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Ein London-Krimi von

Edgar Wallace

Nacherzählt von

Alex Barclay

Das Silberne Dreieck
und
Der Sänger in der
Kirche

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ISBN 978-3-03864-904-5

ARAVAIPA im Internet: www.aravaipa.ch

Das Silberne Dreieck
und
Der Sänger in der Kirche

1.Kapitel Die letzte Warnung

2.Kapitel Die Frau ohne Gesicht

3.Kapitel Der Erpresser

4.Kapitel Kein Risiko

5.Kapitel Keine Spur von Letheritt

6.Kapitel Der Besuch im Gefängnis

7.Kapitel Manfred im Einsatz

8.Kapitel Ein Geschäft mit dem Tod

9.Kapitel Die Fänge des Gesetzes

1. Kapitel
Die letzte Warnung

Gwenda hatte einen Hund. Und der Hund war gut erzogen. Er hieß Frederick. Gwenda nannte ihn aber nur Fred. Morgens, bevor sie Frühstück machte, ließ sie Fred hinaus. Jeden Tag. Auch wenn es regnete. Und während der vergangenen Tage hatte es fast ständig geregnet. Alles war nass draußen, der Boden aufgeweicht, und die Rinde der Bäume glänzte schwarz. Wie immer Anfang November kam mit dem Regen auch die Kälte des Winters. Manchmal gefror der Regen, und dann fiel Graupelschnee vom Himmel und die Straßen wurden glitschig.

Auch an diesem Morgen ließ Gwenda Fred hinaus. Es war noch dunkel. Sie hörte die kleine Glocke der Kirche, deren Turm dunkel hinter einer hohen Mauer aufragte zur vollen Stunde schlagen. Gwenda zählte die Schläge nicht. Für sie begann der Tag nicht, weil die Glocke schlug, sondern weil Fred nicht länger warten wollte, bis er hinaus durfte.

Nebel lag über dem Land und dämpfte die Glockenschläge. Ein Radfahrer ohne Licht fuhr auf der nassen Straße vorbei, Fahrrad und Mensch für Gwenda nicht mehr als eine schwarze Silhouette. An manchen Morgen, wenn sie für Fred die Tür öffnete und einen Blick hinaus warf, bevor sie diese wieder zumachte, wünschte sich manchmal, sie hätte von hier weggehen können, irgendwohin, wo sie nicht mehr an die Vergangenheit erinnert wurde. Heute war so ein Morgen, an dem sie schon beim Aufwachen dachte, wozu bin ich überhaupt aufgewacht. Sie konnte auch heute nicht weggehen. Und auch morgen nicht. Sie war wie eine Gefangene hier, im eigenen Haus, in dem sie zusammen mit ihrem Vater lebte. Sie konnte zwar in ihrer Freizeit weggehen, nach London fahren und einer Theateraufführung beiwohnen oder einen Einkaufsbummel am Picadilly machen, aber solange ihr Vater hier war, musste sie auch wieder zurückkehren. Manchmal träumte sie davon, durch Europa zu reisen, nach Italien, eine Mittelmeerkreuzfahrt, Griechenland und die Schweiz. Geld für einen längeren Urlaub hätte sie genug gehabt. Und vielleicht gab es da draußen irgendwo einen Mann, mit dem sie den Rest ihres Lebens hätte verbringen können, einen Mann, der sie vergessen ließ, was hinter ihr lag.

Gwenda war noch jung und träumte oft. Sie liebte es, sich ein Leben zu erträumen, in dem sie glücklich sein konnte, aber viel zu oft wachte sie mitten aus einem Traum heraus schweißgebadet und völlig verstört auf, wenn einer der schönen Träume jäh endete und sie sich in einer Wirklichkeit wiederfand, in der sie sich mit ihren Ängsten allein gelassen fühlte. Da wünschte sie sich oft, alles, was früher passiert war, wäre nur ein böser Traum gewesen, nichts als ein Albtraum.

