Cover.jpg

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

Für Fragen und Anregungen:

info@redline-verlag.de

 

 

6. Auflage 2022

 

© 2017 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096

 

 

© der Originalausgabe 2016 by Chris Voss. All rights reserved.

Die englische Originalausgabe erschien 2016 bei Harper Business unter dem Titel Never Split the Difference.

 

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

 

Übersetzung: Almuth Braun

Redaktion: wirtschaftsredaktion schuch, Monika Spinner-Schuch, Bad Aiblingen, Bärbel Knill, Landsberg a.L.

Umschlaggestaltung: Manuela Amode, München

Umschlagabbildung: Shutterstock/ STILLFX, gst

Satz: inpunkt[w]o, Haiger (www.inpunktwo.de)

 

 

ISBN Print 978-3-86881-656-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86414-934-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86414-933-7

images

 

 

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.redline-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter

www.m-vg.de

Inhalt

Kapitel 1: Die neuen Regeln

Der cleverste Nichtakademiker im Raum

Verhandlungen nach alter Schule

Herz versus Verstand

Das FBI wird emotional

Das ganze Leben besteht aus Verhandlungen

Das Buch

Kapitel 2: Machen Sie sich zum Spiegel

Annahmen machen blind, Hypothesen bieten Orientierung

Bringen Sie das Stimmengewirr im Kopf zum Schweigen

Entschleunigen Sie den Prozess

Die Bedeutung der Stimme

Die Spiegeltechnik

Wie Sie sich widersetzen und sich durchsetzen – ohne Konfrontation

Schlüssellektionen

Kapitel 3: Verstricken Sie sich nicht in Emotionen – nutzen Sie sie

Taktische Empathie

Emotionen benennen

Neutralisieren Sie negative Aspekte und verstärken Sie positive Aspekte

Räumen Sie erst die Hindernisse aus dem Weg

Nehmen Sie mögliche Vorwürfe Ihres Gegenübers durch einen gezielten Selbstvorwurf vorweg

Wie Sie einen Sitzplatz – und ein Upgrade – in einem ausgebuchten Flugzeug erhalten

Schlüssellektionen

Kapitel 4: »Ja« heißt gar nichts, »Nein« ist Geld wert

Erst mit dem »Nein« beginnt die Verhandlung

Überreden Sie Ihr Gegenüber in seiner Vorstellungswelt

»Nein« ist ein Selbstschutz

E-Mail-Magie: Wie Sie nie wieder ignoriert werden

Schlüssellektionen

Kapitel 5: Zwei Worte, die jede Verhandlung sofort verändern

Wie Sie auf subtile Weise erreichen, dass Ihr Gegenüber sich verstanden fühlt

Provozieren Sie mit einer Zusammenfassung die anerkennende Feststellung »Das stimmt«

»Das stimmt« ist großartig, »Sie haben recht« ändert dagegen nichts

Wie Sie mit »Das stimmt« einen Verkaufsabschluss erzielen

Wie Sie »Das stimmt« für Ihre berufliche Karriere nutzen

Schlüssellektionen

Kapitel 6: Beeinflussen Sie die Realitätswahrnehmung Ihres Verhandlungspartners in Ihrem Sinne

Machen Sie keine Kompromisse

Fristen: Machen Sie die Zeit zu Ihrem Verbündeten

Objektive Gerechtigkeit gibt es nicht

Das F-Wort: Warum es so wirksam ist und wann und wie Sie es verwenden sollten

Wie Sie die emotionalen Treiber hinter den Dingen erkennen, die Ihrem Gegenüber wichtig sind

Beeinflussen Sie die Realitätswahrnehmung Ihres Gegenübers

Wie Sie ein besseres Gehalt aushandeln

Schlüssellektionen

Kapitel 7: Erzeugen Sie die Illusion von Kontrolle

Versuchen Sie nie, inmitten eines Feuergefechts zu verhandeln

Auf der anderen Seite verhandelt nie einer alleine

Vermeiden Sie einen Showdown

Wie Sie Unglauben entgegenwirken

Wie Sie gezielte offene Fragen formulieren

Wie Sie es schaffen, NICHT bezahlt zu werden

Schlüssellektionen

Kapitel 8: Wie Sie die Umsetzung der erzielten Vereinbarung garantieren

Ein »Ja« ist nichts ohne das »Wie«

Wie Sie die Beteiligten hinter den Kulissen beeinflussen

Wie Sie Lügner ausfindig machen, mit unangenehmen Zeitgenossen umgehen und alle anderen um den Finger wickeln

Die 7-38-55-Prozent-Regel

Die Dreier-Regel

Der Pinocchio-Effekt

Achten Sie auf die Verwendung des Personalpronomens der ersten Person Singular

Der »Chris-Rabatt«

Wie Sie Ihr Gegenüber dazu bringen, sich selbst zu unterbieten

Schlüssellektionen

Kapitel 9: Zur Sache – das harte Feilschen um die Details

Welcher Typ sind Sie?

Wie Sie inakzeptable Angebote geschickt ablehnen

Konterschläge: Wie Sie bestimmt auftreten, ohne dass Ihnen das zum Nachteil gereicht

Die Ackerman-Verhandlung

Wie Sie eine Mietsenkung aushandeln, nachdem Sie ein Schreiben über eine Mieterhöhung erhalten haben

Schlüssellektionen

Kapitel 10: Finden Sie den schwarzen Schwan

Wie Sie das vorhersagbare Unvorhersagbare zu Ihren Gunsten nutzen

Wie Sie unbekannte Unbekannte aufdecken

Drei Arten von Hebeln

Bringen Sie die tiefsten Überzeugungen Ihres Gegenübers in Erfahrung

Das Ähnlichkeitsprinzip

Die Macht der Hoffnungen und Träume

Überzeugungen als tiefere Begründung

Dinge, die scheinbar keinen Sinn ergeben, sind nicht verrückt, sondern ein Hinweis

1. Fehler: Ihr Gegenüber ist fehlinformiert

2. Fehler: Ihrem Gegenüber sind die Hände gebunden

3. Fehler: Ihr Gegenüber verfolgt andere Interessen

Suchen Sie das persönliche Gespräch

Situationen, die keinen Sinn ergeben, bieten oft die größten Gewinnchancen

Wie Sie Ängste überwinden und lernen, Ihre Wünsche und Ziele zu verwirklichen

Schlüssellektionen

Danksagung

Anhang: Wie Sie eine Verhandlung auf einem einzigen Blatt Papier vorbereiten

1. Abschnitt: Das Ziel

2. Abschnitt: Zusammenfassung

3. Abschnitt Labels/gezielte Selbstvorwürfe

4. Abschnitt: Gezielte offene Fragen

5. Abschnitt: Nicht monetäre Vertragskomponenten

Über die Autoren

Kapitel 1:
Die neuen Regeln

Ich fühlte mich eingeschüchtert.

