Berufe, an.

Diese Tätigkeit hatte mir vonseiten der Nationalsozialisten schon viele Angriffe eingetragen. Aber schließlich – wer wurde damals nicht angegriffen! Und da ich meine Weltanschauung im Rahmen der verfassungsmäßig garantierten Freiheit äußerte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass sich für mich irgendwelche ernsteren Komplikationen ergeben könnten.

Ich versprach aber Iltz, vorsichtig zu sein und mich für die nächste Zeit im Hintergrund zu halten. –

Mit einem Kollegen, den ich vor dem Theater traf, ging ich dann nach Hause. Er hatte denselben Weg.

»Der Reichstagsbrandstifter verhaftet!« »Hitler und Goering am Tatort!« »Das Fanal der Kommunisten!«, schrien die Zeitungsverkäufer auf der Königsallee und dem Hindenburgwall. Sonst war die Stadt merkwürdig still. Keine Ansammlungen, keine Gespräche an den Straßenecken. Es war, als ob sich keiner länger als notwendig auf der Straße aufhalten wolle.

SS- und SA-Männer stampften eilig vorbei, am rechten Arm eine weiße Binde mit dem Stempel: Hilfspolizei. Ein Lastwagen, besetzt mit SA, ratterte über das Pflaster, der Altstadt zu …

»Ich werde heute Nacht nicht zu Hause schlafen«, sagte ich zu meinem Freund.

»Ja, das wird vielleicht besser sein. Man kann nie wissen.«

Wir bogen in die Benrather Straße ein und sahen vor meiner Wohnungstüre zwei Zivilisten. Als wir näher kamen, wandten sie sich ab und schlenderten langsam nach der nächsten Straßenecke. –

»Weißt du was, ich gehe nur schnell hinauf und verabschiede mich von meiner Frau. Wir treffen uns nachher im Café.«

Es war 5 Uhr nachmittags.

Meine Frau lag im Bett; nierenkrank. Ich sagte ihr:

»Hör mal, heute Nacht werde ich bei Freunden schlafen. Im Theater war Polizei, und jetzt eben habe ich vor der Haustür zwei Kerls gesehen, die mir verdächtig vorkamen.«

Mein Vater kam herein und ich bat ihn, falls sich jemand nach mir erkundigen sollte, ihn für den nächsten Vormittag ins Theater zu bestellen.

Meine Frau, die starke Schmerzen hatte, regte sich natürlich sehr auf:

»Vielleicht ist es besser, du fährst überhaupt weg! Nach Berlin … oder Frankfurt!«

In diesem Augenblick klingelte es an der Wohnungstür. Meine Frau fuhr erschrocken hoch:

»Um Gottes Willen, nicht aufmachen!«

Das war natürlich Unsinn, denn ich hatte keinen andern Ausgang aus der Wohnung, und nachdem ich sie beruhigt hatte, ging ich selbst an die Tür und machte auf.

Die beiden Kriminalbeamten und zwei Polizisten standen davor.

»Herr Langhoff?«

»Ja. Und?«

»Kriminalpolizei. Zeigen Sie die Zimmer, die Sie bewohnen.«

Ich wollte in mein Arbeitszimmer vorangehen, als ein Schupo rief »halt, Hände hoch!« und meine Taschen durchsuchte.

»Ich trage keine Waffen«, lächelte ich – und der Beamte schnauzte zurück:

»Halten Sie Ihren Mund, bis Sie gefragt werden!«

»Vielleicht lässt sich die Sache auch in einem höflicheren Tone erledigen.«

»Seien Sie still, Sie! Sie kennen wir ganz genau, Sie!«

In meinem Arbeitszimmer musste ich mich mit erhobenen Händen an die Wand stellen, während die Beamten meinen Schreibtisch durchstöberten, die Bücher vom Regal rissen, den Teppich hochhoben und die Tapete abklopften.

Dann tuschelten sie miteinander und hielten so eine Art Beratung ab.

