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© Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 2001, 2010

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Cover und Vignetten von Verena Körting

E-Book-Umsetzung: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin 2014

 

ISBN 978-3-86274-074-1

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Der Abend kommt und hoch über den Hügeln steht Der-über-den-Wolken-wohnt und sieht die Sterne am Himmel und sieht, wie auf der Erde die Lichter angehen, eins nach dem anderen.

»Jetzt lauf«, sagt er zum Kaninchen. »Jetzt ist es so weit, darum warte nicht länger. Denn wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Das Kaninchen sieht hinauf zu den Sternen und sieht hinab auf die Erde, auf der Millionen Lichter funkeln, und auf einmal ist sie so groß und der Horizont liegt so weit hinter all dem Leuchten, und dass es das eine Licht finden soll, auf das es jetzt ankommt, erscheint ihm plötzlich ganz unmöglich.

»Vielleicht«, sagt das Kaninchen schnell, »bin ich doch noch nicht so weit. Ich bin ja nur ein Kaninchen. Und du hast so viele andere, die weiser sind und erfahrener als ich  …«

»Auf einmal?«, sagt Der-über-den-Wolken-wohnt und lächelt; und plötzlich rückt der Horizont näher und der Weg scheint ganz leicht. »Hast du mich nicht gebeten, dir einen Auftrag zu geben, seit deine Ohren ausgewachsen sind? Wenn er gebraucht wird, hat jeder seine Kraft.«

»Aber nicht gleich eine so schwierige Aufgabe, Meister!«, sagt das Kaninchen. »Und eine so wichtige! Vielleicht solltest du lieber …«

»Nur wenn es schwer wird, sehen wir, was in uns steckt«, sagt Der-über-den-Wolken-wohnt. »Hier ist der Spiegel. Und hier ist der Plan.«

Das Kaninchen steckt sie in seine Tasche und sieht hinauf zu den Sternen und sieht hinab auf die Erde, wo Millionen Lichter funkeln; und die Erde ist so groß und der Horizont liegt so weit hinter all dem Leuchten, und dass es das eine Licht finden soll, auf das es jetzt ankommt, erscheint ihm ganz und gar unmöglich.

»Jetzt lauf«, sagt Der-über-den-Wolken-wohnt. »Dich habe ich ausgewählt. Lauf!«

Da macht sich das Kaninchen auf den Weg, zögernd zuerst, und das Wissen darum, was von ihm abhängt, jetzt noch von ihm ganz allein, macht es schwindlig.

Immer hat es sich danach gesehnt.

»Lauf«, sagt die Stimme. »Dich habe ich ausgewählt.«

Und die Lichter kommen näher.

1. Wie es angefangen hat

Wenn ich jetzt meine Geschichte erzähle, wird niemand mir glauben. Keinem ist so etwas passiert. Keinem ist jemals etwas Ähnliches passiert, nur mir, ausgerechnet mir.

Aber es ist trotzdem die Wahrheit, und wenn ich meine Schatzschublade aufziehe, dann liegt da der Spiegel: Zwischen all meinen Schätzen liegt er, neben der Schachtel mit den Muscheln, die ich auf unserer Klassenfahrt an der Nordsee gesammelt habe, und der kleinen durchsichtigen Dose mit schönen Haarbändern und den Glanzpapierpuscheln, die sie in der Eisdiele immer auf die Kinderbecher setzen. An Katjas Geburtstag sind wir mit fünf Kindern da gewesen, und ich durfte von allen die Puschel behalten. Zwischen diesen Dingen liegt jetzt der Spiegel, und Mama sagt: »Was ist denn das für ein alter, kaputter Spiegel, Anna? Wo hast du den denn her?« Wie damals, als ich zurückgekommen bin.

Und wieder überlege ich, ob ich ihr die ganze Geschichte erzählen soll, vom Land-auf-der-anderen-Seite und von Rajún, meinem Gefährten, der die Dinge erlösen konnte durch ihre Melodie; von Evil dem Fürchterlichen, von all meiner Angst und von unserem Sieg.

Aber ich weiß ja, sie würde mir nicht glauben. Denn Ähnliches ist niemals geschehen, und Mama würde sich sorgen um mich und ihre Hand auf meine Stirn legen und sagen: »Du hast doch kein Fieber, Anna? Ist alles in Ordnung?«

Und wenn ich dann trotzdem versuchen würde, es ihr zu erklären, würde ihre Sorge nur noch größer werden und sie würde mich zum Arzt bringen und um Hilfe bitten. Und dabei ist keine Hilfe nötig. Mir geht es gut.