Ich hatte mehr als zwei Jahrzehnte beim FBI verbracht, darunter fünfzehn Jahre als Verhandlungsführer bei Geiselnahmen von New York über die Philippinen bis zum Nahen Osten, und beherrschte mein Metier. Das FBI beschäftigt rund 10.000 Agenten, aber nur einen führenden internationalen Verhandlungsführer bei Geiselnahmen. Das war ich.

Allerdings hatte ich noch nie zuvor eine Entführungssituation erlebt, die so persönlich war und mir so unter die Haut ging.

»Wir haben Ihren Sohn, Voss. Entweder Sie zahlen eine Million Dollar, oder er stirbt.«

Pause. Augenzwinkern. Ich zwang meinen Herzschlag auf Normaltempo zurück.

Gewiss, solche Situationen waren nicht neu für mich. Tausendmal hatte ich sie erlebt. Geld oder Leben. Aber keine war wie diese. Nie hatte das Leben meines Sohns auf dem Spiel gestanden. Nie ging es um eine Million. Und nie hatten die Kidnapper klingende Titel und jahrzehntelange Erfahrung in Verhandlungsführung gehabt.

Sie müssen wissen, dass die Leute auf der anderen Seite – meine Verhandlungspartner – Professoren für Verhandlungsführung an der Harvard Law School waren.

Ich hatte mich in Harvard für einen Schnellkurs in Verhandlungstechniken für Führungskräfte eingeschrieben, um zu sehen, ob ich irgendetwas von der Wirtschaftswelt lernen konnte. Es sollte eine ruhige, kleine berufliche Fortbildungsmaßnahme für einen FBI-Agenten sein, der versuchte, seinen Horizont zu erweitern.

Als Robert Mnookin, Direktor des Forschungsprojekts über Verhandlungsführung von Harvard, von meiner Anwesenheit erfuhr, lud er mich auf einen Kaffee in sein Büro ein. Um ein wenig zu plaudern, sagte er.

Ich fühlte mich geehrt, aber auch ein wenig eingeschüchtert. Mnookin ist eine beeindruckende Persönlichkeit, die ich seit Jahren verfolgt hatte: Er ist nicht nur Harvard-Professor, sondern auch eine der herausragenden Kapazitäten auf dem Gebiet der Konfliktlösung und Autor des Buches Verhandeln mit dem Teufel: Das Harvard-Konzept für die fiesen Fälle (Bargaining with the Devil: When to Negotiate, When to Fight.1)

Um ehrlich zu sein, fühlte sich die Tatsache, dass Mnookin mit mir, einem ehemaligen Streifenpolizisten aus Kansas City, über Verhandlungsführung diskutieren wollte, nach einer sehr ungleichen Chancenverteilung an. Aber es kam noch schlimmer. Kaum dass Mnookin und ich Platz genommen hatten, öffnete sich die Tür und eine weitere Harvard-Professorin spazierte herein – Gabriella Blum, Spezialistin für internationale Verhandlungsführung und die Lösung bewaffneter Konflikte und Terrorismusbekämpfung, die zuvor acht Jahre als strategische Beraterin für Israels Nationalen Sicherheitsrat und die Internationale Rechtsabteilung der israelischen Armee gearbeitet hatte. Eine knallharte militärische Verhandlungsexpertin.

Wie auf Knopfdruck kam als Nächstes Mnookins Sekretärin herein und stellte ein Aufnahmegerät auf den Tisch. Mnookin und Blum lächelten mich an.

Man hatte mich ausgetrickst.

»Wir haben Ihren Sohn, Voss. Entweder Sie zahlen eine Million Dollar, oder er stirbt«, sagte Mnookin mit einem Lächeln. »Ich bin der Kidnapper. Was werden Sie tun?«

Panik stieg in mir auf, aber das war normal. Eines ändert sich nie: Selbst nach 20 Jahren Verhandlung über Menschenleben verspürt man immer noch Angst. Selbst bei einem Rollenspiel.

Ich zwang mich zur Ruhe. Gewiss, ich war ein Streifenpolizist, aus dem ein FBI-Agent geworden war, der gegen echte Schwergewichte antreten musste. Und ich war kein Genie. Aber es gab einen Grund dafür, dass ich in diesem Raum war. Im Verlauf der Jahre hatte ich auf dem Gebiet der zwischenmenschlichen Kommunikation Fertigkeiten, Taktiken und einen umfassenden Ansatz zum richtigen Umgang mit heiklen Situationen entwickelt, der mir nicht nur geholfen hatte, Leben zu retten, sondern – wie ich im Rückblick erkenne – auch begonnen hatte, mein eigenes Leben zu verändern. Die vielen Jahre der Verhandlungsführung hatten alles verändert, von meinem Umgang mit Mitarbeitern im Kundenservice bis zu meinem Verhalten als Vater.

»Na los. Geben Sie mir das Geld, oder ich schlitze Ihrem Sohn jetzt gleich die Kehle auf«, sagte Mnookin. Provokation.

Ich warf ihm einen langen, eindringlichen Blick zu. Dann lächelte ich.

»Wie soll ich das machen?«

Mnookin machte eine Pause. In seinem Gesichtsausdruck spiegelte sich ein Anflug von amüsiertem Mitleid wider, so wie ein Hund zusieht, wie die Katze, die er gejagt hat, plötzlich versucht, den Spieß umzudrehen. Es war so, als würden wir unterschiedliche Spiele mit unterschiedlichen Regeln spielen.

Gleich darauf wurde seine Miene wieder ernst und er blickte mich mit gerunzelten Brauen an, als wolle er mich daran erinnern, dass er der Jäger sei und ich der Gejagte.

»Dann ist es für Sie in Ordnung, wenn ich Ihren Sohn töte, Mr Voss?«

»Entschuldigen Sie, Robert, woher weiß ich, dass er überhaupt noch am Leben ist?«, fragte ich, indem ich eine leicht unterwürfige Floskel und seinen Vornamen verwendete, um unserem Dialog etwas mehr menschliche Wärme zu verleihen – zwei Taktiken, die auf das Unterbewusstsein meines Gegenübers abzielten und dazu dienen sollten, ihm sein Vorhaben zu erschweren, mich einzuschüchtern und in die Enge zu treiben. »Es tut mir wirklich leid, aber wie kann ich Ihnen überhaupt irgendetwas zahlen, ganz zu schweigen von einer Million Dollar, wenn ich nicht einmal weiß, ob mein Sohn noch lebt?«

Es war ein ziemlich interessanter Anblick, wie ein derart brillanter Mann von einem Einwand aus der Fassung gebracht wurde, der auf den ersten Blick einfältig anmuten mochte. Tatsächlich war meine Antwort aber alles andere als einfältig. Ich hatte eine der wirksamsten Verhandlungsinstrumente des FBI angewendet: eine Antwort in Form einer offenen Gegenfrage.

