Metainformationen zum Buch

Buchidentifikation: (EBI)
[Marie de Sade|Marie: Drachen (Textausgabe)|5] [2016-02-11T20:36:04Z] [20|z06Vz-Y525-34H5-H642]
Sprache
de
Buchtitel
Marie: Drachen
Buchuntertitel
Textausgabe
Beschreibung
Lena läßt im Park ihren Spielzeugdrachen steigen, übersieht dabei aber einen aufziehenden Sturm. Marie hilft ihr, ihren Drachen wieder sicher einzufangen und bringt sie heim. Da Lena ihre Schlüssel vergessen hat, ziehen sich beide auf den Dachboden des Mietshauses zurück und Marie erzählt mit Lenas Hilfe das Märchen vom Drachen-Mädchen Remia, Tochter vom finsteren und mächtigen Drachen Atrev. Remia findet in der Katze Mütze eine Freundin, mit welcher sie sich immer wieder gegen Atrev behaupten muß, um sich und Mütze leben zu lassen, bis der Konflikt eskaliert.
Dies ist eine vereinfachte Textausgabe, einmal abgesehen vom Titelbild ohne Graphiken und als Voreinstellung nur eine einfache Stilvorlage ohne Farbangaben, besonders geeignet für Präsentationsprogramme, Geräte und Konversionsskripte, die EPUB nur sehr rudimentär interpretieren können.
Autorin (Text, Vorwort, Auszeichnungssprachen)
Marie de Sade
Mitarbeiter (Vorwort, Auszeichnungssprachen, Titelgraphik, Korrekturleser)
Dr. Olaf Hoffmann
Mitarbeiterin (Korrekturleserin, Muse)
Inken S.
Impressum
Kontakt bei BookRix: M.d.S. http://www.bookrix.de/-if4897c4a0f7965/
email: mds@kdwelt.de
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Datum (Erstellt)
2016-02-02/15, 2016-05-26/06-04
Datum (Letzte Bearbeitung)
2017-10-15T23:00:00Z
Format
application/epub+zip
Werktyp
Text
Schlüsselwörter, Themen
Anekdote, Märchen, Fabel, Drachen, Drachen-Mädchen, Mädchen, Katze, Freundschaft, Unwetter, Gewitter, Unheil, Kindheit, Kampf, Befreiung, Wahrnehmung, Erinnerung, Wirklichkeit, eigener Weg, Verfremdungseffekt, deus ex machina
Publikum, Zielgruppe
Kinder, Jugendliche, Erwachsene

Marie: Drachen

Epigraph

… Bekanntlich gibt es keine Drachen. Einem simplen Verstand mag diese primitive Feststellung vielleicht genügen, nicht aber der Wissenschaft, denn die Neantische Hochschule befaßt sich überhaupt nicht mit dem, was existiert; die Banalität der Existenz ist bereits zu lange erwiesen, als daß man auch nur ein Wort darüber verlieren sollte. So entdeckte der geniale Kerebron, der mit exakten Methoden dem Problem zu Leibe ging, drei Arten von Drachen: Nulldrachen, imaginäre und negative Drachen. Es existieren, wie gesagt, alle nicht, aber jede Gattung auf eine besondere und grundverschiedene Weise. …

Aus Die dritte Reise oder Von den Drachen der Wahrscheinlichkeit von Stanisław Lem

Eines Tages sagte Unmon zu seinen Schülern:
‚Dieser mein Stab hat sich in einen Drachen verwandelt und hat das Universum verschlungen. Oh, wo sind die Flüsse und die Berge und die große Erde?‘

Zen-Kōan

Oft sehn wir eine Wolke, drachenhaft, oft Dunstgestalten gleich dem Leu, dem Bär, der hochgetürmten Burg, dem Felsenhang, gezackter Klipp’ und blauem Vorgebirg, mit Bäumen drauf, die nicken auf die Welt, mit Luft die Augen täuschend.

William Shakespeare

Nicht hoffe, wer des Drachen Zähne sät, Erfreuliches zu ernten.

Friedrich Schiller

Ein gefräßiges Feuer wärmt ihm seine Glieder
Sein Atem brennt, sein Blick ist tot und kalt
Mein Monster ist blind, es trampelt alles nieder
Wenn es sich losreißt, rufst du dann vielleicht ‚Halt‘?
Siehst du die scharfen Krallen?
Siehst du die Zähne?
Hörst du das Grollen tief in seinem Bauch?
Ich seh deine Beine zittern -
nur dass ich’s erwähne -
wenn ich das merke, merkt mein Monster das auch

Aus: Monster von Judith Holofernes (Wir Sind Helden)

Drachen - das Abgründige, Bedrohliche, Unheimliche, Wilde, Ungezähmte tief in uns allen!

Bertine-Isolde Freifrau von Brockelstedt

Drachen - die Phantasie, das Grauen, die Alpträume tief in uns fliegen lassen.