Das Telefon schrillte.

Der Kriminalbeamte in Zivil nahm den Hörer ab.

»Wie? – Jawohl, er ist zu Hause. Geht in Ordnung. Schicken Sie uns noch einen Mann, er hat zu viele Bücher, wir können sie nicht alle tragen.«

Und dann zu mir:

»Ziehen Sie sich an, Sie kommen mit.«

»Kann ich noch mit meiner Frau sprechen?«

Ein Polizist ging mit mir ins Zimmer meiner Frau. Sie saß aufrecht in ihrem Bett und starrte uns angstvoll an.

»Kommst du dann gleich wieder zurück?«

Ich sagte ihr, sie solle sich nicht zu sehr beunruhigen, auch wenn ich vielleicht die Nacht wegbliebe. Es könne sich ja doch nur um einen Tag handeln, am nächsten Abend müsse ich ja den Franz in den »Räubern« spielen und sie würden die Vorstellung schon nicht ausfallen lassen.

»Nimm dir Wäsche, Seife und Zahnbürste mit. Vater kann’s dir zusammenpacken.«

»Schon gut, mein Kind, halt dich brav und hab keine Angst!«

Ich gab ihr einen Kuss und ging wieder in mein Zimmer. Meinen Vater bat ich, mir noch ein paar Zigaretten zu besorgen, aber die Kriminalbeamten hielten ihn zurück. Es dürfe sich niemand aus der Wohnung entfernen. Nachdem sie alle Räume durchsucht und Briefe, Bücher und Broschüren, die sie mitnehmen wollten, zu einem großen Haufen auf dem Boden aufgestapelt hatten, sagte der eine Kriminalbeamte:

»Sie müssen jetzt mit aufs Polizeipräsidium.«

»Zieh dir den dicken Pullover an«, sagte mein Vater. Und dann:

»Auf Wiedersehen, Junge!«

– Wir gingen, zwei Beamte vor, zwei hinter mir, durch die Straßen. Die Polizisten waren beladen mit den Büchern und Broschüren, so viel sie nur tragen konnten. Wir müssen eine merkwürdige Karawane gewesen sein. An den Ecken steckten die Passanten die Köpfe zusammen und machten sich gegenseitig auf uns aufmerksam. Wir gingen durch die engen Straßen der Altstadt, wo ich manchen Bekannten hatte.

Im Hof des alten Polizeipräsidiums war Hochbetrieb. Überfallwagen fuhren herein und hinaus. Polizisten rannten im Eilschritt aus dem Tor. Hunderte von SA-Männern standen in den erleuchteten Räumen zu ebener Erde. Sie trugen ihre braunen Uniformen und Gummiknüppel und Revolver am Gürtel.

Als ich in die Wachstube geführt wurde, kamen gerade zwei SA-Männer über den Flur und einer rief meinem Begleitpolizisten zu:

»Schieß doch das Arschloch über den Haufen, dann hast du nicht so viel Scherereien!«

Mein Polizist lachte nur verlegen.

Der Beamte hinter dem Schreibtisch kannte mich vom Theater her.

»Aha! Geben Sie uns auch mal die Ehre!« Meine Verhaftung war ihm sichtlich peinlich, und er wusste nicht, wie er sich mir gegenüber benehmen sollte.

Nachdem man mir Hosenträger, Taschenmesser, Streichhölzer, Geld und meine Ausweispapiere abgenommen hatte, wurde ich in eine Zelle gesperrt, in der bereits sieben oder acht Mann saßen. Es brannte kein Licht, und ich konnte in der Dunkelheit niemanden erkennen.

»Achtung, tritt nicht auf den da!«, rief mir einer aus dem Dunkel zu, als ich über jemanden stolperte, der auf dem Fußboden lag.

»Der ist bloß besoffen«, hörte ich die Stimme wieder. »Setz dich. Wir rücken was zusammen. Wer bist du?«

Ich nannte meinen Namen.