Nachdem meine Beratungsfirma The Black Swan Group dieses Instrument für den privaten Sektor weiterentwickelt hat, bezeichnen wir diese Taktik heute als »feinjustierte Fragen«. Das sind passgenau auf die jeweilige Situation abgestimmte Fragen, auf die es aber keine festgefügten Antworten gibt. Sie dienen dazu, Zeit zu gewinnen, und vermitteln Ihrem Gegenüber die Illusion von Kontrolle, weil er im Besitz der Antworten ist und somit vermeintlich über Macht verfügt. All das geschieht, ohne dass er sich darüber bewusst ist, wie diese Fragen ihn letztlich in die Enge treiben.

Erwartungsgemäß begann Mnookin unruhig hin und her zu überlegen, weil sich der Gesprächsrahmen von meiner Reaktion auf die angedrohte Ermordung meines Sohns auf die Frage verlagert hatte, wie der Professor die logistischen Aspekte der Geldübergabe lösen würde – das heißt, wie er meine Probleme lösen würde. Jede Drohung und jede Forderung konterte ich stets mit der Frage, wie ich ihm das Geld übergeben sollte und woher ich wissen konnte, dass mein Sohn noch lebte.

Nachdem wir ungefähr drei Minuten mit diesem Hin und Her verbracht hatten, schaltete sich Gabriella Blum ein.

»Lassen Sie nicht zu, dass er mit Ihnen Katz und Maus spielt«, sagte sie zu Mnookin.

»Nun, dann versuchen Sie es«, antwortete er und erhob seine Hände.

Blum legte los. Sie war tougher – das Ergebnis ihrer Jahre im Nahen Osten. Allerdings bekam sie auf ihre aggressive Drohhaltung dieselben Fragen zur Antwort, die ich zuvor schon gestellt hatte.

Nach kurzer Zeit schaltete sich Mnookin erneut ein, kam aber auch nicht weiter. Sein Gesicht begann sich vor Ärger zu röten. Ich konnte sehen, dass seine Irritation ihm das Denken erschwerte.

»Okay, okay, Bob. Das ist alles«, sagte ich und erlöste ihn von seinem Frust.

Er nickte. Mein Sohn würde einen weiteren Tag erleben.

»Schön«, stellte Mnookin fest. »Es sieht so aus, als könne das FBI uns möglicherweise etwas beibringen.«

Ich hatte mich bei dieser Gelegenheit nicht nur gegen zwei herausragende Führungspersönlichkeiten von Harvard behauptet; ich war gegen die Besten der Besten angetreten und hatte gewonnen.

Vielleicht hatte ich aber nur einen Glückstreffer gelandet? Seit mehr als 30 Jahren war Harvard das Maß aller Dinge, was Theorie und Praxis der Verhandlungsführung anbetraf. Alles, was ich dagegen über die Techniken wusste, die wir beim FBI anwendeten, war, dass sie funktionierten. In den 20 Jahren, die ich beim FBI gearbeitet hatte, hatten wir ein System entwickelt, mit dem wir fast alle Entführungsfälle und Geiselnahmen lösen konnten. Ausgefeilte Theorien hatten wir jedoch nicht.

Unsere Techniken waren das Ergebnis unserer praktischen Lernerfahrungen: Sie wurden von den Agenten im Einsatz entwickelt, die in realen Krisensituationen verhandeln mussten und ihre Erfahrungen über die Taktiken, die sich bewährten, und solche, die sich nicht bewährten, mit anderen teilten. Das war kein intellektueller, sondern ein iterativer praktischer Prozess, in dessen Verlauf wir die Instrumente, die wir täglich einsetzten, ständig verfeinerten. Und es war ein Prozess, der stets unter einem hohen Erfolgsdruck stand. Unsere Instrumente mussten funktionieren, denn wenn sie es nicht taten, starb jemand.

Aber was machte unsere Techniken so erfolgreich? Das war die Frage, die mich nach Harvard und zum Gespräch mit Mnookin und Blum gelockt hatte. Mein praktisches Wissen war auf meine enge Welt begrenzt. Ich musste lernen, es zu artikulieren und es mit dem theoretischen Wissen der Harvard-Experten – einer echten Schatztruhe – zu kombinieren, um mein eigenes Wissen besser verstehen, systematisieren und erweitern zu können.

Ja, zweifellos bewährten sich unsere Techniken im Umgang mit Söldnern, Drogenhändlern, Terroristen und brutalen Mördern. Aber, so fragte ich mich, würden sie sich auch im Umgang mit »ganz normalen« Menschen bewähren?

Wie ich in den ehrwürdigen Hallen von Harvard bald feststellen sollte, waren unsere Techniken intellektuell sinnvoll und bewährten sich in jeder Situation. Es stellte sich heraus, dass unser Verhandlungsansatz der Schlüssel zur Entfachung einer konstruktiven zwischenmenschlichen Dynamik auf jedem Gebiet, in jeder Interaktion und jeder Beziehung des Lebens ist.

Dieses Buch zeigt, wie er funktioniert.

Der cleverste Nichtakademiker im Raum

Ein Jahr später, im Jahr 2006, gelang es mir, in den Verhandlungskurs des Wintersemesters der Harvard Law School aufgenommen zu werden, um mir meine Fragen beantworten zu können. Die besten und klügsten Köpfe konkurrieren um einen Platz in diesem Kurs, der von brillanten Harvard-Studenten der Fachrichtungen Jura und Wirtschaftswissenschaften sowie von vielversprechenden Studenten anderer Spitzenuniversitäten aus dem Raum Boston – zum Beispiel dem Massachusetts Institute of Technology and Tufts – besucht wurde. Eine Art Olympiade in Verhandlungsführung. Ich war der einzige Nichtakademiker.

Am ersten Tag des Kurses strömten 144 Studenten zur Einführungsvorlesung in den Vorlesungssaal. Dann teilten wir uns in vier Gruppen auf, die jeweils von einem Dozenten in Verhandlungsführung geleitet wurden. Nach einem kurzen Einleitungsgespräch mit unseren Dozenten – meine hieß Sheila Heen und ist bis heute eine gute Freundin von mir – mussten wir Paare bilden und ein Verhandlungsgespräch simulieren. Die Konstellation war denkbar einfach: Einer verkaufte ein Produkt, und der andere war der Käufer, und beide hatten eine klare Preisvorstellung, die sie durchzusetzen versuchten.

Mein Gesprächspartner war ein elegischer Rotschopf namens Andy (Pseudonym) und einer von diesen Jungs, die ihre intellektuelle Überlegenheit tragen wie ihre Klamotten: mit lässigem Selbstvertrauen. Wir begaben uns in einen leeren Vorlesungsraum mit Blick auf die parkähnlichen Rasenflächen des Campus und verwendeten unsere jeweiligen Verhandlungsinstrumente. Andy warf ein Angebot auf den Tisch und gab eine wasserdichte rationale Erklärung ab, warum es sich dabei um ein gutes Angebot handelte – eine unausweichliche Logikfalle –, und ich antwortete mit einer Variante der Frage »Wie soll ich das machen?«.

Das ging einige Male hin und her, bis wir uns auf einen endgültigen Preis einigen konnten. Als wir den Raum verließen, war ich zufrieden. Ich fand, für einen Dummkopf hatte ich mich ziemlich gut geschlagen.