Ja, es geht mir so gut, seit ich zurückgekommen bin, und ich will nicht, dass Mama sich Sorgen macht. Darum lege ich den Spiegel ganz zuunterst in die Schublade und erzähle ihr lieber schnell von der Schule.

Und dass Katja mich auslacht, will ich auch nicht; darum sage ich auch ihr nichts von meinen Abenteuern; obwohl sie doch meistens meine beste Freundin ist.

Einmal habe ich es versucht, in der großen Pause zwischen Sachkunde und Deutsch. Wir hatten in der Stunde gerade darüber geredet, wie kleine Tiere sich gegen große zur Wehr setzen können, der Igel zum Beispiel mit all seinen spitzen Stacheln, und plötzlich hab ich gedacht, es ist eigentlich fast so, wie es bei mir und Evil war. Die Starken müssen nicht immer die Sieger sein.

»Katja, ich hab auch mal so was erlebt«, hab ich gesagt, aber Katja musste grade mit Nasrin ihr Meine-besten-Freunde-Buch durchblättern. Da kleben immer alle ihren Steckbrief rein und ihr Foto, und wenn man das dann ein Jahr später anguckt, muss man lachen, wie klein und komisch sie mal ausgesehen haben. »Katja, ich war im Land-auf-der-anderen-Seite.«

»Dänemark?«, hat Katja gesagt und mit dem Finger auf ein Foto von Krischi gezeigt. Dann wollte sie sich totlachen.

»Nee, nicht in Dänemark!«, hab ich gesagt. »Das Land-auf-der-anderen-Seite ist kein richtiges Land! Kein normales! Katja, hör doch mal zu! Das ist nicht richtig auf dieser Welt!«

»Sag mal, spinnst du?«, hat Katja gesagt. »Willst du jetzt Märchen erzählen?«

Und sie hat weiter im Meine-besten-Freunde-Buch geblättert. Da saß auf einem Foto Micha auf einer Schaukel und war bestimmt noch im Kindergarten. »Bist du bescheuert?«

»Ich mag Märchen gerne«, hat Nasrin gesagt. »Mein Papa liest uns die manchmal vor.«

Da hab ich gewusst, dass es sinnlos ist, und hab mein Leberwurstbrot genommen und bin auf den Hof gegangen. Ich bin auf dem Kletterhaus auf dem Dach balanciert, aber es hat mir keine Angst gemacht. Es ist ja nichts gegen all das, was ich tun musste, als ich im Land-auf-der-anderen-Seite war.

Manchmal möchte ich meine Geschichte so gerne erzählen, dass ich fast zerspringe. Dann fühle ich mich so allein, und ich mache die Augen zu und sehe Rajún, wie er im Stall sitzt und auf seiner Mundharmonika spielt. Wenn ich ihm eine Weile zugehört habe, kann ich die Augen wieder öffnen. Bestimmt denkt er auch oft an mich.

Ich weiß ja, dass niemand mir glauben kann, bestimmt täte ich es auch nicht. Was wäre wohl, wenn Katja mir eine Geschichte erzählen würde von den Wandernden Wegen und den Bergen des Bösen; vom Zeichen des Schmieds und vom Ring; von all unserer großen Angst und von noch größerem Mut?

Und niemand wird begreifen, warum es ausgerechnet mir passieren musste. Ausgerechnet mir, wo ich doch so langweilig und so normal und so durch und durch durchschnittlich bin!

Denn das bin ich wirklich, und immer noch, immer noch überlege ich, warum gerade ich den Spiegel finden musste. Dabei sollte ich jetzt doch längst wissen, dass es manchmal nicht weiterhilft zu fragen. Sondern zu tun, was getan werden muss, das habe ich jetzt ja gelernt.

Ich bin gegen Evil aufgestanden, ich und nicht Katja mit den langen blonden Haaren und den blauen Augen, neben der alle immer sitzen möchten. Ich und nicht Alessa, die beim Völkerball immer als Erste ausgesucht wird. Ich und nicht mal Assal, die in allen Fächern immer die besten Arbeiten schreibt und sich dafür noch nicht einmal anstrengen muss. Ich, Anna, habe mit meinem Gefährten das Land-auf-der-anderen-Seite befreit, und niemanden hat es gekümmert, dass meine Haare mehr so eine Mausfarbe haben und dass mich beim Völkerball alle nur mittelgerne in ihrer Mannschaft haben wollen und dass ich auch nicht so besonders schlau bin. Ich habe ausgereicht, genau so, wie ich bin.

Und darum erzähle ich meine Geschichte jetzt doch. Weil es ja jedem passieren kann! Wenn man gar nichts Besonderes sein muss, um so eine Aufgabe zu lösen, dann kann es doch schließlich jedem passieren. Auf einmal findet man einen Spiegel, und schon muss man eine Heldin sein.