»So, du bist der Langhoff! Dich habe ich schon in der Tonhalle vortragen hören«, meinte einer.

»Wir sind aus Gerresheim, wir vier Mann. – Sie haben uns gestern Nacht beim Plakatkleben erwischt. – Und der Alte, der da neben dir sitzt, den haben sie verhaftet, weil sie Flugblätter bei ihm gefunden haben. Wenn du mit ihm sprechen willst, musst du laut schreien, der ist nämlich schon fast taub und über siebzig. – Eine Gemeinheit, den alten Mann zu verhaften!«

Ich ärgerte mich, dass ich nichts zu rauchen hatte und sagte meinen Gefährten, dass die Kriminalbeamten meinen Vater gehindert hätten, mir noch etwas zu holen.

»Eine Kippe kannst du mit uns rauchen«, sagte einer der vier Gerresheimer und steckte einen Stummel an. Die Streichhölzer zog er aus seinem Stiefel und den Stummel hatte er im Hosenbund versteckt.

Ist zwar nicht sehr appetitlich, dachte ich, aber – mitgefangen, mitgehangen – und machte meinen Lungenzug, als die Reihe an mir war.

»Was? Das hättest du dir sicher auch nicht träumen lassen! Mal unter Proleten in einer Zelle zu sitzen!«

Es befremdete mich ein wenig, dass sie mich gleich mit »du« ansprachen, und ich suchte nach einer richtigen Antwort.

»Man muss doch alles einmal kennenlernen, nicht?«

»Richtig, das kann niemandem schaden. Das musst du dann mal auf dem Theater spielen! Das wäre ein interessantes Stück, was?«

»Sie sind vom Theater«, mischte sich ein Fünfter ins Gespräch: »Gestatten Sie, ich heiße Meyer. Ich bin Wäschereisender.« –

»Ja, der gehört nicht zu uns.«

»Es ist mir selber sehr unangenehm, aber man hat mich irrtümlicherweise verhaftet! Ich soll gestohlen haben! Lächerlich, so etwas, bei meinem Einkommen! Wissen Sie, diese Leute auf der Wache sind ja soo brutal. Und der Wachtmeister vorn im Revier! Eine solche Gemeinheit! Alles hat er mir abgenommen, sogar meine Spritze, und dabei hab’ ich eine galante Krankheit1, verstehen Sie, mein Herr!«

»Halt doch die Klappe«, sagte einer der Arbeiter zu ihm.

»Bitte sehr! Bitte sehr! Ich will mich niemandem aufdrängen. Aber ich kann mich doch schließlich mit dem Herrn unterhalten, das ist doch unsere Sache, nicht wahr?«

»Halt die Schnauze. Wir wollen jetzt schlafen.«

Für eine Zeit lang war es still in der Zelle. Ich hörte aus den Nachbarzellen Lachen und Rufen und sagte leise zu meinem Nebenmann:

»Die scheinen ja viele eingesperrt zu haben, heute Abend.«

»Klar. Alles Kommunisten. Nach der Wahlbombe vom Reichstagsbrand, den sie uns in die Schuhe schieben, werden sie sicher jetzt die Partei verbieten wollen.«

»Du glaubst also nicht, dass eure Leute den Reichstag angesteckt haben?«

»Quatsch. Blödsinn. Weiter nichts als ein Wahlmanöver von den Nazis. Wenn wir losschlagen, dann brauchen wir keinen Reichstag in Brand zu stecken.«

»Und – was wird jetzt werden?«

»Kann man noch nicht sagen. Müssen abwarten, was die Betriebe machen.« –

Einer wollte austreten und klopfte an die Tür.

»Herr Wachtmeister, ich will austreten!«

»Verrückt geworden«, brüllte der Wachtmeister, »gibt’s nicht! Schiff dir in die Hosen!«

Die Stunden wurden mir endlos lang. Der Betrunkene auf dem Boden schnarchte in seinem Dreck. Wir hockten uns abwechselnd auf die Holzpritsche oder standen an der Wand.

