Aus dem Amerikanischen von Michael Krug

Impressum

Die Originalausgabe Extinction Edge (The Extinction Cycle, #2)

erschien 2015 im Verlag CreateSpace Independent Publishing.

Copyright © 2015 by Nicholas Sansbury Smith

Copyright © dieser Ausgabe 2016 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-497-3

www.Festa-Verlag.de

»Biologische Vielfalt ist chaotisch. Sie geht, sie kriecht, sie schwimmt, sie fliegt, sie summt. Aber das Aussterben vollzieht sich leise und hat keine andere Stimme als unsere eigene.«

– Paul Hawken

Prolog

Das laute Knallen entfernter Schüsse rüttelte Meg Pratt jäh wach. Mit einem Ruck setzte sie sich auf und fragte sich zunächst, ob sie vielleicht noch träumte.

Die Stille der Nacht umklammerte sie wie ein Schraubstock, als sie sich aus tiefem Schlaf ins Bewusstsein kämpfte. Nur langsam setzten Realität und Erinnerungen ein, begleitet von einem Anflug von Verzweiflung und Beklommenheit, der sich den Weg von ihren Eingeweiden zu ihrem wild hämmernden Herzen bahnte. Mehrere verschwommene Minuten verstrichen, bevor sie vollständig die Besinnung erlangte.

Sie war aus einem Albtraum erwacht und in einen anderen eingetreten. Über zwei Wochen waren vergangen, seit das Blutervirus über die Nation hinweggefegt war. Plärrende Hupen, heulende Sirenen und Geschrei von lästigen Nachbarn gehörten mittlerweile der Vergangenheit an. New York City glich einer toten Zone. Keine Neonlichter mehr, keine blinkenden Werbetafeln.

Die alte Welt war verschwunden, und niemand konnte sie zurückbringen.

Nachdem sie sich die Augen gerieben hatte, ließ sie den Blick durch den Raum wandern. Jed und Rex schliefen in den Betten nebenan. Ihre Silhouetten wirkten in den Strahlen des Mondlichts, das durch die Lücken der Bretter vor den Fenstern hereindrang, wie erstarrt.

Meg überprüfte das Holz, das die anderen Feuerwehrleute und sie hastig über die Fenster genagelt hatten. So viel hatte sich in so kurzer Zeit ereignet. Und als ihr Blick auf die leeren Betten fiel, die sich ordentlich im Rest des Raums aneinanderreihten, schmerzten sowohl ihr Herz als auch ihre Seele.

Die Qualen währten nur kurz, wurden verdrängt von weiteren Schüssen. Sie hielt den Atem an und lauschte, bemühte sich, die Richtung zu bestimmen, doch wieder war der Lärm zu schnell verhallt. Die Schüsse bildeten das erste Anzeichen militärischer Präsenz, seit vor zwölf Stunden die Jets im Tiefflug über sie hinweggebraust waren.

Kurz danach folgte die nächste Salve. Die Geräusche stammten von vollautomatischen Waffen. Der Lärm hallte durch die verwüsteten Straßen der Stadt hin und her, was es unmöglich gestaltete, seinen Ausgangsort zu bestimmen. Es musste das Militär sein. Nur wenigen Zivilisten war es gelungen, Waffen dieser Art in die Finger zu kriegen, und die waren inzwischen alle tot.

»Hast du das gehört?«, ertönte ein Stück entfernt eine Stimme. Es war Jed, der stille Marine mit dem südlichen Akzent. Megs Mannschaft hatte ihn vor Tagen bei sich aufgenommen, als sein Zug zehn Blocks entfernt aufgerieben worden war.

Jed schwang die Füße seitlich über die Bettkante und durchquerte den Raum auf Zehenspitzen. Das Knarren der Dielen weckte Rex. Jäh richtete sich seine Masse von um die 140 Kilo auf. »Was ist da los? Haben sie uns gefunden?« Er fuhr sich mit einer Hand durch das dichte rote Haar.

»Schhh«, machte Meg und hob einen Finger an den Mund. Sie hatte Rex schon immer als etwas zu paranoid für einen Mann seiner Statur empfunden. Andererseits konnte sie ihm mittlerweile keinen Vorwurf mehr daraus machen, schon gar nicht nach den schier undenkbaren Dingen, die sie gesehen hatten. Nur noch sie drei waren übrig. Ihre Familien und Freunde waren allesamt tot. Alle, die sie je gekannt hatten, waren tot.

Meg schloss die Augen beim Gedanken an ihren Ehemann, der sich angesteckt hatte und verrückt geworden war. Sie hatte mit angesehen, wie er einen Nachbarn getötet hatte, bevor er selbst von einem Soldaten niedergeschossen worden war. Ganz gleich, wie viele Male sie sich einredete, es sei nicht mehr ihr Mann gewesen, der an jenem Tag gestorben war – sie konnte sich nicht dazu bringen, es auch wirklich zu glauben. Ein kleiner Teil von ihm hatte noch in ihm gesteckt, als die Kugeln seinen Körper zerfetzt hatten. Sie hatte es in seinen sterbenden Augen gesehen.

Meg ergriff ihre Axt und trat neben Jed ans Fenster.

»Ist etwas zu sehen?«, fragte sie.

»Noch nicht.«

Meg drückte das rechte Auge an eine Spalte zwischen den Brettern und suchte die Dächer nach Bewegungen ab. Unwillkürlich zuckte sie zusammen, als erneut Schüsse knallten. Die Geräusche kamen näher.