Mir ist es im letzten Herbst passiert, ganz kurz nachdem Nasrin neu in unsere Klasse gekommen war. Es war nachmittags und ich hatte meine Hausaufgaben schon gemacht und im Fernsehen gab es auch nur immer dasselbe. Und Katja hatte sich mit Nasrin verabredet, obwohl sie doch eigentlich meine beste Freundin war, und zum Malen hatte ich auch keine Lust. Da habe ich Mama beim Fensterputzen zugeguckt.

»Was ist denn eigentlich los mit dir, Anna?«, hat Mama gesagt und so ganz gefährlich auf dem Fensterbrett balanciert. Das ist ja lebensgefährlich, wenn man nicht fliegen kann. »Den ganzen Nachmittag hängst du hier schon rum. Weißt du nichts mit dir anzufangen?«

»Ich hab keinen zum Spielen«, hab ich gesagt und zugeguckt, wie Mama mit Zeitungspapier die Scheibe poliert hat, bis sie so blank war, als gäbe es sie nicht. »Katja spielt heute mit Nasrin.«

»Und?«, hat Mama gesagt und ist auf die nächste Fensterbank geklettert. Sockfuß. Sonst gibt es ja Flecken auf dem Brett. »Kennst du nur Katja auf dieser Welt? Ihr seid vierundzwanzig Kinder in der Klasse, oder? Und hier im Haus wohnen auch noch einige! Geh doch zu Micha.« Dann hat sie die Scheibe mit Schaum eingerubbelt, dass es getropft hat.

»Den kenn ich nicht so gut«, hab ich gesagt. Obwohl ich selbst gehört hab, wie blöde das klang. Aber mit Jungs wollte ich damals nicht so viel zu tun haben. Bis ich Rajún getroffen habe, meinen Gefährten.

»Und?«, hat Mama wieder gesagt. »Ist es so völlig unmöglich, mal was Neues auszuprobieren? Warum gehst du nicht und klingelst irgendwo und fragst, ob einer mit dir spielen will?«

Ich hab nur den Kopf geschüttelt. »Ich spiel doch immer mit Katja«, hab ich gesagt.

Mama hat sich nicht mal zu mir umgedreht. Sie hat wieder Zeitungspapier genommen, und es hat ausgesehen, als ob sie mit dem Fenster gesprochen hat.

»Man kann nicht erwarten, dass einem im Leben immer alles auf einem silbernen Tablett serviert wird«, hat sie gesagt und an einer Stelle gerubbelt, wo ein Fleck nicht gleich weggegangen ist. Vielleicht hatte da ein Vogel gegen das Fenster gekackt. »Ein bisschen muss man sich schon selber anstrengen, Madame.«

Aber ich wollte mich nicht anstrengen. Jetzt gerade wollte ich nur dasitzen und Mama zugucken und schlechte Laune haben.

»Dann geh wenigstens los und kauf fürs Abendbrot ein«, hat Mama gesagt.

Und sie hat mir einen Einkaufszettel diktiert und ich hab mir den Korb aus dem Besenschrank geholt und das Geld aus Mamas Geldbörse. Dann bin ich in den Fahrstuhl gestiegen und nach unten gefahren. Und so hat es angefangen.

Manchmal überlege ich, was wohl geschehen wäre, wenn Katja sich an diesem Nachmittag nicht mit Nasrin verabredet hätte. Oder wenn ich in meinem Zimmer geblieben wäre und hätte ein Fensterbild gebastelt. Das kann ich nämlich gut.

Hätte dann ein anderes Kind den Spiegel gefunden?

Ich wüsste gerne, was dann jetzt los wäre auf der Welt.

Vielleicht ist es gut, dass alles gekommen ist, wie es ist.

2. Das Kaninchen

Draußen fing es gerade an, dämmrig zu werden. Auf dem Spielplatz haben die Mütter ihre kleinen Kinder eingesammelt und vom Bolzplatz kamen die Rufe der Jungs. Die Menschen waren unterwegs von ihrer Arbeit nach Hause und die große Straße war voller Autos. Da hab ich gewusst, dass ich zum Supermarkt nicht einfach so rüberrennen kann, wie ich es sonst manchmal tue, sondern dass ich den ganzen Weg bis zur Ampel gehen muss, wenn mir mein Leben lieb ist. Und ich hab gedacht, dass Mama es sich ja mal wieder einfach gemacht hat, sie sitzt da oben gemütlich in der Wohnung und ich muss den ganzen weiten Weg bis zum Supermarkt gehen.

