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Prof. Dr. Wilhelm Vossenkuhl

PHILOSOPHIE

ETHIK – GRUNDLAGEN

ETHIK – WAS WIR SOLLEN

ETHIK – DAS GUTE LEBEN

IDENTITÄT

FREIHEIT

© Verlag KOMPLETT-MEDIA GmbH

2011, München/Grünwald

www.komplett-media.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

HEROLD Auslieferung Service GmbH

www.herold-va.de

Inhaltsverzeichnis

ETHIK – GRUNDLAGEN

Unterscheidung zwischen „gut“ und „schlecht“

Trennung zwischen „Sitte“ und „Ethik“

Wissen und Ethik

Freiheit und Gleichheit

Sittliche Wurzeln

Menschenwürde

Nicht ableitbare Prinzipien

Tötungsverbot

Sittliche Tatsachen

Selbstbestimmung

Konflikte zwischen Sitte und Ethik

Trennung der Ethik von sittlichen Grundlagen

Ethik – eine „Konfliktwissenschaft“

Gleiche ethische Ansprüche für alle

Instrumentalisierungsverbot

ETHIK – WAS WIR SOLLEN

Pflichten und Verantwortungen

Kollektive Verantwortung

Gibt es einen „gerechten Krieg“?

„Verantwortungsbereich“ Umweltschutz

Hilfestellung bei Konflikten

Rechtliche Verantwortung

Humanitäre Intervention

Ethische Verantwortung und „Sollensprinzip“

Von der Pflicht

Moralgesetz = Naturgesetz?

„Zucht“ und „Selbstzüchtigung“

Der vernunftbestimmte Wille

Der „Praktische Imperativ“

Instrumentalisierungs-Verbot

Die „Büchse der Pandora“

Datenschutz – ein ethischer Anspruch

Recht auf Nichtwissen

Wissens-Pflicht

Technologiefolgen-Abschätzung

Tugendethik

Die vier Kardinaltugenden

Tugend – die „Mitte“ zwischen zwei „Untugenden“

Die aristotelische „Eudaimonie“

Freundschaft

ETHIK – DAS GUTE LEBEN

Was ist der Kern des guten Lebens?

Freiheit

Die vier Tugenden

Glück

Verpflichtung

Gut – Schlecht

Geltungsgrundlage

Das Wissen des Guten

Die Idee des Guten

Nichtdefinierbarkeit

Die Zeit

Zukunft machen

Unwägbarkeiten und Gefahren der Zukunft

Gerechtigkeit

Verteilungsgerechtigkeit

Unverzichtbare und unteilbare Güter

IDENTITÄT

Wer bin ich?

Ich und die Anderen

Was heißt „Selbstbewusstsein“?

Der eigene Wille

FREIHEIT

Wie frei können wir Menschen sein?

Ist Freiheit nur eine Illusion?

Wie hängen Freiheit und Verantwortung zusammen

ETHIK

Grundlagen

SITTE UND ETHIK

Was bedeutet Ethik und wie sind ethische Normen und Regeln mit der Welt, in der wir leben, verbunden? Warum sind die sittlichen, in Kultur und Religion verankerten Normen nicht ausreichend? Es geht darum zu verstehen, dass die Ethik eng mit der Sitte verbunden, aber doch eine eigene, unabhängige wissenschaftliche Disziplin ist.

GELTEN UND RECHTFERTIGEN

Die Menschenwürde, die Freiheits- und Gleichheitsrechte und das Verbot, Menschen zu töten, sind Beispiele „sittlicher Tatsachen“. Auch die Selbstbestimmung der Person ist eine sittliche Tatsache. Wo liegen deren Grenzen?

UNIVERSALE FORDERUNGEN

UND KULTURKONFLIKTE

Trotz der Wurzeln der Ethik in Kultur und Religion, ist sie verpflichtet, auch dann für universale Forderungen wie die Menschenwürde einzutreten, wenn dies zu Kulturkonflikten führt. Ein Beispiel dafür ist die Frauenbeschneidung.

ETHIK ALS KONFLIKTWISSENSCHAFT

Es gibt eine zunehmende Menge von Konflikten, die durch die Entwicklung der Medizin und der Lebenswissenschaften, aber auch durch die wirtschaftliche Globalisierung erst entstehen konnten. Die Ethik trägt dazu bei, diese Konflikte zu lösen.