Meg spähte weiter suchend in die Dunkelheit, bis ihr Blick auf den Wasserspeiern verharrte, die zwei Gebäude weiter von den Steingesimsen ragten. Dort war noch etwas anderes, etwas, das sich in den Schatten bewegte.

»Siehst du das?«, fragte Meg.

Jed streckte den Hals vor und kniff die Augen zusammen. »Ich kann eigentlich gar nichts sehen.«

Eine weitere Salve automatischer Schüsse krachte durch die Finsternis. Mündungsblitze flimmerten über das Dach und erhellten kurz die Umrisse von Soldaten. Sie feuerten im Laufen. Und obwohl Meg die heißhungrigen Kreaturen nicht sehen konnte, von denen sie gejagt wurden, wusste sie, dass sie dort sein mussten.

»Soldaten«, flüsterte Jed. »Und …«

Als Meg das Auge fester an die Lücke presste, kratzte sie sich die Stirn am rauen Holz auf. Dann brach Mondlicht zwischen den Wolken hindurch und tauchte die Dächer in einen schwachen weißlichen Schimmer.

Grabeskälte breitete sich schlagartig in Megs Körper aus, als sie die Dutzende von Infizierten sah, von denen die Soldaten gehetzt wurden. Die Meute raste mit schnellen Schritten über die Dachfläche und die Außenmauern des Gebäudes wie menschengroße Insekten.

Die Schüsse konnten die Geräusche nicht übertönen, die von den Kreaturen ausgingen. Das Kratzen, das Klicken von Gelenken, die Urschreie. Diese Geschöpfe wirkten nicht mehr wie Männer und Frauen; vielmehr verkörperten sie die Räuber der neuen Welt. Menschen, vom Blutervirus in Monster verwandelt. Menschen wie ihr bester Freund Eric, ein Mann, den sie ihr Leben lang gekannt hatte. Die Axt gegen ihn zum Einsatz zu bringen, war das Härteste gewesen, was Meg je im Leben getan hatte. Sie konnte immer noch das Knirschen von Knochen und seinen gepeinigten Aufschrei hören.

Meg wischte sich eine braune Strähne aus dem Gesicht und rückte mit dem Auge wieder näher an die Ritze im Holz, folgte dem Weg der Soldaten, als sie von Sims zu Sims sprangen. Sie waren schnell, wenn auch nicht so schnell wie die Infizierten.

Unwillkürlich spannte sie die muskulösen Beine an, als sie daran zurückdachte, wie knapp sie bei Jeds Rettung selbst einer Horde der Monster entkommen war. Meg konnte schneller als fast jeder Feuerwehrmann rennen, mit dem sie gearbeitet hatte. Sie war Triathletin, hatte dreimal am Ironman-Wettbewerb teilgenommen. Doch weder die Ausdauer noch die Geschwindigkeit, die sie dadurch erlangt hatte, an einem einzigen Tag über 220 Kilometer zu schwimmen, Rad zu fahren und zu rennen, hatten ihr die Flucht ermöglicht. Das hatte vielmehr an jenem Adrenalin gelegen, das nur nackte Angst hervorbrachte.

Sie vermutete, dass die Soldaten gerade denselben Adrenalinschub erlebten. Auf dem nächsten Dach kamen sie zum Stehen. Eine zehn Meter hohe Reklametafel ragte über ihren Silhouetten auf.

»Sie können nicht weiter«, flüsterte Meg. Angestrengt versuchte sie, die Kreaturen auszumachen, die das Team verfolgten. Schattige Schemen preschten über die Gebäude. Erscheinungen in der Nacht.

Weitere Blitze erhellten die Szene. Die drei Soldaten standen dicht beisammen, feuerten auf die Horde der Infizierten, die ihnen entgegenraste. Die entstellten Kreaturen zuckten und verrenkten sich, fielen eine nach der anderen, als Kugeln ihre Körper durchschlugen. Innerhalb weniger Sekunden war es vorbei.

Der Mond verschwand, der Himmel verschlang das Licht wie die dunklen Wolken eines aufziehenden Gewitters.

Meg löste das Auge von den Brettern, als schwere Schritte ertönten. Rex hatte sich letztlich dazu durchgerungen, aus dem Bett aufzustehen. Der Mann bewegte sich mehrere Meter zögerlich auf das Fenster zu.

»Ich finde, wir sollten versuchen, zu dem Dach zu gelangen«, meinte Jed im Flüsterton.

»Bist du wahnsinnig?«, schoss Rex zurück. »Draußen würden wir nicht länger als zwei Minuten durchhalten.«

Das entfernte Wummern eines Helikopters ließ Meg zum Fenster zurückkehren. Ihr Blick wanderte über den Himmel, suchte ihn nach dem Fluggerät ab.

»Hört ihr das auch? Das ist unser Ticket weg aus dieser Hölle.« Meg umklammerte ihre Axt mit festerem Griff. »Ich stimme Jed zu. Wir müssen auf das Dach da drüben.«

»Und uns bleibt nicht viel Zeit, wir müssen sofort los«, fügte Jed hinzu.

Aus dem Augenwinkel sah Meg, wie Rex den Kopf schüttelte. »Aber … nein … wir …«

»Was ist das?« Meg verengte die Augen zu Schlitzen, konzentrierte sich auf die Reklametafel. Sie schluckte schwer, als sie sah, wie Infizierte an der Rückseite der Konstruktion hochkletterten. Ein halbes Dutzend davon, vielleicht auch mehr.