Ich bin also über den Rasen gelaufen, weil das eine Abkürzung ist, wenigstens ein bisschen. Obwohl Kinder nicht auf den Rasen sollen, das steht extra auf den Schildern, die unten im Hauseingang hängen. Der Rasen ist nur für die Schönheit da. Aber jetzt war es ja schon dämmrig, da konnte mich vielleicht keiner sehen.

Zuerst bin ich also ganz normal gegangen, ein bisschen trödelig sogar. So ganz große Lust hatte ich ja nun auch nicht zum Einkaufen. Aber als ich in der Mitte zwischen den Häusern auf dem Rasen angekommen bin, ungefähr da, wo das große Gebüsch ist, hat es plötzlich ausgesehen, als ob die Dämmerung noch dichter geworden wäre. So schnell wird es bei uns sonst eigentlich nicht dunkel.

Ich hab einen Schrecken gekriegt, weil ich doch im Dunkeln draußen immer Angst habe und mein Trostlied summen muss, und außerdem erlaubt Mama mir sonst auch gar nicht, dass ich dann rausgehe. Aber heute hatte sie wohl nicht richtig aufgepasst, und ich hab gedacht, wenn ich nicht anfange zu rennen, ist es stockfinstere Nacht, bevor ich wieder zu Hause bin. Da hat es richtig ein bisschen in meinem Magen gezogen und ich habe mein Trostlied noch lauter gesummt.

Und dann habe ich es gesehen. Neben der großen Birke hat es gehockt, nicht weit vom Gebüsch, und es ist überhaupt gar nicht weggerannt, als ich gekommen bin, und es hat einfach ganz still dagesessen. Als ob es mich erwartet hätte. Da bin ich vor Verblüffung erst mal stehen geblieben.

Natürlich gibt es manchmal Kaninchen bei uns in der Siedlung, die gibt es ja überall, wo Rasen ist und ein paar Büsche wachsen. Im Frühling liegen sie manchmal totgefahren auf der Straße, das sind die Babykaninchen, die sich noch nicht auskennen und nicht wissen, wie gefährlich es ist auf der Welt.

Aber niemals bleiben sie still sitzen, wenn man in ihre Nähe kommt, nicht mal, wenn man ihnen eine Karotte hinhält. Immer rennen sie weg, weil sie Angst haben vor Menschen. Und Kinder sind ja natürlich auch welche. Menschen, meine ich.

Darum war ich so erschrocken, dass dieses Kaninchen dagesessen hat, als ob es mich erwartet. So still sitzen Tiere ja nur, wenn sie tollwütig sind, das hat Mama mir erklärt, als wir im letzten Sommer einmal im Wald spazieren waren, und dass man ihnen dann nicht zu nahe kommen darf. Weil sie sonst beißen, und dann kriegt man selber die Tollwut. Und das ist keine schöne Krankheit.

Darum hab ich überlegt, ob ich überhaupt näher rangehen soll an das Kaninchen oder ob ich nicht lieber doch gleich zum Supermarkt flitze. Das Kaninchen hat aber so still dagesessen und immer zu mir hingeguckt, dass ich gedacht habe, vielleicht hat es ja gar keine Tollwut. Vielleicht hat es sich irgendwo verletzt und kann nicht mehr hoppeln. Weil es in eine Scherbe getreten ist, zum Beispiel. Und nun wartet es darauf, dass jemand es zum Tierarzt bringt. Obwohl Kaninchen ja vielleicht nicht mal wissen, dass es Tierärzte gibt. Jedenfalls wilde Kaninchen nicht.

Ich bin also ganz vorsichtig noch einen Schritt näher gegangen und noch einen, und die ganze Zeit hat das Kaninchen mich angeguckt, als ob es mich erwartet. Und dann hab ich auch gesehen, warum.

Es war ein zahmes Kaninchen, gar kein wildes, das in einer Höhle unter dem Rasen wohnt. Es sah natürlich schon so aus wie ein wildes Kaninchen, braun, und es hat auch dagehockt wie ein Kaninchen, das einfach mal grade aus seinem Bau geschlüpft ist, um in der Dämmerung sein Abendbrot zu futtern; aber um seinen Hals hatte es ein Halsband, das hat irgendwie so gefunkelt, und vorne dran hing ein Ledertäschchen, wie manche Leute es sich mit ihrem Geld um den Hals hängen, wenn sie in Urlaub fahren in ein fremdes Land und glauben, da werden sie beklaut. Eine Reisegeldbörse hatte das Kaninchen um seinen Hals gehängt, und das war ja nun wirklich ziemlich komisch. Ich hab noch nie gehört, dass Kaninchen verreisen können, wirklich. Oder einkaufen.