Doch die Vergangenheit holte sie an diesem Morgen erneut ein.

Fred kam nicht zurück. Nach dem Frühstück, als wieder Nieselregen einsetzte, zog sie den Sportmantel an, den sie bei Newton & Bailey, einem der exklusivsten Modegeschäfte in London, gekauft hatte. Da der Mantel mit einer Kapuze versehen war, brauchte sie keinen Schirm. Ihr Vater war nicht im Haus. Er hatte ihr aber eine Notiz auf den Frühstückstisch gelegt, in der er ihr mitteilte, dass er am Nachmittag zurück wäre. Er hatte in London zu tun. Das kam nicht oft vor, denn ihr Vater versuchte es immer so einzurichten, dass er nicht von hier wegzugehen brauchte. Er mochte die Stadt nicht, und mochte die Leute nicht, denen er zu begegnen hatte.

Gwenda verließ das Haus durch die Vordertür. Der Nebel hing im Tal, strich in dünnen Schleiern den Hängen entlang und durch die kahlen Wälder. Selbst auf dem Kiesweg gab es Pfützen. Gwenda zog den Kopf etwas zwischen die Schultern und ging durch das offene Garagentor auf die schmale Überlandstraße hinaus.

»Fred!«, rief sie.

Der Hund ließ sich nicht blicken. Sonst kam er, wenn sie nach ihm rief. Fred war ein wohlerzogener und folgsamer Hund.

»Fred!«

Nichts rührte sich. Drüben beim alten Gasthaus stand Zachary McClendon im Nieselregen. Er trug einen dicken grauen Wollpullover mit Rollkragen und eine schwarze ausgebeulte Hose. Früher hatte ihn Vater als Pförtner beschäftigt. Jetzt verdiente er sich sein karges Brot als Gelegenheitsarbeiter.

Zachary McClendon hatte ein schlimmes Andenken aus dem Krieg zurückgebracht. Ein großer Teil seines Unterkiefers fehlte, was ihn dazu veranlasste, in Gegenwart von anderen nie den Kopf zu heben. Kinder fürchteten ihn, doch hier draußen, in dieser abgelegenen Gegend gab es kaum Kinder. Und deswegen war Zachary McClendon noch da. Weil er den Rest der Welt scheute.

»Zach, hast du vielleicht Fred irgendwo gesehen?«, fragte Gwenda.

Zach blickte natürlich nicht auf. Er war dabei, feuchtes Laub vom Kopfsteinpflaster vor der Wirtshaustür zu fegen.

»Der kam hier vorbei«, gab er so undeutlich von sich, dass es nur jemand verstehen konnte, der ihn schon länger kannte.

»Hast du gesehen, wohin er lief?«

»Dort lang«, sagte Zachary McClendon und deutete mit einer Kopfbewegung zum Anfang eines Feldweges hinüber, der den alten Mühlbach entlang zum Forst führte.

Gwenda zögerte einen Moment, bevor sie sich entschloss, nach Hause zurückzukehren. Wahrscheinlich, so dachte sie, würde Fred später zurückkehren. Früher war er oft ausgerissen und hatte im Forst Unruhe gestiftet. Einmal hatte er sogar ein Reh gerissen, und Vater hatte dafür bezahlen müssen, weil Lord Lydford die Jagd gepachtet hatte und sein Oberaufseher der herzloseste Mensch war, den Gwenda kannte. Er hatte einmal mit einer Schrotflinte auf Fred geschossen, und seither hinkte Fred ein bisschen.

Die Frau hoffte nur, dass Fred nicht wieder in sein altes Jagdfieber verfallen und zufällig dem Oberaufseher vor die Mündung der Schrotflinte geraten war.

Bis zum Mittag wartete sie ungeduldig und voller Sorge.

Dann kam der Anruf. Zuerst glaubte sie, es wäre ihr Vater. Manchmal rief er sie an, wenn er weg war. Nur um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war.