„Ethik“ ist ein sehr gebräuchliches Wort geworden. Fast täglich steht es in irgendeiner Verbindung in der Zeitung. Politische Ethik, oder die Ethik in der Wirtschaft – Wirtschaftsethik – oder Medizinethik. Ständig lesen wir dieses Wort, aber was heißt es eigentlich, wo kommt es her?

Es stammt aus dem griechischen, ist ein Kunstwort, abgeleitet von dem griechischen Wort „Ethos“. Ethos ist das Brauchtum, die Sitte, die Gepflogenheiten. Soweit zur Herkunft des Wortes, aber was bedeutet es?

Unterscheidung zwischen „gut“ und „schlecht“

Es hat noch immer etwas mit dieser Herkunft zu tun, es hat immer noch etwas mit den Sitten oder der Sitte zu tun – mit dem was richtig ist, was man tun sollte. All das ist schon in den Sitten enthalten. Aber es gibt einen ganz wesentlichen Unterschied.

Sitten sind die Umgangsformen, die wir Menschen von Kindesbeinen an lernen. Ethik ist etwas ganz anderes. Man kann es auf eine kurze, knappe Formel bringen und sagen: Die Sitte reicht uns für den Alltag. Sie sagt uns, was richtig, falsch, gut, schlecht ist.

Dazu brauchen wir normalerweise keine Ethik, also wenn Ihr Freund, Ihre Freundin, Ihr Kind oder Partner krank geworden ist, oder auch nur etwas braucht, dann denken sie sicherlich nicht lange darüber nach. Sie helfen einfach.

Etwas, das ganz normal ist, gehört also zur Sitte. In der Sitte kennen wir – wie ich schon sagte – die Unterscheidung zwischen „gut“ und „schlecht“.

Was ist nun dagegen die Ethik? In der Ethik steckt genau die gleiche Unterscheidung zwischen „gut“ und „schlecht“, „richtig“ und „falsch“. Aber im Unterschied zur Sitte fällt uns, wenn es um ein ethisches Problem geht, nicht sofort und auf Anhieb ein, was nun wirklich „gut“ ist.

Nehmen wir noch einmal das Beispiel mit dem Freund oder Kind, dem es gerade schlecht geht. Da brauchen sie nicht nachzudenken, ob Sie helfen sollen, Sie tun es einfach. Wie ist es aber, wenn Sie es mit jemandem zu tun bekommen, den Sie noch nie gesehen haben, der fremd ist – vielleicht sogar „fremdländisch“ aussieht. Der vielleicht auf der Straße liegt und von dem sie ganz genau wissen: dieser Mensch braucht Hilfe. Werden sie ihm helfen? Das ist nicht ganz leicht zu entscheiden, sie müssen nachdenken. Sie müssen überlegen: Was habe ich eigentlich mit diesem Menschen zu tun? Natürlich braucht er Hilfe, aber braucht er gerade meine Hilfe? Muss ich mich um ihn kümmern?

Trennung zwischen „Sitte“ und „Ethik“

Häufig ist diese Frage mit einem klaren „nein“ zu beantworten, nämlich genau dann, wenn andere ohnehin schon helfen. Aber das ist so eine Art „Trennlinie“ zwischen Sitte und Ethik. In der Sitte oder in dem, was sittlich „normal“ ist, wissen wir ohne nachzudenken was gut und schlecht ist. Wenn es um eine ethische Frage geht, müssen wir nachdenken. Sollen wir einem Fremden helfen? Das ist nicht so ohne weiters klar. Soll ich das? Kann ich das überhaupt? Bin ich nicht überfordert mit dieser Frage, oder mit der Verpflichtung?

Also, Sie sehen, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Sitte und Ethik sind miteinander verwoben. Aber die Ethik hat es mit einer Frage oder mit Fragen zu tun, die sich nicht leicht beantworten lassen.

Seit der Antike gibt es diese Disziplin und seitdem gibt es natürlich auch den Zusammenhang mit den Sitten, die in einem Staat, in einer Gesellschaft herrschen. Ursprünglich in der griechischen Polis, in der Zeit in der zum Beispiel Platon und Aristoteles in Athen lebten, schrieben, nachdachten und lehrten. Beide hatten viele Schüler. Aristoteles war selbst Schüler von Platon. In dieser Zeit gab es eine Entwicklung, in der bereits erkennbar war, dass die Ethik eine Spezialdisziplin war, die nicht mit dem übereinstimmte, was die normalen Menschen auf dem Marktplatz unter „gut“ und „schlecht“ verstanden.