Um drei oder um vier Uhr morgens wurde die Zellentüre wieder aufgeschlossen. Der Wachtmeister stieß einen Neuen herein. Einer von uns rief:

»Besetzt, besetzt! Der Kahn ist sowieso schon voll!« Aber der Wachtmeister kümmerte sich nicht darum und schloss hinter dem Neuen wieder ab. – »Na, wer bist du denn?«

– Er gab keine Antwort.

»Kannst du nicht reden? Menschenskind, stell dich doch mal vor!«

– Wieder keine Antwort.

»Bist ja ein seltsamer Vogel! Wir sind dir wohl nicht fein genug?«

Aber der Neuankömmling schwieg.

»Das werden wir gleich haben«, lachte einer der Arbeiter und steckte ein Zündholz an. –

In der Ecke stand blutüberströmt und mit zerrissenem Hemd ein Mann. Seine Augen waren aufgeschwollen. Aus Nase und Mund lief Blut und quer über die Stirn zog sich ein dicker, dunkler Streifen. Er lächelte uns an und fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht.

Draußen verhafteten die Nationalsozialisten ihre Gegner.

1 Umschreibung für Geschlechtskrankheit

Auf der »Ulmer Höh’«

In dieser Nacht wurden noch zwei Mann aus Benrath eingeliefert. Wir saßen also zu zehnt in der engen Zelle. Sie war zwei Meter breit, fünf lang. Alles aus Stein. Boden, Wand und Decke – ein schmaler, steinerner Schlauch. In der Wand ein Eisenring, für die, die an Ketten geschlossen werden.

Allmählich verstummten die Gespräche. Es wurde still. So still, dass ich mein eigenes Herz klopfen hörte …

Da sitzt du also hinter einer eisernen Türe. Junge, und es ist keine Klinke da, die du anfassen kannst, um sie aufzumachen … Was sie wohl mit dir vorhaben? – Verdammt kalt hier. Das muss an den dicken Wänden liegen. – Ob meine Frau jetzt schläft? – Lange möcht’ ich nicht hier drin sitzen … Sie hat sich sicher sehr aufgeregt und wird auch nicht schlafen können. – Vielleicht sitzt auch der Vater bei ihr und sie überlegen sich, was sie für mich tun können. – Für mich tun. – Lächerlich, siem ü s s e nmich ja morgen früh herauslassen! Morgen früh, oder spätestens am Mittag … Morgen Abend sitz’ ich wieder in der Garderobe vor dem Spiegel und schminke mich. Dann werden mich die anderen fragen, wie es war. – Na ja, so eine Nacht in der Zelle ist weiter nicht gefährlich. –

Schließlich können sie mir auch nichts wollen. Was ich getan habe, war ja nicht verboten. – Sicher wird das Theater morgen früh anrufen. Vielleicht kommt sogar Iltz selbst auf die Wache und holt mich heraus. – Schon möglich. – Gut, dass ich mir den dicken Pullover angezogen habe. –

Am kleinen Gitterfenster wird es hell. Fünf oder sechs Uhr. Ich erkenne meine Mitgefangenen, die in zusammengesunkenen Schlafstellungen dahocken. Wie in einem Eisenbahnabteil. Neben mir sitzt der Siebzigjährige mit weit geöffneten Augen und rührt sich nicht.

– Ob der mit offenen Augen geschlafen hat? – Wie ärmlich alle aussehen! Fast keiner trägt einen Kragen, die Jacken sind abgeschabt und zerschlissen. – Für die wird das sicher gar kein so großes Ereignis sein, eine solche Verhaftung. – Die kennen das schon. –

Um sieben Uhr wurde aufgeschlossen und der Wachtmeister führte uns nacheinander in den Waschraum. Dann bekamen wir jeder einen Becher Kaffee und ein dickes Stück trockenes Brot.

Na, probier’s mal, dachte ich – wenn du rauskommst, wirst du sowieso ordentlich frühstücken! Das ist sicher. Mit Butter und Milch.