Es war jedoch nicht ihr Vater.

Es war John. Sie erkannte ihn an der Stimme. Er brauchte seinen Namen nicht zu nennen. Diese Stimme kannte sie unter Tausenden heraus, denn von ihr wurde sie oft sie bis in ihre Träume verfolgt.

»Na, Liebes«, sagte er mit jener gespielten Freundlichkeit, in der ein drohender Ton mitschwang, so als fühle er sich in die Enge getrieben. »Dein Vater hat in London zu tun, und du bist allein, nicht wahr?«

»Was willst du, John?«, fragte sie. »Mehr Geld? Du weißt doch …«

»Mein Liebes, ich weiß nur, dass du niemals mehr versuchen solltest, jemanden zu mir zu schicken.« Der Mann am anderen Ende der Leitung lachte leise vor sich hin. »Ich habe ihn erwischt, wie er versuchte, in meine Wohnung einzubrechen. Weißt du, was ich mit ihm gemacht habe, Liebes?«

Die Frau hielt für einen Moment den Atem an. »Du hast ihn doch nicht etwa umgebracht?«, entfuhr es ihr dann.

»Oh nein, Liebes. Wie du weißt, bin ich alles andere als ein gewalttätiger Mensch und schon gar nicht ein Mörder. Ich habe ihn einfach meinem Freund überlassen, und der hat ihn zuerst verprügelt und ihn dann die Treppe hinuntergeschmissen. Wahrscheinlich wirst du ihn so leicht nicht wiedererkennen.«

»Rufst du deswegen an? Um mir zu drohen?«

»Nein, Liebes, das ist nicht mehr als eine freundschaftliche Warnung.« Er lachte wieder. »Übrigens, weißt du, wo Fred ist, Liebes?«

»Fred? Nein, ich …« Ein schrecklicher Gedanke verschlug ihr die Sprache und für einen Augenblick verkrampfte sich alles in ihr. Sie spürte, wie ihr das leise glucksende Lachen im Hörer unter die Haut ging, und am liebsten hätte sie aufgelegt. Es dauerte nicht lange, bis sie sich wieder so weit gefasst hatte, dass sie ihn nach Fred fragen konnte.

Sein Lachen endete gehässig. »Geh zum alten Wehr hinauf«, sagte er. »Dort findest du ihn.«

»Du – du hast ihm doch nicht etwas – etwas angetan?« fragte sie stockend.

»Liebes, denk daran, dass ich knapp bei Kasse bin«, erwiderte er, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Du würdest besser daran tun, wenn du pünktlich bezahlst. Und versuch nie mehr, an das Material heranzukommen. Du musst wissen, wie höllisch gut ich darauf aufpasse, denn es ist alles, was mir von dir geblieben ist.« Er lachte wieder, dieses Mal bedrohlich leise. Gwenda lief ein kalter Schauer über den Rücken. »Du denkst vielleicht, ich bin verrückt, Liebes. Vielleicht hast du sogar Recht. Vielleicht bin ich wirklich verrückt genug, dich eines Tages umzubringen.«

»John, bitte, es muss doch einen Ausweg geben«, stieß Gwenda hervor. »Es kann doch unmöglich so weitergehen.«

»Du sorgst besser dafür, dass es so weitergeht, Liebes, denn wer wollte schon eine Gans schlachten, die goldene Eier legt?« Das Gelächter am anderen Ende der Leitung verstummte. Für einige Augenblicke war kein Geräusch mehr zu hören, kein Laut.

»John! Bitte, John, ich …«

Ein leises Klicken zeigte an, dass er aufgelegt hatte. Gwenda nahm den Hörer vom Ohr und starrte ihn lange an, bevor sie endlich auflegte. Dann stürzte sie in den Flur, zog den Mantel an und verließ das Haus.