Sokrates hat sich schon damals unbeliebt gemacht, indem er den Menschen – wir würden heute sagen – auf die Nerven ging, indem er sie fragte, „was bedeutet dies und jenes?“, oder „was würdet ihr denn da tun?“, „was ist denn gerecht und was ist richtig?“, oder „ist dieser oder jener mutig gewesen?“ und so fort.

Man hat also damals schon angefangen diese so genannte „praktische Philosophie“, oder die „Philosophie der Praxis“, „Philosophie des Handelns“ zu entwickeln. Wir werden später noch sehen, was in jener Zeit an wichtigen Einsichten gewonnen wurde.

Zurück zum Verhältnis Sitte-Ethik. In der Antike war dieses Verhältnis sehr eng. Denn was im ethischen Sinne als gut galt, sollte eigentlich auch sittlich vorbildhaft sein.

Also, wenn jemand als Staatsmann, als Krieger besonders empfehlenswert war, war er sowohl im ethischen Sinne ein guter Mensch, ein gutes Beispiel ein guter Krieger, ein guter Feldherr, als auch im sittlichen Sinne. Man hat ihn also in beider Hinsicht für gut gehalten und er war in jeder Hinsicht ein Vorbild.

Aber im Laufe der Jahrhunderte hat sich das Verhältnis zwischen Sitte und Ethik gelöst. Immer deutlicher trat hervor, dass die Ethik ihre spezielle Aufgabe nicht mehr in der Sprache, in dem Bewusstsein wahrnehmen konnte wie das üblicherweise bei Gesprächen auf dem Marktplatz oder unter Freunden möglich war. Es bildete sich eine spezielle Begrifflichkeit heraus. Die gab es allerdings auch schon in der Antike. Die normalen Menschen haben damals nicht so ohne weiteres zum Beispiel von Tugenden gesprochen. Aber sie wussten doch, was Tapferkeit oder Klugheit heißt.

Wissen und Ethik

Die Begriffe, die dann in der Ethik die wesentliche Rolle spielten, lösten sich nach und nach aus dem alltäglichen Verständnis und Bewusstsein heraus. Sie nahmen immer mehr einen wissenschaftlichen Charakter an. Sie wurden immer mehr mit Wissen verbunden.

Schon Platon hat die Ethik sehr eng mit dem Wissen verbunden. Aristoteles meinte sogar, dass für die Ethik ein ganz besonderes praktisches Wissen erforderlich sei. Auch diese großen „Köpfe“ der Ethik haben also schon sehr früh gewusst, dass Wissen und Ethik sehr eng miteinander zusammenhängen. Platon meinte sogar, dass man für die Ethik, um gut handeln zu können, sogar technisches Wissen, also Wissen, das zum Beispiel auch ein Handwerker einsetzt.

Die Moderne hat diese Auseinanderentwicklung von Sitte und Ethik sehr stark forciert, weil mit der Moderne, also nach dem 15./16. Jahrhundert, vor allem aber im 18. Jahrhundert Staaten, Staatswesen entstanden, die immer mehr ethische Probleme nicht nur hatten, sondern auch erzeugten. Ethische Probleme, die deswegen Probleme waren, weil in dieser Zeit das entstand, was wir heute Individualismus nennen. Also Rechtsansprüche von einzelnen Personen, nicht mehr nur einfach von Gruppen – Priestern, Politikern, Adligen – sondern von einzelnen Menschen. In diesen Gesellschaften entstand ganz sprunghaft und rasch ein Interesse an Ethik und mit dieser Entwicklung löste sich das Vokabular und auch das Problemverständnis der Ethik immer mehr von der Sitte ab.

Freiheit und Gleichheit

Die herrschenden Sitten waren im, nehmen wir einmal das 18. Jahrhundert, noch immer von der sogenannten „Feudalgesellschaft“ geprägt. Sie war eine „Schichtengesellschaft“, in der die Adligen deutlich überlegen waren gegenüber den nicht Adligen. Es gab in Europa zwar keine Sklaven mehr, aber es gab „Leibeigenschaft“, also den Bauerstand, der eigentlich nicht wirklich frei war. Es war sogar so, dass der Bauernstand in dieser Zeit unfreier war, als im 11. Jahrhundert. Warum das so war, muss uns jetzt nicht interessieren, aber es ist ein interessantes Faktum.

In dieser Zeit entstand das Bewusstsein der „Freiheit“. Dieses Bewusstsein ist ein typisches ethisches Bewusstsein. Ein Bewusstsein, ohne das die Ethik im modernen Sinne gar nicht denkbar ist. Es entstanden auch andere interessante, wichtige Ideen, die der Ethik ihre Gestalt gaben. Nämlich die Gleichheitsidee, das Gleichheitsbewusstsein. Und dann immer mehr auch die Gleichheitsforderung.

