Umschlag

Carsten Sebastian Henn, Jahrgang 1973, ist Autor und Weinjournalist. Im Emons Verlag erschienen seine kulinarischen Kriminalromane »In Vino Veritas«, »Nomen est Omen«, »In Dubio pro Vino«, »Vinum Mysterium« und »Vino Diavolo« sowie die Kurzkrimis »Henkerstropfen«. Alle Julius-Eichendorff-Romane sind auch als Hörbuch erhältlich, gelesen von Jürgen von der Lippe. Mit seiner »Deutschen Wein-Entdeckungs-Gesellschaft« keltert C.S. Henn eigene Tropfen. Mehr Infos über ihn, seine Bücher und seine Weine gibt es hier:
www.carstensebastianhenn.de

Handlungen und Personen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2015 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-831-1
Kulinarische Kurzkrimis
Originalausgabe

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Für Kcirederf und Ettolrahc 

ich hab euch zum Fressen gern!

»Essen und Trinken sind die

drei schönsten Dinge des Lebens.«

Willy Millowitsch

Hans Stefan Steinheuer ist Koch und Besitzer des Heppinger Zwei-Sterne-Restaurants »Steinheuers«. Er war die Inspiration für Carsten Sebastian Henns Kultdetektiv Julius Eichendorff und gilt zudem als eine Koryphäe im Bereich Wein-Speisen-Kombinationen. Im Tre Torri Verlag erschien sein Buch »Harmonie der Aromen – Einklang von Küche und Wein«.

Vorwort

Ein Raunen ging durchs Tal. Julius Eichendorff, Koch und Besitzer des Restaurants »Zur Alten Eiche« in Heppingen, auf kriminalistischer Spurensuche im Ahrtal. Schultze-Nögel, ein Dernauer Winzer, als Leiche im Spätburgunder-Bottich.

Zahlreiche Gäste sprachen mich sofort darauf an: Was ist denn los bei euch im Tal? Dieser August Herold von der Porzermühle, ist damit Wolfgang Hehle gemeint? Wer kennt solche Details und Zusammenhänge, wer ist so informiert, wer steckt dahinter?

Also kaufte ich mir selbst ein Exemplar von »In Vino Veritas«. Das war im Mai 2002, nicht gerade die Zeit, in der man als Koch und Gastronom die Muße hat, einen Kriminalroman zu lesen. Aber keiner meiner Gäste wollte mir verraten, wie und wo und wann Julius Eichendorff den Mörder dingfest macht. Also setzte ich mich in den Juliferien hin, las diese kurzweilige Geschichte und amüsierte mich. Wer ist denn dieser Carsten Sebastian Henn, und soll Julius Eichendorff mich darstellen? Wie kommt jemand auf die Idee, mir eine Hauptrolle in seinem Roman zu geben? Mache ich den Eindruck, neben meiner Kochkunst kriminalistische Detektivarbeit zu leisten?

Ehe ich mich versah, war auch schon der zweite Band auf dem Markt. In »Nomen est Omen« muss Julius Eichendorff einem Mord im Regierungsbunker nachgehen. Jetzt wollte ich es ganz genau wissen und informierte mich bei den befreundeten Ahrwinzern, ob denn jemand diesen Carsten Sebastian Henn kenne? Bei Wolfgang Hehle wurde ich fündig. Er berichtete mir von einem weininteressierten jungen Journalisten, der wohl neben seiner detektivischen Spürnase auch eine feine Wein-Nase habe.

Das interessierte mich umso mehr, und ich wollte schon Kontakt aufnehmen, da trafen wir uns mehr oder weniger zufällig. Und Carsten Sebastian Henn berichtete mir von einem Erlebnis in unserem Restaurant: Schon mit achtzehn Jahren war er nicht nur weininteressiert, sondern hatte auch eine Vorliebe für kulinarische Genüsse. Bei der Organisation des väterlichen Geburtstages wurde unser Restaurant ausgewählt, und er fand es sympathisch, dass ich ihm damals gestattet hatte, seine gesammelten erlesenen Weine zum Geburtstag des Vaters ins Menü einzubauen. Ich erinnerte mich – natürlich hatte ich so reagiert, denn wenn ich junge Menschen erlebe, die für Küche und Wein so viel Interesse zeigen, ist es mein Ansinnen, dies zu unterstützen.

Und so schnell wird man kochender Detektiv!

Mit seinen Ahrkrimis, die natürlich vom Geschehen rein fiktiv sind, ist es Carsten Sebastian Henn bestens gelungen, unser Ahrtal in Szene zu setzen und Ereignisse, Befindlichkeiten und Personen pikant zu skizzieren, ohne den Bogen zu überspannen. Auch mit den nachfolgenden Krimis »Nomen est Omen«, »In Dubio pro Vino«, »Vinum Mysterium« und »Vino Diavolo« hat er dem Ahrtal, seinen Weinen und den Bewohnern besondere Aufmerksamkeit beschert.

Ein kleiner Tipp: Verlassen Sie sich nicht auf alle Rezepte, denn ein paar davon sind frei erfunden!

Sein neues Buch »Henkersmahlzeit« präsentiert uns amüsante Appetithäppchen vorneweg und kurzweiligen Lesestoff für die kleinen Wartezeiten zwischen den Gängen – kulinarische Unterhaltung bis zum Dessert. In einer Geschichte bringen zwei Köche einen Gastrokritiker um. Wie sie das wohl fertiggebracht haben? Seien Sie gespannt!

Meine Ambitionen zum Rollentausch mit Carsten Sebastian Henn beschränken sich jedoch allenfalls auf diesen Beitrag, in dem ich ihm meine Hochachtung und meinen Dank für sein Engagement ausdrücken möchte.

Hans Stefan Steinheuer

GRUSS AUS DER KÜCHE

Im Namen aller Ober, Kellner, Serviererinnen und wer sonst noch den »Gruß aus der Küche« zu Ihrem Platz bringt, flehe ich Sie an: Sagen Sie bitte nicht »Gruß zurück!«. Das verursacht Gallensteine. Bei dem armen Personal.