Kalter Regen peitschte ihr Gesicht, als sie hinter dem Wirtshaus den Feldweg hocheilte, der zum alten Wehr führte. Sie lief am Waldrand entlang, zwischen brachliegenden Feldern hindurch. Auf einer Anhöhe blieb sie nach Atem ringend stehen. Unten, in einer schmalen Senke, befand sich das alte Wehr. Aus dem Riedgras ragten morsche Pfosten und Steckbretter. Am Ufer eines Tümpels stand ein halbzerfallenes kleines Haus, das aus Sandsteinquadern aus dem nahen Bruch gebaut war. Niemand wohnte in dem Haus, das nicht einmal mehr eine Tür hatte. Und die kleinen Fensterscheiben waren alle eingeschlagen. Vor Jahren hatten sich einmal zwei entlaufene Sträflinge darin versteckt, aber die Bürger hatten das Haus umstellt, und in der Nacht, als die beiden Verbrecher zu entkommen versuchten, ertrank einer von ihnen im Tümpel, und der andere wurde von den aufgebrachten Bürgern am Waldrand aufgehängt.

Das war lange her. Vater hatte Gwenda davon erzählt, und sie wusste auch, dass die Leute nachts niemals in die Nähe des Wehrs gingen, weil der Tote noch immer im Tümpel lag, und seine ruhelose Seele die Gegend unsicher machte.

Gwenda rief nach Fred, während sie den schmalen Pfad hinuntereilte. Vor dem kleinen Haus blieb sie stehen. Außer dem monotonen Rauschen des Regens war kein Geräusch zu hören. Noch einmal rief Gwenda nach ihrem Hund. Dann gab sie sich einen Ruck und ging durch die Türöffnung in das kleine Haus, in dem es nach Moder und Fäulnis stank. Sie sah den Hund sofort. Er lag in einer Pfütze am Boden. Das Blut, das ihm aus dem Fell gelaufen war, hatte das Regenwasser rot gefärbt. Gwenda brauchte nicht näher an ihn heranzugehen, um zu erkennen, dass kein Leben mehr in ihm war. Für einen Moment blickte sie entgeistert auf den Kadaver nieder, dann drehte sie sich um und rannte aus dem Haus.

Gewöhnlich bearbeitete Leon Gonsalez die Fälle, die mit Erpressung zu tun hatten, obgleich er seiner oft ausgesprochenen Meinung nach derjenige des Trios war, der sich am allerwenigsten für diese Arbeit eignete. Seine beiden Partner Raymond Poiccart und George Manfred wussten beide, wie voreingenommen Leon diese Angelegenheit betrachtete, denn auch vor ihnen hatte er aus seiner grenzenlosen Verachtung Erpressern gegenüber nie einen Hehl gemacht. Ein Erpresser war für Leon nichts anderes als ein verschlagenes und hinterlistiges Subjekt, das im Versteckten agierte und seine Opfer so in seiner Gewalt hielt, wie er es wollte oder brauchte.

Leon Gonsalez hatte sich sogar einmal dazu hinreißen lassen, für ein bekanntes Londoner Nachrichtenmagazin einen Artikel zu schreiben, der damals ziemliches Aufsehen erregt hatte. In diesem Artikel schrieb Leon Gonsalez unter anderem, dass es sich bei Gewohnheitserpressern um den übelsten Verbrechertypus handele, gleichzustellen mit Giftmördern und Kinderschändern. »Meiner Ansicht nach gibt es für einen Gewohnheitserpresser nur eine Strafe: den Tod!«, schrieb Leon damals, und noch heute wich er keine Spur von dieser Meinung ab, obwohl er sich mit ihr ziemlich ins Abseits gestellt hatte. Er gab zwar zu, dass die Gesellschaft gegenüber Verbrechern eine gewisse Verantwortung hatte, von der sie sich durch die Todesstrafe nicht so leicht befreien konnte, aber er beharrte auf seinem Standpunkt, dass an Menschen, die anderen so viel Leid und Not zufügten, jedes Gefühl von Erbarmen verschwendet war. »Gefängnisstrafen und Irrenanstalten sind auch keine Lösungen«, pflegte er zu sagen, wenn man ihn darauf ansprach, dass die Todesstrafe abgeschafft werden sollte. »Ich halte es sogar für unmenschlicher, jemand hinter Mauern und Gittern ein Leben lang festzuhalten, als ihn mit dem Tod zu bestrafen.«