Balthasar Maria Bernhard Freiherr von Brockelstedt

Vorwort

Zum Inhalt

Diese Erzählung knüpft an ein Erlebnis der Autorin Marie an, gleichwohl ist die Angelegenheit nicht so simpel, daß man den Inhalt einfach biographisch verstehen könnte. Marie besteht auf Distanz zwischen ihren eventuellen Erlebnissen und ihrem Hier und Jetzt. Es steht ein Konjunktiv im Raum, das Erlebnis kann nahezu so stattgefunden haben, es kann auch künstlerisch verdichtet sein.

Marie bewahrt die Distanz auch, indem sie auf eine Ich-Erzählung verzichtet, der Erzähler bleibt abstrakter und hat Einblick in verschiedene Gedankenwelten, wie sie Marie als Autorin leicht haben mag, Marie als Protagonistin müßte hingegen sehr scharfsinnig sein, um immer zu ahnen, was genau in den Köpfen der Menschen vorgeht, mit denen sie es zu tun hat - oft ist das zum Zeitpunkt des Erlebens auch von untergeordneter Bedeutung. Marie würde sich da schriftlich nie so genau festlegen.

Die Namen anderer Beteiligter wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre natürlich verändert.

Technisches

Bei diesem Buch handelt es sich um eine vereinfachte Textausgabe. Anders als die der Originalausgabe enthält dieses, einmal abgesehen vom Titelbild, keine Graphiken und als Voreinstellung nur eine einfache Stilvorlage ohne Farbangaben. Diese Ausgabe ist besonders geeignet für Präsentationsprogramme, Geräte und Konversionsskripte, die EPUB nur sehr rudimentär interpretieren können. Für Programme, die das Format EPUB korrekt interpretieren, ist dringend die Originalausgabe zu empfehlen.

Ein kleiner Drachen im Sturm

Lena war aufgeregt und zog ihren Flugdrachen gegen den Wind hoch, ließ ihn steigen, hinauf in die Luft und zog recht geschickt, ließ mehr Leine, um ihn allmählich höhersteigen zu lassen. Das machte Spaß und sie konzentrierte sich ganz auf ihr schönes, selbstgebautes Spielzeug, welches seine Bahn lustig am Himmel zog und prächtig und figürlich, fabelhaft bunt bemalt war. Lena war glücklich und giggelte fröhlich bei dem heiteren Spiel im Park. Der Drachen zuckelte beinahe wie lebendig am Himmel. Die Bemalung war auf einer transparenten Folie aufgebracht, so daß man von weitem praktisch nur das Bild des wilden Fabeltiers darauf sah, welches sich schlängelte, wand und hoch am Himmel tummelte. Der Eindruck wurde auch noch dadurch verstärkt, daß sein Schwanz an einer Schnur aus weiteren kleinen Flugkörpern bestand, die im Wind in kleinem Umfange ein zappelndes Eigenleben führten.

Auf einer Bank saß im Park eine dunkel gekleidete Frau ganz bewegungslos. Sie saß sehr gerade, mit akkurat gesetzten Beinen, die Füße präzise nebeneinander, die Unterschenkel ganz gerade nach unten, wie auch ihr Rücken ganz gerade ausgerichtet war und sie sich nicht anlehnte. Die Hände hatte sie auf ihren Oberschenkeln plaziert.
Beobachtete sie Lena bei ihrem Spiel?
Oder sah sie nur bewegungslos in die Leere?
Wenn sie etwas beobachtete, wäre es dann nicht das prächtig und mächtig am Himmel flatternde und zuckelnde Fabeltier?
Aber ihr Kopf bewegte sich nicht, still und starr saß sie und ließ all dies an sich vorbeifließen wie ein mächtiger Granitblock in einem kleinen Bach, den scheinbar nichts anging, was sonst im reißenden Wasser so vor sich ging, welches seinerseits unbeeindruckt am Steinblock vorbeiströmte und unbedeutenderes Zeug mitreißen konnte.
Natürlich zauselte trotzdem der Wind in ihrem langen, dunklen Haar und zeigte so bereits, daß sie doch irgendwie in diese Welt gehörte, aber die Frau beeindruckte das nicht, sie trotzte einfach entspannt diesem alltäglichen Sein und hatte sich in sich zurückgezogen, ohne aber auch nur im Geringsten aus dem Blick zu verlieren, was um sie herum passierte, sie ließ es lediglich von sich abperlen wie die Tropfen eines milden Sommerregens auf dem Blatt einer Lotosblume.