»Scheiße!«, fluchte Meg. Ihr Blick schwenkte über das Dach, suchte nach den Soldaten. Da – am südlichen und östlichen Rand. Einen Moment lang sahen sie aus wie Wasserspeier, als sie erstarrt auf die Evakuierung warteten, ohne etwas von der nahenden Bedrohung zu ahnen.

»Diese Ungeheuer werden sich an sie heranschleichen!«, stieß Jed mit einer Lautstärke hervor, die knapp an einen Schrei grenzte. »Wir müssen sie warnen!«

Rex packte den Marine am Arm. »Sei gefälligst leise. Bist du irre? Sie werden dich hören.«

Meg beobachtete das Geschehen zähneknirschend. »Wir können nicht das Geringste tun. Nicht von hier aus.«

Rex hatte recht. Er mochte ein paranoider Mistkerl sein, trotzdem hatte er recht. Lärm zog die Infizierten an – Lärm und der Geruch von Fleisch. Aus der Sicherheit ihres mit Brettern vernagelten Raums hatte sie beobachtet, wie die Kreaturen in die Luft geschnuppert und Jagd auf andere Überlebende gemacht hatten.

Und nun musste sie schon wieder hilflos zusehen, konnte die drei ahnungslosen Soldaten nur untätig beobachten, während die Monster in deren Richtung vorrückten. Es gab kein Wegrennen vor ihnen. Keine Flucht. Verstecken bot die einzige Möglichkeit.

Blinkende rote Lichter am Himmel lösten Megs Blick vom Dach. Die schnittigen Umrisse eines Blackhawks senkten sich auf das Gebäude herab. Es bestand keinerlei Aussicht für Meg und die anderen, es zu dem Dach zu schaffen, selbst wenn sie es versuchten. Sie saßen fest.

Jed schüttelte Rex’ Griff ab und kehrte zu den Brettern an den Fenstern zurück. »Oh mein Gott«, flüsterte er.

Die Kreaturen strömten über den oberen Rand der Reklametafel. Sie ließen sich über die Seite hinab, und Meg verlor sie aus den Augen. Das Mündungsfeuer von Schüssen erhellte den südlichen Rand des Dachs, als die Soldaten das Feuer eröffneten.

Mit jedem Knall strömte mehr Adrenalin durch Megs Kreislauf. Sie war daran gewöhnt, in Feuersbrünste hineinzurennen. Als Zaungast untätig bleiben zu müssen, empfand sie beinah als noch schlimmer. Immerhin war sie zur Berufsfeuerwehr von New York City gegangen, um Menschen zu helfen, und nicht, um ihnen beim Sterben zuzusehen.

Der Helikopter schwebte tief über dem Dach und Leuchtspurgeschosse zischten durch die Nacht. Jedes schlug in ein Ziel ein, während die Soldaten der anstürmenden Horde der Infizierten Widerstand leisteten. Meg bemühte sich, etwas zu sehen, aber die Schüsse endeten ebenso abrupt, wie sie begonnen hatten. Der Helikopter schwenkte nach rechts und flog über den Himmel davon. Er verschwand einfach so. Die roten Lichter blinkten noch ein letztes Mal, bevor nur Dunkelheit zurückblieb.

Meg verfluchte ihr Pech. Seit Tagen hatten sie keinen Hubschrauber mehr gesehen, geschweige denn aus solcher Nähe.

»Toll«, sagte Jed. »Das ist ja einfach verfickt toll.« Er kratzte sich am kurz geschorenen Kopf, dann schlug er impulsiv mit einer Hand gegen die Bretter.

Meg schleuderte dem Marine einen wütenden Blick zu. »Leise, verdammt noch mal.«

Schulterzuckend murmelte Jed eine Entschuldigung. Dann wandte er sich ab und begann, zu seiner Pritsche zurückzukehren, als von unten plötzlich das Geräusch von berstendem Glas ertönte.

Die drei erstarrten.

Ein kehliger Schrei explodierte durch das Gebäude. Ein dumpfes Pochen folgte darauf. Die Wände erzitterten unter der Wucht. Es klang, als tobe im Erdgeschoss ein wildes Tier herum.

Rex packte Megs Arm, als sie vom Fenster zurückwich.

»Geh bloß nicht da runter«, warnte er.

Meg schüttelte ihn ab. Jed und sie nickten einander zu. Zusammen durchquerten sie vorsichtig den Raum. Ihr Blick wanderte zu dem leeren M16 auf Jeds Bett. Ohne Schusswaffe fühlte sich Meg nackt. Zwar bremste auch ihre Axt die Kreaturen, aber Kugeln waren wesentlich effektiver.

Ein zweiter Schrei dröhnte durch die Feuerwache. Das Geräusch brauchte eine Weile, bis es in der schwülen Nacht verhallte. Meg biss die Zähne zusammen und blieb stehen. Die Axt rutschte in ihrem Griff, da Schweiß aus ihrer Handfläche strömte.

»Leute«, meldete sich Rex zu Wort. »Leute, kommt zurück.«

Meg hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Dann hörte sie das Klicken. Es war das Geräusch unnatürlich verrenkter Gelenke, und es stammte nicht aus dem Inneren des Gebäudes. Vielmehr von draußen auf den Straßen – als wären sie von Hunderten überdimensionalen Grillen umzingelt. Rex stand am Fenster und hatte ein Auge gegen eine der Ritzen zwischen den Brettern gepresst.