Die Franzosen grüßen übrigens nicht aus der Küche, sie nennen die kleine Gratisvorspeise Amuse-Gueule, was übersetzt »Maulfreude« bedeutet. Weniger rustikal heißt es Amuse-Bouche (»Mundfreude«).

Manchmal kommt so ein Gruß in einem aufwendigen Liege-Löffel daher oder auf einen Rosmarinzweig gespießt, manchmal gar in einem Reagenzgläschen. Er kann auch Gummibärengröße haben. Und die entsprechende Farbe.

Mit einem Happen ist er meist schon weg. Fliegt geradezu über den Gaumen. Man möchte sehnlichst mehr und kann den ersten »richtigen« Gang kaum mehr erwarten. Ganz schön raffiniert 

Genau solche Happen stehen nun in Krimiform auf der Karte. Nicht als Kurzkrimis, sondern als Kürzestkrimis. Zum Appetitmachen. »Grüße aus dem Schreibzimmer«, sozusagen.

Für eine Handvoll Pudding

Herrn Bimmels Mensch lag bewusstlos am Boden. Daneben stand ein Mann mit Rucksack, aus dem allerlei Silber und Gold hervorschaute. Er hatte die Strumpfmaske hochgerollt und aß von dem frischen Vanillepudding – aus Herrn Bimmels Schälchen!

Der schwarze Kater stupste den Fremden mit dem Kopf an und streckte seine Pfote in Richtung des Puddings. Doch der wurde flugs weggezogen. Fort von ihm! Schnell schlich Herr Bimmel über die Polsterlehne zur anderen Seite. Doch wieder war der Pudding schneller. Herr Bimmel hüpfte auf den Kopf des Nachspeisendiebs und hielt sich gut mit den Krallen fest. Das Puddingschälchen begann, wie wild vor ihm zu tanzen. Jetzt war es fast auf der Höhe des Kronleuchters.

Das war ein Spiel, oder? Klasse! Sein Mensch lockte ihn auch manchmal mit Leckereien. Beherzt sprang Herr Bimmel auf den Kronleuchter, der unter seinem Gewicht klirrte und ächzte. Doch der Pudding war schon wieder weg! Herr Bimmel setzte ihm entschlossen nach. Es schepperte laut, dann lag der Kronleuchter auf dem Fremden. Der nun keinen Mucks mehr von sich gab. Sein Mensch dagegen rappelte sich, vom Lärm geweckt, auf. Und der Pudding war genau vor Herrn Bimmels Pfoten gerollt! Wohlig schnurrend schleckte er die cremige Köstlichkeit auf. Er war richtig froh, hier zu leben. Denn wo sonst gab es Abenteuer und Süßspeisen?

Weintipp

Bei »Für eine Handvoll Pudding« braucht es einen Wein, der dem guten Herrn Bimmel Freude bereiten würde. Einen Katzenwein also. In Deutschland gibt es an der Mosel zwar die Weinlage »Zeller Schwarze Katz« – ich möchte jedoch ein ganz famoses junges Weingut aus dem Rheingau empfehlen, dessen Name Katzenherzen höher schlagen lässt: »Chat Sauvage«, französisch für »Wildkatze«. Auf den Namen kam die Frau des Besitzers, als sie ihre Enkel wie Wildkatzen herumtoben sah.

Das Weingut liegt im malerischen Örtchen Johannisberg und hat sich zum Ziel gesetzt, die besten Spätburgunder Deutschlands zu erzeugen. Mineralisch-elegant fallen sie hier aus, wie es feinste Rheingauer Art ist. Mörderisch schön sind die Namen einiger Lagen: »Assmannshäuser Höllenberg«, »Johannisberger Hölle« oder »Rüdesheimer Drachenstein«. Das ist zwar eher Fantasy als Krimi, aber nichtsdestotrotz blutrünstig genug.

Kommt ein Vogel geflogen

Gottfried Plönes wusste, dass ihn die anderen Dernauer für verrückt hielten. Das war ihm nur recht, es passte wunderbar in seinen Plan. Sie verstanden nicht, warum der knurrige Winzer die Vogelkanone aus der Mottenkiste geholt und in seinem Hausweinberg aufgestellt hatte. Die gehörte ins Museum. Das wusste Gottfried Plönes. Irgendwann käme sie da auch hin. Aber erst, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt hatte.

Die einstmals teure Maschine diente nur einem Zweck: Sie sollte alles Gefieder von den wertvollen Trauben fernhalten. Das versuchte sie durch regelmäßiges Abfeuern von Schüssen. Wie ein Uhrwerk. Doch Vögel waren bei Weitem nicht so dumm, wie Menschen dachten. Beim ersten Schuss des Tages verließen sie stets panisch den Weinberg, beim zweiten und dritten brachen sie den Anflug ab. Doch spätestens nach einer Viertelstunde störten sie sich nicht mehr an dem Geschehen. Mancher Vogel setzte sich gar auf den feuerwehrroten Lauf der Kanone. Vermutlich kitzelte es angenehm an den Krallen, wenn wieder ein Böllerschuss losging.

Gottfried Plönes hatte an jedem einzelnen Tag der letzten Woche neben der Vogelkanone gesessen. Am Mittwoch ließ sich gar ein Spatz auf dem Hut des Winzers nieder. Plönes hatte ihn nicht verscheucht. Er fand es schön, bei seiner schwierigen Aufgabe etwas Gesellschaft zu haben. Der Rhythmus der Kanone sollte ihm in Fleisch und Blut übergehen. Am Ende der Woche musste er nicht mehr auf die Uhr schauen, um den nächsten Schuss millisekundengenau zu erahnen.