»Fertig machen zum Weitertransport!«

Namen wurden verlesen, darunter auch meiner. Draußen im Hof stand die »grüne Minna«, der Gefängniswagen. Wir waren zwanzig oder fünfundzwanzig Mann.

»Alles einsteigen, meine Herrschaften, einsteigen!«, lachten die Arbeiter. Sie waren fidel, als ging’s zu einem Ausflug ins Grüne. –

Seltsam, dachte ich, dass man mich nicht auf dem Polizeirevier lässt, das muss doch unbedingt meine Freilassung verzögern. Mindestens um zwei Stunden.

Wir standen eng gedrängt im Wagen, und in den Kurven stießen wir die Köpfe aneinander.

»Kinder, habt ihr eine Ahnung, wo die mit uns hinfahren?«

»In die Schupokaserne! Da sind wir doch schon mal gewesen. Bei der letzten Massenverhaftung.«

»Mensch, großartig! In der Schupokaserne gibt’s feines Essen! Da bekommen wir dasselbe, was die Polizei kriegt! Weißt du noch, Willi, die weißen Bohnen und Rindfleisch! Abers o l c h eBrocken, sag’ ich euch!«

»Da geh’ ich vierzehn Tage und noch länger in Pension, wenn’s sein muss!«

Wir versuchten, durch ein kleines vergittertes Fenster am Führersitz hinauszuschauen. Der breite Rücken des Fahrers war aber davor, wir konnten nichts sehen.

»Hört mal, wir müssten doch schon längst in der Frankenstraße sein. Es geht nicht in die Kaserne! – Passt auf, die bringen uns auf die Ulmer Höh’!«

Sofort wurde es still.

Die Ulmer Höh’ ist das Düsseldorfer Gefängnis.

»Verflucht, wenn die uns in den ›Bau‹ bringen, dann behalten sie uns auch länger.« –

Der Wagen hielt, wir flogen durcheinander. Draußen wurde eine eiserne Tür aufgeschlossen – wir fuhren weiter – also, Gefängnis.

Im Hof. »Alles aussteigen!«

»Na, Gustav, da wären wir ja mal wieder!«

»Schnauze halten!«, rief der Kriminalbeamte in Zivil, der uns begleitet hatte.

Wir wurden nicht durch den Haupteingang geführt, sondern durch eine kleine Türe in einen großen, dunklen Flur. Ein verschlafener, griesgrämiger Gefängniswärter zählte uns nochmals ab, ehe er die nächste Eisentür aufschloss. Dabei zählte er aus Versehen den Kriminalbeamten mit. Der wurde wütend und schrie ihn an:

»Sperren Sie gefälligst Ihre Augen auf! Sie wissen doch, wer ich bin!«

»Ich verbitte mir den Ton«, fauchte der Gefängniswärter zurück.

»Recht so! Sperren Sie den Meier nur ruhig mit ein! Dem kann’s auch mal nichts schaden«, lachte einer der Gefangenen.

»Halten Sie Ihr Maul, Sie dreckiger Kaffer!«, schrie der Kriminalbeamte.

Noch zweimal wurden Türen geschlossen, und dann kamen wir in einen größeren, saalartigen Raum. In dem standen schon einige Verhaftete und begrüßten uns mit Hallo. –

Das muss doch der Schulsaal sein, dachte ich, denn ich kannte die »Ulmer Höh’«. Allerdings nicht als Gefangener.

Vor zwei Jahren inszenierte ich am Düsseldorfer Schauspielhaus das Stück »Amnestie« von Finckelnburg. Um die Echtheit des Milieus zu studieren, hatte ich um Besichtigungserlaubnis des Gefängnisses und eines in der Nähe gelegenen Zuchthauses ersucht. Das wurde bewilligt. Damals führte mich der Direktor überaus liebenswürdig und zuvorkommend durch den ganzen Bau und war eifrig bemüht, den Strafvollzug in den rosigsten und humansten Farben zu schildern.