»Oh nein«, stieß er hervor.

Meg ließ den Blick über die Bücherregale und Kisten vor der Tür wandern. Wenn die Monster sie fänden, würde die Barrikade nicht lange halten. Sie holte tief Luft, dann kehrte sie zu den Fenstern zurück. Der Boden knarrte bei jedem Schritt.

»Lass mich mal sehen«, sagte Meg. Sie tippte Rex auf die Schulter. Die dicken Arme des Mannes zitterten.

Als sich ihre Augen wieder an die Dunkelheit außerhalb der verstaubten Scheibe gewöhnten, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Noch nie hatte sie so viele Infizierte auf einem Haufen gesehen. Die gesamte Straße und sogar die Mauern der Gebäude wuselten vor flüchtig erspähtem weißem Fleisch.

»Heilige Scheiße«, entfuhr es Meg.

»Sie müssen von den Schüssen angelockt worden sein«, meinte Jed.

»Was sollen wir tun?«, fragte Rex. Panik schwang deutlich in seinem Tonfall mit.

Meg schüttelte den Kopf. »Wir beten.«

1

Zwei Tage später …

Tosender Applaus brandete durch den Raum, als Dr. Kate Lovato die Offiziersmesse betrat. Uniformierte Männer und Frauen aus jedem Zweig des Militärs standen auf, klatschten und jubelten, als sie an ihnen vorbeiging.

Die Geräuschkulisse verschlug Kate den Atem. Seit ihre Biowaffe namens VariantX9H9 eingesetzt worden war, wurde sie als die ›Retterin der Welt‹ gepriesen, als die Frau, die dem Blutervirus Einhalt geboten hatte. Allerdings befanden sich im Publikum auch andere, die Kate mit trotzigen, verbitterten Blicken bedachten. Sie wusste, was ihnen durch den Kopf ging, nämlich dass sie keine Retterin, sondern ein Monster verkörperte. Und genau so fühlte sie sich auch. Die Last so vieler Toter ruhte allein auf ihren Schultern. Das Gewicht gestaltete es für sie schwierig, zu atmen.

Ihr Blick schwenkte zum Befehlshaber von Plum Island, Lieutenant Colonel Ray Jensen. Der Afroamerikaner verengte den Blick, als sie sich ihm näherte. Er klatschte zwar mit den anderen, gleichzeitig jedoch wog er sie ab, versuchte abzuschätzen, ob sie mental dafür gewappnet war, sich an die Menschenmenge zu wenden. Erst am Tag zuvor hatte man sie aus der Quarantäne entlassen, und sie war noch ein wenig angeschlagen.

»Guten Morgen, alle miteinander«, begann Jensen und hob das Mikrofon an seinen Mund. »Ich schätze, Sie alle kennen Dr. Kate Lovato von der Seuchenschutzbehörde.«

Weiterer Jubel brandete durch den Raum. Kate suchte die Gesichter nach jemandem ab, den sie kannte, musste jedoch bald feststellen, dass sie allein war. Alle ihre Freunde waren beschäftigt. Dr. Pat Ellis befand sich im Labor, Master Sergeant Reed Beckham und Staff Sergeant Parker Horn wachten in der Krankenstation über ihren verletzten Teamkameraden, Staff Sergeant Alex Riley. Der junge Elitesoldat war mit zwei gebrochenen Beinen aus New York zurückgekommen. Er verkörperte den lebenden Beweis dafür, dass Kates Waffe nicht alle Monster erledigt hatte. Eine neue Bedrohung war in den blutgetränkten Straßen aufgetaucht.

Die Abartigen.

Kate schauderte bei dem Gedanken. Die Erinnerung an den Abartigen, der sie vor zwei Tagen angegriffen hatte, schillerte noch frisch in ihrem Gedächtnis. Im Geiste konnte sie immer noch hören, wie die Klauen der Kreatur über die Decke gekratzt hatten. Es war eine Erfahrung gewesen, die sie nie vergessen würde.

»Danke, dass Sie gekommen sind, Doktor«, sagte Jensen. Er reichte Kate das Mikrofon und deutete zu einem Podium mit den Insignien der Sanitätstruppe auf der Vorderseite.

Kate wusste, was er von ihr wollte. Sie sollte dem Personal auf Plum Island versichern, dass noch Hoffnung bestand, dass man die Abartigen besiegen könnte.

Nachdem sie sich geräuspert hatte, sagte sie: »Guten Morgen. Ich bin aufgefordert worden, Ihnen allen einen Lagebericht darüber zu geben, was draußen passiert. Es gibt gute Neuigkeiten, und es gibt schlechte Neuigkeiten. Die guten sind, dass VariantX9H9 immer noch in jeder größeren Stadt eingesetzt wird. 90 Prozent der Infizierten sind im Sterben begriffen. Die Waffe greift ihre Endothelzellen an und verursacht schwere innere Blutungen. Es ist ein relativ schneller Tod.«

Kurz verstummte Kate und ließ den Blick über die Menge wandern, konzentrierte sich auf eine Frau in der vordersten Reihe. Sie trug eine penibel gebügelte Navy-Uniform. Die Offizierin konnte unmöglich älter als 25 Jahre sein. Als sie bemerkte, dass Kate sie ansah, straffte sie den Rücken und lächelte. Ihr Blick flehte Kate an, etwas Ermutigendes zu sagen, etwas, das besagte, es würde alles wieder gut werden.