Die anderen Dernauer verstanden auch nicht, warum er die Kanone so nah an seinem Haus aufgebaut hatte. Das musste doch unerträglich sein! Seine Frau fand das auch. Sie wunderte sich sehr über Gottfried Plönes’ Verhalten. Doch sie sprach ihn nicht darauf an. Sie sprach sowieso nicht mehr viel mit ihm. Lieber tat sie das mit dem regelmäßig durchreisenden Staubsaugervertreter, den sie auch nachts in ihr Bett ließ. Um sie zu wärmen, wenn Gottfried Plönes im Keller bei seinen Fässern wachte. Sonntagabends war er immer dort, das wusste seine Frau. Doch diesmal machte Gottfried Plönes eine Ausnahme und trat stattdessen ins eheliche Schlafzimmer. Er erwischte seine Angetraute in flagranti.

Gottfried Plönes hob die alte Flinte, legte an – und schoss genau in dem Moment, als draußen die Vogelkanone einen sinnlosen Böller losließ.

Der Staubsaugervertreter sackte auf den Boden. Plönes’ Frau dachte, ihr Mann würde sie verschonen. Doch der Dernauer Winzer wartete nur auf den nächsten Schuss der Kanone. Er spürte ihn förmlich kommen und drückte abermals im richtigen Moment ab.

Niemand hörte den Unterschied.

Noch in der Nacht vergrub er die Leichen im Weinberg. Weit auseinander. In den schlechtesten Parzellen.

Keiner im Dorf wunderte sich über das Verschwinden von Gottfried Plönes’ Frau. Sie würde ihren Mann verlassen haben. Der war schließlich irre geworden und hatte tagtäglich stundenlang neben einer nichtsnutzigen Vogelkanone gesessen. Was den Staubsaugervertreter anging, der war sicher weitergezogen.

Nach Meinung der Dorfbewohner war Gottfried Plönes durch den Weggang seiner Frau glücklicherweise wieder zur Besinnung gekommen.

Er hatte nämlich endlich die lästige Kanone abgebaut.

Weintipp

»Kommt ein Vogel geflogen« spielt in Dernau, einem 2.000-Seelen-Ort im Ahrtal, südwestlich von Bonn. Über hundert Hektar Weinberge gibt es dort, der Großteil ist mit Rotweinreben bepflanzt, vor allem mit der Traditionsrebsorte Spätburgunder. Trotzdem rate ich nicht zu einem Dernauer Wein, sondern zu einem aus dem nur wenige Kilometer entfernten Bad Neuenahr. Hier hat nämlich das Weingut Sonnenberg seinen Sitz – und keltert Weine, wie sie Gottfried Plönes gefallen würden. Als Ahrtaler Urgewächs würde er nämlich nur Spätburgunder trinken, der nicht im neuen Holzfass französischer Provenienz, dem Barrique, ausgebaut wurde. Und genau für solche Tropfen hat sich der sympathische Winzer Marc Linden einen hervorragenden Ruf erarbeitet. Bei ihm gibt es Ahrtaler Klassik – die auch moderne Weingenießer begeistert.

Das feuerrote Vogelschussgerät lässt sich übrigens im AhrWeinForum in Ahrweiler bestaunen.

Leider ohne darauf sitzende Vögel.

Pasta macht glücklich

Mario Batalis Pupillen zuckten nervös. Er konnte nicht glauben, was der kleine dicke Mann von sich gab, der ihm doch eigentlich nur den Koffer mit den nicht durchnummerierten Dollars übergeben sollte.

»Strozzapreti mit Salbeibutter und Käse! Weißt du, was das heißt? Sie hat mir das Abenteuer mit dieser kleinen Schlampe vergeben!«

»Gib mir endlich das Scheißgeld!« Der Lauf von Marios Beretta war genau auf die Stirn des Mannes gerichtet.

»Hast du schon mal frische Strozzapreti gegessen?«

»Die Kohle! Sofort!« Schweißperlen erschienen auf Marios Stirn.

»Wenn sie an der Oberfläche schwimmen, sind sie fertig. Dann muss man sie sofort essen. Das ist wie Liebe machen!«

»Wenn du nicht endlich deine Scheißklappe hältst und mir das Geld gibst, vergesse ich mich!«, zischte Mario wütend.

»Du verstehst nicht! Dieser Geschmack! Das ist wie –«

Mario drückte ab, nahm den Geldkoffer und setzte sich zu seinem wartenden Schwager in die Limousine. Der versetzte ihm eine Ohrfeige.

»Was sollte das, Mario? Diese Sauerei hetzt uns nur die Bullen auf den Hals. Was ist los mit dir?«

»Was sollte ich denn machen? Er hat einfach nicht aufgehört, von Strozzapreti zu quatschen! Die ganze Zeit ging das so! Jetzt habe ich einen Scheißkohldampf – und das, wo ich doch gerade erst mit meiner Diät begonnen habe!«

Weintipp

Diät hin oder her, Mario Batali würde zu Strozzapreti mit Salbeibutter und Käse einen ordentlichen Wein genießen – schließlich ist er Killer und Feinschmecker. Zudem gilt »Pasta macht glücklich« insbesondere dann, wenn ein passender Wein serviert wird. Der toskanische Kultwein »Brunello di Montalcino« gilt in Italien als klassischer Begleiter für Salbei. Der aus der Rebsorte Sangiovese gekelterte Tropfen ist einer der teuersten und rarsten Rotweine des Landes. Eine günstigere Alternative ist der kleine Bruder des Brunello, der »Rosso di Montalcino«.

Welchen Geschwisterteil Sie auch bevorzugen, ich rate zu Weinen des Gutes Corte Pavone, denn dahinter steckt die Südtiroler Familie Loacker. Diese baut ihre Trauben nicht nur biologisch an, sondern greift auch auf homöopathische Mittel in der Weinbergspflege zurück. Das bedeutet viel Arbeit und einen genauen Blick für die Abläufe in der Natur – wird aber mit wunderbar authentischen Weinen belohnt.