Lena hatte die fremde Frau erst gar nicht bemerkt, weil sie so sehr mit der Steuerung ihres Prachtstückes am Himmel beschäftigt war, denn oben war der Wind stärker und so zog ihr kurzweiliges Spielzeug bald heftig und kräftig an der Schnur, daß Lena die Haspel bald schon mit ihren beiden kleinen Händen halten mußte.
Aber das machte gerade noch mehr Spaß, wenn ihr wundervolles Spielzeug so lebendig an der Leine zerrte und riß und sie mehr und mehr mit seiner Wildheit forderte - so muß ein Drachen sein, so ist seine Natur. So spürte sie die Macht und die Kraft auch des Windes und sie erfreute sich jauchzend an dem wilden Spiel der Kräfte. So könnte es den ganzen Tag gehen, dachte sie, hoffte sie, ja so war es gut, sie war ganz wach und lebendig. Das war etwas anderes als daheim vor dem Fernseher oder dem Rechner zu sitzen und nur zu schauen oder herumzudaddeln. Hier passierte wirklich etwas, was man nicht einfach mit einem Knopfdruck abschalten konnte, was nie ganz unter Kontrolle war und gerade darum besonders spannend und interessant. Hier blies ihr der Wind um die Nase und zerrte heftig am Flugdrachen und dieser unnachgiebig an der Leine in ihrer Hand. Das war ein prickelndes, aufregendes Spiel, welches Lena gänzlich fesselte und in seinen Bann zog.

Zufällig nur bemerkte Lena dann doch in ihrem Spiel die dunkel gekleidete Frau. Ja, die Frau war nicht nur dunkel gekleidet, sie war einfach dunkel und finster, als ob selbst das Licht sie zum größten Teil meiden würde. Das machte schon Eindruck und wirkte etwas beunruhigend. Beobachtete diese eigenartige Frau sie?
Lena war sich nicht sicher, der Blick folgte ihr nicht direkt, wenn sie einige Meter zur Seite ging, aber er war doch irgendwie grob in ihre Richtung gerichtet, daß sie verunsichert war. Das lenkte sie etwas ab. Das konnte sie eigentlich gar nicht gebrauchen, denn der Wind wurde stärker und ihr prächtiger Begleiter am Himmel zog mächtig an ihr, auch noch ungefähr in Richtung auf diese etwas unheimliche Frau zu. So blieb ihr aber auch nicht viel Zeit, sich Gedanken zu machen, der stärkere, böige Wind verstärkte auch das Eigenleben des ruckend fordernden Fabeltiers dort oben, daß sie reichlich zu tun hatte, um es richtig zu halten. Ihr Schmuckstück dort oben schien beinahe lebendig zu werden und zerrte kräftig an der Leine, die ihn noch mit Lena verband und von der Freiheit trennte. Beharrlich ruckte und riß dieser immer wieder frech an seiner Fessel. Lena hatte schon etwas Erfahrung, aber das war nun doch eine Herausforderung. Sie wollte ihren prächtigen Schatz heile wiederhaben, dieser ließ sich aber bei den Kräften gar nicht mehr so einfach einholen. Langsam begriff Lena, es konnte heikel werden, aber ihr Prachtstück würde sie niemals hergeben wollen, sie würde kämpfen, um ihn zu halten. Etwas mulmig war ihr schon geworden, aber so leicht gab sie nicht auf, ja, eigentlich nahm sie es wie ein herbes, wildes Abenteuer und stürzte sich mutig hinein. Sie zagte und zauderte nicht so leicht, jedenfalls nicht, wenn es um ihren so innig geliebten Himmelsbegleiter ging, wenn es um etwas ging, an dem sie so sehr hing, was jetzt sogar wortwörtlich zu nehmen war.

Lena hatte den wild zuckelnden Flugdrachen längst nicht mehr voll im Griff, dieser zog sie gar zu mächtig über die Wiese, stolpernd mußte sie nun folgen. Beinahe sah es aus, als würde er mit ihr an der Leine durch die Gegend ziehen und nicht umgekehrt. Eine kräftige Böe zog sehr heftig an ihm und ließ sie einen großen Satz machen. Die Leine zerriß nicht, aber kurz hielt Lena die Haspel nur noch in der linken Hand und war gerade mitten ins Blickfeld der fremden Frau geraten, daß sie ganz erschrocken war, weil diese etwas unheimlich wirkte und bis in ihr Innerstes zu schauen schien.
Schüchtern winkte sie kurz mit der nun freien Hand, die aber wieder eilig zur Haspel griff, der Wind sollte ihr ihren Schatz nicht entreißen. Das war jetzt wichtiger als alles andere. Sie hatte sich so viel Mühe mit ihm gegeben, er war so gut geworden, sah prachtvoll aus und funktionierte phantastisch, sie mußte ihn um jeden Preis halten.

Ohne weitere Bewegung hob die Frau nur kurz die eine Hand von ihrem Oberschenkel und winkte gerade so eben zurück. Lena hatte kaum Zeit, darauf zu achten, denn wieder zog der Wind mächtig am zappelnden Fluggerät mitten darin und sie mußte hinterher, stolperte, machte gar einen größeren Satz, als er sie glatt vom Boden weg in die Luft zu zerren drohte. So schlitterte sie über den Rasen und fand keinen Halt, schlitterte an der Frau vorbei, die immer noch jenseits von Rasen und Weg auf ihrer Bank saß. Die Frau regte sich kein bißchen, selbst bei dem Drama, welches so gerade vor ihr vorbeizog. Die Frau war eine Insel der Ruhe und Stille in diesem aufkommenden Sturm.