»Na, willst du mit zum Supermarkt?«, hab ich gefragt, und ich musste ein bisschen lachen, weil ich das so komisch fand. Obwohl es doch eigentlich dämmrig und ein bisschen gruselig war. »Wo hast du denn deinen Einkaufskorb?«

Aber das Kaninchen hat mir natürlich nicht geantwortet und mich nur immer weiter so angestarrt, als ob es sagen wollte, was für ein albernes Gerede. Da war es mir fast ein bisschen peinlich, obwohl einem ja eigentlich vor einem Kaninchen nichts peinlich sein muss.

»War nur ein Scherz«, hab ich darum gesagt, als ob das Kaninchen mich verstehen könnte, und genau in diesem Augenblick habe ich ihn gesehen. Ein Blitzen habe ich gesehen, auf dem Boden, genau vor meinen Füßen. Fast wäre ich draufgetreten.

Wenn ich mir vorstelle, dass ich fast draufgetreten wäre! Dann wäre der Spiegel zerbrochen und gar nichts wäre passiert. Ich hätte eingekauft für Mama und wäre mit meinem vollen Korb nach Hause gelaufen, summend und ein bisschen ängstlich in der Dunkelheit; und Mama und ich hätten zusammen Abendbrot gegessen und vielleicht hätte sie mir vor dem Schlafengehen noch ein Märchen vorgelesen. Obwohl ich für Märchen doch eigentlich zu alt bin. Und alles wäre gewesen wie immer.

Man stelle sich vor.

Aber nun hatte ich das Blitzen also rechtzeitig gesehen, und ich hab mich gebückt, weil ich neugierig war. Es konnte natürlich auch nur eine alte Glasscherbe sein, die Scherbe vielleicht, an der das Kaninchen sich seine Pfote verletzt hatte. Dann war ja klar, warum es so still hier saß.

Aber irgendwie hatte ich nicht das Gefühl, dass es nur eine Scherbe war. Irgendwie hatte ich, schon als ich mich gebückt habe, nicht das Gefühl, dass es nur eine langweilige alte Flaschenscherbe war, die einmal kurz aufgeleuchtet hatte. Irgendwie hab ich schon in diesem Augenblick gewusst, dass jetzt gleich etwas Besonderes passieren würde. Wenn ich natürlich auch noch nicht die kleinste Ahnung hatte, was.

Das Kaninchen hat mich immer noch angestarrt, als ich mich gebückt habe, und wenn es kein Kaninchen gewesen wäre, hätte ich geglaubt, dass es plötzlich erleichtert aussah. Aber ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht.

Denn was da vor mir auf dem Boden lag, war ein Spiegel. So ein altmodischer Handspiegel war es, wie ihn die Prinzessinnen in den Märchenfilmen immer in die Hand nehmen, wenn sie sich drehen und wenden, um zu gucken, wie schön sie sind. Er hatte einen zierlichen Griff aus Silber, und das Spiegelglas im silbernen Rahmen leuchtete so hell, dass ich mir vielleicht schon mal Gedanken hätte machen können, wieso. Wo es doch inzwischen fast dunkel geworden war!

Aber ich war ja so dumm damals. Ich habe den Spiegel aufgehoben und gedacht, dass jetzt bestimmt irgendwo ein Mädchen ziemlich traurig ist, weil es seinen wertvollen Spiegel verloren hat. Denn dass er wertvoll war, konnte ich ja sehen. Der silberne Rahmen und der Griff waren fein verziert, und als ich genauer hingeguckt habe, hab ich erst gemerkt, dass der Griff gearbeitet war wie der Stamm eines dicken, alten Baumes. Und oben in seiner Krone war das Spiegelglas eingepasst. Die Äste waren der Rahmen, mit vielen kleinen Blättern und Zweigen, und so schön sah der Spiegel aus, dass ich mir gar nicht vorstellen konnte, wer in unserer Siedlung etwas so Wunderbares besitzen könnte.

Ich habe den Spiegel also umgedreht, weil ich wissen wollte, wie der Baum von der Rückseite aussah, und da war ich erst richtig verblüfft. Weil die Rückseite nämlich nicht nur aus Silber war, sondern aus Gold, ein Baum wie auf der Vorderseite aus leuchtendem, rötlichem Gold, und zwischen seinen Ästen glänzte wieder ein Spiegel.

Natürlich konnte man nicht wissen, ob das Gold echt war, ich hab es aber geglaubt. Wo doch alles so wunderschön und so wertvoll aussah! Und dass auf der Rückseite noch mal ein Spiegel war, war auch wunderschön. Das haben die Prinzessinnenspiegel in den Märchenfilmen ja nicht.