Aber Kate konnte nicht lügen. Sie durfte diesen Menschen keine falschen Hoffnungen machen. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort. »Die schlechten Neuigkeiten sind, dass sich die restlichen zehn Prozent der Infizierten zwar vom Ebola-Virus erholen, nicht aber von den Auswirkungen von VX-99. Aus derzeitiger Sicht scheinen diese epigenetischen Veränderungen unumkehrbar zu sein.«

Das Wort schien in der Luft zu hängen, und nervöse Stimmen aus der Menge wurden laut. Ein vertrautes Gefühl von Beklommenheit schlich sich in Kates Gedanken und ließ sie auseinandertreiben. Die Empfindung drohte ihr die geistige Gesundheit zu rauben, sie zu zerbrechen.

Sie schloss die Augen und verkündete: »Ich glaube nicht, dass wir irgendetwas tun können, um die Betroffenen als Menschen zurückzuholen.« Kate schüttelte den Kopf. Als sie Jensen das Mikrofon zurückgab, murmelte sie noch vier letzte Worte: »Es tut mir leid.«

Mit zu Boden gesenktem Blick hastete sie aus dem Raum, mied jedes finstere, auf sie gerichtete Starren. Niemand hielt sie auf oder protestierte über ihren Abgang. Alle verarbeiteten noch, was sie gerade bekannt gegeben hatte. Zu erfahren, dass VariantX9H9 das Unvermeidliche lediglich hinausgezögert hatte, war selbst für die hartgesottensten Soldaten schwer zu verdauen.

Ein Wachmann der Sanitätstruppe öffnete die Türen, und Kate stolperte hinaus in den blendend grellen Schein der Morgensonne. Mit einer Hand schirmte sie die Augen ab und ließ den Blick über die Insel wandern.

Kate gehörte nicht zu den Menschen, die andere zurückließen. Sie rannte sonst nie vor einem Konflikt davon. Aber der Todeszoll, den ihre Biowaffe gefordert hatte, hatte auch aus ihr ein Stück herausgerissen. Die exakten Zahlen ließen sich kaum abschätzen, doch die Verluste gingen auf jeden Fall in die Milliarden und verursachten ihr einen konstanten Schmerz, der einfach nicht weichen wollte.

Ziellos wanderte sie über die Insel, bis sie innehielt, um das Meer zu betrachten und sich zu fragen, wie es auf der anderen Seite zugehen mochte. Letzten Endes hatte sie ihre Aufgabe erledigt. Sie hatte die Ausbreitung des Virus aufgehalten, es jedoch nicht geschafft, die Monster restlos auszulöschen. Nun konnte sie nur darüber grübeln, wie die Welt jenseits der Sicherheit der Insel aussehen mochte.

Das amerikanische Militär hatte die Formel für VariantX9H9 an seine europäischen Verbündeten weitergegeben, aber im Ausland hatten die Angriffe damit erst mehrere Tage nach der US-Operation begonnen. Kate hoffte, dass es nicht zu spät gewesen war, um ihre Eltern zu retten, die in Italien lebten.

Seufzend blies sie die Luft aus und setzte den Weg durch die sechseckig gestaltete Anlage fort. Die weißen Kuppelgebäude ragten vor ihr auf. Sie war nicht sicher, wohin sie eigentlich wollte; Schuld- und Reuegefühle trübten ihre Gedanken, die von ihrem Bruder Javier zu ihrem Mentor wanderten, Dr. Michael Allen. Beide waren schon tot gewesen, bevor die Raketen auf Atlanta und Chicago zugerast waren, aber wenn sie es nicht gewesen wären … dann wären sie durch VariantX9H9 gestorben. Durch ihre Biowaffe.

Bei dem Gedanken stieg Kate ein Kloß in den Hals.

Sie kämpfte nicht gegen die Tränen an, die sich einen Weg über ihre Wangen bahnten. Jeder Mensch hatte eine Zerreißgrenze, einen Moment, in dem alles auf einen einstürzte und einfach zu viel wurde. Kate hatte letztlich ihre Grenze erreicht.

Es gab nur noch einen einzigen Menschen auf der Welt, der dafür sorgen konnte, dass es ihr besser ging, und der befand sich in der nahen Krankenstation. Zum ersten Mal an jenem Morgen verspürte Kate einen plötzlichen Anflug von Energie. Endlich wusste sie, wohin sie wollte.

Staff Sergeant Alex Riley konnte sein Pech nicht fassen. Er hatte seine Karriere auf seiner Geschwindigkeit und seiner Fähigkeit aufgebaut, sich in einige der sichersten Orte der Welt einzuschleichen und sie unbemerkt wieder zu verlassen. Nun lag er in einem Krankenhausbett, starrte auf seine zerschmetterten Beine und fragte sich, ob er je wieder würde laufen können.

Ohne Beckham und Horn hätte er es nie von jenem Dach geschafft. Andererseits hätte er es schon davor ohne die beiden nicht aus Gebäude 8 auf San Nicholas geschafft. Wie mochten die Chancen stehen?

Riley stimmte ein trauriges Lachen an.

Das Geräusch weckte Horn und Beckham. Die beiden rührten sich auf unbequem aussehenden Stühlen am Fußende des Bettes.

»Geht’s dir besser?«, erkundigte sich Beckham.