Allmählich wurde es Lena doch unheimlich, wie kräftig der Wind geworden war, wie stürmisch dieser an ihrem Schatz zerrte, um ihn ihr skrupellos zu entreißen. Einerseits war sie stolz auf ihr mächtiges, so lebendiges Fluggerät, andererseits wurde ihr auch schon bang und bänger, daß die Angelegenheit ihr nun über den Kopf wuchs, sich ihr Prachtstück einfach losriß - oder ähnlich arg, sie gar mit sich fort in die düsteren Wolken riß. Lena hatte komplett die Kontrolle verloren, schlitterte über den rutschigen Rasen des Parks, weiter und weiter und der immer heftiger werdende Wind zerrte sie weg und immer wieder beinahe hinauf, daß sie immer verzweifelter und ratloser wurde und nur noch große Sätze machte, schon leise und ratlos quiekte, doch ihren schönen Schatz wollte sie nicht lassen, konnte ihn aber auch nicht einziehen.
Tränen schossen ihr in die Augen - oder waren das doch bereits Regentropfen des aufkommenden Sturms?
Sie stolperte über ein Wühlmausloch oder dergleichen und konnte sich nicht mehr halten, die Haspel löste sich schon von ihren Händen.
Es schien alles verloren.
Ein grauenhafter Moment.
Es durchzuckte Lena beinahe wie ein körperlicher Schmerz.

Lena war entsetzt, ihr Herz setzte aus, der Moment schien zu gefrieren und gleichzeitig schien doch die Zeit zu rasen. Ich Blick fokussierte sich auf ihre Hand und die engleitende Haspel. Doch im selben Moment war kurz ein sirrendes Geräusch der Schnur über Haut zu hören, dann hatte eine Hand die Haspel ergriffen, hielt sie, während eine andere Lena am Mantelkragen gepackt hatte, damit sie nicht fiel.
Lena schaute, es war die fremde, unheimliche Frau, die immer noch ernst und abwesend zu sein schien, während sie sich der Kraft des am Fluggerät reißenden Sturms entgegenstemmte, gleichzeitig Lena gerade hinstellte und sie zum Weg hin drängte, wohl auch, um selbst besseren Halt auf dem Weg zu bekommen.
Dem entschiedenen Vorgehen der Frau war nichts entgegenzusetzen, aber was hätte Lena tun können, sie war erstarrt im Schrecken und im Erstaunen über das, was vorging, erst der furchtbare Moment des Verlustes, dann das überraschende Eingreifen der fremden Frau, in deren Hand nun das Schicksal ihres wilden Schatzes lag. Lenas Herz versuchte, den vorherigen Aussetzer auszugleichen, indem es nun raste, Lena atmete mit offenem Mund und schaute mit aufgerissenen Augen verblüfft und eingeschüchtert, was die Frau tat und noch tun würde.

Lena war noch immer erschrocken und schaute nur noch. Die Hand der Frau, die so kühn gerade im letzten Moment in die Leine gegriffen hatte, war etwas blutig, hielt aber die Haspel. Die Frau war offenbar gar nicht so vertraut mit Spielzeugdrachen, daß sie so in die Leine gegriffen hatte, lernte aber offenbar schnell, denn schnell spannte und entspannte sie die stark zerrende Leine, folgte dabei den Weg entlang, wie das Fluggerät ungefähr auch zog und zerrte, um die Leine weiter zu entspannen und begann langsam, die Leine auf der Haspel wieder aufzuwickeln, um den wild zerrenden Flugdrachen allmählich vom Himmel zu holen. Dieser wehrte sich ganz offenbar mit allen Kräften und fand im stürmischen Wind einen eifrigen Verbündeten, der es der Frau ebenfalls schwer machte, das reißende und zuckelnde Fabeltier unter ihre Kontrolle zu bekommen. Widerwillig und langsam nur mußte der Spielzeugdrachen doch immer wieder etwas nachgeben und sich unterordnen, wehrte sich aber auch weiter mit allen Kräften, Böen trieben ihn ruckartig über den Himmel, ihm zu helfen, einen Weg zu finden, ihn aus der verletzten Hand der Frau zu zuckeln. Diese beeindruckte dies indes wenig. Sie hielt einfach stur entschlossen an ihrem Plan fest und holte langsam und geduldig den Flugdrachen Haspelumdrehung für Haspelumdrehung näher zu sich heran. Ja, vielleicht genoß sie gar das Spiel mit dem widerspenstigen Gegner und ließ doch keinen Zweifel daran, daß sie ihm keine Wahl lassen würde, entweder er mußte herunter oder die Schnur müßte reißen. Doch jedes Mal, wenn der Flugdrachen mächtig ruckte und die Schnur entweder zerreißen wollte oder die Haspel aus der Hand zerren wollte, gab die Frau wieder etwas nach, folgte entsprechend schneller, entspannte so die Schnur wieder etwas, so blieb ihm kein Ausweg, als weiter herunterzukommen, wenn sie kurz darauf beim Nachlassen der Böe zugig wieder ein paar Haspelumdrehungen aufwickelte.