Ob Homöopathie oder nicht, wäre Mario Batali (der übrigens nach dem berühmtesten italienischen Koch New Yorks benannt ist) völlig egal, aber schmecken würde ihm der Wein sicher.

VORSPEISE

Hier toben sich die Köche aus – wenn sie es nicht schon beim »Gruß aus der Küche« getan haben. Da wird dann Neckisches mit Gänsestopfleber oder Jacobsmuscheln serviert, und manchmal findet sich auch Zitronengras in der Suppe mit den aufgespießten Gambas – wobei all das ja noch harmlos ist, wenn man bedenkt, was heute dank der Molekularküche möglich ist. Mir selbst kann es gar nicht verrückt genug zugehen – nur schmecken muss es!

Auch als Autor liebt man es, Neues auszuprobieren und im übertragenen Sinne ungewöhnliche Gartechniken oder exotische Gewürze einzusetzen.

Folgende literarische Vorspeisen habe ich zubereitet: eine Hommage an den Vater der Eifelkrimis, die Neuinterpretation eines Shakespeare-Dramas, einen Krimi in Zeitungsform und einen als Ränkespiel in fünf Aufzügen. Darüber hinaus habe ich erstmals auch eine wahre Geschichte niedergeschrieben – obwohl sie ein eher düsteres Kapitel meines Lebens repräsentiert.

Romero & Giuliani

Blutvergiftung steht zwar nur auf Platz fünf der Todesstatistik, aber trotzdem erschien sie mir am sinnvollsten. Wie hätte ich auch beispielsweise Platz zehn, Grippe, oder Platz siebzehn, Asbest, umsetzen sollen?

Aber der Reihe nach, alles schön der Reihe nach.

Die Dinge müssen ihre Ordnung haben, genau darum geht es ja.

Ich zum Beispiel beende meine Arbeit bei der Assicurazioni Generali, Zweigstelle Verona, jeden Werktag um Punkt siebzehn Uhr, verlasse mein Büro um siebzehn Uhr eins, und um siebzehn Uhr vier schließt sich die gläserne Vordertür unseres Gebäudes hinter mir. Danach spaziere ich für exakt zweiundvierzig Minuten um das Amphitheater, welches ich in dieser Zeit achtmal umrunde. Zum Abschluss werfe ich dem Berber, der unter dem westlichsten der zweigeschossigen Arkadenbögen aus dem ersten Jahrhundert nach Christus sitzt, ein Zwanzigcentstück in den Filzhut. Am Ende der Woche hat er so stets einen Euro von mir erhalten. Im Jahr sind es – wegen der Feiertage – 48,20 bis 48,60 Euro. Eine Weihnachtsgratifikation zahle ich nicht aus.

All dies ist seit nunmehr vierundzwanzig Jahren so. Fast genauso lang belastet mich die Sorge um das Abendessen.

Ich bin ein einfacher Mann mit entsprechend einfachen Bedürfnissen. Als da wären: Stockfischmus, Risotto mit Amarone, Schweinsfuß mit roten Bohnen, Bigoli mit Flusssardinen oder – wenn es die Saison oder der Fang nicht erlauben – Entensauce. Als Dolce eine kleine Crème Caramel, ein Stück Mandel- und ein Stück Streuselkuchen (in dieser Reihenfolge). Das ist, meine ich, nicht zu viel verlangt vom Leben.

Fernreisen gönne ich mir nicht, das ist mir viel zu gefährlich. Hepatitis ist auf Platz sechzehn, Malaria auf Platz neunzehn und Badeunfälle sind auf Platz zwanzig der Statistik. Sie hängt in unserem Großraumbüro an der Wand. Wenn man tödliche Risiken mittels Urlaub in den eigenen vier Wänden ausschließen kann, sollte man es tun.

Mein einziger Luxus ist das allabendliche Menü, das ich an jedem zweiten Tag in der »Taverna di Via Stella« einnehme. Hier gibt es traditionelle, einfache Veroneser Gerichte bester Konvenienz. Sie sind noch elaborierter geworden, seit der Sohn des Hauses, Antonio Romero, die Küche von seinem etwas unberechenbaren, weil zu emotionalen Großvater übernommen hat. Die Mengen sind exakt, die Schnitte sauber, alles kommt pünktlich auf den Tisch.

Doch die Dolce sind grauenhaft.

Ich esse sie nur, weil es sich so gehört, aber Antonio ist der maßvolle Umgang mit Zucker ein unlösbares Mysterium. Das Süße liegt ihm nicht, er kann mit Fleisch, Blut, Bohnen und Stockfisch kochen, das Rustikale ist sein Metier. Er hat Arme mächtig wie ein Krake und so viele Haare auf dem Rücken, dass sein Hemd nie glatt aufliegt. Es macht einem förmlich Angst, wenn er ein Beil in der Hand hält. Doch seine Seele ist die eines Kindes. Er ist naiv, um nicht zu sagen beschränkt. Aber glücklich.

Ich jedoch nicht.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite kocht Maria Giuliani, bei der ich an den anderen Abenden speise. Eine schlanke Person, ihre Brüste sind kaum auszumachen, auch wenn die Kochschürze straff gespannt ist, ihre Wangenknochen sind hoch und fein. Ihr Restaurant »Bigoli« ist noch kleiner als das der Romeros, nicht mehr als drei hölzerne Tische finden sich in dem unverputzten Raum, doch besetzt sind selbst diese selten.

Das liegt an ihren Speisen, sie sind beileibe nicht schlecht, doch allesamt zu leicht, zu subtil für den Veroneser Gaumen. Marias Gerichte erreichen nur knapp vierundzwanzig Prozent dessen, was möglich wäre. Bei Antonio sind es meist sechsundachtzig, an guten Tagen gar neunundachtzig. Hundert Prozent existieren nur in meiner Erinnerung an die Tage der Kindheit, niemand sollte sie in der Gegenwart erwarten. Und doch sind sie das Maß aller Dinge.