Riley betrachtete seine Gipsverbände. »Ich bin froh, noch am Leben zu sein. Aber meine Beine, Mann …«

»Die verheilen«, beteuerte Beckham.

»Ich dachte, du wärst im Arsch, Kid«, gestand Horn mit belegter Stimme.

»Ich auch«, sagte Beckham.

»Scheiße. Da braucht es schon mehr als irgendeinen dahergelaufenen, durchgeknallten Scheißer, um mich zu erledigen.« Riley lachte. »Ich hätt’s locker auch ohne euch geschafft.«

Horn verdrehte die Augen. »Genau. Du hattest die Lage ja so was von total unter Kontrolle.«

»Verdammt richtig«, behauptete Riley.

Die drei Männer kicherten. Es war das erste Mal seit Wochen, dass sie alle richtig lachten. Wie in den alten Zeiten, obwohl sie wussten, dass die Dinge nie wieder wie früher werden würden.

Ein Klopfen an der Tür holte sie zurück in die düstere Realität des Status quo, wo alte Zeiten nur noch Erinnerungen darstellten, die sich nicht wiederbeleben ließen. Kate wartete draußen und winkte von der anderen Seite des kleinen Fensters in der Tür.

»Beckham, das ist deine Freundin«, sagte Riley und zeigte mit dem Kinn in Kates Richtung.

Beckham schleuderte ihm einen verärgerten Blick zu, erwiderte jedoch nichts. Seine zu Schlitzen verengten Augen genügten, um Riley zum Schweigen zu bringen. Der wiederum wusste, was Beckham gerade dachte: Halt bloß die Klappe, sonst wirst du noch länger in dem Bett da bleiben müssen.

»Es ist offen«, rief Horn und rutschte mit seinem Stuhl zur Seite.

»Guten Morgen«, grüßte Kate.

Riley schnappte einen Anflug von Traurigkeit in ihrer leisen Stimme auf. Er beobachtete, wie sie das Zimmer betrat und ein Stück von Beckham entfernt stehen blieb. Die Schatten in dem schwach erhellten Raum konnten ihre verquollenen, geröteten Augen nicht verbergen. Das kam nicht überraschend, fand Riley, wenn man bedachte, dass sie den Großteil der Weltbevölkerung getötet hatte.

»Wie geht es Ihnen, Alex?«, erkundigte sich Kate. Sie stellte kaum Blickkontakt zu den Männern her.

Riley zwang sich zu einem Lächeln. Er war nicht daran gewöhnt, mit dem Vornamen angesprochen zu werden. »Ich fühle mich schon viel besser. Die Schmerzmittel hier sind der Wahnsinn.«

Kate nickte. »Dafür können Sie Colonel Gibson danken.«

»Wie geht’s diesem Stück Scheiße?«, fragte Horn.

»Er wartet auf seinen Prozess«, antwortete Kate. »Mir ist aufgefallen, dass Lieutenant Colonel Jensen einen weiteren Wachmann vor seiner Zelle postiert hat. Offenbar macht er sich Sorgen um die Sicherheit des Mannes.«

Beckham stand auf und streckte sich. »Würde ich an seiner Stelle auch.«

»Auf dieser Insel gibt es nicht genug Soldaten, um Gibson vor dem zu beschützen, was er verdient.« Horn schnaubte.

Riley schauderte. Seine Freunde hatten recht. Der Colonel zeichnete mitverantwortlich für das Ende der Welt. Er hatte sich einen Platz auf der Liste der größten Arschlöcher der Geschichte der menschlichen Spezies verdient.

»Irgendwelche neuen Entwicklungen?«, fragte Beckham.

Kate schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Aus Europa kommen Berichte, dass VariantX9H9 rund 90 Prozent der mit dem Blutervirus infizierten Opfer vernichtet.«

»Und was ist mit denjenigen, bei denen es nicht funktioniert?«, hakte Beckham nach.

Kates ohnehin schon brüchige Stimme wurde noch belegter. »Abartige.«

»Was meinen Sie, wie viele es von denen weltweit gibt?«, wollte Riley wissen.

Kate rieb sich die Stirn. »Die letzten Prognosen, die ich zusammengestellt habe, sind von alten Zahlen ausgegangen, aber etwas anderes haben wir nicht als Ausgangsbasis. Ich schätze, dass etwa 75 bis 80 Prozent der Weltbevölkerung mit dem Blutervirus infiziert waren.«

Stille trat ein. Niemand sprach ein Wort.

Riley stellte im Kopf Berechnungen an: Wenn sich fünfeinhalb Milliarden Menschen infiziert hatten und mittlerweile zehn Prozent davon zu Abartigen geworden waren …

»Heilige Scheiße«, stieß Riley hervor. »550 Millionen Abartige? Das heißt, auf drei menschliche Überlebende kommt eine dieser Kreaturen.« Er stieß einen leisen Pfiff aus.

Kate legte die Hände über den Kopf. »Daran brauchen Sie mich nicht zu erinnern.«

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Riley. Er griff nach einem Kissen, stopfte es hinter seinen Rücken und zuckte dabei vor Schmerzen zusammen.