Ich musste lächeln, als ich an diesen Besuch dachte, und sagte mir: Na, jetzt hast du ja Gelegenheit, die Einrichtungen dieses Gefängnisses sozusagen »praktisch« kennenzulernen.

Für uns vierzig Mann war der Raum entschieden zu klein. Ich war aber trotzdem froh, dass man mich in keine Zelle gesteckt hatte, denn nach der gestrigen Nacht wollte ich von Zellen nichts mehr wissen. Auch gab es in diesem Raum vier hohe Fenster, die aber weiß angestrichen waren, sodass man nicht hinausschauen konnte. In der Mitte stand ein schmaler langer Tisch mit zwei Bänken. Das war die einzige Ausstattung dieses Schulsaales. Sonst war er vollkommen leer. Wenn man hereinkam, sah man in der linken Ecke ein Gestell – eine Art Paravent aus Leintüchern. Dahinter war der Abort: für uns vierzig Mann zwei Sitzkübel und noch drei am Boden stehende Kübel.

Ich blickte nur flüchtig hinter den Vorhang und fuhr zurück: Nie, n i e wirst du dich auf so einen Kübel setzen! Ausgeschlossen! – Weshalb hat man mich überhaupt hier ins Gefängnis geschleppt! Sie hätten mich auf der Polizeiwache lassen sollen. Jetzt sitze ich hier, und womöglich finden sie mich gar nicht so schnell, wenn sie mich vernehmen wollen!

Hände in den Hosentaschen, Zigaretten im Mund, standen die Arbeiter schwatzend und lachend herum.

»Menschenskind, ich hab’ mordsmäßiges Glück gehabt! – Stell’ dir vor – in meiner Brieftasche waren noch die ganzen Parteimarken. Ich bin Unterkassierer, weißt du! Der Bulle, der mir gestern Abend die Tasche abgenommen hat, hat sie mir heute Morgen wiedergegeben und nicht einmal reingeguckt! Und jetzt hab’ ich unterwegs die Marken verschwinden lassen! Ich hab’ sie gefressen. – Mir kann keiner mehr was wollen!«

»Rot Front, Heini! Haben sie dich auch geschnappt? Jetzt ist bald ganz Derendorf da!«

»Jungens, habt ihr den Langhoff gesehen? Ach, da steht er ja! Was sagt ihr dazu, der muss Theater spielen, heute Abend!«

»Na ja, den lassen sie raus. Den müssen sie ja rauslassen! Aber uns behalten sie mindestens drei Tage!«

»Was denn: drei? – Heute haben wir den ersten März, am fünften ist die Wahl. Du glaubst doch nicht, dass sie dich wählen lassen?!«

»Oho! Das wollen wir mal sehen! Diem ü s s e nmich wählen lassen – sonst ist die ganze Wahl ungültig!«

»Na, na, abwarten! Ich glaub’ nicht, dass sie uns diesmal so schnell wieder nach Haus schicken wie im Januar.«

»Miesmacher!« –

Auf den beiden Bänken konnten nur zwanzig Mann sitzen. Die andern mussten stehen. Müde von der durchwachten Nacht, setzte ich mich schließlich auf den Fußboden und lehnte mit dem Rücken an die Wand.

Sofort stand einer von der Bank auf und kam auf mich zu:

»Setz’ dich nur hin, ich hab’ lang genug gesessen.«

»Nein, nein, warum denn? Ich sitze hier ganz gut. Bleib’ ruhig sitzen!«

»Also komm schon! Wir sind an so etwas gewöhnt. Vor vier Wochen bin ich erst aus dem Bau hier herausgekommen. Hab’ drei Monate geschoben. – Was mir das schon ausmacht! Die hab’ ich auf der linken Arschbacke abgesessen. Da muss es noch ganz anders kommen!«

Ich setzte mich auf die Bank zu einer Gruppe, die sich eifrig und leise unterhielt.

