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Vorschau

 

Der fünfte und letzte Teil der Reihe Kinderland von Richard Lorenz erscheint im März 2014.

 

Weitere Informationen zur Reihe finden Sie unter www.heypublishing.com/kinderland.

 

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Richard Lorenz

Kinderland

 

Vierter Teil

Herbstgebete

Copyright der eBook-Ausgabe © 2014 bei Hey Publishing GmbH, München

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

Autorenfoto: © privat

ISBN: 978-3-95607-008-2

 

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Richard Lorenz, Kinderland – Teil 4: Herbstgebete

 

Die Schuld vergangener Taten ist noch immer ungesühnt, das jüngste Gericht aber naht. Denn im Kinderland bleibt das Morden unvergessen, und die ersten Täter werden die letzten Opfer sein.

 

Ich habe das Allerheiligenmädchen nie wieder besucht. Jeden Tag aber denke ich an sie.

Warum ich Ihnen das alles erzähle? Als ich an ihrem Bett stand und ihre Hand in der meinen hielt, habe ich Karla zwei Dinge versprochen: ihre Geschichte zu erzählen, womit ich beinahe fertig bin, und dort oben, auf dem Grabhügel, zu sterben.

Warum dieses Versprechen, wollen Sie wissen? Nun, das werden Sie bald sehen. Kommen Sie! Wir wollen Tom und die anderen nicht warten lassen. Dafür ist das Leben viel zu kurz.

Der 11. August 1999 bringt Dunkelheit über die Welt, in der kleinen Stadt in Bayern aber erhellt die Sonnenfinsternis die Geheimnisse der Vergangenheit, und für einen kurzen Moment scheint die Wahrheit zum Greifen nahe. In ihr liegt die Antwort, die den unversöhnten Kinderseelen die Erlösung bringen kann, und den Todgeweihten Vergebung. Wenige Tage vor Allerheiligen beginnt der Countdown. Denn das Ende ist nur eine Frage der Zeit, und für so manches tapfere Herz unausweichlich.

 

»Herbstgebete« ist der vierte Teil der Mystery serial novel »Kinderland« – erbarmet euch!

Ich habe das Gerber-Mädchen im Frühjahr 1991 besucht. Ein sehr kalter Jahresbeginn, das weiß ich noch ganz genau. Der Grüne See war zugefroren, sodass man darauf Schlittschuhlaufen konnte – was sonst eher selten möglich war. Ich weiß es noch so genau, weil ich einen Umweg gemacht habe. Der erste Schnee war spät gekommen und er blieb lange liegen. So hoch auf den Feldern, dass ein Kind versinken hätte können. Ich hatte einen Umweg gemacht, weil mein Kopf voller Gedanken war. Und auch mein Herz war ohne Ruhe. »Ich glaube, ich habe einen Knoten in meiner Brust«, hatte meine Frau am ersten Weihnachtsfeiertag zu mir gesagt, als wir bereits im Bett lagen. Niemals werde ich diesen Satz vergessen. Das Leben wird entzwei gerissen, von einer Sekunde auf die andere.

Ich sah sie an. Sie hatte Tränen in den Augen. Natürlich sagte ich solchen Unsinn wie: Ach was, du täuscht dich bestimmt – Dinge, die man zu einem Kind sagt, das weinend mit aufgeschürften Knien nach Hause gelaufen kommt. Tief in meinem Innern spürte ich aber, dass sie sich nicht täuschte. Meine Frau und ich sprachen nicht mehr davon, jedenfalls nicht mit dem Mund. Wir sprachen mit den Herzen, und diese Gespräche, mein Freund, waren schwerer.

Anfang Januar ließ sich meine Frau untersuchen, zuerst von Doktor Grüner, dann im Sankt Martin Krankenhaus, wo sie all die modernen Apparate haben. Ich verstehe nichts davon, aber sie schoben sie durch alle möglichen Geräte. Auch durch so ein riesiges Ding, mit dem man in den Kopf sehen kann.

Ich weiß es noch wie heute: Es war ein schöner, sonniger Tag, ein eisig kalter Januartag mit kleinen weißen Wolken am blauen Himmel. Sie setzte sich zu mir an den Küchentisch und nahm meine Hand. Als würde sie mich trösten müssen und nicht anders herum. »Vielleicht noch ein halbes Jahr, wenn wir Glück haben«, sagte sie. »Wer weiß, vielleicht sogar noch ein ganzes, mit Chemo«. In ihrem Kopf waren bereits Metastasen, und es war ein Wunder, dass sie noch ganz bei Sinnen war. Sagten jedenfalls die Ärzte. Meine Frau war ziemlich stur, müssen Sie wissen. Gut, sagte sie, dann lassen wir es darauf ankommen. Sie nahm ihren Jahresurlaub, erzählte keiner Seele von dem Krebs in ihr und fing an, alle möglichen Heilmittel auszuprobieren; Kräutermischungen, Tinkturen und so ein Zeug. Der ganze Küchenschrank war voll damit. Nie im Leben hätte ich ihr gesagt, dass ich das alles für ausgemachten Blödsinn hielt. Ich liebte meine Frau! Ich liebe sie immer noch. Manche Lügen tragen Liebe in sich, so einfach ist das.