Natürlich gibt es auch im Hinblick auf Freiheit und Gleichheit, im Hinblick auf diese wichtigen Forderungen, die der Ethik im 18. Jahrhundert ihren Charakter gaben, schon Vorbilder. Ohne das Christentum wäre der Gleichheitsgedanke sicherlich nicht entstanden. Also haben wir auch da wieder einen sittlichen Hintergrund.

Das soll einmal, was die historische Seite des Verhältnisses von Sitte und Ethik betrifft, genügen.

Nun zum heutigen Verhältnis. Noch immer hängen Sitte und Ethik eng miteinander zusammen. Wir leben in Gesellschaften, in denen wir, ob wir wollen oder nicht, ein sittliches Bewusstsein sozusagen mit der Muttermilch bekommen. Natürlich verändert sich das. Wir bleiben nicht immer beim gleichen Bewusstsein. Wir verändern dieses Bewusstsein zum Beispiel typischerweise durch unsere Ausbildung, durch die Erziehung in der Schule. Auch jeder Beruf hat ein bestimmtes sittliches Bewusstsein. Deswegen spricht man auch von „Standesbewusstsein“.

Daran sieht man wiederum auch, wie eng das Verhältnis zwischen Sitte und Ethik ist. Das Standesbewusstsein hat immer auch einen ethischen Charakter. Nehmen wir zum Beispiel die Standesethik der Mediziner oder die Standesethik von Beamten oder Soldaten. Da sieht man, dass auch das normale sittliche Bewusstsein mit ethischen Vorstellungen verbunden ist.

Ein Beispiel: Ein Arzt hat das sittliche und gleichzeitig ethische Bewusstsein, dass er Menschen nicht schaden darf. Vielmehr soll er für deren Wohl sorgen. Aber manchmal gibt es Probleme, gerade mit diesen beiden Forderungen. Denn im Hintergrund steht – wir haben gerade etwas von Freiheit gehört – ein Freiheitsanspruch des modernen, individuell denkenden Menschen, den man „Autonomie“ nennt, also Selbstbestimmung. Die Autonomie des Patienten ist ein ganz wesentlicher Anspruch. Aber auch hier haben wir den Zusammenhang zwischen Sitte und Ethik.

Sittliche Wurzeln

Wir werden noch viele Probleme, gerade im Hinblick auf die Medizinethik kennen lernen. Aber wichtig ist, dass wir bei diesem ersten Schritt in die Ethik verstehen, dass es ohne eine Menge sittlicher Wurzeln keine Ethik geben würde. Zur Sittlichkeit, zu den Sitten gehört nicht nur der „Tirolerhut“ und die Art zu grüßen. Wesentlich gehört der mitmenschliche Respekt dazu, den wir nicht erst in der Schule lernen können. Den wir überhaupt nur dann wirklich erweitern und vertiefen können, wenn wir rechtzeitig den Sinn, das Gespür für den anderen Menschen und auch natürlich für uns selbst entwickelt haben.

Das gehört zur Sitte. Ohne diese sittliche Basis würden wir nicht einmal im Ansatz verstehen können, was ethische Begriffe wie zum Beispiel Freiheit und Gleichheit eigentlich bedeuten. Wir brauchen also eine sittliche Basis, einen Sinn, ein Gespür um diese wissenschaftlich geprägte Art des Nachdenkens über das, was wir sollen, über das, was wir uns und den anderen schuldig sind, entwickeln zu können. Ohne die Herkunft können wir das sicherlich nicht. Aber nicht alles, was in den Sitten, die wir mit der Muttermilch mitbekommen, ist im ethischen Sinne „gut“. Wir werden schwierige und ernste Beispiele dafür kennenlernen. Aber zunächst einmal müssen wir festhalten: Das ist das Grundverhältnis und aus diesem Grundverhältnis Sitte-Ethik entsteht das, was man im modernen Sinn die praktische Wissenschaft der Ethik nennen kann.