Nachdem alle Gruppen in den Vorlesungssaal zurückgekehrt waren, fragte Sheila jede Gruppe, auf welchen Preis sie sich geeinigt hatte, und schrieb die Ergebnisse an die Tafel. Schließlich war ich an der Reihe.

»Chris, wie ist es Ihnen mit Andy ergangen?«, fragte sie. »Wie viel haben Sie aus ihm herausgeholt?«

Ich werde nie Sheilas Gesichtsausdruck vergessen, als ich ihr sagte, was Andy zu zahlen bereit war. Zuerst lief sie rot an, als habe sie Atemnot, und dann entwischte ihr ein kleiner Kiekser, so wie das aufgeregte Piepsen eines hungrigen Vogelkükens. Und schließlich fing sie an zu lachen.

Andy wand sich.

»Sie haben ihm buchstäblich alles abgenommen, was er hatte«, sagte sie. »Dabei hatte er die Instruktion erhalten, ein Viertel der Summe als Reserve für zukünftige Aufgaben zurückzuhalten.«

Andy sank tief in seinen Stuhl.

Am folgenden Tag passierte das Gleiche mit einem anderen Partner.

Soll heißen, ich knöpfte jedem meiner Verhandlungspartner den letzten Cent ab.

Was war hier los? Das war kein einmaliger Glückstreffer mehr, vielmehr kristallisierte sich hier ein Muster heraus. Mit meinem praktischen, realitätserprobten Wissen besiegte ich ein ums andere Mal meine jungen Verhandlungspartner, die jeden ausgefeilten Trick kannten, den die Fachliteratur zu bieten hatte.

Die Sache war, dass diese ausgefeilten theoretischen Techniken überholt und angestaubt anmuteten. Während unserer Gesprächssimulationen hatte ich stets das Gefühl, ich sei Roger Federer und hätte mich von einer Zeitmaschine in die 1920er-Jahre zurückversetzen lassen, um an einem Tennisturnier zwischen distinguierten Herren in kurzen weißen Hosen teilzunehmen, die einige Stunden pro Woche Amateurtraining absolviert hatten und mit Holzschlägern spielten. Und dann kam ich mit meinem Schläger aus Titanlegierung, einem engagierten Personal Trainer und einer computergestützten Serve-and-Volley-Strategie. Die Jungs, gegen die ich antrat, waren genauso intelligent, wenn nicht sogar intelligenter als ich, und wir spielten im Wesentlichen dasselbe Spiel mit denselben Regeln. Aber ich besaß Fertigkeiten, die sie nicht hatten.

»Ihr besonderer Stil macht Sie berühmt, Chris«, sagte Sheila, nachdem ich die Ergebnisse meines zweiten Tages bekannt gegeben hatte.

Ich lächelte wie eine Cheshire-Katze. Siegen macht Spaß.

»Chris, warum erklären Sie nicht allen Ihr Vorgehen?«, fragte Sheila. »Es hat den Anschein, als beschränkten Sie sich darauf, einfach ›Nein‹ zu sagen und Ihre Verhandlungspartner anzustarren, bis sie nachgeben. Ist es wirklich so einfach?«

Ich wusste, was sie meinte. Zwar hatte ich nicht einmal das Wort »Nein« in den Mund genommen, aber die Fragen, mit denen ich jede ihrer Forderungen beantwortet hatte, klangen so. Meine Fragen schienen zu suggerieren, mein Gegenüber sei unfair und unehrlich. Und das reichte aus, um ihn in Zweifel zu versetzen, sodass er begann, mit sich selbst zu verhandeln. Die Beantwortung meiner feinjustierten Fragen erforderte eine ausgeprägte emotionale Widerstandskraft und taktische psychologische Erkenntnisse, die der Instrumentenkasten, den man den Studenten an die Hand gegeben hatte, nicht enthielt.

Ich zuckte mit den Schultern.

»Ich stelle lediglich Fragen«, sagte ich. »Das ist ein passiv-aggressiver Ansatz. Ich stelle immer wieder dieselben drei oder vier offenen Fragen. Irgendwann sind sie von der Beantwortung zermürbt und fügen sich meinen Bedingungen.«

Wie von einer Wespe gestochen, sprang Andy von seinem Sitz auf.

»Verdammt!«, rief er. »Das ist also passiert. Ich hatte keine Idee.«

Am Ende des Wintersemesters war ich übrigens mit einigen meiner Kommilitonen befreundet. Selbst mit Andy.

Wenn mir die Zeit in Harvard irgendetwas gezeigt hat, dann, dass wir vom FBI der Welt eine Menge über Verhandlungsführung beibringen konnten.

Während meines kurzen Gastspiels an der Uni erkannte ich, dass all die rohe analytische Intelligenz und die mathematische Logik in der Welt ohne ein profundes Verständnis der menschlichen Psyche, ohne die Akzeptanz, dass wir alle verrückte, irrationale, impulsive, emotionsgetriebene Wesen sind, in dem emotional befrachteten Wechselspiel zwischen zwei Menschen, die miteinander verhandeln, keine Hilfe bieten.

Ja, vielleicht sind wir die einzigen Lebewesen, die feilschen – ein Affe tauscht keinen Teil seiner Banane für die Nüsse eines anderen Affen –, aber egal, wie wir unsere Verhandlungen in mathematische Theorien kleiden, wir bleiben immer Tiere, die zuerst und vor allem auf der Basis unserer tief sitzenden, aber äußerlich unsichtbaren und diffusen Ängste, Bedürfnisse, Wahrnehmungen und Wünsche handeln.

Das entspricht aber nicht dem Ansatz, der an der Harvard Law School gelehrt wird. Ihre Theorien und Techniken hatten ausnahmslos mit intellektueller Überlegenheit, analytischer Logik, rationalen Wertekonzepten, autoritativen Akronymen wie BATNA und ZOPA und einem festen moralischen Konzept über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu tun.

Und über diesem falschen Rationalitätsgebäude thronte natürlich der Prozess. Die Studenten mussten ein Skript befolgen, das aus einer vorbestimmten Handlungsabfolge aus Angeboten und Gegenangeboten bestand, die auf spezifische Weise angeordnet waren, um ein bestimmtes Ergebnis zu erzeugen. Es war so, als bedienten sie einen Roboter: Wenn man die Schritte a, b, c und d in einer bestimmten, festgefügten Reihenfolge macht, erhält man x. In der Realität sind Verhandlungen aber viel zu komplex und unkalkulierbar für diese Art des Vorgehens; möglicherweise müssen Sie nach Schritt a Schritt d und anschließend vielleicht Schritt q machen.

Wenn ich die brillantesten Studenten des Landes mit nur einer der vielen emotionsbasierten Verhandlungstechniken beherrschen konnte, die ich entwickelt und in der Verhandlung mit Terroristen und Geiselnehmern erfolgreich eingesetzt hatte, warum sollten sie dann nicht auch auf die Geschäftswelt anwendbar sein? Worin besteht der Unterschied zwischen Bankräubern, die Geiseln nehmen, und Vorstandsvorsitzenden, die mit knallharten Verhandlungstaktiken versuchen, den Preis einer milliardenschweren Akquisition zu drücken?