Der Himmel war recht dunkel geworden, ein Unwetter, ein Sturm drohte, längst hörte man in der Ferne Donnergrollen und in der Ferne blitzte es wohl auch schon dumpf in den Wolken. Regnen tat es hier noch nicht. Lena folgte der Frau den Weg entlang, der es gelang, immer mehr von der Leine wieder einzuholen. Besonders wild und lebendig wirkte das prächtige Fabeltier vor der mächtigen Wolkenkulisse, wie er heftig zuckte und zerrte und sich so einreihte in das Zucken und das grollende Wetterleuchten in den Wolken, die offenbar neugierig oder auch nur gierig auf ihren wilden Schatz zu heranrückten, als wollten sie ihn mit einem Haps verschlingen. Und da wirkte er schon so klein, stellte sich aber tapfer den Naturgewalten und trotzte frech dieser unheimlichen Kulisse.

Immerhin, der Park war lang, der Weg recht gerade und so ging es eine ganze Weile weiter, der Sturm zog zügig auf, Lena folgte weiter eilig, erschrocken und wortlos der Frau, der es weiterhin gelang, trotz aller Widrigkeiten das Fluggerät in recht gleichmäßigem Tempo herunterzuwickeln. Ob sie es geplant hatte oder ob es Zufall war, kurz bevor am Ende des Parks Bäume den weiteren Weg verhindert hätten, war der dramatische Kampf ebenfalls zu Ende und der Flugdrachen mußte sich geschlagen geben, sie zog ihn in einem Bogen und dieser fuhr zornig herab und schlug beinahe auf den Rasen. Verblüffend geschickt agierte nun die Frau mit der Schnur. Lena hatte längst den Atem angehalten, fürchtete sie doch, ihren so mühevoll selbstgebastelten Schatz nun unrettbar am Boden zerschellen zu sehen. Noch einmal schaffte ihr wendiges Prachtstück eine enge Kurve und zog einige Meter nach oben, weil eine weitere Windböe ihn erfaßt hatte, dann war es unten und ging im eleganten Bogen endgültig auf dem Rasen nieder, landete fast schon sanft. Lena seufzte erleichtert, ihn nicht zerstört zu sehen. Das war gerade noch einmal gut gegangen!

Zum näherkommenden Donnern und den bedrohlich in den Wolken zuckenden Blitzen, die sich noch nicht so recht hervortrauten, kamen nun die ersten Tropfen vom Himmel. Lena eilte mit der fremden Frau zum auf dem Rasen zuckenden Spielgerät, der bei dem Wind gern wieder aufsteigen wollte, doch die Frau wickelte geduldig die Leine immer kürzer, daß Lenas prächtiges Spielzeug keine Chance auf eine Flucht mehr hatte. Sie erreichten es dann und die Frau half Lena, die Konstruktion eilig zu zerlegen und in den flexiblen Schutzköcher zu stecken, den Lena noch immer auf ihrem Rücken getragen hatte und erst jetzt zu diesem Zwecke abgenommen hatte.
Lena atmete erst einmal erleichtert durch und auf, als ihr farbenfroher Schatz wieder heile und sicher verstaut war. Sie drückte sich den Köcher an den Leib, glücklich darüber, ihn wieder sicher bei sich zu haben. Das war überstanden und sie war der unheimlichen Frau dankbar für ihre Hilfe, traute sich aber gleichzeitig kaum, sie anzuschauen.

Bislang hatten sie kein Wort gesprochen. Nun aber sprach die fremde Frau: „Es ist ein wenig stürmisch, um solch Fluggeräte steigenzulassen, besonders für kleine, zierliche Mädchen, die ohne kräftige Hilfe unterwegs sind. Hast du nicht zuvor in den Wetterbericht geguckt?“
Lena schüttelte schüchtern den Kopf, hatte sie nicht, sie war zwar recht aufgeweckt für ihr Alter, wie ihre Mutter immer meinte, aber das hatte sie nicht getan, hätte sie sollen?
Besser wäre es wohl gewesen, aber daran hatte sie gar nicht gedacht, sie hatte nur bemerkt, daß der Wind günstig war und war losgezogen, zumal die Mutter gerade zum Einkaufen gefahren war. An Sturm hatte sie nicht gedacht.
Die fremde Frau nickte erst nur, legte den Kopf leicht schräg zur Seite, fragte aber dann weiter: „Wie heißt du denn?
Mein Name ist Marie!“
Lena schaute sie scheu an, entgegnete mit eher leiser, schüchterner Stimme: „Lena ist mein Name …“
Marie nickte ihr respektvoll zu: „Sehr erfreut, dich kennenzulernen, Lena!“
Lena fiel irgendwie auf, Marie benahm sich ihr gegenüber gar nicht wie die anderen Erwachsenen, sie nahm sie irgendwie ernst oder für voll, obwohl sie sie als kleines, zierliches Mädchen bezeichnet hatte, was sie aber wohl nur auf ihre körperlichen Möglichkeiten bezog. Sie tat jedenfalls nicht so albern kindisch, um sich einzuschmeicheln oder sonstwie zu verhalten, um zu zeigen, daß Lena nur ein Kind war, was keine Ahnung hatte. Das gefiel Lena ganz gut an Marie, obwohl sie noch immer ein wenig unheimlich wirkte. Auch der Tonfall bei der Frage nach dem Wetterbericht hatte nicht einmal belehrend geklungen, auch falls die Frage so gemeint gewesen sein sollte.