Anfang Februar wuchs ein Geschwür aus ihrer rechten Brust, das zwei Tage später aufplatzte. Als sie mich in der darauffolgenden Nacht nicht mehr erkannte, beschloss ich, zum Allerheiligenmädchen zu gehen. Unsere Stadt ist klein, Sie können von einem Ende zum anderen sehen, deshalb erfährt jeder hier alles. Wenngleich ich auch wusste, dass die meisten Geschichten über Karla und ihre Gabe vermutlich übertrieben, wenn nicht sogar erlogen waren, musste ich es versuchen. Aber ganz sicher war ich mir nicht, deshalb auch der Umweg über den Grünen See. Ich musste in Ruhe darüber nachdenken. Meinen Fotoapparat hatte ich nicht dabei, und das war auch gar nicht mehr nötig. Inzwischen wusste ich es, ohne sie zu sehen. Dass sie dort waren und nach dem übrig gebliebenen Leben suchten, nach ihren eigenen Schatten, die für eine viel zu kurze Zeit über die Erde gewandert waren. Drei Kinder, die mit Schlittschuhen über das trübe Eis glitten, zwei, die mit nackten Füßen am Ufer standen und zusahen …

Ich erinnerte mich an das Jahr 1973 und die Kinder, die ich auf der Straße gesehen hatte, in jener Nacht vor Allerheiligen. Sie wären am Leben geblieben, hätte ich das Fenster geöffnet und sie nach Hause geschickt. Vielleicht wären sie nicht nach Hause gegangen. Vielleicht aber doch.

Letztendlich ging ich zu den Gerbers. Auf dem Weg dorthin sah ich Karlas Bruder, der sein Fahrrad durch den Schnee schob, weg vom Haus, dorthin, wo der Knochenmann wohnt. Ich blickte ihm nach, dachte daran, wie es sein musste, eine Schwester zu haben, die tot war, und dennoch atmete. Karlas Mutter ließ mich herein. Sie stellte keine Fragen. Ist das nicht merkwürdig? Sehr wahrscheinlich war ich nicht der Erste, der sie aufsuchte, aber mit Sicherheit der Verzweifelste.

Zwei Wochen später schmolz der Schnee, und mit dem Schnee verschwand das Geschwür. Eine Woche danach fanden sie keine Metastasen mehr in ihrem Kopf, und als der Sommer kam, und meine Frau schon längst wieder arbeitete, hatte der Krebs ihren Körper verlassen.

Ich habe das Allerheiligenmädchen nie wieder besucht. Jeden Tag aber denke ich an sie.

Warum ich Ihnen das alles erzähle? Als ich an ihrem Bett stand und ihre Hand in der meinen hielt, habe ich Karla zwei Dinge versprochen: ihre Geschichte zu erzählen, womit ich beinahe fertig bin, und dort oben, auf dem Grabhügel, zu sterben.

Warum dieses Versprechen, wollen Sie wissen? Nun, das werden Sie bald sehen. Kommen Sie! Wir wollen Tom und die anderen nicht warten lassen. Dafür ist das Leben viel zu kurz.

Kreidestaub

25. Oktober 1999

 

Leonard

 

An diesem Tag war er zu Hause geblieben. Das Telefonkabel hatte er aus der Wand gerissen, wie eine Schlange wand es sich in seiner Hand. Kurz vor sechs Uhr morgens war Leonard aufgewacht und hatte es gerade noch zur Toilette geschafft. Während er vor der Toilettenschüssel kniete und sich übergab, wurde ihm bewusst, dass er nie wieder zur Arbeit gehen würde. Wirklich gemocht hatte er seine Arbeit sowieso nie. Das Gefühl in seinen grollenden Eingeweiden sagte ihm, dass der Herbst eine neue Zeit und ein neues Leben bringen würde. Neues Licht für die alte Haut. Er strich sich die Haare aus der Stirn und lachte kurz auf bei dem Gedanken, ihm wäre schlecht von seinem richtigen Leben. Dann übergab er sich erneut, dieses Mal so heftig, bis nur noch bittere Gallenflüssigkeit hochkam.