Letztlich sind Geiselnehmer auch nichts anderes als Geschäftsleute, die versuchen, den besten Preis für ihre »Ware« herauszuschlagen.

Verhandlungen nach alter Schule

Geiselnahmen und Verhandlungen über deren Freilassung gibt es schon seit Menschengedenken. Das Alte Testament enthält zahlreiche Geschichten über Israeliten und ihre Feinde, die sich gegenseitig Bürger als Kriegsbeute zur Geisel nahmen. Die Römer wiederum zwangen die Herrscher der unterworfenen Vasallenstaaten, ihre Söhne zur Ausbildung nach Rom zu schicken, um sich die dauerhafte Loyalität der besiegten Gebiete zu sichern.

Bis zur Regierung von Präsident Nixon bestanden Geiselverhandlungen ausnahmslos in der Entsendung von schwer bewaffneten Spezialtruppen, die versuchten, die Geiseln freizuschießen. In der Polizeiarbeit bestand unser Ansatz zumeist darin, so lange mit den Geiselnehmern zu sprechen, bis wir herausgefunden hatten, wie wir die Geiseln mit Waffengewalt befreien konnten. Reine Brachialgewalt.

Doch dann zwang uns eine Serie blutiger Geiseldramen zum Umdenken.

Im Jahr 1971 wurden 39 Geiseln getötet, als die Polizei versuchte, die Aufstände im Gefängnis von Attica im Norden des Bundesstaates New York mit Waffengewalt zu beenden. Bei der Olympiade von 1972 in München wurden elf israelische Athleten und Trainer nach einem missglückten Befreiungsversuch der deutschen Einsatzkräfte von ihren palästinensischen Geiselnehmern getötet.

Der größte Impuls für einen institutionellen Wandel in Amerikas Vollzugsbehörden fand jedoch am 4. Oktober 1971 auf der Rollbahn des Flughafens von Jacksonville, Florida, statt.

Die USA erlebten zu jenem Zeitpunkt geradezu eine Epidemie an Flugzeugentführungen; im Jahr 1970 kam es innerhalb von drei Tagen zu fünf Entführungen. In dieser aufgeheizten Atmosphäre geschah es, dass ein gestörter Mann namens George Giffe jr. ein Charterflugzeug aus Nashville, Tennessee, kaperte und auf die Bahamas entführen wollte.

Am Ende der Flugzeugentführung hatte Giffe zwei Geiseln getötet – seine Exfrau und den Piloten – und sich anschließend das Leben genommen.

Dieses Mal lag die Schuld aber nicht beim Geiselnehmer, sondern ganz allein beim FBI. Zwei Geiseln war es gelungen, Giffe dazu zu überreden, sie in Jacksonville freizulassen, wo das Flugzeug zum Auftanken zwischengelandet war. Die FBI-Agenten hatten jedoch die Geduld verloren und zerschossen die Turbinen. Das hatte Giffe so wütend gemacht, dass er die Geiseln ermordete.

Die Schuld, die das FBI an diesem Ausgang trug, war so groß, dass das Gericht, vor dem die Witwe des Piloten und Giffes Tochter Anklage gegen das FBI wegen widerrechtlicher Tötung erhoben hatten, den Klägerinnen recht gab.

In dem wegweisenden Urteil Downs gegen die Vereinigten Staaten von 1975 schrieb das US-Berufungsgericht, es gebe »eine bessere Alternative zum Schutz des ›Wohlergehens‹ der Geiseln«, und sagte, das FBI habe »das, was eine erfolgreiche ›Ausharrungstaktik‹ war, in deren Verlauf zwei Personen sicher das Flugzeug verlassen konnten, in ein ›Schießturnier‹ verwandelt, das drei Todesopfer forderte«. Das Gericht schloss mit der Feststellung, dass »vor einer taktischen Intervention ein vernünftiger Verhandlungsversuch unternommen werden muss«.

Die Downs-Geiselnahme wurde zum Inbegriff aller Dinge, die man in einer Krisensituation nicht machen darf, und inspirierte zur Entwicklung der heutigen Theorien, Schulungen und Techniken in Verhandlungsführung bei Geiselnahmen.

Kurz nach der Giffe-Tragödie wurde die Polizei von New York (NYPD) zur ersten Polizeibehörde der Vereinigten Staaten, die ein besonderes Spezialistenteam zusammenstellte, um einen Verhandlungsprozess für Krisenfälle zu entwickeln und die Verhandlungsführung zu übernehmen. Das FBI und andere Einrichtungen folgten.

Eine neue Ära der Verhandlungen hatte begonnen.

Herz versus Verstand

Anfang der 1980er-Jahre war Massachusetts der Hotspot auf dem Gebiet der Verhandlungswissenschaft, wo sich Gelehrte aus verschiedenen Disziplinen zusammentaten und spannende neue Konzepte erforschten. Das 1979 gegründete Harvard Negotiation Project, das zum Ziel hatte, Theorie, Lehre und Praxis der Verhandlungsführung zu optimieren, um die Erfolgschancen in allen möglichen Verhandlungssituationen – von Friedensverhandlungen bis zu Unternehmensfusionen – zu steigern, markierte einen echten Meilenstein.

Zwei Jahre später veröffentlichten Roger Fisher und William Ury, die Mitbegründer dieses Projekts, das Buch Getting to Yes2, eine bahnbrechende Abhandlung über Verhandlungstaktiken, die die Methodik von Verhandlungsführern aus der Praxis grundlegend veränderte.

Fisher und Urys Ansatz bestand im Wesentlichen darin, die Problemlösung zu systematisieren, damit die Verhandlungsparteien eine für beide Seiten befriedigende Einigung erzielen konnten – wie der Buchtitel schon besagt. Ihre Grundannahme lautete, dass sich das emotionale Gehirn – die animalistische, unzuverlässige und irrationale Bestie – mit einer rationaleren, auf eine gemeinsame Problemlösung fokussierten Mentalität überwinden ließ.

Ihr System, das aus vier grundlegenden Leitsätzen bestand, war attraktiv und einfach zu befolgen. Erstens: Trennen Sie die Person – das Gefühl – vom Problem. Zweitens: Lassen Sie sich nicht in die äußerliche Position der anderen Seite verwickeln (was sie fordert), sondern fokussieren Sie stattdessen auf die zugrunde liegende Motivationslage (warum sie eine bestimmte Forderung stellt), damit Sie herausfinden können, was sie wirklich will. Drittens: Verhalten Sie sich kooperativ, um Optionen zu finden, von denen beide Seiten profitieren. Und viertens: Etablieren Sie beiderseitig akzeptierte Standards zur Bewertung möglicher Lösungen.