»Du hast getan, was du tun musstest, Kate«, meldete sich Beckham zu Wort. Er stand auf und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Du hast die menschliche Rasse gerettet.«

Kate schaute auf. Tränen glitzerten in ihren Augen. »Ich habe das Unvermeidliche bloß hinausgezögert.«

»Was soll das heißen?«, fragte Riley. »Wir wissen alle, dass die Welt nie mehr dieselbe sein wird. Aber selbst, nachdem wir all diese Kreaturen getötet haben werden, bleiben noch Menschen für den Wiederaufbau übrig. Gesellschaft, Wirtschaft, Lebensmittelproduktion.«

Riley suchte in Kates Gesicht nach einer Antwort, aber die Wissenschaftlerin wandte sich ab und starrte zum Fenster hinaus. Mit einem Finger teilte sie die Jalousien, ließ die Sonne hereinscheinen. »Die menschliche Rasse könnte trotz allem die nächste Spezies auf der Liste der Ausrottungen sein«, sagte sie mit dem Rücken zu Riley, Horn und Beckham.

Sandra Hickman und Ralph Benzing wirkten erschöpft. Sie saßen in der Kommandozentrale vor ihrer Wand aus Ausrüstung und durchforsteten schweigend die Kanäle nach Informationen.

Lieutenant Colonel Ray Jensen lief angespannt hinter ihnen auf und ab. Beide Kommunikationsoffiziere befanden sich in der zwölften Stunde ihrer Schicht, und er merkte ihnen an, dass die Wirkung des Koffeins allmählich nachließ.

Aus dem gesamten Land gingen Meldungen ein. Jensen hatte noch nicht einmal damit angefangen, die Informationen herauszufiltern, die aus Europa eintrafen. Es gab so viel zu verarbeiten, doch für ihn hatte höchste Priorität, dafür zu sorgen, dass Plum Island und die Menschen auf der Insel in Sicherheit blieben. Und es gab eine größere, übergeordnete Mission – eine Mission, die man seitens des Oberkommandos noch zusammenstellte.

»Hier«, sagte Benzing plötzlich und legte die Hände über sein Headset. »Ich empfange etwas.«

Jensen kaute auf der Unterlippe. Der Phantomgeschmack von Tabak brachte seinen Magen zum Knurren. Vier Tage ohne das Zeug, und er hatte bereits Entzugserscheinungen. Er fasste in die Tasche und tastete nach einem Kaugummi.

»Legen Sie es auf die Lautsprecher«, forderte Jensen den jungen Offizier auf und machte sich auf das Schlimmste gefasst. Er war nie ein großer Grübler gewesen; seiner Ansicht nach verursachte es nur unnötigen Stress, die Dinge allzu ernst zu nehmen. Nun jedoch, da er als Befehlshaber einer der letzten Bastionen der Menschheit fungierte, hatte sich das von Grund auf geändert. Das Schicksal so vieler Menschen lag in seinen Händen. Jede einzelne Seele auf der Insel war von unschätzbarem Wert. Was immer das Oberkommando ausbrütete, würde vermutlich viele seiner Schutzbefohlenen in Gefahr bringen, und darauf freute er sich überhaupt nicht.

»Es ist eine automatisierte Durchsage«, kündigte Hickman an. »Ich empfange sie auf mehreren Frequenzen.«

»Umschalten«, sagte Benzing. »Bei mir ist der Empfang gerade abgebrochen.«

Die Lautsprecher rülpsten statische Geräusche, dann verstummten sie mehrere Sekunden lang.

»Was ist passiert?«, verlangte Jensen zu erfahren. Er beugte sich über Benzings Schulter, als plötzlich eine Stimme aus der Anlage hervorknisterte.

»Hier spricht General Richard Kennor vom Luftwaffenstützpunkt Offutt. Diese Mission könnte die wichtigste in der Geschichte des Militärs der Vereinigten Staaten von Amerika sein. Unsere Spezies ist geteilt worden. Operation Depletion war zwar erfolgreich, aber nun sind wir mit einem neuen Feind konfrontiert. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wozu diese Kreaturen in der Lage sind. Unsere tapferen Männer und Frauen der bewaffneten Streitkräfte sind zahlenmäßig überwältigend unterlegen. Aber wir haben etwas, das diesen Monstern fehlt.« Kurz verstummte er, bevor er fortfuhr. »Wir haben die Waffen des 21. Jahrhunderts.«

Eine Gänsehaut überzog Jensens Körper, als die Stimme des Generals lauter wurde. Diese Wirkung hatten legendäre Befehlshaber auf jene, die ihrem Kommando unterstanden. Sie konnten junge Menschen dazu anspornen, voller Überzeugung in feindlichen Beschuss zu rennen, und Politiker dazu, Kriege zu finanzieren, die auf Lügen beruhten.

»Mit diesen Waffen zu unserer Verfügung bin ich überzeugt davon, dass wir unsere Straßen zurückerobern werden. Amerika wird wieder eine freie Nation«, beteuerte Kennor.

Eine kurze Unterbrechung trat in der Übertragung auf. Wenig später kehrte die Stimme des Generals zurück. »In 96 Stunden beginnen wir mit Operation Liberty, einem koordinierten Großangriff, bei dem wir unsere verbliebenen Truppen in jede größere Stadt schicken, um den Feind zu vernichten! Halten Sie sich in den kommenden Stunden für spezielle Befehle bereit, die an einzelne Stützpunkte und Außenposten ergehen werden.«

Jensen bemerkte Hickmans besorgten Blick. Er selbst stand wie ein Fels in der Brandung da, die Arme vor der Brust verschränkt. Seine Emotionen im Griff zu behalten war entscheidend, um beruhigend auf diejenigen unter seinem Befehl zu wirken. Da mehr als je zuvor auf dem Spiel stand, war es unerlässlich, dass er die Fassung bewahrte.