»… und wir haben die Dinger doch mitten auf dem Tisch liegen gehabt, wie sie geklingelt haben. Mindestens fünfhundert Stück. Meine Frau und die Lisa haben das Zeug unter die Röcke gesteckt, und der Fritz hat Karten dabei gehabt, und dann haben wir Skat gedroschen. Na ja! – Skat spielen ist doch nicht verboten, was?!«

»Bei mir war alles sauber! Nicht einen Fetzen haben sie gefunden. Dabei haben sie die Tapeten heruntergerissen und im Schlafzimmer die Matratzen aufgemacht!«

»… aber das will ich dir sagen, Otto: Dich hätten sie nicht schnappen dürfen! Mensch, warst du denn noch nicht illegal?«

»Quatsch nicht, ich hab’ schon lange nicht mehr zu Hause geschlafen. Im Büro haben sie mich erwischt, wie ich Flugblätter abgeholt habe.«

»Ein Funktionär wie du hätte eben vorsichtiger sein müssen!«

»Ausgerechnet du, geraded umusst mir so was sagen!« –

Ich legte meinen Kopf auf die Tischplatte und dämmerte vor mich hin. Aber ich konnte nicht einschlafen. Jeden Augenblick erwartete ich, herausgeholt zu werden. Irgendeine Nachricht vom Theater oder von zu Hause musste doch kommen!

Nichts. – Eine Stunde verging. – Neun Uhr – zehn Uhr – immer noch nichts. Elf Uhr. Nichts.

Ich lief im Schulsaal wie in einem Käfig auf und ab und wartete …

»Eine Sauerei, dass nicht mehr Bänke hier drin sind! Klopf doch mal einer an die Tür!«

Der Gefängniswärter schloss auf: »Was ist los?«

»Mehr Bänke wollen wir haben! Wir müssen uns doch irgendwohin setzen können. Was ist denn das für ein Laden hier!«

»Wir haben mit euch überhaupt nichts zu schaffen. Ihr geht uns gar nichts an. Gleich kommt die Polizei, die übernimmt eure Bewachung. Und mehr Bänke sind nicht da!«

Er knallte die Tür zu und schloss wieder ab.

»Oho! Das ist ja noch schöner! Das brauchen wir uns nicht gefallen zu lassen! Der ist ja verrückt, der Kerl!«

»Los, singen wir mal was! Ihr sollt sehen, wie schnell sie dann gelaufen kommen!«

Ein paar Stimmen fingen kräftig an: »Wacht auf, Verdammte dieser Erde …«

Alle sangen mit und blickten neugierig wie Kinder zur Eisentüre.

»Hört ihr’s? Die andern singen schon mit!«

Der ganze Zellenflügel sang.

Die erste Strophe war noch nicht beendet, da stürzten gleich drei Gefängniswärter herein:

»Aufhören! Aufhören! Seid ihr denn verrückt geworden?! Ihr macht uns ja den ganzen Bau rebellisch!«

»Dann gebt uns mehr Stühle oder Bänke!«

Ein Beamter in Zivil kam dazu:

»Was ist denn hier los? – Also, was gibt es denn, meine Herren?«

Ein Aufseher: »Die Leute wollen mehr Bänke haben, Herr Inspektor.«

»Deswegen brauchen sie doch nicht gleich zu singen!«

Dann wandte er sich an uns: »Meine Herren, ich muss Sie ersuchen, sich an die Hausordnung zu halten! Sie sind nur wegen Platzmangel ins Gefängnis gekommen und gehen die Gefängnisverwaltung gar nichts an. Aber wenn Sie schon einmal hier sind, dann betragen Sie sich anständig und randalieren Sie nicht herum! Im Übrigen will ich sehen, ob noch einige Bänke da sind.«

Er wandte sich mit seinem Beamten zum Gehen. Ich lief ihm nach und hielt ihn an der Türe fest.