Das war eine brillante, rationale und profunde Synthese der modernsten Spieltheorie und des Rechtsdenkens der damaligen Zeit. Nach dem Erscheinen dieses Buches fokussierte jeder, einschließlich des FBI und der NYPD, in jeder Art von Verhandlung auf einen Problemlösungsansatz. Das erschien einfach so modern und so smart.

In einer anderen Ecke der USA verfolgten zwei Professoren von der Universität von Chicago einen völlig anderen Ansatz, den sie auf alle denkbaren Gebiete übertrugen – von den Wirtschaftswissenschaften bis zur Verhandlungswissenschaft.

Das waren die Ökonomen Amos Tversky und der Psychologe Daniel Kahneman. Gemeinsam begründeten sie das Gebiet der Verhaltensökonomie – für die Kahnemann mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde –, indem sie aufzeigten, dass der Mensch ein äußerst irrationales Wesen ist.

Das Fühlen, so fanden sie heraus, ist eine Form des Denkens.

Als Business Schools wie Harvard in den 1980er-Jahren begannen, Verhandlungsstrategien zu lehren, vermittelten sie diesen Prozess als fadengerade Wirtschaftsanalyse. Das war eine Zeit, in der die angesehensten Wirtschaftsgelehrten die Auffassung vertraten, die Menschen seien »rationale Akteure«. Und so wurde es in den Vorlesungen über Verhandlungsstrategie gelehrt. Man ging davon aus, die Gegenseite verhalte sich in dem Versuch, die eigene Position zu stärken, grundsätzlich rational und egoistisch. Der Verhandlungspartner müsse dementsprechend herausfinden, wie er am besten auf unterschiedliche Szenarien reagiert, um den Wert seiner eigenen Position auf rationale Weise zu maximieren.

Diese Auffassung verblüffte Kahneman, der aus seiner jahrelangen Erfahrung auf dem Gebiet der Psychologie wusste, »dass Menschen nie vollkommen rational noch vollkommen egoistisch sind und ihre Präferenzen alles andere als stabil sind«, wie er es in seinen eigenen Worten ausdrückte.

In Jahrzehnten der Forschung, die er gemeinsam mit Tversky betrieb, bewies Kahneman, dass alle Menschen unter einer kognitiven Verzerrung leiden. Das sind unbewusste und irrationale Prozesse im Gehirn, die unsere Wahrnehmung der Welt verzerren. Kahneman und Tversky entdeckten mehr als 150 solcher Prozesse.

Da ist der sogenannte Framing-Effekt – auch Deutungsrahmen genannt – , demzufolge unterschiedliche Formulierungen ein und derselben inhaltlichen Botschaft beeinflussen, wie diese von den Empfängern interpretiert wird. (So haben Untersuchungen ergeben, dass eine Steigerung von 90 auf 100 Prozent – von der hohen Wahrscheinlichkeit zur Gewissheit – als wertvoller empfunden wird als eine Steigerung von 45 auf 55 Prozent, obwohl es sich in beiden Fällen objektiv um die gleiche Steigerungsrate, nämlich um 10 Prozent, handelt.) Die Prospect Theory oder neue Erwartungstheorie erklärt, warum wir angesichts eines möglichen Verlustrisikos bereit sind, überproportional hohe Risiken einzugehen. Die bekannteste ist die Loss Aversion oder Verlustaversion, die die Neigung beschreibt, mögliche Risiken höher zu bewerten als gleich hohe mögliche Gewinne.

Später kodifizierte Kahneman seine Forschungsergebnisse in seinem 2011 erschienenen Bestseller Schnelles Denken, langsames Denken.3 Im Wesentlichen stellt er darin die These auf, dass der Mensch zwei Denksysteme besitzt: System 1, unser animalisches Gehirn, ist schnell, instinktiv und emotional. System 2 ist langsam, bewusst und logisch. System 1 ist weitaus mächtiger und einflussreicher als System 2; tatsächlich leitet und steuert es unser gesamtes rationales Denken.

Die unausgereiften Überzeugungen, Gefühle und Eindrücke des ersten Systems sind die Hauptquelle der expliziten Überzeugungen und bewussten Entscheidungen des zweiten Systems. Es ist die Quelle, die den Fluss speist. Wir reagieren emotional (System 1) auf einen Vorschlag oder eine Frage. Anschließend beeinflusst die Reaktion des ersten Systems die Antwort, die vom zweiten System erzeugt wird.

Betrachten Sie Folgendes: Wenn Sie in Anwendung dieses Modells wissen, wie Sie mithilfe der Formulierung und Übermittlung Ihrer Fragen und Aussagen die Denkweise und unausgesprochenen Gefühle des ersten Systems Ihres Gesprächspartners beeinflussen können, dann können Sie die Rationalität seines zweiten Systems steuern und somit seine Reaktionen verändern. Das war in Harvard mit Andy geschehen. Indem ich ihn fragte: »Wie soll ich das machen?«, beeinflusste ich sein erstes System dahingehend, dass er eingestand, dass sein Angebot nicht gut genug war. Daraufhin rationalisierte sein zweites System die Situation dahingehend, dass es ihm sinnvoll erschien, mir ein besseres Angebot zu unterbreiten.

Kahneman zufolge glich die Verhandlungsführung auf der Basis des rationalen System-2-Konzepts unter Ausschluss der Instrumente, mit denen sich die emotionale Grundlage des ersten Systems lesen, verstehen und manipulieren ließ, dem Versuch, ein Omelett zu braten, ohne zu wissen, wie man ein Ei zerschlägt.

Das FBI wird emotional

Im Verlauf des Wachstums des neuen FBI-Teams für Verhandlungen bei Geiselnahmen in den 1980er- und 1990er-Jahren und seines zunehmenden Erfahrungsschatzes auf dem Gebiet der Krisenbewältigung wurde klar, dass unserem System ein zentrales Element fehlte.

Damals waren wir vollkommen von Getting to Yes überzeugt. Und als Verhandlungsführer, Berater und Lehrer mit jahrzehntelanger Erfahrung bin ich immer noch von vielen der hochwirksamen Verhandlungsstrategien dieses Buches angetan. Zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung lieferte es bahnbrechende Ideen zu kooperativer Problemlösung und bildete das Fundament für die Entwicklung unverzichtbarer Konzepte wie der Aufnahme von Verhandlungen mit einem Alternativkonzept – BATNA (»Best Alternative To a Negotiated Agreement«) genannt – für den Fall, dass das angestrebte Verhandlungsergebnis nicht zustande kommt.

Es war genial.

Aber nach dem verheerenden Ende der Observierung von Randy Weavers Ruby Ridge Farm in Idaho im Jahr 1992 und der Belagerung des Hauptquartiers der von David Koresh angeführten Sekte Branch Davidians in Waco, Texas, im Jahr 1993 ließ sich nicht leugnen, dass die meisten Verhandlungen bei Geiselnahmen alles andere als rationale Problemlösungssituationen waren.

Was ich sagen will, ist Folgendes: Haben Sie jemals versucht, im Umgang mit einer Person, die sich für den Messias hält, eine für beide Seiten befriedigende Lösung zu finden?