Das Verhältnis zwischen Sitte und Ethik ist deswegen so wichtig, weil die Ethik für alle ihre Forderungen einen Hintergrund, eine Grundlage, eine Wurzel benötigt, die sie selbst gar nicht herstellen kann. Da werden Sie sich sagen: Das ist ja eine schöne Wissenschaft, wenn sie nicht einmal ihre eigenen Grundlagen selbst produzieren kann. Allerdings stellt keine Wissenschaft ihre Grundlagen selbst her. Die Physik produziert doch nicht „Welt“, in der sie nach physikalischen Gesetzen sucht. Und genau das gleiche trifft auf die Ethik zu. Nehmen wir etwas so selbstverständliches wie die Menschenwürde oder die Forderung nach Gleichheit, Gleichbehandlung aller Menschen, egal welcher Herkunft, Rasse, Religion sie sind. Diese Forderungen sind in der Ethik zentral, aber sie stammen nicht aus der Ethik. Besser gesagt: Die Ethik setzt diese Ansprüche voraus. Wie ist das zu verstehen?

Menschenwürde

Zur Menschenwürde heißt es in der Deutschen Verfassung, Artikel 1, im ersten Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.

Diese Unantastbarkeit der Menschenwürde ist nicht das Ergebnis eines theoretischen oder wissenschaftlichen Prozesses. Sie ist nicht das Resultat von Untersuchungen darüber, was Menschen sind, was sie machen, was sie fühlen oder denken. Das könnte man natürlich auch machen. Man könnte solche Untersuchungen anstellen und dann sehen, was dabei herauskommt.

Auf keinen Fall käme das heraus, was wir mit dieser absoluten, nicht relativierbaren Forderung der Menschenwürde meinen. Unantastbarkeit heißt Unantastbarkeit. Da gibt es also nichts daran zu drehen. Diese Menschenwürde gilt – und das ist typisch für alle Grundansprüche ethischer Art – ohne dass sie in ihrer Herkunft begründet worden wäre. Einfach deswegen, weil das gar nicht geht. Wie sollte das denn gehen?

Wir haben Geltungen, – das Wort klingt ein bisschen komisch, manche sagen Geltungsansprüche – die „unabgeleitet“ sind. Die zwar nicht aus dem Blauen kommen, aber die da sind und die eine Gültigkeit haben, auf die wir uns berufen können. Also auch die Politik, die Rechtssprechung. Überall in diesen Bereichen gilt die Menschenwürde. Sie greifen auf die Geltung dieses Grundanspruches zurück. Die Ethik tut nichts anderes. Die Ethik ist also keine Art von „Generationsmaschine“, „Herstellungsmaschine“ ihrer eigenen Grundlagen.

Ähnlich kann auch das Recht die Menschenwürde nicht „herstellen“. Das Recht kann ähnlich wie die Ethik dafür sorgen, dass die Menschenwürde respektiert wird. Dass ihre Geltung auch tatsächlich anerkannt wird.

Wir haben hier also drei Perspektiven auf diese Grundlagen:

- Die Geltung selbst: gilt etwas, oder gilt es nicht?

- Die Anerkennung durch den Menschen, nicht nur im Denken, sondern vor allem auch im Handeln und schließlich

- die Rechtfertigung von Folgerungen, die aus diesen Grundansprüchen entstehen.

Bei den Gleichheitsansprüchen sind diese Folgerungen sehr deutlich und leicht erkennbar. Die Grundlagen, die wir da in Anspruch nehmen, weiten sich wie die Äste eines Baumes. Aus dem ursprünglichen Gleichheitsanspruch entstehen alle möglichen detaillierten Gleichheitsansprüche, die sowohl im Recht als auch in der Ethik als auch in der Politik eine Rolle spielen.

Die „Freiheit der Berufswahl“ ist ein Beispiel für etwas, was aus der Freiheit entsteht, ebenso die „Bewegungsfreiheit“. Die Freiheit, sich einen Wohnort zu wählen, sich einen Partner zu wählen usw. All diese „Freiheiten“ lassen sich im einzelnen begründen. Sie lassen sich tatsächlich von dem ursprünglichen Grundprinzip der Freiheit ableiten.

Nicht ableitbare Prinzipien

Menschenwürde, Gleichheit, Freiheit sind als Grundprinzipien nicht abgeleitet, sind auch nicht ableitbar. Sie gelten und werden anerkannt. Aus ihnen entstehen eine Reihe von Ansprüchen, Rechten, ja sogar Prinzipien, die gerechtfertigt werden können, rechtfertigbar sind.

Das klingt vielleicht komplizierter als es ist. Aber eines ist entscheidend: Wir müssen verstehen, was es heißt, dass so etwas wie die Menschenwürde „unabgeleitet“ gilt.