Nach einem entschlossenen Nicken in Hickmans Richtung ging Jensen zum Aussichtsfenster hinüber. »Holen Sie Major Smith ans Telefon. Sagen Sie ihm, er soll unverzüglich herkommen. Wir haben einen Krieg zu planen.«

Beckham schaufelte sich einen Löffel voll Kitt in den Mund. Er war nicht einmal sicher, was er da aß. Es schmeckte ein wenig nach Fisch, wies aber die Beschaffenheit von Hühnchen auf. Er zwang sich, das Essen hinunterzuschlucken, und schaute hinüber zu Kate.

Sie verzog das Gesicht. »Was um alles in der Welt ist das?«

»Gewöhn dich besser dran«, riet Beckham zwischen zwei Bissen. »Wir werden demnächst Reservevorräte essen. Riley hatte recht mit dem, was er über die Lebensmittelproduktion gesagt hat. Die Weltwirtschaft liegt am Boden, was bedeutet …«

Kate antwortete mit einem übertriebenen Seufzen. »Keine Hamburger mehr.«

Beckham kicherte. »Ich dachte, du würdest sagen, keine Margaritas mehr oder so.«

»Wir haben immer noch Tequila«, gab sie augenzwinkernd zurück.

Beckham hielt den Löffel vor den Lippen und fuhr sich mit der Zunge über den Gaumen, während er die Wissenschaftlerin musterte. Sie entsprach eigentlich nicht unbedingt seinem Typ, definitiv nicht der Art von Frauen, mit denen er normalerweise ausging. Wenn ich überhaupt mit irgendwelchen Frauen ausgehe, erinnerte er sich. Sein letztes Rendezvous hatte er mit einer Yogalehrerin gehabt. Diese Beziehung hatte damit geendet, dass er sie beim Vögeln mit einem Footballspieler erwischt hatte, der halb so alt wie er gewesen war.

Hätte ihm genug daran gelegen, er hätte den Kerl mühelos aufmischen können. Beckham war schon immer in erster Linie seinem Team gegenüber loyal gewesen. Es gab keine Frau auf der Welt, die bei einem 15-Kilometer-Lauf oder bei fünf Kilometern Schwimmen mit ihm mithalten und ihm Gesellschaft leisten konnte. Und das war völlig in Ordnung so. Seine Karriere hatte Vorrang gegenüber dem Finden einer Partnerin. Seine Männer verkörperten seine Familie.

Dennoch konnte er nicht verleugnen, dass ihn etwas an Kate ansprach. Ihr haftete eine gewisse Anmut an. Stark, intelligent und atemberaubend. Seine Mutter hätte sich gewünscht, dass er einmal eine solche Frau heiraten würde. Er schüttelte den Kopf. In dieser neuen Welt war kein Platz für solche Gedanken. Jenseits der Sicherheit ihrer kleinen Insel starben alle oder waren bereits tot. Er weigerte sich, das Arschloch zu sein, das eine Frau in einer solchen Zeit der Verwundbarkeit anbaggern würde. Trotzdem konnte er nicht bestreiten, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte. Mehr noch, ihm lag wirklich etwas an ihr. Als er Kate betrachtete, wurde ihm zum ersten Mal seit sehr langer Zeit klar, dass er noch solche Gefühle für eine Frau haben konnte.

Horn marschierte mit entschlossenen Schritten auf ihren Tisch zu. Seine Züge präsentierten sich zusammengeknautscht, seine roten Haare standen in alle Richtungen ab, als wäre er sich eben mit den Händen über den Kopf gefahren.

»Was gibt’s?«, fragte Beckham.

»Lieutenant Colonel Jensen und Major Smith wollen uns sehen«, teilte Horn mit. Er wandte sich Kate zu. »Sie will er auch sehen.«

Kate trank ihren Plastikbecher mit Saft leer und zog eine Augenbraue hoch. »Weswegen?«

»Klingt, als wäre das Oberkommando dabei, etwas Großes zu planen.«

Beckham ließ den Löffel in den Matsch auf seinem Tablett fallen. Er hatte geahnt, dass eine weitere Operation vorbereitet wurde. Hätte er den Oberbefehl gehabt, wäre er selbst damit beschäftigt gewesen, einen Einsatz zu planen.

Kate und Beckham standen gleichzeitig auf, ergriffen ihre Tabletts und folgten Horn zwischen den gerammelt vollen Tischen hindurch. Mehrere uniformierte Männer und Frauen schauten von ihrem Essen auf, als sie vorbeigingen. Ausnahmsweise sahen sie nicht Horn oder Beckham an, sondern Kate.

»Da geht die Retterin der Welt«, meinte ein afroamerikanischer Marine höhnisch. Beckham kannte ihn von einer Begegnung vor einigen Wochen. Unvermittelt hielt er an, kehrte einen Schritt um und schleuderte dem Mann einen wütenden Blick zu.

»Haben Sie ein Problem, Johnson?«, erkundigte sich Beckham. Seine Nasenflügel blähten sich.

»Nein«, erwiderte Johnson. »Tut mir leid.«

Beckham nickte und starrte dem Mann noch einige Sekunden in die Augen, bevor er Kate und Horn nach draußen folgte. Als sie die Tür erreichten, beugte sich Kate zu ihm und flüsterte: »Danke, Master Sergeant.«