Ich esse bei Maria stets wenig, nur so viel, dass ich halbwegs gesättigt werde und einen angemessenen Gegenwert für mein Geld bekomme. Der Grund dafür ist nicht die geringere Qualität der Speisen. Nein, ich brauche Platz für die Nachtische. Sie erreichen fünfundneunzig Prozent, jedes Mal! Niemals zuvor habe ich so perfekte Kuchen wie bei Maria essen dürfen. Sie balancieren Saftigkeit und Süße wie eine grazile Seiltänzerin. Und kaum einer der Gäste bleibt bis zu den Dolce, sodass viel für mich da ist, wenn der Nachspeisewagen kommt.

Wie gesagt, ich erwarte nicht viel vom Leben. Doch auch ich habe einen Traum. Einen verrückten, kleinen Traum. Einmal in meinem Leben – bevor die Wahrscheinlichkeit für ein baldiges Ableben über fünfzig Prozent gestiegen ist – möchte ich ein komplettes Veroneser Menü mit nahezu hundert Prozent zu mir nehmen.

Da es in unserer Stadt kein Restaurant gibt, das es mit Antonios und Marias Kunstwerken aufnehmen kann, tat ich schließlich das Naheliegende. Ich tafelte bei Antonio, verweigerte die Dolce und rannte über die Straße ins »Bigoli«, um dort die Desserts einzunehmen.

Leider erregte ich Aufmerksamkeit. Maria sah mich gehetzt kommen und schloss die Tür. Ich konnte sie hinter der Glasscheibe sehen, wie sie enttäuscht den grazilen Kopf schüttelte. Entweder, gab sie mir zu verstehen, genoss ich ihr ganzes Menü, oder gar nichts.

In dieser Nacht, es war zwanzig Uhr einundvierzig und der Mond stand klar, sah ich etwas. Und dieses Etwas führte zu meinem Plan. Ich sah Marias Blick hinüber zur »Taverna di Via Stella«. Als ich ihm folgte, erkannte ich Antonio, der dort am hölzernen Tresen stand, sich die pfannengroßen Hände an einem groben Küchentuch abwischte und innehielt, als er seinerseits Maria erblickte. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, das ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ich hatte es nicht einmal für möglich gehalten. Einzig sein Blick in dem Moment, wenn bei ihm perfekte Schweinefüße angeliefert wurden, kam diesem gleich.

Als ich das nächste Mal wieder zu Antonio speisen ging, stattete ich ihm einen Besuch in der Küche ab. Er säuberte gerade liebevoll seine Messer. Wir unterhielten uns miteinander, so weit man das sagen kann. Meist nickte er nur. Es stellte sich heraus, dass ich richtig gesehen hatte. Die zierliche Köchin von der anderen Straßenseite war ihm aufgefallen. Schon vor langer Zeit. Leider waren jedoch dem Großvater die Blicke des Enkels aufgefallen, und er hatte sie verboten.

Am nächsten Abend wiederholte ich die Befragung im »Bigoli«. Maria gab nichts zu, doch ihre errötenden Wangen taten es, ebenso ihre Augen, die verschämt zu Boden blickten. Die Liebe hatte begonnen zu sprießen, und ich wollte ihr helfen, durch die gefrorene Erde zu stoßen wie ein Krokus im späten Winter. Selbst Beschäftigte aus der Versicherungsbranche wie ich können sich an der Natur erfreuen, was unsere Kunden immer wieder überrascht, häufig aber eine vertrauensbildende Maßnahme darstellt, die schon zu vielen Abschlüssen geführt hat. Zudem ist die Natur, in Form von Stürmen, Überschwemmungen oder Hagelschlägen, ein zuverlässiger Mitarbeiter, was die Kundenakquise betrifft.

Ich arrangierte ein Treffen der beiden liebenden Herzen an ihrem freien Abend, dem üblicherweise unglücklichsten Tag meiner Woche, an dem ich nur trockenes Brot zu speisen pflege. Wir trafen uns in meiner Wohnung – dreiundfünfzig Quadratmeter, zwei Zimmer, Küche, Diele, Bad –, offiziell, um mit mir zu kochen. Ich bezahlte sie dafür. Keiner der beiden wusste, dass der andere kommen würde. Ich ließ Antonio Schweinsfüße mit roten Bohnen zubereiten und tat so, als wollte ich seine Kunst erlernen, obwohl mich Kochen abstößt. Maria machte Crème Caramel.

Wir aßen zusammen. Und erst in diesem Moment begannen die beiden miteinander zu sprechen. Sie blieben noch eine Stunde und vierundfünfzig Minuten bei mir, wobei ich nur sechs Minuten Redezeit hatte. Ich merke mir solche Details, sie sagen mehr als ausschweifende Beschreibungen. Zuerst unterhielten sich die beiden über das Essen und darüber, wie begeistert sie von den Kochkünsten des jeweils anderen waren. Dann redeten sie über ihre Restaurants und schließlich über die Farbe ihrer Augen, wie sie das Lächeln des anderen mochten, und immer wieder über ihre so geschickten Hände. Für Köche gibt es kein schöneres Kompliment.

Dass die beiden zueinander passten, wunderte mich nicht. Herzhafte Gerichte und ein süßes Finale sind wie Geliebte. Nur gemeinsam können Sie, um ein romantisches Sprichwort zu bemühen, fliegen. Wie ihre Spezialitäten, so ergänzten sich Antonio und Maria. Sie verabschiedeten sich sogar mit einem zärtlichen Kuss auf die Wange.

Ich dachte wirklich, damit hätte ich meinen Teil erfüllt und Verona, meine Wenigkeit eingeschlossen, würde endlich bekommen, was es verdiente: die Symbiose zweier einander perfekt ergänzender Kochkünste

Als ich am nächsten Abend bei Antonio essen ging, kochte dieser besser als jemals zuvor, näherte sich gar den unglaublichen hundert Prozent. Doch ganz erreichte er sie nicht. Offenbar war Antonio immer noch nicht vollkommen mit sich im Reinen, und ich begriff schnell, wieso. Sein Großvater Paolo, sie nennen ihn auch den Fürsten, weil er sich stets wie einer geriert, hatte an allen Fenstern Gardinen angebracht, damit sein Neffe nicht mehr ständig zu dem verfeindeten Lokal hinüberschauen konnte. Er verbot ihm den Umgang mit der, wie er es nannte, »Missgeburt von Gegenüber«, dem Spross einer seit Generationen verabscheuungswürdigen Familie.