Es war nicht zu übersehen, dass Getting to Yes in Verhandlungen mit Geiselnehmern nicht funktionierte. Egal wie viele Agenten das Buch mit einem Textmarker in der Hand intensiv studierten, es gelang uns nicht, unsere Methodik der Verhandlungsführung bei Geiselnahmen zu verbessern. Es gab einen eindeutigen Bruch zwischen der brillanten Theorie des Buches und der täglichen Erfahrung in der Polizeiarbeit. Woran lag es, dass jeder diesen Bestseller las und ihn als bestes Verhandlungsbuch pries, das je geschrieben worden war, und dennoch kaum jemand mit den darin beschriebenen Strategien Erfolg hatte?

Waren wir komplette Dummköpfe?

Nach Ruby Ridge und Waco stellten sich viele Leute diese Frage. Der stellvertretende US-Generalstaatsanwalt Philip B. Heymann zum Beispiel wollte wissen, warum unsere Verhandlungstechniken bei Geiselnahmen so jämmerlich scheiterten. Im Oktober 1993 veröffentlichte er einen Bericht mit dem Titel »Lektionen aus Waco: Vorschläge zu Veränderungen in den Bundesvollzugsbehörden«4. Grundlage dieses Papiers war eine Zusammenfassung des Zustandsberichts einer Gruppe von Experten, die die Unfähigkeit der amerikanischen Polizei analysiert hatte, komplexe Geiselnahmen erfolgreich zu bewältigen.

Das Ergebnis war, dass der Direktor des FBI, Louis Freeh, im Jahr 1994 die Bildung der Sondereinheit Critical Incident Response Group (CIRG) ankündigte, eine interdisziplinär besetzte Spezialeinheit aus den Gebieten Krisenverhandlung, Krisenmanagement, Verhaltenswissenschaften und Geiselrettungsteams, die die Krisenverhandlung neu erfinden sollte.

Die einzige Frage war: Welche Techniken sollten wir zur Anwendung bringen?

Ungefähr zu jener Zeit leiteten zwei der herausragendsten Verhandlungsführer in der Geschichte des FBI, mein Kollege Fred Lancelay und mein ehemaliger Chef Gary Noesner, einen Kurs in Geiselverhandlung in Oakland, Kalifornien. Im Rahmen dieser Fortbildung stellten sie ihrer Gruppe aus 35 erfahrenen Polizisten eine einfache Frage: Wie viele von ihnen hatten eine klassische Verhandlungssituation erlebt, in der sich die rationale Problemlösung als erfolgreichste Technik erwiesen hatte?

Niemand hob die Hand.

Anschließend stellten sie die ergänzende Frage: Wie viele Studenten waren an Verhandlungen in einer dynamischen, hoch spannungsgeladenen, unsicheren Umgebung mit einem Geiselnehmer beteiligt, der sich in einer emotionalen Krise befand und keine eindeutigen Forderungen stellte?

Alle hoben die Hand.

Eines war klar: Wenn emotionsbestimmte Ereignisse und keine rationalen Verhandlungssituationen den Großteil der Krisensituationen ausmachten, mit denen die Verhandlungsführer der Sicherheitskräfte konfrontiert waren, mussten sich unsere Verhandlungskompetenzen punktgenau auf die animalische, emotionale und irrationale Seite des Menschen konzentrieren.

Von da an würde unser Schwerpunkt nicht mehr auf einer Schulung in rationaler, kompromissbasierter Verhandlung und Problemlösung liegen müssen, sondern auf dem Erwerb der psychologischen Kompetenzen, die für eine erfolgreiche Krisenintervention notwendig sind. Anstatt zu versuchen, den Verhandlungsprozess als rein rationale Angelegenheit zu betrachten, würden Emotionen und emotionale Intelligenz von nun an im Mittelpunkt effektiver Verhandlungen stehen müssen.

Was wir benötigten, waren einfache psychologische Taktiken und Strategien, die im praktischen Einsatz geeignet waren, Menschen zu beruhigen, eine Gesprächsbeziehung herzustellen, Vertrauen zu schaffen, zur Artikulation von Bedürfnissen zu motivieren und den Adressaten unserer Taktiken von unserer Empathie zu überzeugen. Wir brauchten Taktiken und Strategien, die einfach zu lehren, einfach zu erlernen und leicht anzuwenden waren.

Die Sicherheitskräfte im Einsatz waren schließlich Polizisten und FBI-Agenten und nicht daran interessiert, Gelehrte oder Therapeuten zu werden. Wir wollten das Verhalten des Geiselnehmers beeinflussen, egal wer er war und was er wollte, um die emotionale Umgebung der Krise gerade so weit zu verändern, dass wir alle Beteiligten in Sicherheit bringen konnten.

In den ersten Jahren experimentierte das FBI sowohl mit neuen als auch mit alten Therapietechniken, die von den Therapiewissenschaften entwickelt worden waren. Die therapeutischen Ansätze zielten auf die Herstellung positiver menschlicher Beziehungen ab, indem den Empfängern vermittelt wurde, ihre Situation und Gefühle würden verstanden.

Alles beginnt mit der grundsätzliche Prämisse, dass Menschen verstanden und akzeptiert werden wollen. Zuhören ist das billigste und zugleich effektivste Zugeständnis, das wir in diesem Zusammenhang machen können. Indem ein Verhandlungsführer aufmerksam zuhört, demonstriert er Empathie und zeigt den echten Wunsch, die Gefühle seines Gegenübers besser zu verstehen.

Die psychotherapeutische Forschung zeigt, dass Menschen, die das Gefühl haben, man höre ihnen zu, ihrerseits dazu neigen, anderen aufmerksamer zuzuhören und ihre eigenen Gedanken und Gefühle offen zu äußern und zu bewerten. Wenn Menschen sich gehört fühlen, sinkt ihre instinktive Verteidigungs- und Abwehrhaltung, sodass sie eher bereit sind, sich andere Standpunkte anzuhören. Das wiederum führt dazu, dass sie sich beruhigen und logischen Argumenten zugänglich werden. Erst an diesem Punkt können sie rationale Problemlöser im Sinne der Getting to Yes-Strategien sein.

Das gesamte Konzept, das Sie als Herzstück dieses Buches kennenlernen werden, heißt taktische Empathie. Das ist Zuhören als eine Art Kampfkunst: Sie besteht darin, die subtilen Kompetenzen der emotionalen Intelligenz auf geschickte Weise mit psychologischer Beeinflussung zu kombinieren, um sich Zugang zur Gedanken- und Gefühlswelt eines anderen Menschen zu verschaffen und diese anschließend bewusst zu steuern. Anders, als die meisten Menschen vermuten, ist Zuhören keine passive Aktivität; vielmehr ist sie die aktivste Tätigkeit, die Sie ausüben können.