Sie waren mit dem Einpacken fertig, Marie half Lena, das im Köcher verpackte Fluggerät auf den Rücken zu schnallen und sie gingen zurück den Weg entlang durch den Park, eilig, denn den einzelnen Regentropfen hatten sich inzwischen einige angeschlossen und das Gewitter zog schnell heran.
Lenas Herz klopfte schneller, während sie schon eine heftige Windböe den Weg beinahe wieder zurücktrieb, heftig an ihr zerrte, daß sie stolperte und beinahe erneut gefallen wäre. Wieder hielt sie die Frau, diesmal am Arm. Auf die Wunde ihrer anderen Hand hatte diese ein Taschentuch gedrückt. Sie eilten weiter, keine Zeit für weitere Stolperer.

Marie stellte fest: „Das Gewitter ist bald da, der Wind pustet dich beinahe um, ich begleite dich heim, wir müssen uns beeilen!“
Lena nickte, das war ihr recht, bei dem drohenden Gewitter war ihr schon ziemlich unheimlich und sie wollte nun wirklich heim und war nun ganz froh, daß Marie, die Retterin ihres mächtigen Schatzes, sie begleiten wollte.
Auch weil das Wetter sie nun doch ziemlich erschreckte und der Wind ihr beinahe den Atem nahm, war ihr die Begleitung sehr recht. Sie drehte den Kopf, hob schützend die Hand vor das Gesicht - das war alles plötzlich sehr heftig geworden, aber trotzdem bedachte sie doch die Aktion mit der Rettung ihres Flugdrachens, die sich nun schon beinahe zu einer Aktion entwickelte, wo sie vor dem Sturm gerettet wurde. Lena hatte nun deutlich mehr Mut gefaßt und fragte, brüllte beinahe gegen den Wind, der ihr den Atem nahm, die Worte von den Lippen riß: „Ist es schlimm mit der Hand?
Es tut mir leid …“
Marie antwortete, dem Wind recht gelassen trotzend: „Muß es nicht, ist nicht so schlimm, ist in ein oder zwei Wochen wieder so gut wie neu!“

Lena schaute erschrocken nach den arg flackernden Wolken, die dumpf grummelten und drohten, Blitze schienen sich in diesen dunklen Wolken zu entladen, jedenfalls sah man von hier aus nur ihr Flackern und hörte das Grollen. Beinahe schien es, als sei der Sturm nun richtig sauer geworden, weil der Flugdrachen doch noch seinen Klauen entrissen worden war. Sie stieß hervor: „Das sieht so unheimlich aus, ich habe Angst vor Gewitter!“
Marie meinte nur: „Ein unheimlicher, märchenhafter Gedanke für dich: Wenn es so in den düsteren Wolken flackert und grummelt, sind Drachen aufeinander wütend und kämpfen miteinander. Sie sind wild, unbändig und hinterlistig, es war schon ganz wichtig, daß wir deinen nicht haben entkommen lassen, sonst hätten sie ihn nur in ihren Streit und ihre Finsternis mit hineingezogen!
Sie hätten den kleinen gnadenlos zernichtet, und dich am Ende der Leine gleich mit!
Das macht ihnen Spaß, andere in ihre Finsternis zu ziehen und darin zu zermalmen, zu zerschmettern, zu zernichten, sie im Blitz zu rösten und sie mit einem Donnerschlag zerplatzen zu lassen!“

Lena erschauerte bei dem Gedanken. Sie malte sich aus, wie da in der finsteren Wolke zwei oder mehr gewaltige Drachen herumrumpelten, sich gegenseitig belauerten und nur darauf warteten, daß sie einander eins auswischen konnten, alles versuchten, hier und da Blitze auslösten, um den anderen zu treffen und vom Himmel zu holen. Grauenhaft gewaltige und mächtige Wesen mußten es sein, die da in den Wolken stritten. Ja, da hätte ihr kleiner Spielzeugdrachen natürlich gar keine Chance gehabt. Diese furchtbaren und rücksichtslosen Monster im Sturm hätten ihn zerfetzt und wie eine Schneeflocke vom Himmel geschmolzen und sie an der Leine zu sich heraufgezerrt, um sie am Stück zu verschlingen. Da war sie ganz froh, daß Marie ihr beistand, diese zeigte gar keine Furcht oder Beunruhigung, drängte aber dennoch energisch zur Eile. Marie schien vertraut zu sein mit dem Verhalten der scheußlichen Schreckenswesen in den Gewitterwolken.