Zwei Tage später war die Essensqualität in der »Taverna di Via Stella« auf fünfundsechzig Prozent gesunken. Bei Maria sah es nicht anders aus. Sie war mit den herzhaften Gängen sogar bei fünfundzwanzig Prozent angekommen, die Dolce standen bei beschämenden sechzig Prozent.

Ich schlief in dieser Nacht sehr schlecht, und weil mein Arbeitsrhythmus dadurch je Versicherungspolice um 3,7 Sekunden verlangsamt war, kam ich am nächsten Tag erst um siebzehn Uhr zwölf aus dem Büro. Das war mir niemals zuvor passiert, und ich beschloss zu handeln. Wie schon gesagt, dachte ich zuerst an Blutvergiftung, doch ich konnte meinen Blick bei der Vorbereitung der Tat einfach nicht vom Spitzenreiter der offiziellen italienischen Todesliste lösen: dreihundertfünfundneunzigtausend Menschen starben im Laufe eines einzigen Jahres an Herz- und Kreislauferkrankungen. In Verbindung mit Platz acht, vierundzwanzigtausend Tote durch falsch verordnete Medikamente, oder wahlweise Platz elf, sechzehntausend Tote durch Arzneimittel-Nebenwirkungen, konnte ich davon ausgehen, dass niemand bei der mir nun vorschwebenden Art des Dahinscheidens Fragen stellen würde. Bei einem Mann im Alter des Fürsten war ein Herztod das Normalste der Welt. Er hatte sich einst bei mir, da mein Vater Arzt war, wegen seines Bluthochdrucks erkundigt, davon ausgehend, das medizinische Wissen darüber sei an mich vererbt worden. Daher wusste ich genau, dass er Calciumkanalblocker vom Phenylalkylamintyp nahm. Sie verringern den Einstrom von Calciumionen ins Innere der Muskelzelle. Nur unter äußerster Vorsicht dürfen sie gleichzeitig mit Betablockern verabreicht werden, da es zu einer lebensgefährlichen Verlangsamung des Herzschlags kommen kann, Fachleute sprechen dabei von Bradykardie. Ein Kollege aus der Lebensversicherungs-Fachabteilung für kardiologische Todesfälle klärte mich gerne darüber auf.

Ich begann mit einer neuen Tradition, aß nur noch im Hause der Romeros und lud den Fürsten jeden Abend auf einen Absacker ein. Leider gelang es mir nur in dreißig Prozent der Fälle, Betablocker in seinen Grappa zu geben. Am zehnten Abend reichte die Menge endlich aus, sein Herz wurde immer langsamer und blieb schließlich stehen.

Nach angemessener Trauerzeit, in der Maria ihren Antonio aufopferungsvoll tröstete, taten sich die beiden zusammen. Als sie erstmalig gemeinsam in der Küche standen, kochten sie tatsächlich das perfekte Menü, was mich für alle Unannehmlichkeiten entschädigte. Es rundete meinen Tag aufs wunderbarste ab. Doch dieses Kunststück brachten sie leider nie wieder zustande.

Sie erreichen seitdem zwar stets über neunzig Prozent, doch nur wenn sie nicht streiten, was allerdings immer häufiger geschieht, da sie ihn als zu tumb und er sie als zu empfindlich ansieht. Zudem ist Antonio schrecklich eifersüchtig. Das Schlimmste ist, dass ich dadurch nicht mehr die Möglichkeit habe, ein Menü wie das ihrer ersten Zusammenkunft zu genießen.

Ich bedaure trotzdem nicht, den Fürsten getötet zu haben. Für hundert Prozent würde ich jederzeit wieder morden. Und es reizt mich immer noch, eine Blutvergiftung herbeizuführen. Doch leider ist niemand mehr da, bei dem es sich lohnen würde, tätig zu werden.

Meine einzige Hoffnung ist nun, dass der größte Wunsch von Antonio und Maria Erfüllung findet und sie bald schwanger werden – und wenn ich selbst dafür sorgen muss.

Weintipp

Bei »Romero & Giuliani« bedarf es eines Weins, der Antonios Kraft und Marias Süße vereint. Selbstverständlich sollte er aus Italien stammen und in der Geschichte erwähnt werden. Viel verlangt? Aber es gibt ihn! »Risotto mit Amarone« ist eine der Lieblingsspeisen unseres Erzählers, und der aus Venetien stammende Amarone vielleicht der ungewöhnlichste Rotwein Italiens. Gekeltert wird er nämlich aus Trauben, die vorher bis zu vier Monate lang auf Holzgittern liegen und trocknen, bis sie fast zu Rosinen eingeschrumpelt sind. Dadurch werden alle Aromen und Inhaltsstoffe konzentriert. Der Wein schmeckt aufgrund seines hohen Alkoholgehalts und seiner Frucht angenehm süß und wegen seiner vielen Gerbstoffe gleichzeitig fein bitter. Daher auch sein Name: Amaro bedeutet bitter. Der Amarone gilt als italienischer Klassiker, dabei gibt es ihn nachweislich erst seit 1938. Wer ihn einmal getrunken hat, wird ihn nie vergessen – genau wie ein Essen bei Antonio und Maria.

Ein mordsmäßiger Pickert

Hermanns-Bote – Tageszeitung für den Teutoburger Wald

Nur noch eine Woche bis zum Ereignis des Jahrzehnts!