Nun, in seiner Laufbahn als Detektiv hatte Leon Gonsalez eben oft schlimmste Erfahrungen machen müssen, und so konnten ihm Wohlgesonnene seine zweifellos kompromisslose Meinung vielleicht nachsehen. Er selbst fand ja oft genug weniger drastische Mittel, mit denen er dafür sorgte, die ihm so verhassten Verbrecher ihrer Taten zu überführen und letztlich die Gerichte über ein gerechtes Strafmaß zu befinden.

Dass es ausgerechnet Leon Gonsalez war, der am Morgen per Telefon die Bekanntschaft von Miss Brown machte, war eher ein Zufall. Raymond Poiccart, der sonst die Anrufe entgegennahm, wenn er im Haus war, befand sich auf einem Einkaufsbummel durch die Curzon Street und würde im Laufe des Tages wahrscheinlich mit frischen Astern für die chinesische Vase auf dem kleinen Marmortisch zurückkehren.

George Manfred, der dynamische junge Mann, lag nach einer anstrengenden Nacht, die er mit einer seiner zahlreichen weiblichen Bekanntschaften verbracht hatte, noch im Bett, und Leon selbst war dabei, die Morgenzeitung durchzulesen. Er nahm den Hörer ab, ohne aufzublicken, las er doch gerade einen interessanten Artikel über die Zukunftsaussichten der Menschheit im Weltraum. In Gedanken war er in irgendeiner fernen Galaxis, als sich eine etwas erregte Frauenstimme meldete. Das Wort »Erpressung« löste in Leons Kopf einen Alarm aus, der ihn aus der Zukunft sofort in die Gegenwart zurückholte. Aufmerksam, so dass ihm keine Kleinigkeit entgehen konnte, hörte er zu, wie ihn die Frau hilfesuchend um eine Unterredung bat.

»Sie dürfen mich gern bei uns in der Curzon Street besuchen, Madam«, erklärte Leon, als Miss Brown ihn fragte, wo sie sich am besten mit ihm treffen könnte. »Es ist zwar ein eher bescheidenes Haus, aber seien Sie versichert, dass es uns nicht schwerfallen wird, Ihnen den Besuch so angenehm wie möglich zu gestalten.«

»Das, Mr. Gonsalez, dürfte unter diesen Umständen nicht so einfach sein«, gab die Frau zurück. »Ich kann Ihnen unmöglich sagen, wann ich kommen werde, aber ich nehme an, dass es in den nächsten Tagen sein wird.«

»Jemand vom Silbernen Dreieck wird hier sein, Madam«, sagte Leon. »Meine Partner …«

»Ich will nur mit Ihnen sprechen, Mr. Gonsalez. Bitte empfangen Sie mich allein. Mein Leben ist in Gefahr, verstehen Sie!«

»Selbstverständlich«, sagte Leon. Die Stimme der Frau klang gehetzt und so, als litte sie unter furchtbarer Angst. »Wenn Sie mir wenigstens die ungefähre Zeit Ihres Besuches angeben könnten, Madame?«

»Ich werde bei Dunkelheit kommen, Mr. Gonsalez.«

»Sehr wohl, Madam. Ich werde versuchen, während der nächsten Tage nach Hereinbrechen der Dunkelheit zu Hause zu sein.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Gonsalez. Bitte reden Sie mit keinem Menschen über diesen Anruf. Wenn möglich, nicht einmal mit Ihren Partnern.«

»Wir haben keine Geheimnisse voreinander, Miss Brown. Diskretion ist Ihnen jedoch absolut sicher. Ich darf Ihnen versichern, dass es unser erstes Geschäftsprinzip ist, über unsere Fälle äußerstes Stillschweigen zu wahren.«

»Es geht um mein Leben«, wiederholte die Anruferin. »Kommen Sie nicht zu spät, Madam«, empfahl ihr Leon. Sie lachte leise und nervös, bedankte sich bei ihm und hängte auf.