Sie eilten weiter, wer jetzt noch unterwegs war, lief eiligst seinen Weg, niemand wollte schließlich noch unter freiem Himmel sein, wenn die Blitze zucken würden. Lena zeigte, welchen Parkausgang sie wählen mußten, dann über die Straßen und weiter durch die Wohngegend. Inzwischen prasselte der Regen schon merklich auf Kopf und Kleidung und das Gewitter drohte heftig, der Abstand zwischen Donner und Blitz wurde schon kurz. Beinahe schien es, also wollten die Drachen dort oben in den Wolken sie doch nicht so einfach entkommen lassen, sie schienen sie zu verfolgen und mit kaltem Regen zu plagen. Offenbar aber vermochten sie nicht so schnell die Wolken bewegen zu können oder gut mit den Blitzen zielen zu können, denn noch schlugen sie nicht direkt bei ihnen ein, etwas Zeit hatten sie wohl noch, sich und ihre prächtigen kleinen Schatz in Sicherheit zu bringen.

Ohne weitere Unterhaltung und schon durchnäßt erreichten sie schließlich eines der Wohnhäuser, zu dessen Haustür Lena eilig abbog. Sie suchte in ihren Taschen herum, während sie sich mit Marie unter die knappe Überdachung vor der Tür drängte. Erschrocken stellte Lena dann fest: „Ich habe meine Schlüssel vergessen!“
Sie zitterte, nicht nur wegen des kalten Regens, und Marie schaute sie ernst an. Lena hatte nun Angst und wollte nicht länger draußen sein, aber wie dumm war sie gewesen, im Spieleifer einfach ihren Schlüssel zu vergessen?
Lena wußte nicht weiter und das Gewitter ließ es inzwischen heftig krachen, das Wasser goß nur so herunter, Lena zuckte bei jedem Donner, jedem Blitz ängstlich zusammen. Die Lage wurde schnell recht brenzlig, wenn sie auch noch die Blitze selbst nicht riechen konnte. Vielleicht lernten die Drachen dazu oder waren nähergekommen, jedenfalls kamen die Treffer schon deutlich näher.
Marie war ganz ruhig und gelassen, ließ alles an sich abperlen, wie den Regen an Haaren und Jacke. Sie schlug vor, was naheliegend war: „Klingeln?“
Lena versuchte es, doch offenbar war ihre Mutter vom Einkaufen noch nicht wieder daheim, sie gab diese Vermutung schüchtern kund. Das war auch nicht zu erwarten, wenn ihre Mutter erst einmal von einem Einkaufszentrum verschlungen war, ließ sie sich nicht so schnell wieder ausspucken.

Marie, die ohnehin vor der Eingangstür stand, drückte versuchsweise dagegen - und wirklich! Sie hatten Glück!
Es klickte und die Tür ging auf, sie war nicht verschlossen. Eilig traten sie ein in den Schutz des Hauses. Lena zitterte und von beiden tropfte das Wasser herab.
Marie fragte nach: „Und nun? Warten?“
Lena war unsicher und hatte wegen des Gewitters große Angst, zuckte noch immer bei jedem Blitz und Donner, obwohl sie hier im Treppenhaus geschützt waren. Sie fragte bittend: „Kannst du noch etwas bleiben?
Bis Mutter wieder da ist oder das Gewitter vorbei?“
Marie nickte zustimmend, bei dem Wetter hatte sie ohnehin keinen Bedarf nach einem sofortigen Spaziergang und Lena konnte sie gerade wohl brauchen. Angst konnte Marie schlecht nachvollziehen. Sie hatte früh schmerzlich gelernt, daß Angst keinen Sinn ergibt, wenn man nichts gegen das tun kann, wovor man Angst haben könnte. Und obgleich es ja nicht so angenehm war, bei Regen herumzulaufen oder gar ein Gewitter zu durchqueren, blieb sie sichtlich gelassen, was auf Lena Eindruck machte. An Marie schien die Bedrohung abzuperlen. Auch ihr Haar, ihre Kleidung waren zwar naß, aber bei Marie hatte das keine Bedeutung, da konnte nichts weiter beeindrucken.