Und ich hab mir gleich gedacht, dass einer von beiden sicher ein Vergrößerungsspiegel ist, wie Mama ihn zum Brauenzupfen und Wimpernschminken nimmt: So ein kleiner Klappspiegel für die Handtasche ist das, und wenn man ihn aufklappt, guckt man sich auf der einen Seite ganz normal in die Augen und auf der anderen Seite macht der Spiegel das Gesicht so groß, dass man nur noch die Nase sieht. Oder die Augen. Oder das Kinn.

Da wollte ich prüfen, ob mein gold-silberner Prinzessinnenspiegel auch so einer war. Darum habe ich reingeguckt. Und so ist es passiert.

Sonst gucke ich eigentlich nicht so gerne in den Spiegel. Das tut wohl keine, die so mausige, zipfelige Haare hat wie ich und so ein langweiliges Gesicht. Wenn man nicht in den Spiegel guckt, kann man vielleicht immer noch denken, dass man gerade eben schöner geworden ist, so schön wie Katja vielleicht.

Die guckt natürlich immer gerne in den Spiegel.

Aber ich weiß ja nun inzwischen, was ich da zu sehen kriege, und darum kämme ich mir morgens vor der Schule die Haare einfach immer so. Dazu brauch ich keinen Spiegel, auch wenn Mama dann sagt, dass mein Scheitel zackelig ist wie eine Achterbahn und dass ich mit zehn langsam alt genug dafür bin, mich morgens ordentlich zurechtzumachen.

Aber an diesem Herbstabend in der Dämmerung habe ich doch in den Spiegel geguckt. Das musste ich ja. Weil ich doch wissen wollte, welche Seite vergrößert.

Zuerst habe ich also auf der goldenen Seite geguckt, und da war mein ganz normales, langweiliges Gesicht, genau wie in unserem Badezimmerspiegel, wenn ich in den gucke, und es war kein Fitzelchen schöner als sonst und es war auch kein Fitzelchen vergrößert. Im Spiegel hab ich mein Gesicht gesehen und im Hintergrund das Kaninchen, das saß noch immer da und hat mich angestarrt.

Da musste dann ja die silberne Seite der Vergrößerungsspiegel sein. Wenn die goldene Seite es nicht war, musste es ja die silberne sein. Und ich hab den Spiegel umgedreht und hineingeguckt, auch wenn ich mich vergrößert noch viel weniger mag als normal.

Aber ich war nicht vergrößert. Auch auf der silbernen Seite war ich nicht größer als sonst und mein mausiges Gesicht sah aus wie mein mausiges Gesicht, und im Hintergrund saß noch immer das Kaninchen und hat mich angestarrt.

Und trotzdem hatte ich das Gefühl, dass etwas anders war als noch gerade eben. Irgendetwas hatte sich verändert, und ich hab zuerst geguckt, ob es meine Haare waren oder meine Nase oder meine Augen. Die waren es aber alle nicht.

Und dann hab ich es plötzlich gesehen. Im Hintergrund, so grade über meiner Schulter, hab ich im Spiegel wieder das Kaninchen gesehen. Aber hinter ihm war jetzt kein Hochhaus mehr. Hinter ihm war nichts als der Himmel.

Einen kleinen Moment lang hat mein Herz fast aufgehört zu schlagen. Man sieht im Spiegel doch nur, was auch wirklich da ist! Und wo das Kaninchen saß, musste eigentlich Nummer 114 stehen, Eingang a bis g, das Hochhaus, in dem Katja wohnt. Und jetzt war es verschwunden.

Nur grauer Abendhimmel war da, der schon so dunkel war, dass man kaum die Wolken erkennen konnte, die vorbeizogen. Und ich hab einmal tief Luft geholt, weil man das soll, um wieder einen klaren Kopf zu kriegen, und dann hab ich noch mal genauer hingesehen. Das Hochhaus war aber noch immer verschwunden.

Darum hab ich all meinen Mut zusammengenommen und hab mich ganz langsam umgedreht.

Und da war ich also im Land-auf-der-anderen-Seite. Ich habe es bloß noch nicht gewusst.

3. Durch den Spiegel

Vor mir saß das Kaninchen und hat mich immer noch angeguckt. Aber sonst war alles ganz anders. Das Gebüsch war natürlich noch da und die große Birke, von der Katja jedes Jahr Heuschnupfen kriegt. Das Gebüsch und die Birke und das Kaninchen. Aber sonst war nichts mehr, wie es eben noch gewesen war.