Nachdem wir mit der Entwicklung unserer neuen Techniken begonnen hatten, spaltete sich die Welt der Verhandlungsexperten in zwei Strömungen: Die Verhandlungsstrategien und -techniken, die an den Eliteausbildungsstätten des Landes gelehrt wurden, basierten weiterhin auf der rationalen Problemlösung, während wir Nichtakademiker vom FBI ironischerweise begannen, unsere Agenten auf der Basis eines Systems auszubilden, das sich der Methoden aus Psychologie, Therapie und Krisenintervention bediente. Während die Eliteschulen Mathematik und Wirtschaft lehrten, wurden wir Experten in Empathie.

Und unsere Methode bewährte sich.

Das ganze Leben besteht aus Verhandlungen

Sie mögen sich fragen, wie es Verhandlungsführern des FBI gelingt, einige der gemeingefährlichsten Geiselnehmer zur Freilassung ihrer Geiseln zu bewegen. Und Sie könnten sich mit Recht fragen, was Verhandlungen bei Geiselnahmen mit Ihnen und Ihrem Leben zu tun haben. Glücklicherweise sind nur sehr wenige Menschen gezwungen, sich mit islamistischen Terroristen auseinanderzusetzen, die ihre geliebten Angehörigen entführt haben.

Erlauben Sie mir jedoch, Ihnen ein Geheimnis mitzuteilen: Das ganze Leben besteht aus Verhandlungen.

Die Mehrheit der Interaktionen in unserem beruflichen und privaten Umfeld sind Verhandlungen, die sich auf die Äußerung eines einfachen, animalischen Triebs zurückführen lassen: Ich will.

»Ich will die Geiseln befreien« ist ein Bedürfnis, das im Zusammenhang mit diesem Buch natürlich äußerst relevant ist.

Aber das gilt auch für die folgenden Wünsche:

»Ich will, dass Sie den Eine-Millionen-Dollar-Vertrag annehmen.«

»Ich will nur 20.000 Dollar für dieses Auto bezahlen.«

»Ich will, dass Sie mir eine 10-prozentige Gehaltserhöhung geben.«

Und: »Ich will, dass du um neun Uhr ins Bett gehst.«

Verhandlungen dienen zwei vitalen Lebensfunktionen – Informationssammlung und Beeinflussung des Verhaltens Ihres Gegenübers – und finden fast in jeder Kommunikation zwischen zwei Menschen statt, bei der jeder etwas vom anderen will. Ihre Karriere, Ihre Finanzen, Ihr Ruf, Ihr Liebesleben, selbst die Zukunft Ihrer Kinder – bis zu einem gewissen Punkt hängt alles von Ihrer Verhandlungsfähigkeit ab.

Verhandlung, wie Sie sie hier lernen, ist nichts anderes als ergebnisorientierte Kommunikation. Ob Sie die Dinge im Leben erreichen, die Sie erreichen wollen, hängt letztlich davon ab, ob es Ihnen gelingt, andere Menschen dazu zu bringen, das zu tun, was Sie wollen. Keine Beziehung ist frei von Konflikten. Daher ist es nützlich, um nicht zu sagen lebenswichtig, dass Sie wissen, wie Sie sich in Konflikten verhalten müssen, um das zu erreichen, was Sie wollen, ohne dem anderen Schaden zuzufügen.

Für dieses Buch stütze ich mich auf mehr als zwei Jahrzehnte praktische Erfahrung, die ich im täglichen Einsatz beim FBI erworben habe, um die Prinzipien und Praktiken, die meine Arbeit als internationaler Verhandlungsführer bei Geiselnahmen bestimmt haben, zu einem spannenden neuen Ansatz zu komprimieren. Dieser wird Ihnen dabei helfen, Ihr Gegenüber in jeder erdenklichen Verhandlungssituation zu entwaffnen, in die von Ihnen gewünschte Richtung zu dirigieren und seinen Widerspruch in Zustimmung zu verwandeln, und zwar auf eine positive Art und Weise, die die zwischenmenschliche Gesprächsbeziehung nicht beschädigt.

Ja, Sie werden lernen, wie es uns gelang, die Freilassung und das sichere Geleit zahlloser Geiseln auszuhandeln. Aber Sie werden auch lernen, ein profundes Verständnis der menschlichen Psyche zu entwickeln und bei der nächsten Gelegenheit so anzuwenden, dass Sie bei Ihrem nächsten Autokauf den Preis senken, eine größere Gehaltserhöhung erzielen und Ihre Kinder dazu bringen können, zu einer bestimmten Uhrzeit ohne Murren ins Bett zu gehen. Dieses Buch wird Ihnen zeigen, wie Sie die Kontrolle über die Gespräche zurückgewinnen, die Einfluss auf Ihr Leben und Ihre berufliche Karriere haben.

Der erste Schritt zur Beherrschung Ihrer täglichen Verhandlungen besteht darin, Ihre Aversion gegen Verhandlungen zu überwinden. Sie müssen Ihnen nicht sympathisch sein, Sie müssen nur verstehen, wie sie funktionieren. Verhandlung bedeutet nicht, Ihr Gegenüber einzuschüchtern oder zu zermürben. Es bedeutet einfach, die emotionale Klaviatur zu bedienen, auf die die menschliche Gesellschaft gepolt ist. In dieser Welt erhalten Sie, was Sie wollen; Sie müssen nur richtig darum bitten. Verteidigen Sie also Ihr Privileg, um das zu bitten, was Sie für richtig halten und von dem Sie meinen, dass es Ihnen zusteht.

Dieses Buch dreht sich im Wesentlichen darum, dass Sie die Verhandlung als positiven Prozess annehmen und lernen, auf eine psychologisch bewusste Weise Ihre Ziele durchzusetzen. Sie werden lernen, bei jedem zwischenmenschlichen Austausch Ihre Emotionen, Instinkte und Erkenntnisse bewusst einzusetzen, um eine bessere Beziehung zu Ihrem Verhandlungspartner herzustellen, ihn in Ihrem Sinne zu beeinflussen und mehr zu erreichen.

Effektive Verhandlungstaktik ist angewandte Menschenkenntnis; ein psychologischer Vorteil, den Sie in jedem Lebensbereich nutzen können: wie Sie einen anderen Menschen richtig einschätzen, wie Sie seine Einschätzung Ihrer Person beeinflussen und wie Sie dieses Wissen so nutzen, dass Sie erhalten, was Sie wollen.

Täuschen Sie sich aber nicht: Dies ist kein Buch über Populärpsychologie, sondern ein tiefgründiger, wohlüberlegter (und vor allem praktisch anwendbarer) Leitfaden in führender psychologischer Theorie, der die Lektionen aus einer 24-jährigen beruflichen Tätigkeit beim FBI und zehn Jahren Lehr- und Beratungstätigkeit an den besten Business Schools und für die besten Unternehmen der Welt auf den Punkt bringt.

Sein Erfolg hat einen einfachen Grund: Er wurde in und für die tägliche Wirklichkeit konzipiert. Dieser Leitfaden ist kein Produkt einer theoretischen Lehr- oder Fortbildungstätigkeit, sondern stützt sich auf Jahre der praktischen Erfahrung, in denen er bis zur Beinahe-Perfektion immer wieder verfeinert wurde.