Auf dem Dachboden

Lena war etwas zur Besinnung gekommen, Marie würde noch ein wenig bleiben. Inzwischen fühlte sie sich bei Marie recht sicher. Diese zuckte nicht einmal, wenn es donnerte, es war gerade so, als ob es Marie gar nichts anginge, daß draußen gerade die Welt unterzugehen schien, jedenfalls das Stadtviertel in einem Sturzbach aus den Wolken fortgespült und vom Sturm weggeweht zu werden drohte. Ihre ruhige Art schaffte irgendwie eine Atmosphäre der Sicherheit und Geborgenheit, obwohl sich Lena noch nicht traute, sich an die dunkle Gestalt anzuschmiegen, in ihrer Nähe gänzlich Schutz zu suchen.
Und so hatte Lena eine Idee: „Meist ist der Dachboden nicht abgeschlossen, ich bin ab und zu mal oben, wir könnten uns da setzen.“
Marie nickte und so gingen sie die Treppen des mehrgeschössigen Hauses mit Mietwohnungen hoch.
Auf jeder Etage gab es drei Wohnungstüren und zur von den Türen abgewandten Seite hin hatte das Treppenhaus Fenster. So konnten sie auf dem ganzen Weg genau sehen, wie sehr es sich draußen verfinstert und verflüssigt hatte. Verglichen mit dem Anblick, als Lena losgezogen war, war das eine komplett andere Welt, die sich da gerade draußen vor den Fenstern austobte. Das war ein Inferno, welchem Lena bislang noch nie so nahe gekommen war. Es war gerade noch so hell genug, daß sie die Stufen der Treppen erkennen konnten, so machten sie nicht einmal Licht und stiegen einfach so hinauf. Dabei hatte es Marie nicht einmal eilig, so lief Lena immer bis zum nächsten Absatz voran, drehte sich, wartete kurz, bis Marie den Absatz erreicht hatte und eilte dann weiter, um sich vom nächsten Absatz aus dann wieder umzudrehen. Dabei zuckte sie bei jedem Donner und auch bei jedem Blitz ängstlich zusammen. Einmal war es so arg, daß sie zurücklief und sich eng bei Marie barg, in ihrer Zone der Ruhe Schutz suchte und fand. Sie wagte es und faßte Maries Hand, diese zog sie dicht zu sich und hielt sie fest. Dann ging es wieder besser und sie gingen weiter.

So erreichten sie irgendwann oben die Tür zum Dachboden. Lena hatte Recht, die Tür war wirklich auf, sie traten ein. Natürlich, hier unter dem Dach prasselte der Regen laut, ja beinahe dröhnend, es zog wohl auch etwas, aber weniger als im Treppenhaus, nachdem sie die Tür geschlossen hatten. Allerdings leuchteten die Blitze direkt, kurz und hell durch die kleinen Dachfenster und es krachte und knallte jedes Mal recht gewaltig, wenn der Blitz offenbar in der Nähe einschlug. Aber auch das beeindruckte Marie nicht im geringsten, sie sah sich ruhig um, als sei draußen ein frischer, heller Sommertag.

Hinten hing etwas Wäsche und die einzelnen Plätze der Mieter waren ansonsten einfach mit Drahtzaun voneinander abgetrennt. Diese kleinen, nach oben gar offenen Käfige beherbergten allerhand Gerümpel der Mieter, meist altes Zeug, Kartons, Trödel, es gab sogar einen alten Schrank mit offenbar auch schon alten Büchern darin, hinter dem Drahtzaun allerdings leider unerreichbar für abenteuerlustige oder auch lesefreudige, neugierige Kinder.
Lena nahm Marie vertrauensvoll an der Hand und führte sie durch den Dachboden und ganz hinten fand sich ein recht einladend wirkender alter, knorriger, geflochtener Sessel mit einer Decke drauf, auf den Lena zusteuern wollte. Es mußte einiges an Arbeit gekostet haben, dieses Biest ganz nach oben zu tragen - aber vermutlich war das für irgendeinen Mieter immer noch günstiger gewesen, als es als Müll zu entsorgen, nachdem es offenbar in der Wohnung nicht mehr gebraucht wurde. Offenbar hatte man keinen Bedarf gesehen, den Stuhl als Eigentum in einen der Käfige zu schließen, so schien er sozialisiert und ohne Eigentümer zu sein, eine Allmende auf dem Boden des Hauses wie auch die Zone zum Wäschentrocknen. Die Rückenlehne war weit hochgezogen, ebenso wirkten die Armlehnen eher wie ein Schutzwall vor der Welt als wirklich gemütlich für die Arme, so jedenfalls lud das alte Stück dazu ein, sich hineinfallen zu lassen und von der Welt ein gutes Stück Abstand zu nehmen. Das gefiel Marie recht gut, sie fand den Sessel gleich auf den ersten Blick ganz sympathisch, auch wie er leise im leichten Durchzug knisterte und knasterte und damit eine Lebendigkeit vortäuschte, die jedenfalls in seinen organischen Bestandteilen schon seit Jahrzehnten nicht mehr stecken konnte. Somit schätzte Marie den Stuhl deutlich älter ein als sich selbst - darin könnte schon Lenas Großmutter Zuflucht gesucht haben, aber die hatte sicherlich hier noch nicht gewohnt.