(DETMOLD) »Im Körper eines Menschen aus Ostwestfalen-Lippe schlägt kein Herz, dort pumpt der Pickert.« Diese berühmten Worte Konrad Adenauers, des ersten Kanzlers der Bundesrepublik, treffen auch heute noch zu. Denn mit diesem dem Pfannkuchen verwandten Gericht werden wir hierzulande von der Mutterbrust entwöhnt. Ob in der Lippischen Version mit Hefe, Wasser, Mehl, Eiern, geriebenen Kartoffeln und Rosinen oder westfälisch mit Milch und in Speck gebraten: Das einstige Armeleuteessen ist in allen Bevölkerungsschichten angekommen. Manch einer, der auswandert, egal ob nach München oder Singapur, lässt ihn sich per Kurier zusenden (der Hermanns-Bote berichtete). Und was dem Rest Deutschlands die Fußballweltmeisterschaft, das ist für jedermann in Ostwestfalen-Lippe das »Internationale Pickert-Turnier« (IPT). Obwohl der Pickert ein Gericht für die kältere Jahreszeit ist, findet der Wettbewerb traditionell im Juni statt, wenn die jungen Kartoffeln auf den Markt kommen. Wegen des immensen organisatorischen Aufwands findet der ITP nur alle zehn Jahre statt. Über fünfhundert Gäste werden diesmal zum Wettbewerb erwartet.

Die Spannung steigt mit jedem Tag. Wird Gertrude Schemmel – von allen nur Oma Gerdi genannt – ihren Titel verteidigen können? Mit Prof. Dr. Zätrineck hat sich ein Herausforderer durch die Vorausscheidungen gekocht, dem die Massen zu Füßen liegen. Allein in diesem Jahr erreichten ihn zwölf Fanbriefe – mehr als jeden anderen der siebenunddreißig registrierten Teilnehmer. Oma Gerdi zeigt sich jedoch unbeeindruckt von der Konkurrenz. Sie sagte dem Hermanns-Boten: »Ich kann diesen zu klein geratenen Herrn Professor auf den Tod nicht ausstehen – den koch ich in Grund und Boden!«

Es verspricht ein phantastisches Turnier zu werden!

Bad Salzuflener Herold

Gertrude Schemmel – Der Versuch eines Porträts

(BAD SALZUFLEN) Oma Gerdi ist auch mit ihren siebenundachtzig Jahren noch eine Naturgewalt. Schon in der Nachkriegszeit machte sie sich einen Namen als eine der engagiertesten Trümmerfrauen der Region. Legenden besagen, sie allein habe Detmold wieder aufgebaut. Mit Schweineschmalz und Buchweizen, statt Beton und Teer. Oma Gerdi ist eine Frau der knappen Worte, eine typische Westfälin, mit erfrischend direkter Art. »Wenn Sie noch ein Foto von mir schießen, wo ich fett drauf aussehe, stopfe ich Ihnen den Apparat ins Maul«, scherzte sie vor zwei Wochen mit unserem Fotografen Rüdiger Bommel.

Leider wurde Bommel vor Kurzem von einem Laster angefahren und wird das IPT in diesem Jahr daher nicht ablichten können. (Anm. d. Red.: Der Fahrer des Lasters konnte bisher nicht ermittelt werden. Zeugen berichten von einem klein gewachsenen Mann mit grauen Locken. Hinweise nimmt die örtliche Polizeidienststelle entgegen.) Als Oma Gerdi davon erfährt, lacht sie nur: »Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort.«

Das Leben hat sie abgehärtet. Acht Kinder großzuziehen, allesamt Jungs, war sicher kein Zuckerschlecken. Drei ihrer Söhne wurden erst vor Kurzem aus der JVA entlassen, nachdem sie ihre Strafe für Einbrüche und Autodiebstähle abgesessen hatten. Die anderen sind in der Landwirtschaft tätig. Schweigsame, folgsame Söhne, ihrer Mutter treu ergeben. Sie unterstützen Gertrude Schemmel beim Projekt »Pickert-Pokalverteidigung« mit ganzer Kraft.

Die meiste Zeit redet Oma Gerdi über Prof. Dr. Zätrineck. In der letzten Vorausscheidung, bei der sich die beiden für das finale Kampfkochen qualifizierten, schlug er sie, wenn auch nur um zwei Zehntel. Ein Juror stammte allerdings aus Osnabrück. Oma Gerdi vertritt die Meinung, Prof. Dr. Zätrineck solle aus dem Wettbewerb entfernt werden: »Was er kocht, ist ein Zäckert, aber doch kein Pickert! Der Pickert ist seit dem 18. Jahrhundert das typisch lippische Gericht. Und schon als die ersten Kanonenöfen gegossen wurden, war es ein Essen der ärmeren Bevölkerungsteile. Ich komme aus einer Familie, die nie viel Geld hatte. Dem Herrn Professor wurde dagegen schon als kleinem Balg Zucker in den Hintern geblasen!« Ihr Tunnelblick zeigt: Es ist blanker Hass, den sie für Zätrineck empfindet.

Oma Gerdi reagiert dünnhäutig, als sie auf die Möglichkeit einer Niederlage angesprochen wird. »Ich verliere nicht, hören Sie? Ich lebe für den Pickert, und das lass ich mir von keinem nehmen.«

Oma Gerdis kulinarische Einstellung zum Pickert ist sehr traditionell. Ihr Rezept hat sie seit Jahrzehnten nicht geändert, die Zutaten allerdings Schritt für Schritt verbessert, indem sie begann, alles selbst zu produzieren. Für den Pickert angebaute Kartoffeln, Buchweizenmehl aus eigener Produktion, Butter von Schemmel’schen Kühen, hausgemachte grobe Leberwurst mit extra viel Fett, damit sie richtig schön grau aussieht: Oma Gerdi machte schon in Bio, bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Sie backt ihren Pickert »daumendick« – und meint damit die Finger eines Mannes mit riesigen Pranken. »Oma Gerdis Pickert ist so nahrhaft, dass ein einziger eine achtköpfige Familie über den Winter bringen könnte«, lobte Jurypräsident Michael Vogtmeier beim letzten IPT in seiner Abschlussrede. »Niemand, der Oma Gerdis Pickert je gegessen hat, vergisst ihn. Er ist eine Erfahrung von Ursprünglichkeit und Rustikalität, die nur mit einem Besuch im Freilichtmuseum zu vergleichen ist.«

Längst ist das morgige Finale ausverkauft, Karten werden nur noch auf dem Schwarzmarkt gehandelt – für über zwanzig Euro. Für alle, die nicht so viel zahlen wollen, gibt es die große VIP-Kartenverlosung des Bad Salzuflener Herolds auf Seite 14 unserer Milchvieh-Beilage.