»Entschuldigen Sie, Herr Inspektor, können Sie mir vielleicht sagen, wann ich hier wieder herauskomme? Ich muss nämlich heute Abend im Stadttheater spielen!«

»Tut mir leid, aber mich geht die ganze Sache nichts an. Sie müssen sich an die Polizei wenden.«

»Würden Sie vielleicht so freundlich sein, bei der Kriminalpolizei oder im Theater anzurufen, damit man dort weiß, wo ich bin.«

»Bedaure. Sie müssen sich schon noch etwas gedulden.«

Damit ging er raus, und die Türe wurde wieder abgeschlossen. –

»Du, der Inspektor, das ist ein Gerissener! Der macht alles auf die weiche Tour. Den kenn’ ich ganz genau! Der sagt immer: ›Ich komme als Mensch zu Ihnen!‹ Und dabei verhängt er Hausstrafen, Arrest oder Bunker, dass es nur so knallt. In Essen, wo er früher war, haben sie immer ›Der Kettenkarl‹ zu ihm gesagt, weil er beim geringsten Vergehen die Gefangenen hat in Ketten legen lassen. – Das gibt’s nämlich noch!«

Langsam wurde mir die Sache unheimlich. – Was würde geschehen, wenn sie mich nicht herauslassen? Nicht auszudenken! –

Um 12 Uhr gab es Mittagessen. Wir bekamen jeder eine Emailschüssel und marschierten in einer langen Reihe an der offenen Türe vorbei, wo zwei Kalfaktoren mit einem großen Kessel standen und pro Mann einen Liter Linsen mit Kartoffeln in die Näpfe gossen. Ich konnte nichts anrühren und ließ meinen Napf stehen.

»Menschenskind, iss doch! Die Linsen sind nicht schlecht! Das ist der beste Fraß im Bau. Ich weiß Bescheid!«

»Nein danke. Wenn du noch Hunger hast, kannst du sie gern haben.«

»Immer her damit! Den kleinen Schlag verdrück’ ich noch. Das kannst du mir glauben: Hier ist mancher unter uns, der hat das nicht zu Hause, was er hier kriegt. Was willst du: Von acht Mark Stempelgeld in der Woche kannst du dir mit Frau und drei Kindern so ein Essen nicht leisten!«

Nach Tisch kamen zwei Revierpolizisten, die von nun an unsere Bewachung übernahmen. Ich bat sie, sofort zur Kriminalpolizei zu telefonieren.

Wieder vergingen Stunden.

Kurz vor vier wurde die Türe aufgeschlossen.

»Wo ist der Schauspieler?«

Aha, endlich!

»Es hat antelefoniert. Sie sollen heute Abend mal hier Theater machen«, grinste er höhnisch und warf die Türe wieder zu.

Einen Augenblick setzte mein Herz aus. Was jetzt? Losgerissen von Beruf, meiner Familie, der ganzen Umgebung, in der ich lebte und arbeitete. – Was jetzt? –

Ein paar Arbeiter versuchten mich zu trösten:

»Na, Mensch, das ist doch gar nicht so gefährlich. Bleibst eben noch ein bisschen bei uns. Im Theater werden sie sicher heute Abend ein anderes Stück spielen. Und morgen oder übermorgen bist du wieder draußen!«

»Die können kein anderes Stück spielen. Ich hab’ in jedem zu tun. Das wäre alles nicht so schlimm, wenn meine Frau nicht gerade krank wäre.«

»Ach so. Ja, das ist dumm. Na, Kopf hoch, lass dich nur nicht unterkriegen!«

»Ach wo!« –

Ich log. Ich war völlig mutlos und konnte mir überhaupt nicht ausmalen, was nun kommen würde.

Was würde meine Frau machen? Und der Vater? Haushaltsgeld hat sie ja noch für acht Tage. Aber dann? Ob man mir meine Gage auszahlt? Das müssen sie tun, ich habe doch einen festen Vertrag! – Na ja, länger als acht Tage wird’s nicht dauern. Hier glauben doch alle, dass wir nach der Wahl wieder rauskommen.