Es heißt erstens, wir sollten nicht den „fehlgeleiteten“ Versuch machen, eine Begründung für die Menschenwürde zu suchen, oder für die Gleichheit oder die Freiheit. Das wäre fehlgeleitet, weil es so etwas nicht gibt.

Ähnlich fehlgeleitet wäre der Versuch, in der Physik die Frage zu stellen: Warum existiert das Universum? Oder: „Warum gab es den Urknall? Das sind Fragen, über die man vielleicht nachdenken kann, aber sie sind nicht sinnvoll. Die Geltung der ethischen Grundlagen ist in der Moderne nicht immer gut verstanden worden, weil die Moderne etwas entwikkelt hat, was man mit guten Gründen „Rationalismus“ nennt. Der Rationalismus ist eine geistige Haltung. Sie besteht darin, dass man glaubt, für alles und jedes benötige man eine Begründung. Das ist typisch rationalistisch. Das ist prima, wenn es um wissenschaftliche Fragen, also nicht um Grundlagen geht. Aber wenn es um Grundlagen geht, vor allem um die sogenannten „normativen Grundlagen“, dann ist diese rationalistische Fragerei „für die Katz“.

Was unabgeleitet gilt, verhält sich wie eine ganz normale Tatsache. Ich würde das auch ganz gerne eine „sittliche“ oder „normative Tatsache“ nennen. Nun werden Sie sagen: So etwas wie das Verbot, Menschen zu töten, das ist doch keine Tatsache, sondern das ist ein Gebot. Oder: Die Menschenwürde enthält eine Reihe von Geboten. Das ist doch keine Tatsache.

Tötungsverbot

Doch, es ist eine Tatsache, denn zur Tatsache machen wir Menschen alles, was wir als Tatsache anerkennen. Also, wenn jemand Sie fragen würde - es ist eine ethische Frage: Dürfen Menschen auf Ihr eigenes Verlangen hin getötet werden oder nicht? Das ist keine einfache ethische Frage. Dann nehmen Sie – oder wenn ich gefragt werde, nehme ich – Bezug auf das Tötungsverbot.

Das Tötungsverbot hängt eng mit der Menschenwürde zusammen, ist aber ein eigener Grundanspruch.

Natürlich gilt dieses Tötungsverbot nicht unter allen Bedingungen. Zum Beispiel im Krieg. Soldaten unterliegen diesem Verbot nicht. Allerdings dürfen Soldaten nicht grausam töten, nicht mutwillig usw. Und natürlich, wenn das eigene Leben in Gefahr und die Abwehr des Angriffs nur durch die Tötung des Angreifers möglich ist – auch da ist töten erlaubt. Aber das ist eine schwierige Frage.

Kehren wir zurück zum ganz normalen Tötungsverbot, ein Verbot als sittliche Tatsache. Wenn Sie also jemand fragt: Was heißt das eigentlich? Dann können Sie nur antworten: Dieses Verbot gilt bei uns. Und wenn jemand nicht versteht, worin dieses Verbot besteht, weil er zum Beispiel denkt: Ich bin kräftig, vielleicht hab ich sogar eine Pistole oder ein Messer. Warum soll ich also nicht einen Menschen töten dürfen, der mir einfach auf die Nerven geht, nachts Lärm macht oder mich dumm anredet?

Wer das nicht versteht, weiß nicht, was diese Tatsache bedeutet. Kennt keine sittlichen Tatsachen. Normalerweise wissen wir aber – wir wissen es im genauen Sinne des Wortes Wissen, dass es verboten ist, Menschen zu töten und dieses Verbot verstehen wir. Wir behandeln es wie eine Tatsache.

Sittliche Tatsachen

Es gibt viele Arten von Tatsachen. Eine mit den ethischen oder sittlichen Tatsachen eng verwandte Menge von Tatsachen ist die, die wir in den Gesetzestexten finden. Wenn wir zum Beispiel an das Strafrecht in unserem Land denken, da werden viele Delikte als nicht nur verachtenswert sondern verurteilenswert betrachtet. Ein Tötungsdelikt und das, was für dieses Tötungsdelikt als Strafe angenommen wird, wird ebenfalls – so wie ich es gerade erklärte – wie eine Tatsache behandelt. Die „Tatsächlichkeit“ wird also in vielen Zusammenhängen vorausgesetzt, obwohl sie nicht dem entspricht was zum Beispiel die „Tatsächlichkeit“ eines Tisches ausmacht.

Nicht nur das, was wir mit unseren fünf Sinnen wahrnehmen können, sind Tatsachen