Leon las den Artikel in der Zeitung zu Ende, aber mit dem Kopf war er nicht mehr richtig bei der Sache.

»Natürlich ist das nicht ihr richtiger Name«, meinte George Manfred, während er fast etwas verträumt zusah, wie Poiccart die Blumen in der chinesischen Vase arrangierte. Ausnahmsweise hatte er keine Astern nach Hause gebracht, sondern einen Strauß pastellfarbener Zinnien, die er zu einem günstigeren Preis erstanden hatte, was wiederum für sein ausgesprochenes häusliches Talent sprach.

»Sie will sich inkognito mit mir treffen«, erklärte Leon Gonsalez. Er war dabei, ein paar Gesprächsnotizen zu machen, eine Fleißarbeit, die er bei den meisten Fällen gewissenhaft durchführte, was sich oft genug bezahlt gemacht hatte.

»Glaubst du, dass es sich bei der Dame eventuell um eine Berühmtheit der Londoner Gesellschaft handelt, Leon?«, fragte Poiccart.

»Hm, der Stimme nach handelt es sich um eine jüngere Frau, Raymond«, antwortete Leon. »Ihre Ausdrucksweise war gewählt, aber keineswegs verschroben, wie das bei Mitgliedern der vermeintlich besseren Gesellschaft so oft der Fall ist«, sagte Leon. »Es dürfte jedoch bei ihr zweifellos um eine Frau handeln, die ihrem Intellekt entsprechend eine höhere Schulbildung genossen hat.«

»Vielleicht Akademikerin«, sagte George Manfred. »Hübsch und gescheit, das sind seltene und deshalb besonders schätzenswerte Eigenschaften. Ich bin gespannt auf ihren Besuch.«

»Du wirst kaum Gelegenheit bekommen, Miss Brown näher kennenzulernen, George. Wie ich sie einschätze, wird sie einen Hut tragen und ihr Gesicht hinter einem Schleier verbergen. Außerdem wird sie so lange kein Wort von sich geben, wie sie und ich nicht alleine sind.«

»Das heißt, du und Miss Brown trefft euch zu einem trauten Stelldichein in unserem Haus?« Poiccart drehte die Vase ein bisschen nach rechts, bevor er zufrieden war und sich aufrichtete. »Zinnien machen sich überraschend gut in dieser Vase, nicht wahr? Ich dachte immer, sie wären nicht zierlich genug.« Er wandte sich an Leon Gonsalez. »Sollen wir etwa ausziehen, damit sich diese geheimnisvolle Dame nicht durch unsere Anwesenheit gestört fühlt?«

»Oder kann es sein, dass du ihr deine Partner vom Silbernen Dreieck absichtlich verschwiegen hast, mein Lieber?«, spöttelte George Manfred.

»Und warum hätte ich dies tun sollen?«, gab ihm Leon zur Antwort. »Unser Stelldichein, wie es Raymond bezeichnet hat, ist rein geschäftlicher Natur.« Leon wandte sich an Raymond. »Selbstverständlich überlasse ich es dir, Miss Brown zu empfangen«, lächelte er und klappte das Notizbuch zu. »Und George kann meinetwegen einen Blick durchs Schlüsselloch werfen, aber ich fürchte, sie wird mir nicht einmal erlauben, das Licht anzumachen.«

»Uh, das sind vielleicht Wunschträume eines einsamen Mannes, mein Freund«, grinste Manfred mit einem Augenzwinkern. »An deiner Stelle würde ich mir lieber nicht zu viel von Miss Brown versprechen, damit nachher die Enttäuschung leichter zu ertragen ist.«