Eine Sekunde lang habe ich so eine große Panik gekriegt, dass ich dachte, gleich muss ich spucken. Hier stand ich auf einer weiten Wiese in der Abenddämmerung, und wo gerade noch unsere Hochhäuser gestanden hatten, war jetzt nichts als freies Feld, und wo sonst die Autos auf der breiten Straße durch unsere Siedlung brausten, gab es jetzt nur einen kleinen Feldweg, der war so schmal, dass auf ihm bestimmt nicht einmal Eselskarren Platz fanden. Und es war so still, dass ich meinen eigenen Atem hören konnte. Irgendwo hat laut ein Vogel gerufen.

Da hab ich mich einfach auf den Boden plumpsen lassen. Hilfe!, hab ich gedacht.

»Mama!«, hab ich gerufen. Dann hätte ich fast angefangen zu weinen.

Was war mit mir passiert? Hilfe, was war mir passiert? Was ich jetzt gerade erlebte, konnte doch gar nicht sein, und das war so schrecklich, dass ich wirklich weinen musste.

Zuerst hab ich gedacht, dass ich krank geworden bin. Es gibt so eine Krankheit, die sitzt im Kopf, da glauben Menschen plötzlich, dass sie eine alte Königin sind, die längst tot ist, oder dass gefährliche Gangster sie Tag und Nacht in der U-Bahn beschatten. Dann müssen sie zum Arzt und Tabletten nehmen und dann werden sie hoffentlich wieder gesund.

Vielleicht dachte man bei dieser Krankheit ja auch manchmal, dass man ganz woanders war! Dann war ich jetzt krank, aber Mama war nicht da, um mit mir zum Arzt zu gehen, und wo ich jetzt war, gab es ja außerdem sowieso ganz bestimmt keinen Arzt.

»Mama!«, hab ich geschrien. »Komm, hilf mir!«

Es ist aber niemand gekommen.

Da hab ich mich ins Gras geschmissen und meinen Kopf unter den Armen versteckt und geweint und geweint, und der Himmel über mir ist schwärzer und schwärzer geworden, und das Gebüsch war nur noch ein finsterer Schatten.

»Komm, hilf mir!«, hab ich geflüstert. Ich hab ja gewusst, dass Mama mich nicht hört. Und wer mir sonst helfen konnte, hatte ich auch keine Ahnung.

Aber wie ich so dagelegen habe und dachte, dass ich niemals, niemals mehr aufstehen will, hat mich plötzlich etwas Kaltes, Feuchtes am Arm gestupst. Ich habe den Kopf trotzdem nicht gehoben. Es war doch sowieso alles egal.

Da hat es mich wieder gestupst. »Entschuldigung«, hat eine Stimme gesagt. »Aber es gibt gar keinen Grund, sich so aufzuregen. Nun beruhige dich doch mal.«

Und ich bin so erleichtert gewesen, dass ich es gar nicht beschreiben kann. Es war jemand gekommen, um mir zu helfen! Vielleicht konnte dieser fremde Mensch ja auch mit mir zum Arzt gehen. Wenigstens war ich jetzt nicht mehr allein.

Ich hab mich also ganz vorsichtig aufgesetzt und mich umgeguckt, aber ich konnte niemanden entdecken, weit und breit nicht. Nur das Kaninchen war immer noch da, ganz dicht neben mir jetzt, und es hat ausgesehen, als versuche es zu lächeln.

»Na also«, hat das Kaninchen gesagt. »So ist es doch schon viel besser.«

Da habe ich endlich geschrien. Ich habe so laut geschrien, dass das Kaninchen vor Schrecken einen Satz rückwärts gemacht hat, fast bis zum dunklen Gebüsch. Jetzt war ja klar, dass ich noch viel kränker war, als ich geglaubt hatte. Wenn ich schon Kaninchen sprechen hören konnte! Ich hab gedacht, dass ich natürlich manchmal frech zu Mama bin, und meine Hausaufgaben schreib ich auch öfter erst in der Pause von Assal ab, und wenn ich mein Zimmer aufräumen soll, kann es passieren, dass ich die Sachen nur mit dem Fuß unter das Bett schiebe: Aber so eine schlimme Strafe habe ich nicht verdient.

Das habe ich wirklich geglaubt: dass es eine Strafe ist oder eine Krankheit. Etwas anderes konnte ich mir überhaupt gar nicht vorstellen. Ich war ja so dumm damals, so dumm!

»Kann ich zurückkommen?«, hat das Kaninchen vorsichtig gefragt. »Oder brüllst du dann wieder?«

»Mama!«, hab ich gewimmert. »Oh, bitte, Mama!«

»Nun nimm dich aber wirklich mal ein bisschen zusammen!«, hat das Kaninchen ganz streng gesagt und sich wieder neben mich gehockt. »So verlieren wir nur Zeit.«

»Mama«, hab ich geflüstert. Mit dem Kaninchen wollte ich nicht reden. Es konnte ja sowieso nicht wirklich sprechen.