Ostwestfalen-Lippisches Bauernblättchen

Die Zukunft des Pickerts heißt Zätrineck

(OERLINGHAUSEN) Ganz Ostwestfalen-Lippe blickt auf ihn, doch nur wenige kennen ihn persönlich: den Herausforderer im diesjährigen Internationalen Pickert-Turnier Prof. Dr. Hans-Hubert Zätrineck. Fotos des fast ausgemergelt wirkenden kleinwüchsigen Mannes mit der hohen Stirn und der rahmenlosen Brille gibt es kaum. Dem Bauernblättchen gewährte er nun exklusiv Einblick in sein Leben. Zätrineck lebt, seit seine Frau ihn verließ, zurückgezogen und allein in einem Dörentruper Reihenhaus. »Diese Lebensweise entspricht mir«, kommentiert er diesen Schicksalsschlag nüchtern.

Aus einer alten Hamburger Fischhändlerdynastie stammend, studierte er in seiner Heimatstadt evangelische Theologie und Maschinenbau. Nach seinem Abschluss startete er seine Karriere in der Postabteilung eines mittelständischen Unternehmens, wo er als sehr korrekt bekannt war. Wegen eines Nervenleidens im linken Mittelohr wurde er jedoch frühverrentet und wanderte nach Dörentrup aus, weil er dort »einen größeren Respekt für Ruhe und Ordnung« ausmachte. Hier eröffnete Zätrineck ein kleines Geschäft für Modelleisenbahnen und Miniaturschiffe. Nachdem er jahrelang erfolgreich an einer Schauanlage gefeilt hatte, die das Streckennetz unserer Heimatregion abbildete und vierundzwanzig Stunden lang den exakten Fahrplan abfuhr, wandte er sich voller Enthusiasmus der regionalen Historie und damit verbunden auch den kulinarischen Traditionen zu. Für ein halbes Jahr war er Vorsitzender des »Lippischen Historienkonvents«, bevor er in einer Sondersitzung abgewählt wurde. »Man kam leider nicht damit klar, dass ich den Verein professionell führen wollte und vollen Einsatz von den Mitgliedern verlangte.«

Danach änderte sich Zätrinecks Weg radikal. Fortan war nicht länger die Vergangenheit, sondern die Zukunft unserer schönen Heimat sein Thema. »Damals beschloss ich, den Pickert zu modernisieren.« Zätrineck verkaufte kurz entschlossen sein Geschäft und widmete das Leben fortan dieser hehren Aufgabe. In seinem Keller baute er sich eine Küche, die nur einem Zweck diente: der Überarbeitung des Pickerts. Seine aktuelle Version ist bläulich, denn er nimmt neben feinstem Weizenmehl ausschließlich lila Kartoffeln für den Teig. In die Pfanne kommen ihm weder Speck noch Butter, sondern nur teuerstes Oliven-Tropföl. Er brät seinen Pickert hauchdünn wie einen Crêpe, gibt als Fruchteinlage Cranberrys statt Rosinen hinzu und bestreicht ihn schlussendlich mit kühlschmelzender getrüffelter Leberpaté. »Ich habe zwanzig verschiedene Sorten Cranberrys bestellt, um für das Finale die absolut perfekte auswählen zu können. Ich werde dann quasi nur noch aus Cranberrys bestehen«, sagt er ernst.

Was er von seiner Konkurrentin Oma Gerdi hält, wollten wir wissen. »Ich bin die Avantgarde Ostwestfalen-Lippes, Gertrude Schemmel ist die staubige Vergangenheit. Im Halbfinale habe ich sie bereits geschlagen. Am Sonntag werde ich es ein zweites Mal tun – und dann müssen die Geschichtsbücher umgeschrieben werden!«

Herforder Weltnachrichten

Der Pickert – das sind wir alle

Ein Kommentar von Monica Mirelli

(OSTWESTFALEN-LIPPE) Morgen geht es um viel mehr als »nur« den Pickert. Als Oma Gerdi vor fünfzehn Jahren erstmals das IPT gewann, läutete dies eine Rückbesinnung auf unsere Historie ein.

Ihr Ansatz zeigte, dass wir stolz auf unsere Geschichte sein dürfen. Die Heimatmuseen erhielten immensen Zulauf, in der Grundschule wurden die Kinder wieder in unserem Dialekt unterrichtet. Es ging ein Ruck durch Ostwestfalen-Lippe.

Doch nun ist es an der Zeit, in die Zukunft zu blicken. Prof. Dr. 

Zätrineck ist ein Visionär historischen Ausmaßes, niemals zuvor hat es beim IPT etwas so Revolutionäres wie seine Pickert-Neuinterpretation gegeben. Vergleichbar ist sie höchstens mit der Entscheidung des vorletzten IPT-Organisationskomitees, die Zuchtsäue im Vorprogramm mit bunten Schleifen zu schmücken. Diese Mode findet sich heute in allen Ställen zwischen Kalletal und Schlangen. Und jedes Kind kennt den Namen des genialen Bauers, der dies erst möglich machte: Heinz Blatsch. Die Jury sollte auch in diesem Jahr Mut beweisen und Prof. Dr. Zätrineck als seinen rechtmäßigen Erben auszeichnen.