»Jetzt pass einfach mal auf«, hat das Kaninchen gesagt, wie meine Lehrerin es manchmal tut, wenn ich Mathe nicht verstanden habe und sie zu mir an den Tisch kommt, um mir alles noch mal ganz in Ruhe zu erklären. »Du musst gar keine Angst haben. Da liegt doch der Spiegel.«

Ich hab keine Ahnung gehabt, warum mich das trösten sollte, aber trotzdem hab ich mich schon ein bisschen besser gefühlt. Das tut man ja immer, wenn jemand freundlich mit einem redet.

»Nun nimm ihn dir doch!«, hat das Kaninchen gesagt. »Du kannst jederzeit zurück!«

Da hab ich zum ersten Mal richtig zugehört, und ich habe gedacht, natürlich können Kaninchen nicht sprechen und natürlich kann sowieso nicht sein, was mir gerade passiert, aber bevor ich hier nur rumliege und weine und verzweifelt bin, kann ich es ja genauso gut ausprobieren.

Ich hab mich also hingesetzt und hab nach dem Spiegel gesucht. Zum Glück war er nicht kaputtgegangen, als er mir in meinem Schrecken runtergefallen war. Da konnte ich also reingucken, wie eben. Und da war ich wieder in der Siedlung.

Ich war wieder zu Hause! Kann sich irgendwer vorstellen, dass man so glücklich sein kann, wenn man vier alte Hochhäuser sieht und eine Straße voller staubiger Autos? Und wenn man hört, wie die Jungs auf dem Bolzplatz sich etwas zubrüllen und die Mütter ihre kleinen Kinder drängeln, sich zu beeilen, weil es jetzt Abend wird und sie müssen ins Bett?

Das war ich aber, ich war so glücklich und so erleichtert, dass ich gedacht habe, nie mehr, niemals mehr in meinem ganzen Leben will ich mich wegwünschen von zu Hause oder mich beschweren, dass es langweilig ist bei uns und so laut, und ich will niemals mehr jammern, wenn die anderen in den Ferien verreisen, an die Ostsee oder sogar nach Mallorca, und wir bleiben immer nur hier. Ich hatte ja gar nicht gewusst, wie schön es ist, einfach nur zu Hause zu sein.

»Yippiiiieh!«, hab ich geschrien und bin aufgesprungen. An der Ampel hat noch immer derselbe blaue Laster gewartet wie eben, und ich hab gedacht, dass ich wahrscheinlich nur eine Sekunde lang weggetreten war. So was Ähnliches wie ohnmächtig. Schließlich hatte ich ja auch auf dem Boden gelegen.

»Na, besser?«, hat da eine bekannte Stimme neben mir gesagt. »Du darfst dich nicht immer gleich so aufregen, sonst wird es noch schwierig. Ein kühler Kopf, das ist es, was du jetzt brauchst.«

»Hilfe!«, hab ich geschrien.

Natürlich war ich wieder zu Hause in der Siedlung, und an der Ampel fuhr der blaue Laster gerade an. Aber das Kaninchen war immer noch da und immer noch hörte ich es sprechen.

»Kühlen Kopf bewahren, hab ich doch gesagt!«, hat das Kaninchen gezischt und sich ängstlich umgeguckt, ob auch niemand es hören konnte. »Du meine Güte, das kann ja heiter werden!«

Ich hab das Kaninchen angestarrt und einmal bis zehn gezählt.

»Glaub nicht, dass du mich reinlegen kannst«, hab ich gesagt.

Ich habe gedacht, jetzt geh ich einfach nach Hause, der Supermarkt muss eben mal ausfallen. Dann frag ich Mama, ob sie das Kaninchen auch sieht. Und ob sie es sprechen hört.

»Wer will denn hier jemanden reinlegen!«, hat das Kaninchen wieder geflüstert. »Begreifst du nicht endlich! Der Spiegel!«

Und weil ich doch nun wieder bei uns auf dem Rasen war und irgendwie geglaubt hab, ich bin in Sicherheit, hab ich vorsichtig ein bisschen zum Spiegel hingeluschert. Falsch machen konnte ich damit ja nichts.

Die goldenen Äste umrankten noch immer das Spiegelglas, und als ich hineingeguckt habe, habe ich mich gesehen und das Kaninchen. Und dahinter standen die Häuser, und an der Ampel haben die Autos schon wieder gehalten. Diesmal war vorne ein großer grüner Volvo.

»Na?«, hat das Kaninchen gesagt.